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Das Rollenspiel >> Stadt-Archiv [read only] >> Schattentanz  - eine lange Reise
(Thema begonnen von: Cron am 14. Aug. 2002, 22:41 Uhr)

Titel: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 14. Aug. 2002, 22:41 Uhr
Auf dem See:

Wie eine schwerfällige, hölzerne Libelle gleitet das große Schiff über das nachtdunkle Wasser. Kein Mond und keine Sterne sind am wolkenverhangenen Himmel zu sehen, nur die Fackeln und Kohlebecken der  Seefeuer erhellen die Nacht mit schwachem, rötlichen Schein.
Cron steht am Bug des Schiffes und starrt nachdenklich in die vorbeigleitenden schwarzen Wasser unter ihm. Es ist ganz anders auf dieser Galeere über den Ildorel zu gleiten als zur See zu fahren...und im Vergleich mit den wendigen Langbooten und schnellen Drachenschiffen Normands ist die Seefeuer geradezu plump und schwerfällig. Außerdem gibt es hier weder Seegang noch Dünung. Dennoch ist es schön, wieder auf dem Wasser zu sein und der Ildorel ist so groß, daß man die Illusion eines Meeres vor Augen hat.
Von der Waldläuferin hat er den ganzen Tag nichts gesehen und gehört - und auch beim Essen, daß Galeo Dorathis auf Deck gehalten hatte, hat er sie nicht gesehen.
Sie wird früh genug erfahren, daß ich ebenfalls auf diesem Schiff bin...und es wird ihr nicht gefallen, ein freches, jungenhaftes Grinsen stielt sich über sein Gesicht, aber als sein Blick zu den Fenstern der Kapitänskajüte im Heck der Seefeuer wandert, stirbt das Grinsen und sein Gesicht wird sehr ernst. Hier auf dem Schiff kann sie mir wenigstens nicht davonlaufen...  

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 14. Aug. 2002, 23:29 Uhr
Die Seefeuer gleitet ruhig und fast gelassen über das Wasser und das gleichmäßige Ab,- und wieder Auftauchen der Ruder ist das einzige Geräusch - neben dem Knarren und Stöhnen von Holz und dem Scheuern der Taue. Die Mannschaft ist so still wie ihre Träger es gewesen waren, obwohl die meisten noch ihre Zungen zu haben schienen.

Ein dunkler Cardossianer hatte sie zum Essen gebeten, doch sie hatte höflich abgelehnt und Unwohlsein vorgetäuscht, um Galeo nicht zu beleidigen. Außerdem hatte sie wahrlich keine Lust auf das Geschwätz eines reisenden Sommerritters. Nicht heute. Und vermutlich auch nicht morgen oder übermorgen oder an irgendeinem Tag dieser Reise!
Irgendwie hallt das Stampfen und Wiehern des Pferdes noch in ihren Ohren und etwas scheint seltsam daran, denn sie meint fast, sich dadurch an etwas zu erinnern. Etwas wichtiges, aber es ist zu nebelhaft, um es zu greifen und in klare Gedanken zu bringen. Mach dich nicht verrückt. Es war ein Pferd. Ritter reiten Schlachtrosse, große, übellaunige Hengste mit viel Kraft...sie wiehern und stampfen alle...

Sie hat ein heißes Bad genommen - welch ein Luxus, Galeo besaß einen großen, kupfernen Zuber in seiner Kajüte! - und sich dann nur  in den weichen Pelz eines Schneeleoparden gehüllt, den sie vor Jahren im Norden erlegt hatte. Eigentlich hatte sie sich immer einen Umhang daraus fertigen wollen, es aber dann doch nie getan...das Fell besaß so wie es war genau die richtigen Maße, um sich darin einzuhüllen. Dieser Sommer ist kalt! Sie kniet auf dem weichen Bett, kuschelt sich in den Pelz und starrt durch die geöffneten Fenster hinaus in die weite, dunkle Nacht.

Es ist dunkel dort draußen...kein Mond und keine Sterne sehen auf uns hernieder heute Nacht...Faeyris hat ihr Haar ausgebreitet und nichts erhellt es heute...
Shugorn flattert krächzend durch das Fenster herein und sie rückt zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er landet direkt neben ihr auf dem Bett und blickt sie aus glühenden Augen an. Er hat beide Botschaften überbracht, das weiß sie. "Du bist ein zuverlässiger Bote, Shugorn. Mein Schatten..."
Schatten, Schatten, Schatten...
"Der Herr der Sonne behüte uns," murmelt Niniane sehr leise. "Denn die Nacht ist dunkel und voller Schrecken."

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 22. Aug. 2002, 18:18 Uhr
Über das stille, blaue Wasser hinweg ist nichts zu hören als der langsame, gleichmässige Trommelschlag und das leise Rauschen der Ruder der großen Triere:
die Segel der Seefeuer hängen bereits seit zwei Tagen schlaff von den Masten und kein Lufthauch regt sich über dem Ildorel, die Sonne brennt heiß und  unbarmherzig und manchmal geht des Nachts feiner warmer Sommerregen über dem Schiff nieder. Seit sieben Tagen sind sie nun auf dem See südwärts unterwegs  und gleich am zweiten Tag ihrer Reise waren sie in schweres Unwetter gekommen. Selbst ihm, der das Meer des Nordens kannte und liebte, war flau im Magen  geworden und der arme Donner unter Deck im Bauch der Galeere hatte gestampft, gewiehert und gedroht, seine Box kurz und klein zu schlagen.
Auf dem Kalten Ozean, dem Nordmeer seiner Heimat,  stürmte es häufig und das hier war trotz all seiner Größe nur ein See. Die Mannschaft des alten Cardossaners  hatte gelacht, war in die Takelagen geklettert, hatte gesungen und dem wütenden Wind mit wüsten Flüchen getrotzt, während die Seefeuer rollte und schlingerte.
Diese seltsame Waldläuferin  schien der Wind nicht zu ängstigen - er hatte sie gesehen, vorne, nahe am Bug, während der Sturm heulend über das Schiff herfiel. Sie  hatte dort gestanden, klein und irgendwie...hell, so als schimmere in ihr ein Licht. Irgendwann hatte sich Galeo mit einer Laterne zu ihr über das bockende Deck  vorgekämpft und sie inständig gebeten, doch nach unten zu gehen. Der Regen war in jener Nacht so heftig gewesen, als hätte der Himmel alle seine Schleusen geöffnet  und Blitze waren wie wirre, gleißende Netze über den tintenschwarzen Himmel gezuckt. Als Galeo sie endlich überredet hatte, war sie anmutig wie eine Katze über das  vom Regen und Seewasser glitschige, wild bockende Deck gelaufen ohne ein einziges Mal das Gleichgewicht zu verlieren, und an der Treppe nach unten war sie ihm  begegnet. Ihr flammendrotes Haar war nass und im flackernden Schein der schwankenden Laternen glänzte der Regen darin wie Diamanttropfen. Ihr Gesicht mit den  hohen Wangenknochen war blaß gewesen, aber ihre Lippen waren weich und sehr rot. Am liebsten hätte er sie geküßt. Er hatte genug Feuerwein getrunken, um sie  zu küssen.  Sie hatte nur spöttisch eine ihrer feinen Brauen gehoben und gemeint: "Sieh an...ein verirrter Nordmann. Irgendwoher kenne ich Euch, nur woher bloß...?"
Dann war sie an ihm vorbeigeglitten, schnell und unfaßbar wie ein Schatten, und in ihrer Kabine verschwunden. Und seitdem ging sie ihm aus dem Weg.
Jetzt steht er an der Reling in der Abendsonne, hört dem dumpfen Taktschlag der Trommler und dem schwermütigen Gesang der Ruderer zu und fragt sich, wann diese störrische Waldläuferin wohl jemals ihre Kabine verlassen wollte.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 25. Aug. 2002, 21:07 Uhr
Mit Einbruch der Dunkelheit hat Niniane die Fenster ihrer Kabine weit geöffnet, um nach einem weiteren langen, heißen Tag ohne den leisesten Windhauch die willkommene Nachtkühle hereinzulassen.
Gestern Nacht war Vollmond... Das langsame, gleichmässige Schlagen der Ruder und der ganz eigene Rhythmus, dem sie der großen Galeere gaben, ist ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hätte sich den Mond gerne angesehen, aber der Tronjer und Galeo Dorathis waren praktisch den ganzen Abend auf Deck gestanden, hatten sich angeregt unterhalten und viel gelacht.
Frechheit! Wieder Willen muss sie schmunzeln. Der Tronjer hatte vor nichts Ehrfurcht...auch nicht vor ihr und auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte: sein Lachen gefiel ihr.
Wenn nur endlich diese Flaute vorübergehen würde...wir könnten längst in Sûrmera sein... Vor Jahren hatte sie die Stadt schon einmal besucht und sie wollte die Brücken und mamornen Paläste wiedersehen, die hängenden Gärten und die Orangenhaine.  
Sie blickt in den sternenübersäten Nachthimmel empor und hängt ihren Gedanken nach.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 30. Aug. 2002, 19:20 Uhr

Die Sonne ist hinter dem Horizont verschwunden und die rote Glut am Rand der Welt erlischt in rosigen Tönen, verwandelt den dunklen Waldsaum im Westen in ein flammendes Meer brennender Baumgipfel und haucht den dunklen, stillen Wassern des Ildorel einen Purpurschimmer über. Südwärts vor ihnen, noch weit entfernt, aber stetig nähergleitend, schimmern die Lichter Sûrmeras durch den Abend. Die Ruder der Seefeuer hatten ihnen gute Dienste geleistet, denn fast auf der gesamten Reise waren die Winde gegen sie gewesen. Ohne die Ruderer des Cardossaners wären sie jetzt noch nicht halb so weit - und nun kommt das Hafenfeuer Sûrmeras in Sicht, sie sehen dem Ende ihrer Reise entgegen. Er hatte Niniane nicht halb so oft gesehen, wie er es gern getan hätte und kein einziges Mal hatte sich die Waldläuferin auf eine Unterhaltung eingelassen. Aber heute Abend steht sie am Bug und sieht unverwandt nach Süden. Der Himmel über ihnen verdunkelt sich allmählich in zartes Blaugrün und die überirdische Stille einer Abenddämmerung auf der Weite des Ildorel senkt sich sacht herab. Die Waldhänge und Hügelkämme im Westen zerfließen im Schatten der sinkenden Sonne, die Baumwipfel sind nicht mehr blutigrot sondern werden zu schlichtem grünschwarz. Er gibt sich einen Ruck und schlendert zum Bug vor, bis er hinter ihr steht, und folgt mit den Augen ihrem Blick. "In etwa einer Stunde legen wir an."

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 02. Sept. 2002, 21:19 Uhr

Niniane wendet sich nicht zu ihm um, aber sie spürt seine große Gestalt ganz in ihrer Nähe und irgendwie hat dieses Gefühl etwas tröstliches an sich. Hoch über ihnen ruft der Ausguck etwas aus der Takelage. Kapitän Dorathis hastet über das Deck, gibt Befehle und überall um sie her breitet sich hektischen Treiben auf der Seefeuer aus, als die Lichter Sûrmeras auf seinen sieben Hügeln in Sicht kommen.
Schon vor über fünfhundert Jahren war Sûrmera schon eine große, damals noch
imperiale Stadt gewesen, das weiß Niniane, dennoch hatte damals noch Wald fünf der sieben Hügel bedeckt und die Stadt hatte längst nicht die Ausmaße, die sie nun hat. Genau dort gelegen, wo der Marmel, ein schneller, tiefer Fluß aus den Erikarbergen in den Ildorel mündet, überzieht das goldene Sûrmera nun das Ufer soweit das Auge reicht und die mächtigen Steinbrücken über die Marmel, über welche die Große Südstraße führt, liegen inmitten der Stadt.
Einhundert Kais reihen sich im Hafen aneinander und an ihnen drängen sich die Schiffe. Jetzt am Abend kehren Fischerboote und Kähne heim, Fährmänner staken über die Marmel hin und her, Handelsgaleeren entladen Reis, Diamanten, Datteln und Feigen, exotische Früchte und seltene Tiere aus Azurien, Mais und andere Lebensmittel aus Ildala oder Weine aus Vinnar vom Ostufer.
Galeo Dorathis gibt ein Kommando und die Ruderer holen ein, das Schiff wird langsamer und stößt schließlich ganz sanft an die Kaimauer. Einige seiner Männer springen von Bord, um die Seefeuer zu vertäuen. Galeo kommt eilig heran und strahlt. "Sûrmera, Mylady, ganz wie Ihr befohlen habt. Braucht Ihr Beistand, um Euer Gepäck von Bord zu bringen?"
"Zwei Eurer Männer werden genügen. Vielleicht könnt Ihr mir ein Wirtshaus empfehlen, sauber, verschwiegen und nicht zu weit vom Fluß entfernt?"
Galeo fingert an seinem Bart herum. "Gut möglich, ich kenne verschiedene Häuser, die Euren Wünschen entsprechen dürften."
Niniane nickt und bezahlt jedem Ruderer einen Silberling persönlich, bevor sie das Schiff verläßt, während Galeos Männer das schnaubende, pechschwarze Streitross Crons von Tronje über die Schiffsplanken auf das feste Pflaster des Kais führen, sein Gepäck von Bord tragen und dann ihre eigenen Sachen holen. Der Tronjer hält sich noch immer in ihrer Nähe, beobachtet die Matrosen Galeos und sein ungebärdiges Tier mit jenem  ironisch-belustigten Lächeln, das sie so gut von ihm kennt.
Sie verabschiedet sich von Galeo mit einem kaum merklichen Neigen des Kopfes und einer raschen Handbewegung, die der Kapitän ehrfurchtsvoll erwidert, dann wendet sie sich um. "Nun Tronjer," lächelt sie über die Schulter, während sie die Planken hinunterschlendert, "heißt es Abschied nehmen, denn ich ziehe weit in den Osten."

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 02. Sept. 2002, 22:40 Uhr

"Das trifft sich gut," antwortet Cron und folgt ihr. Wieder hat sie diesen halb wiegenden, halb lauernden Gang und sein Herz schlägt unmerklich schneller. Mittlerweile ist er jedoch davon überzeugt, daß sie nur so geht, um ihn allein zu ärgern. "Dann haben wir denselben Weg."
Anstatt mit kühler Verachtung oder offener Empörung zu reagieren, lacht sie jedoch und der Schalk blitzt in ihren goldenen Augen - jedenfalls bildet er sich das ein. Es ist schwierig, in Augen zu lesen, die weder eine Iris noch Pupillen besitzen, auch wenn er weiß, daß sich das Gold je nach Stimmung verändert. Manchmal sind ihre Augen dunkel wie Waldhonig, rein oder auch mit Goldsplittern gesprenkelt wie Bernstein, in dem sich Sonnenstrahlen brechen. Dann wieder schimmern sie hell wie Messing oder strahlen wie die Mittagssonne selbst. Er hatte sie geneckt wegen ihrer Augen und Galeo empfohlen, das Deck voller Wassereimer stellen zu lassen, falls Mylady ausversehen mit einem falschen Blick die Segel in Brand setzen sollte. Der Kapitän war sprachlos ob dieser mangelnden Ehrfurcht gewesen und hatte wohl erwartet, sie verwandle ihn augenblicklich in eine Kröte oder ähnliches, aber Niniane hatte ihm nur aufreizend langsam den goldenen Blick zugewandt und erklärt der einzige, der einen Eimer kalten Wassers wohl gebrauchen könne sei er selbst. Nun ja, damit hatte sie durchaus recht, und das hatte er ihr auch sofort zugestanden, nur passe er so schlecht in einen Eimer. Worauf er prompt über Bord gegangen war - über die Reling gestossen von einem paar schlanker, kräftiger Hände und zum allgemeinen Gelächter der Mannschaft. Niniane hatte ihm honigsüß lächelnd von oben gewunken, als er prustend wieder aus dem Ildorel aufgetaucht war, und gemeint, dieser Eimer wäre doch wohl groß genug.
Als sie ihn am selben Abend fast entschuldigend lächelnd, aber dennoch sehr zufrieden mit sich selbst auf Deck bei Galeos abendlicher Tafel wiedergetroffen hatte, war sein langes Haar immer noch feucht gewesen.
Nun folgt er ihr die schwankenden Bretter hinunter auf den Kai  und nimmt den erleichterten Matrosen den unruhigen Donner ab. Der Hengst hatte Tag um Tag eingepfercht in eine kleine Box unter Deck verbracht und war entsprechend gelaunt.
Das Wirtshaus, das Galeo Dorathis Niniane vorgeschlagen hatte, Serafinas Schüssel, ist ein verschachtelter alter Schuppen am östlichen Marmelufer gleich hinter dem Fischereihafen.  Die Frau, der er gehört, ist eine sauertöpfische Alte mit gierigem Blick, die sie argwöhnisch mustert und auf die Münzen beißt, die man ihr reicht, um sich zu vergewissern, ob sie auch echt sind. Ihre Zimmer jedoch sind groß und luftig, und Galeo Dorathis schwor, ihr Fischeintopf sei der schmackhafteste der ganzen Herzlande.  Das Beste allerdings ist, daß sie sich weder für ihre Namen noch für sonst etwas interessiert - und sein Zimmer liegt gleich neben dem der Waldläuferin.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 03. Sept. 2002, 14:43 Uhr
Die Fenster ihrer Zimmer gehen auf Gassen und Dächer hinaus, mit Blick auf die Marmel dahinter. Während sie ihr Gepäck verstaut, sich rasch umkleidet und das lange Haar im Nacken aufsteckt, bringt der Tronjer sein Schlachtroß im windschiefen Stall des Gasthauses unter, was an den Schmerzensschreien des Pferdeknechtes und dem Schnauben unten im Hof deutlich zu hören ist.

Das Bettzeug ist mit Stroh statt mit Federn ausgestopft und die Einrichtung ist mehr als kärglich, aber das stört Niniane nicht weiter. Sie will ohnehin nicht mehr als zwei Tage in Sûrmera bleiben. Ich habe auf dem Ildorel in dieser Flaute schon genug Zeit verloren... der Herbst naht bereits und mein Weg ist so weit...

Als sie ihr Zimmer und dann über knarrende Treppenstiegen und krumme Gänge auch das Gasthaus verläßt, schließt sich ihr der Tronjer mit seinem spöttischen Lächeln wieder an, als habe er nur darauf gewartet, daß sie herunterkomme.
Und wenn schon? Was schert es mich? Die lässige, überlegene Unverschämtheit, die er zur Schau trägt macht sie rasend. Er wirkt so, als hätte ihn im Leben noch nie etwas überrascht, vieles hingegen belustigt und stets scheint er sie zu durchschauen. Das Schlimmste jedoch ist, daß seine sanfte Unverschämtheit ihr soviel Spaß macht, daß sie meistens selbst lachen muß.

Mistkerl! Denkt sie, als sie möglichst würdevoll an ihm vorbeirauscht, aber schon hat sie sein dunkles, leises Lachen im Ohr, das sie und überhaupt alles zu verspotten scheint.
Sie fühlt sich unwohl in der Menschenkleidung, dem graublauen Samtmieder mit den Flußperlenstickereien und dem langen Rock, aber vor allem stören sie die hohen Lederstiefel, mögen sie auch noch so anschmiegsam sein. Nur für den festen Umhang mit der langen, spitzen Kapuze ist sie dankbar. Der Nachtwind ist kühl, aber die Straßen Sûrmeras sind selbst um diese Stunde noch geschäftig und belebt.

Der Hafen Sûrmeras ist hufeisenförmig und einer der größten der ganzen Immerlande, hier Mischen sich Farben, Klänge und Gerüche aller Art. Weinschänken, Lagerhäuser und Spielhöllen säumen die Straßen und stehen Wand an Wand mit teuren und billigen Hurenhäusern und kleinen wie großen Tempeln. Beutelschneider, Galgengesichter, selbsternannte Hexenmeister, Priester, Händler, ehrbare Bürger und Geldwechsler sind überall.

Das Ufer ist ein einziger, riesiger Marktplatz, wo der Handel niemals still steht, wo man Waren für einen winzigen Teil des Preises erstehen kann, die sie auf dem Basar kosten, wenn man nicht fragt, woher sie stammen. Runzlige, bucklige alte Frauen verkaufen Limettenwasser und gekühlte Mandelmilch aus glasierten Tonkrügen, die sie um die Schultern geschnallt tragen. Händler und Karawanenführer  aus einem halben Hundert verschiedener Länder schlendern zwischen den Ständen umher und ihre exotischen Sprachen erfüllen die Nacht.

Die Luft riecht nach Wasser und gebratenem Fisch, nach heißem Teer und Honig, nach Sandelholz von zahllosem Rauchwerk und nach den Duftölen der Weiber. Fehlte nicht der typische Salzgeruch, hätte man sich ohne Schwierigkeiten vorstellen können, in Ambar, Cardossa,  Nachtschimmer, Fa'Sheel, Cap Ardun, Naggothyr oder einem der anderen großen Häfen an der See zu sein.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 11. Sept. 2002, 00:23 Uhr
Cron gibt einem Händler einen Kupferling für einen Spieß mit Honig bestrichener, gerösteter Kaninchenkeule und ißt davon, während sie die Kaistraße entlang gehen. Niniane kauft sich nur eine Hand voll gelber, saftiger Pfirsiche. Des Weiteren entdecken sie wunderschöne Bronzedolche, die feilgeboten werden und aufwendig verzierten Bronzeschmuck, geschnitztes Onyx, Stände mit zwielichten,  magischen Fetischen  und Elixieren wie Jungfrauenmilch, Feenstaub und Einhornblut, sogar Phönixeier, die jedoch verdächtig nach bemalten Steinen aussehen.

Auf den langen Steinkais, die für die sûrmerianischen Schiffe reserviert sind, sehen sie Truhen mit Salz, Weihrauch und Pfeffer, Ballen mit Bitterblatt und
gestreiften Fellen, Weinfässer und irdene Amphoren in langen Reihen. Die mächtigen Handelsgaleeren tragen Namen wie Alabasterkuss und Indigoschweif und schaukeln träge auf dem schwarzen Wasser.
Weiter hinten hat sich eine Menschentraube von Wirten, Weinhändlern und ihren Trägern und Fuhrwerken um ein Schiff aus Vinnar gebildet, das Wein aus den Nebrinôrthares feilbietet.

"Was sucht Ihr eigentlich auf dem Hafenmarkt?" erkundigt er sich, als die Waldläuferin keinerlei Anstalten macht, irgendetwas zu kaufen, allerdings auch nicht einfach nur an den Ständen Stöbern will, sondern nur immer weiter Ausschau hält. Das taubengraue Gewand steht ihr gut, nur leider ist von ihrem wundervollen Haar unter der Kapuze ihres Umhangs nichts zu sehen und ihre goldenen Augen sind dunkel, kaum das ein bernsteinernes Funkeln darin zu
entdecken ist.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 12. Sept. 2002, 17:57 Uhr
"Ein Pferd," ist Ninianes knappe Antwort.  Sie würde keinen Pferdehändler unter den Händlern Sûrmeras oder der Alten Gilde der Gewürzhändler finden, daher führt sie den Tronjer einige Tausendschritt weit an Kais, Anlegern und Lagerhäusern entlang, bis sie das andere Ende des hufeisenförmigen Hafens erreichen, wo den Schiffen aus Azurien, von den Sommerinseln oder den Freien Städten der Ostküsten das Ankern gestattet ist, die den weiten Weg vom Südmeer über den Blutfluss und dann quer über den Ildorel heraufgesegelt sind.
"Ich habe nicht vor bis ins Sturmtal zu laufen."
Es ist schön wieder einmal Männer die Dialekte der Wüsten und sogar das alte Imperialisch sprechen zu hören denkt sie, während sie sich dem ersten Schiff nähern. Jeliel hat Imperialisch gesprochen...Seeleute, Hafenarbeiter und Händler gleichermaßen weichen ihr aus, sie wissen nicht, was sie von dieser schlanken Frau in den grauen Gewändern halten sollen, die ihr Haupt verhüllt und von einem schwarzen Ritter begleitet wird. Cron trägt seinen schwarzen Surcot über dem Kettenhemd, seinen Zweihänder nach Art der Nordmannen auf dem Rücken und auf seiner Brust prangt der Drachenschädel Tronjes.
Doch weder ihre Schönheit noch seine Größe und Kraft helfen ihr weiter, denn das Schiff bringt nur Ceresdorer Seide und Purpur aus Meaniver und Drakesport, keine Pferde aus Nordazurien.
"Ihr sucht eine Handelsgaleere aus Mar'Varis oder Naggothyr die Wüstenpferde verkauft?" fragt der Kapitän der großen Kogge Amberlons Jungfrau. "Nicht hier am Kai, M'lady. Versucht es ein oder zwei Anleger weiter, wir haben gar keine Azurianer hier!"
Niniane stößt einen wütenden Wortschwall im singenden Shidar aus. In diesem dreimal verfluchten Riesenhafen wird es doch wohl irgendwo Pferde zu kaufen geben! Ob azurianisches Wüstenross oder Arduner Jagdpferd oder eines der schlanken, harten Steppenpferde des Gräsermeers ist  ihr völlig gleichgültig, sie braucht ein schnelles, ausdauerndes Pferd, das genügsam und unempfindlich ist.
Ein Azurianer wäre meine erste Wahl... wenn ich denn einen finde. Arduner werde ich kaum zu Gesicht bekommen so weit im Süden und die Tharndrakhi verkaufen ihre Steppenpferde so selten, daß es ein Wunder wäre, eines auf einem Markt außerhalb der vier Herzogtümer zu bekommen...
Am nächsten Kai liegen zwei Schiffe, die kaum seetüchtig sind und drei dickbauchige Ildorelsegler mit viel Tiefgang, aber wieder kein Azurianer, keines der schnellen, leichten Flußsegelschiffe mit ihren strahlendweißen Segeln.
Erst drei Kais weiter haben sie Glück, dort ankern die Zephyr und die Quecksilber, zwei Handelsgaleeren aus Mar'Varis und neben Diamanten, Nymphennektar, Reis, scharfen Feuerschoten, Edelsteinen, Datteln, Feigen und Südfrüchten von den Sommerinseln hat die  Zephyr auch fünf Pferde an Bord.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 08. Okt. 2002, 08:01 Uhr
Es ist tiefe Nacht und lange nach Mondaufgang, als sie endlich in einem kleinen  Akazienhain anhalten und ihr Nachtlager aufschlagen. Ein Meer dunkler Wolken,  groß wie schwerfällige Galeeren, treibt über den sternengestäubten Himmel und  segelt träge unter dem Mond dahin.
Niniane hatte sich in Sûrmera auf dem Hafenmarkt schließlich eine schlanke  Dunkelfuchsstute für eine unglaubliche Summe Gold gekauft, die die  Waldläuferin jedoch ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt hatte. Der  azurianische Händler war ihm fast enttäuscht erschienen, daß er nicht das bei den  Südländern so beliebte Spiel des Handelns und Feilschens spielen konnte, aber  er hatte das Pferd ohne Widerworte von Bord geführt,  wie vereinbart mit  Sattel  und Zaumzeug.  Inzwischen wußte er, daß Gold für Niniane überhaupt keine  Rolle spielte, aber damals in Sûrmera hatte er sich doch gewundert.
Die azurianische Stute trägt auf ihrem Fell alle Farben einer roten Wüste, und  schimmert im Licht wie flüssiges Kupfer. Das schnelle, schlanke Pferd mit dem  schwanengleich gewölbten Hals ist reines Feuer - die dumpfen Elemente von  Erde und Wasser scheinen nie auf in ihrem Wesen. Wie bei Niniane selbst. Die  Waldläuferin hatte ihr noch in Sûrmera einen unaussprechlichen Elbennamen  gegeben - Rilua -, was sich in seinen Ohren zunächst angehört hatte wie  eine sinnlose Abfolge wirrer Buchstaben, aber mittlerweile kommt seine Zunge  mit den ungewohnten Lauten zurecht. Rilua hatte sich als ungeheuer schnell,  ausdauernd und mehr als genügsam erwiesen und Niniane schien niemals zu  bereuen, daß sie sie gekauft hatte - allerdings schien sie auch keinerlei  freundschaftliche oder tiefere Bindung mit der jungen Stute  eingehen zu wollen. Rilua war da und wurde von der Waldläuferin geritten und damit war es genug.
Während er Donner absattelt und dem Hengst die Packtaschen abnimmt,  entzündet Niniane in einer kleinen Mulde zwischen größeren Steinbrocken ein  Feuer und er rechnet nach, wie lange sie nun schon gemeinsam unterwegs waren  - beinahe vier Wochen. Sie hatten ein gutes Stück Weg geschafft, waren von  Sûrmera aus auf der Nord-Südstraße stets nach Osten gezogen, hatten  Virinmarun durchquert und die Grenzen Ildalas längst passiert. Meist ritten sie ein  paar Tage am Stück von Sonnenaufgang bis nach Einbruch der Nacht und  schlugen dann irgendwo abseits der Straße ihr Lager auf. Von kleinen Dörfern  und einzelnen Gasthöfen entlang der alten Handelsstraße hielt Niniane sich fern -  dort würden sie auffallen, hatte sie gemeint und es würde zuviel Gerede geben. In  Armavirin und Ildala, großen alten Städten noch aus vorimperialer Zeit, waren  sie in Gasthöfen eingekehrt und hatten sich den Luxus von Badhäusern, erlesenen  Speisen und Reinigung ihrer Kleider, sowie mehrere Tage Ruhe gegönnt, bevor  sie wieder aufgebrochen waren.Vor einer Woche etwa hatten sie schließlich  mit  der Fähre über den Blutfluss überquert und nun liegen die Nebrinôrthares vor  ihnen - endlose Hügelketten, jetzt herbstgemäss in feuriggoldenes Laub gehüllt.
Er versorgt auch Ninianes wesentlich zierlicheres Wüstenpferd und pflockt beide  für die Nacht an. Das Gras hier ist süss und kurz unter den Akazien und so weit  im Süden sind die Tage immer noch warm und voller goldenen Lichts. Der  Herbst dauert lange in diesen Landstrichen ganz im Süden Ildoriens und noch ist  von Kühle und Regenfällen nichts zu spüren. Selbst die Nächte sind angenehm  lau, so daß es nichts ausmacht, im Freien unter dem Sternenhimmel zu  schlafen....und schon gleich gar nicht in solcher Gesellschaft.
Als die Pferde versorgt sind, sitzt Niniane bereits am Feuer auf ihren  ausgebreiteten Schlaffellen und brät ein paar Forellen, die sie vorhin im Ildorel  gefangen hatte noch bevor sie das Lager aufschlugen und er setzt sich ihr  gegenüber. Der wie schwarzes Perlmutt im Feuerschein schimmernde Rubinrabe  auf ihrer Schulter breitet seine Schwingen aus und flattert in die niedrigen Äste  der Bäume um ihren Lagerplatz. Einen Augenblick ist Niniane von den dunklen  Schwingen verdeckt, doch dann lächelt sie ihm kurz über das Feuer hinweg zu.  Die allermeiste Zeit ist sie zwar noch immer so kratzbürstig wie eine übellaunige  Katze, aber irgendwie ist im Lauf ihrer Reise die Kälte in ihr ein wenig  geschmolzen und eine Art stilles Einverständnis zwischen ihnen gewachsen. Sie  sprechen nie über das Ziel dieser Fahrt und kaum über persönliche Dinge,  dennoch wissen beide, daß er sie begleiten wird wohin immer sie geht.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 08. Okt. 2002, 23:19 Uhr
Die Funken der prasselnden Flammen steigen hoch hinauf in den Nachthimmel und die Akazien um sie her duften süss. Nicht weit entfernt rollen die kleinen Wellen des Ildorel sanft gegen die schneeweißen Strände zwischen großen Felsbrocken. Niniane sitzt mit angezogenen Knien an einen schulterhohen Findling gelehnt am Feuer und schreibt eine kurze Botschaft an Raven. Der Federkiel kratzt leise über das Pergament und das Tintenfäßchen steht neben ihr im weichen Waldboden. Ihre Reise war bisher überaus ruhig verlaufen - selbst in den Wäldern von Virinmarun hatten sie bis auf gelegentliches Wolfsgeheul des Nachts nichts größeres als eine wilde Ziege gesehen und die Gegend war berüchtigt für ihre Wölfe.
Als sie Sûrmera vor Wochen verlassen hatten, war Niniane wirklich versucht gewesen, den Tronjer fortzuschicken. Diese Fahrt ging nur sie etwas an. Niemand außer ihr und Mottenfänger und Raven im fernen Talyra kannten den Grund ihrer Reise - und niemand sollte ihn erfahren. Aber irgendwie hatte sie es nicht getan und mit jedem weiteren Tag, der verstrich, hatte sie sich ein wenig mehr eingestehen müssen, daß sie froh über seine Gesellschaft war.Er spricht nie viel, er drängt sich nie auf und doch ist er stets da - wie ein großer, verlässlicher Schatten...
Jetzt sitzt er auf der anderen Feuerseite und poliert sein Schwert. Die Klinge ist so breit wie eine Männerhand und gut fünf Fuß lang. Das Metall ist dunkel wie Rauch, wirkt fast grau. Blutrote Riefen zieren die lange Klinge und geben ihr einen seltsam blutigen Glanz. "Drachenstahl..." hatte sie gemurmelt, als sie das Schwert zum ersten Mal gesehen hatte und der Tronjer hatte genickt. "Aus Tamarlon. Es heißt, die Klinge sei noch im Drachenfeuer der Dracayrens gehärtet worden, aber ich weiß nicht, ob sie wirklich so alt ist..." hatte er geantwortet.
Nichts ist so scharf wie Drachenstahl... Sie beobachtet seine Hände, die mit einem Streifen öligen Leders über das Großschwert wischen und das Metall zu dunklem Glanz polieren. Sie kann die Maserungen tief im Stahl erkennen, wo die Klinge beim Schmieden gefaltet worden war, sie weiß nicht wieviele hundert Male.
Shugorn hatte seinen Sitz in den Akazien zum Essen aufgegeben und sich auf dem Findling hinter ihr niedergelassen. Jetzt, lange nachdem der letzte Bissen Fisch verspeist ist,  segelt er mit drei lässigen Flügelschlägeln zu dem Tronjer hinüber und landet sanft auf dem Schwertknauf der Klinge. "Korn? Die roten Augen des Rubinraben glühen dämonisch im Fackelschein, als er den Kopf erwartungsvoll schräg legt.
"Glaubt diesem Bettelvogel kein Wort, er hat meinen halben Fisch gefressen," sie grinst katzenhaft über die Flammen hinweg und einen Augenblick lang sehen sich beide unbefangen an. Sein Gesicht ist schön, trotz einiger kleinerer, heller Narben, mit einer geraden Nase und einem empfindsamen Zug um den Mund. Wie gelassen oder spöttisch seine Züge auch bleiben mögen, der Schlüssel zu seinem Inneren sind seine Augen, die tiefblickend, ruhig und irgendwie älter wirken, als er ist. In ihnen findet sie eine Einsamkeit, die zu der ihren paßt. Wie alt er wohl sein mag? Fünfundzwanzig Menschenjahre? Dreißig? Oder doch jünger?

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 30. Okt. 2002, 09:35 Uhr
Der Morgen ist neblig, fahl und feuchtkalt. Langsam schleicht sich der Herbst auch in den Süden der Herzlande und Lagern unter freiem Himmel wird unangenehm.
Obwohl die Sonne eben erst aufgegangen war, sitzen Niniane und er schon wieder seit einer Stunde im Sattel - aus irgendeinem Grund scheint es die Waldläuferin wesentlich eiliger zu haben, als noch vor ein paar Wochen. Aber jede seiner Fragen nach einem Grund für diese plötzliche Hast prallt an ihr ebenso ab wie jede Frage nach dem Ziel ihrer Reise.  

Eine ganze Weile waren sie der gut befestigten Straße am Ildorel entlang gefolgt, die von Ildala nach Vinnar führt, und somit nach Norden geritten - doch lange bevor sie die alte Stadt des Weins erreichten, hatte Niniane sich nach Osten gewandt und sie hatten den See hinter sich gelassen. An jenem Abend am Ildorel - ihrem letzten Abend am Seeufer - hatte Niniane  dem Raben verschiedene, dünn aufgerollte Pergamentrollen in schützende Lederröhrchen verpackt an die Klauen gebunden und ihn in die Nacht fliegen lassen. Das Rauschen seiner Schwingen hatte das Feuer flackern lassen und Augenblicke später war er im dunklen Himmel verschwunden - aber auch auf seine Fragen nach den Nachrichten hatte sie stets geschwiegen.
Niniane hatte ihn mitten durch die Nebrinôrthares geführt, in ein Farbenmeer aus Gold, Rot, Kupferbraun und Gelb, durch das sie mehr als zwei Wochen geritten waren. Die Weinstöcke der Hügel rings um sie her waren abgeerntet bis auf jene Trauben, die Frost bekommen sollten und ihr herbstliches Laub hatte der Sonne geflammt, als sei es mit flüssigem Kupfer überzogen. Kleine Dörfer mit langen, verwinkelten Gebäuden aus Flußstein und Holz hatten sich um die Sockel der Weinberge geschmiegt und das Licht des Erntemonds alles vergoldet: das sanfte Gras, die Bäche, die sich durch schmale Täler schlängelten, die alte, gepflasterte Straße, der sie folgten und die Frau, die vor ihm ritt.
Sie waren in den Nebrinorthares stets in kleinen Herbergen eingekehrt, zwei harmlose Reisende - eine hochgeborene Lady und ihre Leibwache. Selbst in der einfachsten Schenke hatten sie gutes Essen, saubere Betten und den besten Wein bekommen. Die Menschen hier waren gastfreundlich, aber nicht allzu neugierig und mehr als einmal entdeckte er auf den Torbögen der Dörfer, durch die sie kamen, Wappen von Rittern und Edlen, die er auf dem Sommerfest schon gesehen hatte.
Nun lassen wir auch die Herbstrotberge hinter uns... seufzend blickt er zurück auf die sanften, runden Hügel mit ihrem roten Laub, den kleinen, klaren Bächen und den Häusern aus grauem Stein, als sie ins offenere Grasland hinausreiten. Die Straße, der sie nun folgen, führt schnurgerade nach Osten und er fragt sich wohl zum tausendsten Mal, wohin diese störrische Halbelbin eigentlich unterwegs war.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 10. Nov. 2002, 14:35 Uhr
Als sie die Nebrinôrthares hinter sich lassen, beginnt es zu regnen. Zuerst nicht mehr als ein paar verirrte Tropfen, aber im Lauf des Vormittages wird schwerer Herbstregen daraus. Der Ostwind weht kalt und erinnert sie daran, daß es doch Herbst ist - trotz der vielen Sonne, die sie in den vergangenen Wochen noch hatten genießen dürfen.

Zuhause ist jetzt die Zeit der schweren Herbststürme...es wird viel regnen, sie lächelt still unter der Kapuze ihres Elbenmantels und fragt sich, wie es ihren Freunden wohl ergeht. Raven...und Liya. Caewlin, Calyra...und Morholdrim. Was wohl Tian Shi tut? Ob es ihr besser geht...? Was tue ich eigentlich hier...? Ich sollte in meinem Baum sein und meinen Wald hüten!

Ein dicker Kloß sitzt in ihrem Hals und macht das Schlucken zur Qual. Ihre Augen brennen, doch sie hat schon lange keine Tränen mehr übrig. Stattdessen treibt ihr der Wind den Regen in kalten Schauern ins Gesicht. Gestern Nacht habe ich von einem Wolf geträumt, der im Regen heulte, doch niemand hörte seinen Kummer...war das Yuna? Oder der Schatten, der uns folgt, seit wir Sûrmera verlassen haben? Der Nordmann spürt ihn nicht, aber ich. Ich spüre ihn. Seit sie auf diese Reise gegangen war, waren all ihre Träume voller Schatten.

Der Regen läßt auch die ganze folgende Woche nicht nach und sie bekommen die Sonne kaum mehr zu Gesicht. Tag und Nacht bedeckt Nebel das Land und hüllt alles in nassen, grauen Dunst. Die Straße wird schlechter, je weiter sie nach Osten vordringen und nun sind auch die Berge zu sehen - eine langgezogene Kette hoher, dunkler Gipfel, die sich kaum vom düster drohenden Himmel abhebt.

Die wenigen Weiler und Gehöfte, an denen sie anfangs noch vorüberkommen, sind verlassene Ruinen von denen oftmals nicht mehr als ein paar Mauerreste übrig sind, die sich Gras und Heckenrosen längst zurückerobert hatten.
Die einstigen Felder sind von Unkraut überwuchert und seit Tagen sind graue Krähen die einzigen Tiere, die sie noch sehen. Vor ihrem inneren Auge sieht Niniane die Lande, wie sie sie in Erinnerung hat und das macht die neblige, leere Einöde, durch die sie reiten noch trostloser.

Sie reiten jeden Tag vom trüben Sonnenaufgang, der kaum Helligkeit bringt, bis zur Dämmerung, sprechen wenig und rasten nachts in kleinen Gehölzen, um wenigstens das Gefühl von Schutz zu haben. Der andauernde Herbstregen hat allerdings längst auch den dichtesten Hain völlig durchtränkt und den Boden aufgeweicht und die alte, gewundene Straße ist kaum mehr als ein schlammiger Weg.

Am dreizehnten Tag nachdem sie die Nebrinôrthares hinter sich gelassen hatten, beginnt das Land anzusteigen, die letzten Wälder weichen zurück und der Boden wird felsiger. An Nebel, Regen und Kälte ändert sich nichts. Mit dem Sonnenuntergang - nicht mehr als einer Ahnung von fahlem Rot weit, weit hinter ihnen im Westen - erreichen sie eine weitere Ruine. Diese ist jedoch größer als die anderen, ein steinernes Durcheinander  aus Trümmern und Unkraut.

Zwei Drittel eines moosbewachsenen Rundturms stehen noch und im Windschutz seiner Mauer schlagen sie ihr Lager auf. An ein Feuer ist mit regengetränktem Holz nicht zu denken, also holt Niniane einen Stein hervor, der etwa so groß wie ihre Hand ist und aussieht wie polierter Bernstein. Sie legt ihn auf die dicke Schicht nassen Laubes, das der Wind in das steinerne Rund geweht hat und er beginnt in sanftem Bernsteinlicht zu schimmern, spendet ihnen Licht und Wärme. Cron lächelt nur mild. Sie hat den Stein benutzt, seit die Regenfälle eingesetzt haben und sein Anblick ist für den Normander nicht mehr neu.

"Darth," murmelt sie schließlich, als beide um den Stein sitzen, eingewickelt in ihre kalten, klammen Umhänge und Cron auf den Stein starrt, als wären es brennende Flammen. "Das hier war einst die Feste Darth." Und ich bin fast da... Eigentlich sollte sie erleichtert sein, aber sie fühlt sich, als habe sie einen kalten, schweren Stein im Magen.
Morgen reiten wir ins Sturmtal hinab.


Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 11. Nov. 2002, 17:10 Uhr
Er ist so überrascht, daß Niniane ihn anspricht und nicht wie sonst stets schweigt, daß er einen Moment blinzelt, ehe ihm bewußt wird, was sie gesagt hat. "Das ist Darth? Das hier? Dieser Ring alter Steine?"
Darth war eine der größten Grenzfestungen des alten Imperiums von Ûr gewesen...aber Ûr war schon vor vor über fünfhundert Jahren untergegangen und Darth war lange vorher geschleift worden. Ein seltsames Gefühl macht sich in ihm breit, aber das mag vielleicht auch am Fieber liegen, gegen das er seit Tagen ankämpft, und das erst ein Trank Ninianes gelindert hatte. Zwei Wochen in Regen und Nebelkälte und Kleidern, die nicht mehr trocken gewesen sind, seit wir die Herbstrotberge verlassen haben!

Er schüttelt unmerklich den Kopf. Auf dieser Reise hatte er mehr gefroren als je im Norden in Tronje und das hatte ihn Respekt vor dem ildorischen Spätherbst gelehrt. Erlebte Kälte mißt man an der Windstärke und der Feuchtigkeit in der Luft, fallen ihm die Worte des alten Sithechpriesters ein, der ihn und Cutha als Kinder unterrichtet hatte. Wir reiten jeden Tag durch Nebelfrost und nicht enden wollenden Regen, hängen in unseren Sätteln wie ertrunkene Katzen auf ertrunkenen Pferden und geistern durch etrunkenes Land. Er hebt den Blick und begegnet ihren goldenen Augen. Niniane hatte so seltsam geklungen, so wehmütig, als kenne sie das alles hier von früher, als wisse sie genau, wie es hier einmal gewesen war. Die sanfte Nähe, die in all den Nächten entlang des Ildorel langsam gewachsen war, scheint zwischen ihnen geschwunden und mit ihr alles Lachen und jede Lebendigkeit der Waldläuferin. Je näher sie den Bergen gekommen waren, desto melancholischer war sie geworden und als er ihr jetzt gegenüber sitzt, kommt ihm der Gedanke, daß er niemals eine traurigere Frau gesehen hat, als sie.

Das Bernsteinlicht des schimmernden Steins wandert über ihr Gesicht, zaubert Licht und Schatten darauf und sein Herz krampft sich hoffnungslos zusammen. Selbst in ihrem Schmerz ist sie schön. Schön und stolz. Als er begriffen hatte, daß seine aufrichtige Zuneigung ihr mehr als unangenehm war, war er für lange Zeit auf ihrem gemeinsamen Weg wieder in die neckende, leicht boshafte  Freundschaft zurück verfallen, mit der umzugehen ihr leichter zu fallen scheint. Das ändert nichts an deinen Gefühlen, das weißt du. Und sie weiß es auch.
Sie sieht ihn an und nickt und diesmal blickt sie nicht gleich wieder fort. Ihre goldenen Augen sind groß und ruhig und flüchtig - so flüchtig, daß er sich hinterher fragt, ob er es sich nur eingebildet hat - blitzt ein unsichtbarer Lichtstrahl auf. Er spürt die Hitze durch die Haut, sein Fleisch und bis ins Mark seiner Knochen, sogar in seinen Atem dringt sie ein, dann schlägt Niniane die Augen nieder und der Augenblick ist vorbei.

Mehr um irgendetwas zu tun, als aus wirklichem Hunger zieht er die schweren, wie alles andere ebenso regenfeuchten Packtaschen näher heran und holt einen Weinschlauch, ein paar getrocknete Apfelscheiben Nüsse und schmale Streifen Dörrfleisch heraus und legt alles auf die Schlaffelle neben sich. Ninianes leuchtender Stein mag Wärme und Licht spenden, aber etwas darauf braten kann man nicht. "Sobald der Regen aufhört und wir ein Feuer anzünden können, müssen wir jagen. Ich habe dieses Dörrfleisch so satt." Falls der Regen jemals aufhört! Er lehnt sich an seinen Sattel, der hinter ihm liegt und blickt zu den Pferden hinüber, die mit hängenden Ohren dichtgedrängt an der Innenmauer der Turmruine stehen. Donner scheint der Regen mit seinem dichten, wasserabweisenden Winterfell wenig auszumachen, außer daß er ihn übellaunig macht. Die schlanke Wüstenstute erträgt Regen und Kälte zwar stoisch, aber man sieht ihr an, wie sehr ihr das zusetzt.
"Wollt Ihr mir nicht endlich verraten, wohin uns diese Straße führt? Diese ganze Reise? Ihr habt versprochen, Ihr würdet mir Euer Ziel offenbaren, bevor wir ankommen."

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 26. Nov. 2002, 17:29 Uhr
Niniane sieht eine ganze Weile auf den leuchtenden Stein, ehe sie antwortet. "Das ist wahr. Ich habe Euch schon gesagt, daß mich mein Weg ins Sturmtal führt..." Es war nicht recht, ihn soweit mitzunehmen, ohne ihn einzuweihen...es war nicht recht. Nur, weil du nicht allein sein wolltest. War es das? Hatte sie nur Gesellschaft gewollt, um die Einsamkeit nicht ertragen zu müssen? Oder ist da noch mehr?  "Aber ich habe Euch auch nicht gebeten, mich zu begleiten." Sie kann sehen, daß ihn ihre harschen Worte verletzen, aber sie sieht ihn nur gespannt an, als wolle sie Widerworte herausfordern. "Wir reiten zu den Ruinen von Sauloth." Sie kann an seinem Gesicht sehen, daß der Name ihm gar nichts sagt und blickt rasch auf ihre Hände. Ich kann das nicht noch einmal alles erzählen...ich kann nicht...ich kann nicht!

Dennoch öffnet sie den Mund und als sie beginnt, von der Vergangenheit zu sprechen, von dem namenlosen Grauen, das dort geherrscht hatte, und wie es vertrieben worden war, gibt es kein Halten mehr. Die Zeit verrinnt ungeachtet, während sie spricht und die Stunden der Nacht werden lang und kalt. Der Mond geht auf über den verwitterten Steinruinen von Darth.
Sie erzählt dem Tronjer von den Tempeln und der Stadt, die auf den Ruinen Sauloths entstanden waren, und von der Gemeinschaft der Elben und Menschen in den Tagen des Niedergangs des Imperiums. Sie erzählt von Jeliel, dem Mann, den sie geliebt hatte, dessen Frau sie geworden war. Dessen Leben sie so viele Jahre geteilt hatte, bis die Stadt überrannt wurde und Jeliel vor den Tempeltoren Sauloths den Tod gefunden hatte, um sie zu beschützen.

Sie kann sehen, wie die Haut über seinen Wangenknochen sich spannt und ihre Stimme wird zu einem tonlosen Raspeln, als sie weiterspricht. Sie berichtet mit starren Augen von den Kämpfen, von der Flucht aus den geheimen Tunneln, von ihrer Rückkehr in den brennenden Tempel und wie sie Jeliel hatte sterben sehen auf der breiten, weißen Marmorstufen, glitschig von Blut. Sie sieht das Bild noch heute so deutlich vor sich, als wäre es eben erst geschehen. Er hatte nicht geschrien, als er starb, obwohl bleiche Vampire an seiner Kehle gehangen hatten wie eine Rotte Jagdhunde an einem Keiler. Er war einfach gefallen.  "Ich habe ihn sterben sehen, Cron. Ich habe ihn sterben sehen und wurde wahnsinnig. Doch Jeliel kehrte zurück. Sie haben ihn zum Vampir gemacht und dreitausend Jahre war er einer von ihnen. Bis zu diesem Frühling."

Als sie weiterspricht hört sie ein Jammern und es kommt aus ihr. Sie will nicht wirklich fortfahren, sie will es nicht aussprechen und somit noch wahrer machen, als es ohnehin schon ist, aber sie kann auch nicht aufhören, zu erzählen. Und so erfährt Cron die ganze, verworrene, bittere Geschichte. Sie erzählt von ihrer Agonie und dem Treiben ihres eigenen Hauses, das ihr die Erinnerung nahm und Jeliel seinem Schicksal überließ. Sie erzählt von all den Ereignissen des Frühjahrs und Sommers, von ihrer kurzen, süßen Hoffnung und wie bitter sie vernichtet worden war. Als ihr Blick für einen Herzschlag lang seinen streift, kann sie nichts in seinen Augen entdecken, kein Gefühl, gar nichts. Die Haut über seinen hohen Wangenknochen ist angespannt, aber das ist auch der einzige Ausdruck auf seinem Gesicht. Nur seine Augen, in der Dunkelheit und dem Schimmer ihres leuchtenden Steines so blau, daß sie fast violett wirken, ruhen unverwandt auf ihr. Als sie endlich spricht, ist ihre Stimme völlig  ausdruckslos geworden. Sie fühlt gar nichts, keinen Schmerz, keine Bitterkeit, keine Trauer mehr. Ich bin tot und kalt geworden. Mein Herz liegt begraben unter einem Stein. "Ich werde nach Sauloth gehen, weil ich Jeliel dort töten werde, Cron."

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 09. Jan. 2003, 18:31 Uhr
Die Welt besteht aus grauer Dunkelheit und riecht nach Kiefern, Moos und Kälte. Bleicher Nebel steigt von der schwarzen Erde auf, während sie sich einen Weg durch ein Gewirr verstreuter Felsen und dürrer Bäume suchen, und ins Tal hinunterreiten. Sturmtal...kein guter Name. Und es ist auch kein guter Ort.

Fast drei Wochen hatten sie Zuflucht in einem verlassenen Bauernhaus gefunden, denn die Regenfälle hatten nicht aufgehört. Die alte und ohnehin schlechte Straße war  zu einem einzigen Schlammfeld geworden, in dem ihre Pferde bis über die Sprunggelenke eingesunken waren und Rilua hatte sich fast die linke Hinterhand gebrochen.  Sein Fieber war gestiegen, bis er eines abends von Donners Rücken gerutscht und nicht wieder aufgestanden war - und das nächste, an das er sich erinnerte,  war das erdige Dach eines winzigen, düsteren Hauses.

Immerhin war es noch dicht und auch warm. Irgendwie war es Niniane gelungen, ein Feuer in einem  gemauerten Kamin zu entzünden und draußen war der Regen niedergerauscht, unablässig, unaufhörlich. Das Geräusch hatte ihn sogar in seine wirren Träume begleitet  und war für lange Zeit das einzige gewesen, was er überhaupt wahrgenommen hatte. Hin und wieder war Ninianes blasses, verschlossenes Gesicht in seinen  Fieberträumen aufgetaucht, manchmal hatte sie ihn mit Suppe gefüttert oder ihm zu Trinken gebracht. Als das Fieber endlich gesunken war und er wieder zu sich kam,  hatte sie ihm zwei Tage gegeben, um zu Kräften zu kommen - dann waren sie erneut aufgebrochen.

Wenigstens hatte der Regen inzwischen aufgehört und irgendwann,  während er krank darnieder gelegen war, hatte sich der Winter sogar bis hierher in die südöstlichen Herzlande geschlichen.
Es liegt kaum Schnee, aber es herrscht kalter, nebelfeuchter Frost und die Sonne hatten sie seit Tagen nicht mehr gesehen. >Ich werde nach Sauloth gehen, weil ich  Jeliel dort töten werde, Cron...< Er hört Ninianes Worte so deutlich, als sage sie sie ihm noch einmal ins Gesicht, und wie damals denkt er auch jetzt:  Barmherzige Götter und all ihre Archonen! Was ist das für ein Wahnsinn?

Aber nun sind sie endlich am Ziel ihrer langen Reise angelangt: dort unten irgendwo in  der Dunkelheit über dem Talgrund liegen sie, die Ruinen der einstigen Templerstadt, in der Niniane gelebt und als Priesterin gewirkt hatte, in der ihr Mann gefallen war. Und darunter, zerstört und doch noch immer voll wispernder Schatten und böser Geister, die Ruinen Sauloths, der Schwarzen Zitadelle.
Er hätte tausend Fragen an die Waldläuferin gehabt, die allesamt mit >Warum...?< begonnen hätten, aber er hatte nichts gesagt und nichts gefragt: wie sollte man  unerklärliches in Worte fassen? Für sie war es wichtig, das zu tun. Es hier zu tun, warum auch immer. Und weil sie hier war, war er auch hier.

Wölfe heulen in den  Bergen und ihr an- und abschwellender Gesang hallt geheimnisvoll und melancholisch von den grauen, felsigen Hängen des Wyrmschwanz herunter. Soldatenkiefern,  Föhren und Lärchen bewachsen die unteren Berge in dichten Hainen, doch ihre hohen Gipfel sind schneebedeckt und felsig. Irgendwo hinter ihnen antwortet dem  geisterhaften Chor eine einsame, dunkle Stimme und ihr Klang läßt Niniane, die vor ihm reitet, im Sattel zusammenzucken. Rilua scheut und schnaubt angstvoll und  auch Donner wiehert leise. Als habe uns alle gleichzeitig ein böser Traum berührt... Unbehaglich wendet er sich im Sattel um und sucht mit den Augen die  bewaldeten Hänge hinter ihnen ab, doch nichts ist zu sehen, außer Nebel und Felsen, silbrig vom Rauhreif.
Niniane hat es auch gehört... es auch gespürt. Was ist das für ein Wolf, der uns folgt?

Kurz bevor sie die Talsohle erreichen, wendet Niniane die kupferrote Wüstenstute jedoch nach Norden und eine Weile reiten sie parallel zum Hang, den sie die ganze  Zeit herabgekommen waren, schlagen so einen weiten Bogen und erreichen schließlich einen rundkuppigen Hügel. Die Waldläuferin hält inne und wartet, so unbewegt  wie eine Statue, bis er zu ihr aufgeschlossen hat. Als er von der Seite auf ihr Gesicht hinab sehen kann, trägt ihre Miene einen seltsam sehnsüchtigen Ausdruck, als  hätte er sie bei einer angenehmen Erinnerung ertappt, die ebenso viel Wehmut in sich birgt.

Sie murmelt etwas, das er nicht versteht, wahrscheinlich den elbischen  Namen dieses Orts und läßt ihre Stute die nebligen Hänge hinaufsteigen. Donner folgt ihr schnaubend. Der Ritt hinauf ist anstrengend für die Pferde, der Boden hart  gefroren und immer wieder müssen sie Eisflächen zwischen den Felsen überqueren. Die Sterne kommen heraus, fahl und kalt im Mantel der Nacht, als sie endlich die  hohe, runde Kuppe erreichen.

Goldbuchen und Föhren bedecken die Hänge des Hügels, doch hier oben steht ein Ring aus mächtigen, schneeweißen Stümpfen, die  traurigen Überreste einst heiliger Herzholzbäume. Blutbäume nennt man sie im Norden, wegen ihres roten Harzes...
Während sie in den Kreis reiten, zählt er die hellen Baumstümpfe. Es sind dreizehn an der Zahl und die meisten von ihnen scheinen breiter als so manche Bauernhütte,  die er schon gesehen hat. Niniane erzählt leise, daß dieser Hügel einst den Stämmen der Alten heilig war und daß ihn auch die späteren Bewohner des Sturmtals, ja  sogar die finsteren Schrecken Sauloths stets gemieden hatten. Es hieß einst, auf dem Hügel spuke es und Geister gingen hier oben um, die Geister der Bäume, die hier  gefällt worden waren.

Sie steigen aus den Sätteln, steif und müde nach einem ganzen Tag auf den Pferden und schlagen ihr Lager auf. Cron hat von den Stämmen der  Ersten Menschen und ihren Neun Reichen gehört, und auch von Blutbäumen und ihrer angeblichen Zauberkraft, aber Geister fürchtet er nicht. Als er klein gewesen  war, hatte er sich immer mit Cutha in der Gruft von Tronje versteckt und zwischen den schwarzen Wächterstatuen dort, die die Knochen ihrer Ahnen behüteten,  hatten sie die wildesten Spiele gespielt.
Dennoch weckt ihn in dieser Nacht mehr als nur der Wind, der an seinen Schlafpelzen zerrt und ihm feinen Pulverschnee ins Gesicht wirbelt.

Als er den Kopf ein  wenig hebt, sieht er Ninianes Schlafpelze leer, und als er sich umdreht, erblickt er sie in der Glut des Lagerfeuers einige Schritt weg von ihm. Sie spricht mit einer Frau,  die so alt und gebeugt ist, daß er sie im ersten Augenblick für einen Troll hält. Ihr Haar ist weiß und so lang, daß es bis auf den Boden reicht und ihre Haut ist noch heller als Knochen. Sie ist unglaublich dürr und verrunzelt und stützt sich schwer auf ein eine schwarzknorrige Wurzel. Sie ist mit Sicherheit einen Fuß oder mehr kleiner, als der kleinste Zwerg, den er je gesehen hat und er meint, ihre Augen seien schwarz wie Kohlen, ohne Iris und Pupillen,
obwohl er das durch das flackernde Feuer nicht genau sagen kann.

Was Niniane sagt ist so leise, daß er es nicht hören kann, aber als die Alte, was immer sie für ein Wesen sein mag, spricht, geht ihm ein kalter Schauer über den Rücken, so alt ist ihre Stimme.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 10. Jan. 2003, 20:53 Uhr
Ungefragt läßt sich die geisterhafte Alte nieder. "Die Sonnentochter ist zurück um mir die Ehre zu geben und sie hat sich den Winter mitgebracht. Es ist lange her, selbst für mich, die ich vergessen habe, was Zeit ist."
"Sprich nicht in Rätsel, alte Frau," erwidert Niniane, aber sie klingt nicht zornig. "Und nenn mich nicht so. Es ist nicht mehr wahr."
"Das kann nicht sein, denn die Glut der Sonne rollt durch Eure Adern, ob Ihr wollt oder nicht." Die Alte hat nur noch drei windschiefe Zähne. "Gebt mir Met, Kind, oder ich gehe wieder. Meine Knochen schmerzen in der Kälte und hier oben ist es immer kalt."
"Einen Silberling für Eure Träume, und einen mehr, wenn Ihr etwas von Eurem Wissen für mich habt," antwortet Niniane mit ernster Höflichkeit. Sie steht nicht oft einem Wesen gegenüber, das älter ist als sie selbst.

"Was will ich altes Weib mit einem Silberling in dieser Ödnis? Kann ich ihn essen? Wird er mich wärmen? Vertreibt er die Schmerzen aus meinen Knochen? Läßt er mich ruhen? Nein. Gebt mir einen Schlauch Met für meine Träume und einen dicken Kuss von Eurem Nordmann für mein Wissen. Sein Mund schmeckt gewiß nach süßem Leben, meiner nur noch nach Knochen. Es ist zu lange her, daß ich geküßt worden bin. So alt wie Ihr geworden seid, Sonnenkind, reicht dafür nicht aus," kichert sie. Niniane häl ihr wortlos den Weinschlauch hin. "Met habe ich nicht. Und die Küsse des Nordmanns sind nicht für Euch."
Kichernd nimmt die bleiche Alte einen langen, tiefen Zug aus dem Lederschlauch und blickt Niniane listig an. "Schlechter Wein für schlechte Kunde," beginnt sie schließlich krächzend. "In Eurer Stadt geschieht Schlimmes, ist Euch das schlecht genug?"
Ninianes Herz schlägt schmerzhaft schneller. "Was geschieht?"

Die Alte wischt sich mit dem dürren, faltigen Handrücken dunkle Weinrinnsale vom Kinn.
"Ich träumte, der Mond ist vom Himmel herabgekommen und scheine nun in Talyra, um die Schatten zu vertreiben, aber die Schatten sind stark und ein weißer Wolf kehrt zurück in die Stadt.  Ich träumte von einem rauschenden Fluss, der einen Mann ohne Gesicht gebar und dann trieb eine Nachtigall mit gebrochenen Flügeln tot im Wasser, doch eine gelbe Katze sprang ihr nach und zog sie heraus. Das Schattenherz hat lange schon die Flammen verschlungen und fortgezogen ist das Feuer, um sich selbst neu zu entfachen. Schattenkind und Himmelstochter haben sich verirrt und suchen den rechten Pfad, aber auf ihrem Weg liegen nur Knochen." Die Greisin nimmt einen weiteren langen Schluck aus dem Schlauch und schmatzt geräuschvoll, als sie ihn absetzt. Als sie weiterspricht ist ihre Stimme wieder so hohl und unheimlich wie zuvor:
"Der Hund hat seine Meute um sich geschart, doch sie wurde von der schwarzen Erde verschluckt. Dunkelheit und verfaulende Leichen haben den Drachen verschlungen, ja...der Blinde, der sehen kann wartet, aber worauf will er nicht wissen." Ihre Augen suchen Ninianes Blick und halten ihn fest: "Ich träumte von einem Wolf, der zum  Mond sang, doch niemand hörte seinen Kummer. Aber das traurigste Geräusch kam von fallenden Blättern..."

Niniane hört Cron auf der anderen Seite des Feuers etwas von Träumen murmeln und wirft ihm einen scharfen Blick zu, doch die Alte beachtet ihn nicht weiter, sondern nimmt noch einen tiefen Schluck aus dem Weinschlauch in ihren zitternden Händen und drückt ihn dann an sich, wie einen Schatz. Der Hund? Meint sie Caewlin? Niniane ist sich nicht sicher, aber das Gerede über Schatten und Drachen hat Unruhe in ihr geweckt, die kein Gedanke mehr beruhigen kann. Die Alte sieht sie listig an. "Ihr solltet Euch beeilen, nach Hause zu kommen, Sonnenkind. Hier im Sturmtal gibt es nichts mehr für Euch - nur noch die Schatten von Schatten und selbst die sind lange schon vergangen."
Das Feuer lodert auf und die Alte trinkt ihren Wein mit ein paar langen, tiefen Schlucken aus und wirft den Schlauch dann fort. Erneut kichert sie. "Kein Kuss, kein Wissen!" raunt sie der Waldläuferin zu und im nächsten Augenblick ist sie so schnell verschwunden, wie sie herkam. Eine kleine, bleiche Gestalt, deren weißes Haar wild um ihren Kopf weht, als sie zwischen den fahlen Baumstümpfen hindurchschleicht. Sie ist nicht größer als ein kleines Kind und hinterläßt eine beunruhigte und zutiefst verwirrte Niniane, die langsam ans Feuer zurückkehrt.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 15. Jan. 2003, 19:47 Uhr
Cron setzt sich in seinen Schlafpelzen auf, als Niniane sich am Feuer auf ihren eigenen Fellen niederläßt. "War...das ein Geist?" Niniane schüttelt nur sacht den Kopf und er nickt.
"Ich schätze Geister beschweren sich nicht darüber, daß ihre Knochen klappern..." er verzieht das Gesicht zu einem unfrohen Grinsen und schält sich aus seinen Pelzdecken. Die Nacht ist kalt und der Wind heult hier oben unablässig. "Wie nett, daß Ihr mich davor bewahrt habt, die alte Vettel auch noch küssen zu müssen."  Er steht auf und tritt vom Feuer weg in Kälte und Dunkelheit.
Träume...wozu sind Träume gut? Männer ohne Gesicht und heulende Wölfe. Ich habe letzte Nacht auch geträumt. Von Dancys Pfirsichen. Hat das etwas zu bedeuten, außer daß ich schon zu lange allein schlafe?
Er blickt zu Niniane hinüber, in deren Haar der Feuerschein kupfergoldene Strähnen zaubert, aber selbst ihr Anblick besänftigt nicht die rastlose Unruhe, die sich in ihm ausbreitet.
"Und nun? Ihr habt uns hierher geführt ins Sturmtal und hier sind wir..." auf einem Hügel der Ersten Menschen in einem Ring toter Blutbäume in einer Nacht voll Wind und Kälte... Er kennt ihre Antwort, ehe sie die Worte ausspricht: Wir warten...
Donner schnaubt in seinen Futterbeutel, scharrt mit den Hufen über den gefrorenen Boden und reibt seinen Kopf an Riluas Flanken. Die Wüstenstute hat abgenommen - von schlank zu mager und ihr Fell ist stumpf, und nachdem die langen Regenfälle des Herbstes endlich aufgehört hatten, erholt sie sich nur langsam. Und worauf wartest du, Niniane? Darauf daß ein toter Mann erscheint, damit du ihn nocheinmal töten kannst...das ist verrückt. Den bittere Geschmack der Verzweiflung kennst du nur zu gut, aber du gibst nicht nach, ehe du den Becher nicht zur Neige geleert hast...nicht wahr?

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 19. Jan. 2003, 22:52 Uhr
Ein trauriges kleines Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, als habe sie seinen letzten Gedanken erraten, aber sie sagt nichts. Fern im Wind ist wieder das Heulen der Wölfe zu hören und der Nachtwind singt kalt über die Hügelkuppe. Morgen nacht, wenn der Mond sich rundet und über den Gipfeln der Berge aufgeht, ist das Warten vorüber und das Ende kommt.

Sie legt den Kopf ein wenig schräg und sieht zu dem Nordmann hoch.  Er hat sie so weit begleitet. Er ist ihr so nahe gekommen. Ich bin ungerecht...und selbstsüchtig. Ich hätte niemals zulassen dürfen, daß er bei mir bleibt...
Sie will eben den Mund öffnen, um doch etwas zu erwidern, als ein großer, dunkler Schatten zwischen den bleichen Stümpfen der toten Herzbäume hindurchschwebt. Unter rauhem Krächzen und Flattern kehrt Shugorn zu ihr zurück und landet auf ihrer Schulter.

Der Rubinrabe  reibt seinen Kopf an ihrer Wange und zupft an ihrem Hemdkragen und sein Schnabel ist glatt und kalt auf ihrer Haut. "Shugorn...min Ijo...min yunar Autar. Du bist zurückgekommen..." sie streicht über seinen Kopf und den Rücken, so zärtlich wie der Klang ihrer Stimme, hält seinen Kopf in ihrer Hand und krault seine Stirn. Sein Gefieder ist schmutzig und verwahrlost, aber seine dunklen, glühendroten Augen sind klar und listig wie stets. "Ich habe dir gesagt, du sollst in die Wälder zurückkehren, du dummer, flohverbissener Vogel!"

Shugorn reibt nur seinen Kopf an ihrer Hand und mit einem Mal hat sie die bernsteindunklen Augen voller Tränen. Seltsam. Ich dachte, ich hätte keinen Tränen mehr übrig. Für nichts. Du hättest nicht zu mir zurückkehren sollen, Shugorn. Hier erwartet dich nichts, nur der Tod. Nur der Tod...
Sie kann die Augen des Nordmanns auf sich fühlen und hält den Kopf gesenkt.  Lieber wäre sie verdammt, als vor ihm zu weinen wegen eines schmutzigen Rubinraben. Sei nicht albern, wispert eine leise Stimme in ihrem Inneren. Rede dir ein, es sei der verdammte Rabe, aber wir beide wissen gut, daß das nicht so ist...

Niniane holt tief Atem, um den Schmerz in ihrer Brust zu lösen, aber sein Griff ist kalt und fest und sie schlingt die Arme um ihre Mitte, als könne sie sich so vor ihm schützen. Shugorn sucht flatternd Halt auf ihrer Schulter, doch dann breitet er erneut die Flügel aus und segelt mit drei trägen, kraftvollen Schlägen zu Cron hinüber.
Cron krächzt er. Cron...Cron...Cron.

Ja...Cron, Cron, Cron! Verdammt sollst du sein, Nordmann. Verdammt seien deine Augen, deine Nähe, dein loses Mundwerk und deine Verlässlichkeit. Und verdammt sei auch ich! Aprubt steht  sie auf, tritt zwei drei Schritte zurück, fort vom verräterischen Feuerschein und wendet sich ab. Ihr Herz liegt begraben unter jenem dunklen, kalten Stein. Dort lag es seit dreitausend Jahren und sie hatte nicht daran gerührt. Und nun ist es zu spät.
Der Wind fährt durch ihr Haar und löst ein paar feine Strähnen aus ihrem Zopf und zerrt an ihrem Umhang, der sich hinter ihr bauscht. Sie dreht sich nicht um, und als sie ihm schließlich antwortet, ist ihre Stimme so leise, daß sie sicher ist, er kann ihre Worte nicht gehört haben.  "Es können nicht immer alle Geschichten gut ausgehen, Cron."

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 21. Jan. 2003, 18:46 Uhr
Als der Rabe in den Ring der Herzbäume flattert und zu Niniane zurückkehrt, läßt ihn die Sanftheit in ihren rauhen  Worten lächeln, aber die wachsende Verzweiflung in ihren goldenen Augen läßt ihn schaudern. Als der Rabe zu ihm herüberfliegt, steht sie so plötzlich auf, daß er zusammenzuckt. Shugorn macht Anstalten auf seiner Schulter landen zu wollen, aber er streckt die Hand aus wie ein Falkner und so flattert der Rabe auf seine Faust und krallt sich in den Saum seines Hemdes. Die scharfen Krallen schneiden tief in die Haut, doch Cron ist in diesem Augenblick vielleicht sogar dankbar für den Schmerz. Seine Augen sind immer noch auf Niniane gerichtet, die auf der anderen Seite des  Feuers steht, abgewandt, als hätte sie etwas im Innersten getroffen. Wundert dich das? Nach allem, was ihr das  Schicksal auferlegt hat, kommt einem die schrecklichste Legende aus der Zeit des Blutes vor wie ein  Kindermärchen...

Er macht einen Schritt auf sie zu und der Wind heult wie ein wütendes Tier durch die Nacht, zerrt an ihrem Umhang, ihrem langen Zopf, an seinem Haar und seinem Waffenrock.
Sie hat nie vorgehabt, von dieser Fahrt zurückzukehren, wird ihm klar. Sie hat nie daran geglaubt, das hier zu überleben.
Die Flammen des Lagerfeuers schlagen hoch, ändern die Richtung und Funken treiben davon in die Dunkelheit. Dann hat er sie erreicht und streckt den Arm nach ihr aus, nur irgendwie ist die Bewegung damit nicht zu Ende.

Einen Herzschlag lang wehrt sie sich gegen ihn und Shugorn steigt mit rauhem Krächzen von seiner Schulter auf, aber er hält sie nur fester.  Er hört ein gemurmeltes "Nein" oder vielleicht das elbische Wort dafür, aber ihr Herz schlägt laut gegen seines. Er kann es durch die Schichten ihre Kleidung und den Stoff seines Surcots und Hemdes darunter spüren.
"Sag nie wieder nein zu mir."
Sie will ihr Gesicht abwenden und er nimmt es in beide Hände, fürchtet einen irrwitzigen Moment lang, wenn er sie losließe, würde sie verschwinden, sich auflösen wie ein Wesen aus Träumen, nicht greifbar und unwirklich.
Ihr Haar und ihre goldene Haut riechen schwach nach Ambra und Pflaumenblüten, aber ihre Lippen sind kalt wie die Nacht. Sie öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, ihre Hände stemmen sich gegen seine Brust, aber er erstickt jedes weitere Widerwort mit einem Kuss. Der Wind scheint aus allen Richtungen zu kommen und vermischt ihr Haar, rot und schwarz.

Ihr Mund wird warm und weich und schmeckt berauschender als Sommerwein und ihre Hände wehren sich nicht länger gegen ihn, sondern klammern sich an den Saumkragen seines Waffenrocks.
Er stolpert mit ihr in seinem Arm rückwärts, die wenigen Schritte zurück ans Feuer, zu ihren Pelzen, sein Mund noch immer fest auf ihrem. Der Boden ist silbrig und reifüberzogen und die flackernden Flammen werfen tanzende Schatten auf die bleichen Stämme der Blutbäume um sie her, doch sie achten auf nichts mehr.  Sie brennen und schmelzen wie Seide, die man zu nahe die Flammen hält und die Nacht vergeht im wilden, weichen Tanz aus Fleisch und Bewegung während der Wind ihre Haut kühlt und von lang vergessenen Geschichten singt, an die sich nur noch die Bäume erinnern...

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 21. Jan. 2003, 19:12 Uhr
Niniane sieht auf sein schlafendes Gesicht hinunter. Sie trägt ihr Kettenhemd aus Yalaris, ihren Bogen und ihr Schwert und ihre Augen sind so dunkel, als sei alles Gold herausgeschmolzen und habe nur trüben Bernstein zurückgelassen. Cron liegt auf der Seite, die Arme unter dem Umhang vergraben, der ihnen als Kopfkissen gedient hat. Mund und Nase vibrieren weich, als rieche er an einer Blume. Oder als küsse er sie ihm Traum. Sie hatten sich die ganze Nacht hindurch und den halben Tag fast verzweifelt geliebt, als wüßten sie beide, daß es kein Morgen geben würde - aber sie hatten die ganze Zeit über kein Wort gesprochen. Gegen Mittag hatte sie ihm einen Trank aus Nachtschattennektar in seinen Wein gemengt, ohne daß er es bemerkt hatte -  und nun würde er schlafen. Tief und träumend schlafen und erst wieder erwachen, wenn...

Sie bringt den Gedanken nicht zu Ende. Die Sonne sinkt bereits. Der Sonnenuntergang läßt die bleichen Stümpfe der Herzbäume in diffusem rotgoldenem Dunst glühen und ein bleicher, fast durchsichtiger Vollmond steigt groß und rund über den Bergen auf.
Etwas weiches, kühles berührt ihre Stirn und sie blickt hoch: große, weiße Flocken fallen lautlos aus einem merkwürdig klaren, abenddunklen Himmel. Sie hat das Feuer neu entfacht, als sie in der Abenddämmerung aufgestanden war, und nun zischt der Schnee, wenn er die Flammen berührt und schmilzt. Ein leises Lächeln geht über ihr Gesicht und sie streckt die Hand aus, ohne nachzudenken und berührt eine alte Narbe an seiner Schulter. Seine Haut ist seidig und warm, aber die Muskeln darunter sind so hart und unnachgiebig wie Stein. Geh! Geh, solange du noch den Mut dazu aufbringst! Geh!

Ihr heiseres Flüstern vermischt sich mit seinem ruhigen Atem, als sie leise die Worte ihres einstigen Schwures als Jägerin spricht wie ein Gebet, während Shugorn lauscht und sich die toten Herzbäume als Zeugen anbieten.
"Die Nacht sinkt herab und meine Jagd beginnt. Sie soll nicht enden vor meinem Tod. Ich will kein Land besitzen und keinen Ruhm begehren. Ich will auf der aufgenommenen Fährte leben und sterben. Ich bin das Schwert in der Dunkelheit. Ich bin der Pfeil aus den Schatten. Ich bin der Speer in der Nacht. Ich bin das Feuer, das gegen die Kälte brennt, das Licht, das den Morgen bringt, das Jagdhorn, das die Schläfer weckt, der Schild der gegen die Finsternis steht. Ich widme mein Leben und meine Ehre der Großen Jagd, in dieser Nacht und in allen Nächten, die da kommen werden...."

Einen Augenblick später ist der Hügel bis auf einen schlafenden Mann und zwei angepflockte Pferde leer. Selbst der ewig wehende Wind schweigt und nur der Schnee fällt, sanft und unerbittlich über schutzlosem Land.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 21. Jan. 2003, 21:53 Uhr
Er erwacht, weil ein Pferd vor Angst schreit und trotz der Kälte spürt er ein dünnes Rinnsal Schweiß zwischen seinen Schulterblättern. Es muss weit nach Mitternacht sein. Was war das...? Er setzt sich auf und fühlt sich benommen, so als habe er zuviel Wein getrunken und irgendwie... schwer und müde. Die Felldecken neben ihm sind leer und kalt, als wäre Niniane nie neben ihm gelegen. Am Himmel steht ein großer Mond, rund und fett wie ein fahles Auge und die bleichen Baumstümpfe schweben in einem Meer aus vom Mondlicht versilberten Dunst. Schnee fällt in dichten, weißen Schleiern und irgendetwas ist entsetzlich falsch.
Es ist kalt. Ungeheuer kalt. Viel kälter, als es in einer Nacht mit weichem Schneefall sein dürfte. Sein Atem gefriert noch auf seinen Lippen. Die weiße Kälte ist gekommen. Niniane ist fort und...oh Götter! Sie musste etwas in seinen Wein getan haben, damit er schlief. Damit er schlief und sie ziehen lassen musste. Er steht auf, angelt nach seinen Kleidern, schlüpft fluchend in Hosen und Hemd und erstarrt, als er den Wind hört. Kalte Stimmen singen darin. Er sieht sich um, und glaubt schemenhaft Bewegungen hinter dem Dunst um die Blutbäume zu sehen. Die Wüstenstute kreischt und stampft und versucht wild sich von den Zügeln zu befreien, mit denen sie angebunden ist und selbst Donner wiehert angstvoll in die Nacht. Ein Kreis aus Blutbäumen. Ein heiliger Ort. Nichts Böses kann in den Kreis der Bäume eindringen...

Sein Herz hämmert so laut, daß das Rauschen seines Blutes selbst den Wind übertönt. Etwas Kaltes und Dunkles lauert jenseits des Nebels in der Nacht, er kann es spüren, er kann es in der Luft schmecken und im Wind hören. Eine Kälte die denkt. Fluchend streift er seine Stiefel über, fluchend schnallt er seinen Schwertgurt um, fluchend wirft er sich in sein Kettenhemd, schließt mit klammen Fingern die Schnallen und hat das Gefühl, zehnmal so langsam voranzukommen, wie sonst. Fern in der Nacht irgendwo östlich von ihm meint er ein Krachen zu hören, wie das Geräusch von Eis, das unter den Füßen eines Mannes bricht und dann ein Kreischen, so hohl und schrill, daß er sich die Ohren zuhalten muss. Die Pferde erstarrten vor Angst und zitterten nur noch, stehen ganz still, die Ohren angelegt,die Augen so sehr verdreht, daß nur noch das Weiße in ihnen zu erkennen ist. Er sattelt Donner und flucht noch lauter, weil der Sattelgurt immer wieder durch seine gefrorenen Finger rutscht, obwohl sie längst in den Handschuhen stecken. Nicht einmal im Norden jenseits von Nordwacht und den Eiswällen, jenseits der Mauer und der Halle von Letztfeuer war es jemals so kalt gewesen. Der Schnee auf seinem Gesicht fühlt sich dagegen fast warm an.

Einen Augenblick später sitzt er im Sattel. Jetzt kann er die schleichenden Schatten hinter den Bäumen sehen. Sie gleiten durch den Nebel wie Alpträume in der Nacht und ihre Augen, fahl und leer, starren blind zu ihm herüber. Tote. Das sind...Tote. Donner stampft und wiehert verzweifelt. Irgendwo jenseits des Nebels muss auch Niniane sein. Er packt Riluas Zügel, durchtrennt die Halteleine mit einem raschen Dolchhieb und wird dabei fast aus dem Sattel geworfen, weil Donner seitlich ausbricht. Dann preschen die Pferde davon, galoppieren schon, noch bevor sie den Ring aus Baumstümpfen in seinem bleichen Dunst erreichen und rutschen wild die steilen Hänge des Hügels hinab. Sie stürzen hinunter durch kalte, schwarze Schatten, brennende, fahle Augen und treibenden Schnee. Die Toten bleiben stehen, werden niedergeritten und unter den Hufen zertrampelt. Rauhreif bedeckt ihre Leiber wie glänzender, gefrorener Schweiß. Noch im Fallen greifen sie nach den Steigbügeln und Beinen der Pferde, selbst nach seinem Schwert, daß die Nacht durchschneidet und totes Fleisch zerteilt, wo immer es trifft.

Ein halbverwester Schattenwolf, bleich und tot, dessen Haut und Fell in Streifen von ihm herabhängt, verbeißt sich in Riluas Flanken und die Wüstenstute geht in einem Gewirr aus zappelnden Beinen und schreiendem Pferdefleisch zu Boden, und kurz darauf fallen die Schatten über sie her.
Dann ist er aus den Bäumen heraus und Donner galoppiert spritzend durch einen gefrorenen Bach, während der Lärm des Gemetzels hinter ihm zurückbleibt.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 26. Jan. 2003, 17:56 Uhr
Die Welt besteht nur noch aus Blut und Tod und Schneetreiben. Schatten lauern auf den Stufen, Schatten drängen um die zerbrochenen Säulen und kalte, tote Augen, rot wie gefrorenes Blut, leuchten in der Nacht.
Niniane steht auf der obersten Stufe dessen, was vor dreitausend Jahren das Portal des Shenrahtempels gewesen war und starrt blind in das wirbelnde Weiß um sie her. Blut läuft ihr aus einem langen Kratzer über ihrer linken Braue in die Augen und sie blinzelt es fort, wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Ein dünner Schweißfilm liegt auf ihrem blaßgoldenen Gesicht, trotz der bitteren Kälte, die sich mit den Toten ins Sturmtal gekommen ist, und sie blutet inzwischen aus einem guten Dutzend kleinerer und größerer Wunden. Sie atmet schwer, hebt ihr Schwert und berührt die lange, schlanke Klinge mit der Stirn. Das Metall ist so kalt, daß die Berührung brennt. Erillos-mi, wair te Anar îhiot nurion îr ôn ca Duris...nurion îr ôn ca Duris...

Unter ihr auf der einst breiten, sanft ansteigenden Treppe, deren Stufen beinahe alle geborsten und rissig sind, liegen erschlagene Tote und Schatten, deren Leiber verrauchen, wenn sie vernichtet werden.
Der Tempel hinter ihr ist zur Hälfte eingestürzt, seine Tore hängen zerborsten und rostig in den Angeln und das halbe Dach fehlt. Dennoch ist es noch immer geweihter Boden. Geweihter Boden, den kein Diener der Finsternis betreten kann, ohne den eigenen Untergang zu riskieren.
Aber sie ist nicht allein - er ist nahe und sie kann ihn fühlen, wie ein Raubtier in der Nacht, daß sich in der Dunkelheit ans Feuer schleicht.
Nichts ist wie es sein soll - nichts ist wie sie erwartet hat. Sie ist allein gekommen - aber er nicht. Hatte sie wirklich Fairness erwartet? Von einem Wesen, das seit dreitausend Jahren der Finsternis und nur ihr gehört? Mach dich nicht lächerlich... Dennoch - von all ihrem Schmerz ist das der bitterste.

Etwas bewegt sich im Schneetreiben und bringt eine noch tiefere Kälte, so kalt, daß ihr Atem und ihr Blut auf ihrer Haut gefriert. Hinter dem weißen, wirbelnden Vorhang des fallenden Schnees färbt sich der Bodennebel purpurrot, als würde Blut zu Dunst - und in diesem Nebel regt sich etwas, ein schattendunkles, massiges Gebilde, und aus der rötlichschwarzen Finsternis tritt etwas heraus, das Mann und Wolf, Vampir und Dunkelheit, Kälte und Tod gleichzeitig ist - und doch keines von allem. Das Kalte, das so lange gewartet hat, kommt und dringt in ihr Herz.
Trotz seiner Masse bleibt es seltsam durchscheinend, ein Schatten aus pochendem Schwarz, Rauchgrau und geflecktem Blutpurpur, verletztend in seiner pulsierenden Düsternis.
Ihr Geist verschließt sich vor der grausamen Kälte und der entsetzlichen Leere seines Wesens und in ihren dunklen Augen sammelt sich Licht, ein harter, goldener Glanz, von der weißglühenden Farbe schmelzenden Metalls, aber in ihr ist nichts außer erstickendem Schmerz.

"Te îhiot te Myr ayir Windor. Îr te Myr ayir Kizumaes." Ihre Stimme ist leise, aber ihre Worte, gesprochen im alten Shidar, der Sprache der Hochelben, geboren auf den Himmelsinseln in einer Zeit, als es noch keine Finsternis und keine Schrecken wie diesen gegeben hatte, lassen die Schwärze des Wesens für einen Augenblick flackern.

"Tetis Cala îhiot hjir tes Nornyiranes
iorid mi tyalarit an tetisem deculonys sheronon Anares
îr hjir te Shunjaes te min Lâris jirrilait
Hjir te Sombraes ca min Amnar
Tetis Cala  îhiot hjir min Ossiris
Hjir te Kizuma iorid dalios zaluait an min Nar
Hjir te Wyn iorid juersis tomat
ôr Onaris îr Windor, Amnar îr Myrmared..."


Ninianes Worte sind nicht mehr als ein Wispern, das in der Kälte gefriert, doch das Schattenwesen windet sich wie eine Schlange, als sei es sengenden Flammen zu nahe gekommen. Zu Ninianes Füßen sammelt sich goldener Dunst, fahl wie eine anbrechende Morgendämmerung. Die pochende Schwärze  wird fleckig, als krieche Grau darüber wie zartes Eis über dunkles Wasser. Sie läßt ihr Schwert sinken und steht  vor der wallenden Finsternis, lächerlich klein und verwundbar und aus ihrer Nase läuft Blut, hell und rot wie der Saft von Eibenbeeren.

In ihr scheint etwas zu brodeln und ihre Augen glühen jetzt so hell wie brennende Mittagssonne. Doch als ihr Flüstern verstummt, kratzt seine Stimme, so harsch und kalt wie Eis durch die Dunkelheit. Er sagt nur ein einziges Wort, in einer Sprache so hart wie zerspringender Stein und so kalt wie die Leere zwischen den Sternen, aber das genügt, um Niniane zurücktaumeln zu lassen. Es war ihr Name.
Ich bin das Schwert in der Dunkelheit. Sie starrt in die wabernden Schatten, die formlose schwarze Gestalt, die vor so vielen Jahrhunderten einmal Jeliel gewesen war...ich bin der Pfeil aus den Schatten... und spürt im Nachhall seiner furchtbaren Stimme etwas, das ihr wie eine Antwort ist. Ich bin der Speer in der Dunkelheit.

Sie erinnert sich an Jeliels Gesicht, wie er in der Sonne auf einem Felsblock gesessen hatte, an sein langes, dunkles Haar. An Kranichfedern.
"Dalio...diomait... ti," wispert sie, dann zeichnet ihr Schwert einen flirrenden Bogen goldenen Lichts in die Nacht und durschneidet Kälte und Schatten, Schwärze und Fleisch. Der Hieb ist so hart, daß ihr das Schwert aus der Hand gerissen wird und in die Schwärze davonwirbelt - dann explodiert die Nacht in gleißendem Licht und sengender Hitze.  Licht bricht in Strahlen aus ihren Fingern, aus ihren brennenden Augen, heißer als Flammen, heißer als Drachenfeuer, heller als die Sonne  und zerschneidet jeden Schatten.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 26. Jan. 2003, 22:26 Uhr
Irgendwie - irgendwie - bringt ihn Donner auf eine uralte Straße, so gerade wie ein Pfeil, doch das Pflaster ist brüchig, gesprungen und von glitzerndem Reif bedeckt. Mehr als einmal rutscht Donner aus, wiehert angstvoll und sie wären beide beinahe gestürzt - doch sie fallen nicht. Durch heulenden Wind und dichtes Schneetreiben kommt er in ein Durcheinander aus zerbröckelten Steintürmen und uralten Ruinen, umgeben von einer schneegekrönten Ringmauer - und die Straße führt ihn mitten hinein. Durch den dichten Schneefall kann er kaum etwas um sich her erkennen, nur die Kälte scheint tiefer und immer tiefer zu werden, bis sogar das Atmen in ihrem grausamen Griff zur Qual wird. Der Wind singt klagend durch die halb eingestürzten Türme, die wie Gespenster aus dem undurchdringlichen Weiß und Schwarz von Schnee und Nacht auftauchen - doch von Niniane ist nirgendwo auch nur eine Spur zu entdecken.

Doch irgendetwas ist dort draußen, ganz in der Nähe. Er kann spüren, wie es sich verdichtet, wartet, riesig und schwer wie ein gewaltiges Tier. Plötzlich verstummt der Wind und es wird still, so still, daß sein eigener Atem und der seines Pferdes laut zu hören sind. Es ist, als halte das ganze Sturmtal den Atem an, nur der Schnee fällt.  Dann flammt die Nacht und das Schneetreiben vor ihm plötzlich taghell auf, vier- vielleicht fünfhundert Schritt entfernt. Donner scheut, schnaubt zornig und kommt rutschend und tänzelnd zum Stehen. Eine Explosion sonnengleichen Lichts taucht alles in blendende Helligkeit und bizarre Schatten. Niniane und ein Schatten - in der gleißenden Helle kann er sekundenlang nur einen gewaltigen, grotesk verzerrten Umriss erkennen, den das Licht auf die Mauern eines großen Gebäudes wirft, stehen vor einem hohen Portal am Ende einer breiten Treppe. Er sieht ihre schmale Klinge niederfahren und spürt ein rollendes Beben durch den Boden laufen von der Wucht der Lichtexplosion vor ihm. Um ihn her pocht die Nacht selbst wie ein dunkles, machtvolles Herz. Er treibt Donner vorwärts, obwohl der Hengst vor Angst zittert und seine Hufe splittern das Eis auf den geborstenen Steinen unter dem Schnee.

Als er die Treppe erreicht, leuchten ihm flackernde Feuerblumen entgegen und trotz der starrenden Kälte, flimmert Hitze am oberen Ende der Stufen. Sie sind flach und sehen aus, als seien sie tausendmal gefroren und wieder geschmolzen worden. Kleine Brände lodern verstreut wie Feuerblumen und schmelzen im Schnee. Irgendetwas bewegt sich, kraucht auf den oberen Stufen, ein sich ständig verändernder Umriss aus Schatten, der keine wirkliche Gestalt mehr zu besitzen scheint. Flammen tanzen zwischen den Schatten und Dampfwolken hüllen eine Dunkelheit ein, die zu einer vagen, menschlichen Gestalt gerinnt. Daneben liegt Niniane, das Gesicht im Schnee, und rührt sich nicht. Er springt aus dem Sattel und hastet stolpernd und schlitternd die glatten Stufen hinauf, ohne innezuhalten, ohne nachzudenken. Der Schmerz packt ihn so heftig, daß er laut nach Luft ringt, als er neben ihr auf die Knie fällt und sie sanft umdreht. Ihre Brust ist blutbesudelt, das schimmernde Kettenhemd zerfetzt, ihr Gesicht eine erstarrte Maske aus gefrorenem Blut und ihre Augen dunkel vor Schmerz. Sie sieht ihn an und dann dreht sie den Kopf, bis ihr Blick auf das verkohlte Wesen fällt, das durch den Schnee kriecht. Winzige Blitze umfließen den großen, fleckigen Leib.
"Cron? Es tut weh."
Er hält alles aus seinem Gesicht fern - das grauenvolle Entsetzen, das in lähmenden Wellen von der Schattengestalt ausgeht, den unerträglichen Schmerz, der beginnt, sein Inneres zu zerreißen und die kalte Gewißheit, das Niniane sterben wird.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Niniane am 26. Jan. 2003, 23:32 Uhr
"Gib mir...Dolch...Schwert verloren. Muss...zu Ende bringen. Muss..." Er reicht ihr wortlos sein langes Jagdmesser. Tamarlonischer Stahl, ein Heft aus geschnitztem Elfenbein. Ihre blutigen Finger schließen sich darum wie um ein Geschenk und sie lächelt. Er hilft ihr, sich aufzusetzen, doch dann macht sie sich von ihm los und auf Knien schiebt sie sich durch den Schnee auf die wabernden Schatten zu.

Durch das Herz der Dunkelheit, die einst Jeliel war, läuft ein Beben, das blutige Scharlachrot wird matter und erlischt. Kleine Flammen lecken über die ledrige, dunkle Haut seines Körpers und inmitten der Schatten wird das raubtierhafte, schmerzverzerrte Gesicht des Vampirs sichtbar. Aus seinem schwarzen Haar schweben Rauchfäden. Seine dunklen Augen, schwärzer als die See um Mitternacht, suchen ihren Blick und halten ihn fest. Er hebt eine verkohlte Hand, die Finger wie Klauen, doch er streicht nur über ihr Gesicht, zart wie ein Vogelflügel.

Die Kälte verschwindet, so plötzlich, wie sie sich über das Sturmtal herabgesenkt hat, aber Niniane spürt es nicht. Ihre Augen sind so dunkel wie Honig, aber sie schwimmen in Tränen. Die Lippen des Vampirs bewegen sich stumm und rote Glut blüht in der Höhle seines Mundes, aber sie versteht ihn auch ohne Worte und nickt. Langsam hebt sie das Jagdmesser, und fast zärtlich drückt sie ihm den Dolch gegen die Brust. "Es tut mir so leid..."  Dann stößt sie die Klinge mit ihrem ganzen Gewicht durch Schatten, Haut und Fleisch ins Herz.

Der Körper unter ihr bäumt sich auf und wirft sie zurück, die Schatten tanzen und lodern empor. Einen Herzschlag lang gehören die Augen des Vampirs wieder Jeliel, der er einst war, und sein Blick versinkt in Ninianes Blick. Dann zerfasern und verwehen alle Schatten wie Nebel, den der Wind davonträgt.
Niniane schließt die Augen, zitternd im nächtlichen Schneewind und als sie sie wieder öffnet, ist Crons Gesicht über ihr.

Er sagt etwas, schüttelt sie sanft, sein Mund bewegt sich, doch sie kann nicht hören, was er spricht. Alles was sie hört, ist das langsame, einsame Lied eines Wolfes, so weit entfernt, als singe er am anderen Ende des Unendlichen Meeres. Ihre Finger krallen sich in Crons Überwurf. "Verbrenne ihn. Du...musst...ihn verbrennen. Versprich es mir, Cron. Feuer verzehrt. Versprich es..." Ihre Zunge ist so schwer, als hätte sie Feuerwein getrunken. Die Kälte kommt wieder, doch diesmal hat sie seltsamerweise etwas Tröstliches an sich. Ihr Mund zittert und formt sich zu einem Lächeln, ihre Finger fallen herab und dann ist da nur noch Schwärze.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 27. Jan. 2003, 18:44 Uhr
Er hält sie im Arm und ihre Stimme ist so leise, daß er die Worte kaum versteht. "Ich verspreche es..." hört er sich selbst sagen. Als ihre Hand seinen Surcot losläßt  und herabsinkt, schließt er seine Finger um die ihren. Sie sind so kalt, als habe sie Eis berührt.
"Ich verspreche es..." Er küßt ihre kalten, blutigen Lippen und flüstert in  ihren Mund. "Cariad...Cariad......ich verspreche es."
Er weiß nicht, wie lange er so im Schnee sitzt, sie im Arm hält und ganz sacht wiegt, als wolle er ein Kind beruhigen. Er spürt nicht, wie die Zeit vergeht, nur der  Schnee fällt und fällt.
Irgendwo in der Ferne heult ein Wolf und irgendetwas an seinem Gesang reißt ihn aus dem Hier und Jetzt und läßt ihn in einem dunklen Wald von  Gedanken zurück, durch den eine geisterhafte Stimme wispert..."Fhial nadhiur... ayis miat englorior... die Sternenkinder ziehen zum Horizont..."   Das seltsam ferne Heulen verklingt leiser und leiser, doch Wölfe in der Nähe nehmen das Lied auf und tragen es weiter, kalt und einsam, voller Melancholie und Verzweiflung hallt es von den Bergen wieder und zieht an und abschwellend durch die schneeverwehte Nacht.

Aus dem treibenden Weiß um ihn her fliegt Shugorn auf seine Schulter, lautlos wie ein Schatten. Im flackernden Schein der kleinen und immer kleiner werdenden  Brände um ihn her, leuchten seine Augen so rot wie die der Toten.
"Wie lange wollt Ihr noch im Schnee sitzen, Nordmann?" Die Stimme hinter ihm ist so spindeldürr und alt, daß er sie sofort erkennt. Er dreht sich nicht um, blickt nicht  einmal auf. "Ihr kommt zu spät, Alte. Sie stirbt."
"Was hockt Ihr da im Schnee wie ein Kaninchen in der Fallgrube," blafft die Stimme. "Ihr habt ein Versprechen einzulösen!" Eine Wolke schneeweißen Haares taucht  neben ihm auf, dünn und lang wie Spinnweben. Selbst jetzt, wo er kniet, ist das uralte Weiblein nicht größer als er. Sie führt Donner hinter sich am Zügel. Irgendwie  mußte sie es geschafft haben, den Hengst einzufangen. Eine fleckige Hand, gebogen und dürr wie eine Vogelklaue rüttelt ihn an der Schulter. "Macht Feuer und verbrennt ihn. Verbrennt ihn bis nichts von ihm übrig ist als Asche." Er schüttelt den Kopf, unfähig irgendetwas zu erwidern, doch die Alte zerrt so lange grob an ihm, bis er Niniane freigibt. Er bettet sie in den Schnee und stolpert unbeholfen auf die Füße - seine Beine sind taub und schmerzen vom langen Knien auf dem eisigen  Boden. Immer noch klagen die Wölfe ihr Lied, hier im Tal, in den Bergen und ihr einsames Heulen scheint von allen Seiten gleichzeitig zu kommen.
Er geht zu Donner hinüber und holt eine der Pechfackeln aus den Satteltaschen.

Verbrenne ihn. Du... musst ihn verbrennen. Verspriche es mir, Cron. Feuer verzehrt. Versprich es... Er sieht zu der leblosen, schwarzfleckigen Gestalt hinüber, im  Tod zusammengesunken, ein monströses Ding, schrecklich und zugleich schön. Noch im Tod strahlt es eine gefährliche Düsternis aus, wie ein Echo böser Träume.
Kalte Wut regt sich in ihm, ein schwarzer, verzweifelter Zorn, gallenbitter auf der Zunge. Aber dann wehrt er sich gegen die Woge der Abscheu, die ihn erfaßt hat.
Dreitausend Jahre lang hat er in der Finsternis gebrannt. Ganz egal, was er als Vampir getan hat - niemand verdient ein Schicksal wie seines. Niemand.
Sein Dolch steckt noch im Herzen des Vampirs, doch als er sich bücken und ihn herausziehen will, läßt ihn ein Zischen der Alten hinter ihm innehalten. Er dreht sich um und sieht sie neben Niniane knien. Ihre schwarzen Augen glühen und die Nachtluft bewegt das Gespinst ihres Haares. "Tut das nicht. Verbrennt ihn."

Einen Moment starrt er die Alte an, deren Klauenfinger über Ninianes Körper streichen als vollführe sie einen beschwörenden Tanz damit, dann nickt er stumm. Er   entzündet die Pechfackel an einem der kleinen, noch immer schwelenden Brände. Als er sie an den Leichnam des Vampirs hält, fängt er augenblicklich Feuer. Winzige  Flammen laufen wie flinke, rote Irrlichter um seine Gestalt, gleiten über die dunkle, ledrige Haut und knisternd beginnt der Untote zu brennen. Glühende Hitze weht ihm  ins Gesicht, süsser als jeder Kuss, und mit einem mächtigen Zischen schlagen die Flammen hoch. Sekunden später wird es zu heiß, sie zu ertragen und er tritt zurück.  Das Feuer windet und dreht sich wie ein lebendiges Wesen, wirbelt und tanzt und scheucht sich gegenseitig in den Himmel. Im Osten kriecht die Dämmerung über die  Berge, fahl und klar.
Das Schneetreiben läßt nach und hört schließlich ganz auf, doch Cron starrt in die tanzenden Feuer, in die gelben, orangeroten und scharlachfarbenen Schleier, die  dem Vampir das Fleisch von den Knochen schmelzen, grauenhaft anzusehen und doch wundervolle, lebendige Hitze. Das Feuer faucht und brüllt im Licht des  anbrechenden Tages wie ein großes Tier, glühende Aschefunken steigen im Rauch auf und treiben wie Glühwürmchen in die graue Dämmerung. Er kann den Geruch  von brennendem Fleisch riechen, nicht anders als jedes andere Fleisch, das man über dem Feuer brät. Mit einem Bersten von Rauch und Flammen, das meterhoch in  den Himmel leckt, fällt das Feuer in sich zusammen und er steht in einem Regen aus Funken und Asche, die der Morgenwind davonträgt.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 28. Jan. 2003, 22:33 Uhr
Als er zu der Alten zurückkehrt, sind Ninianes Wunden verbunden und das Kettenhemd, glänzend und zerrissen wie die abgestreifte Haut einer Schlange, liegt im  Schnee. Die Greisin starrt ihn aus trüben, schwarzen Augen an. Brennend flammt Hoffnung in ihm auf, schmerzhaft und schneidend wie ein Dolch aus Glas, doch die  Alte schüttelt den Kopf. "Sie ist weit fort, Nordmann. Ich erreiche sie nicht und vielleicht kehrt sie niemals zurück. Bringt sie nach Hause. Nehmt Euer Pferd und reitet, bringt sie nach Hause in ihren Wald. Und wenn sie nicht wiederkehrt, dann laßt sie gehen. Gebt ihr die Gnade und erlöst sie. Und nun fort mit Euch! Fort, sage ich! Ich  habe in Am' Shaer genug Kummer erleiden müssen, da kann Euren nicht noch ertragen. Fort!"
In ihrer Stimme ist solche Bitterkeit, daß er zurückweicht und sich fragt, ob sie dem Wahnsinn verfallen ist.
Die Sonne steigt über die Gipfel der Berge im Osten, als er aufbricht. Ein wenig Glut ist noch in der Asche, doch merkwürdigerweise kein einziger Knochen, nur feiner,  grauschwarzer Staub. Der Vampir ist völlig verbrannt, die Flammen haben ihn verschlungen und nichts von ihm hinterlassen. Die Greisin sitzt neben der Glut im  Schnee, hält die Augen geschlossen, murmelt tonlose Worte in einer Sprache, die er nicht versteht, wiegt sich langsam vor und zurück und weint.

Er sieht nicht mehr zurück. Hinter ihm geht die Sonne auf, als er Donner aus den Ruinen der Stadt in Richtung Westen lenkt, Niniane vor sich im Sattel, leblos und kalt, und verwandelt den dichten, verschneiten Bergwald vor ihm in ein Meer aus rotgoldenem Licht, durchbrochen von bronzebraunen, reifüberzogenen Stämmen.
Als er am Fuß des Hügels, auf dem sie zwischen den Blutbäumen gelagert hatten, vorüberkommt, meint er Wölfe am Kadaver der Wüstenstute fressen zu sehen, hundert oder mehr Schritt über ihm auf dem steilen Hang. Rilua ist von den Toten zerrissen worden. Wahrscheinlich ist es besser, im Magen von Wölfen zu landen, als mit rotem Feuer in den Augen und verdammter Seele wieder zu erwachen...
Gegen Mittag verläßt er das Sturmtal über die gleichen schmalen Pfade, über die Niniane sie hergeführt hatte, und vor ihm liegt die alte Straße von Vinnar nach Belgrave in den Ostlanden. Jetzt reitet er sie in die entgegengesetzte Richtung, nach Westen, zum Ildorel und nach der eisigen, endzeitlichen Kälte der vergangenen  Nacht kommt ihm der kalte Morgenwind, der von den Bergen hinter ihm herabweht, beinahe warm vor.

Dann galoppieren sie dahin und hinter ihnen bleiben die hohen Berge zurück, die tiefen Wälder, die felsigen Hügel und das Sturmtal. Er reitet den ganzen Tag hindurch über ein windgepeitschtes, schneeverwehtes Meer aus Gras und mit dem Sonnenuntergang erreichen sie die alten, grauen Steine von Darth, moosüberwachsen und verwittert. Er hält nicht an. Bringt sie zurück..., hatte die Alte gesagt. Und etwas in ihrer Stimme hatte deutlich gemacht, daß ihm nicht viel Zeit bleibt. Donner ist erschöpft, aber Cron gönnt ihm keine Ruhe - es sind dreihundert Tausendschritt bis Vînnar am Ildorel in der Bucht der Nacht, also reitet er weiter bis zur Morgendämmerung, während die Sterne kalt auf ihn herabsehen. Die Nebrinôrthares mit ihren kleinen Dörfern und großen Weingütern ziehen an ihm vorüber, rundkuppige, dunkle Schatten in der Finsternis und noch immer hält er nicht an. Und als die Sterne am östlichen Himmel verblassen, taucht endlich der Fels von Vînnar vor ihm auf, ragt über Weinberge und morgendlichen Nebel und das Mondlicht schimmert hell auf den Mauern der Stadt.

Titel: Re: Schattentanz  - eine lange Reise
Beitrag von Cron am 31. Jan. 2003, 21:57 Uhr
Über dem schäumenden Kielwasser des Schiffes kreisen und kreischen die Möwen. Cron, im Windschatten eines Stapels festgezurrter Fässer, beobachtet eine Weile ihren Flug, dann dreht er sich um und starrt in die dunklen Wasser des Sees. Niniane liegt in ihrer beider Kabine, leblos und ohne einmal aus ihrer Starre erwacht zu sein - aber unter den Wolldecken hebt und senkt sich ihre Brust regelmässig. Das ist ein gutes Zeichen, sagt er sich wie bestimmt schon hundert Mal, seit sie vor drei Tagen an Bord dieser götterverdammten Nußschale gegangen waren. Drei Tage und sie ist noch nicht einmal erwacht...
Nachdem er in Vînnar das gesamte Dockviertel mit allen Anlegestellen abgeklappert hatte, um eine Überfahrt nach Talyra zu bekommen, hatte er zu dieser Jahreszeit und bei den Winterstürmen auf dem See nur diesen Kahn auftreiben können. Der Kapitän war ein schweigsamer, grauhaariger Virinmaruner mit schwarzen Augen und einer noch schwärzeren Seele, aber sein Gold hatte er genommen ohne weitere Fragen zu stellen und er segelt gut. Bringt sie nach Hause, hatte die Alte gesagt und das würde er tun, egal wie. Donner ist im Bauch des Schiffes in einem Stall, so eng, daß er sich weder umdrehen noch hinlegen kann, aber er lebt, frißt sich jeden Tag durch den verdienten Hafer und hat zwei der Seeleute bereits blutig gebissen. Als er in Vînnar nach seinem Gewaltritt angekommen war, hatte er schon gefürchtet, den Hengst zuschanden geritten zu haben. Er hatte an der Reling gestanden und Vînnar davongleiten sehen, bis es im Nebel verschwunden war, Shugorn auf seiner Schulter.
Seit drei Tagen sind sie jetzt auf dem See, ringsum umgeben von dunklem Wasser, kalt und grau. Manchmal bricht die Sonne hindurch und verwandelt den Ildorel in ein glänzendes, leuchtendes Meer aus Grün- und Blautönen, doch die Sonne läßt sich nur selten blicken. Die meiste Zeit ist der Himmel schiefergrau und dünn wie Nebel, es schneit häufig und der Wind schläft niemals. Seine Tage verbringt er damit, an Ninianes Bett zu sitzen, ihr Wasser und kräftigende Fleischbrühe einzuflößen und auf ein Lebenszeichen zu warten. Auf irgendein Zeichen. Des Nachts steht er stundenlang auf Deck, starrt in den Himmel, den See oder in die sich blähenden Segel und hängt seinen Gedanken nach, bis ihn der schneidende Wind und die Kälte unter Deck treiben.
Cron blickt auf und bemerkt zwei Seemänner, die ihn vom Vorderdeck aus neugierig betrachten, dann aber rasch wegsehen. Wie ihr Kapitän stellen auch sie keine Fragen und das ist ihm nur recht. Wir kommen rasch voran, der kalte Ostwind hat auch etwas gutes - er treibt uns über den Ildorel nach Westen. Vier Tage hat der Kapitän gesagt...
Die Abenddämmerung fällt rasch, während er an der Reling steht und grübelt, doch es sind weder Mond noch Sterne zu sehen - dafür setzt Schneetreiben ein, kaum daß es dunkel geworden ist und der Wind nimmt mehr und mehr zu. Shugorn krallt sich flügelschlagend in seinen Umhang und kreischt erbost, während der Wind sein Gefieder zerzaust. "Schsch...bald haben wir es geschafft."
Bald...bald...bald...krächzt der Rubinrabe und flattert wild. Bald! Dann hebt er sich in die Luft und nur einen Augenblick später hat ihn die brodelnde Nacht, undurchsichtig von Schnee und Nebel, verschluckt. Einen Moment starrt Cron ihm hinterher, dann kommt ihm der Gedanke, daß Shugorn kein gewöhnlicher Vogel ist -  wenn er jetzt davonfliegt, so hat das seinen Grund.
Er wendet sich ab, um über das schlingernde Deck nach unten zu gehen, als der Kapitän auf ihn zukommt. "Höllenverdammtes Scheißwetter!" Brüllt er ihm entgegen. Der Wind heult in der Takelage. Sein dicker, schnarrender Akzent übertönt sogar das Knarren der Segel. "Aber wir sind fast da! Der Wind hat uns hergejagt als hätten wir Flügel, Mylord."
"Wir sind fast da?" Shugorns Bald...bald...bald... kommt ihm in den Sinn. "Aber..." der Wind reißt die Worte von seinem Mund und verschluckt seine Frage, doch der Kapitän nickt. "Wir sind schon fast im Windschatten von Talyra!" Antwortet er schreiend und hebt einen gekrümmten Finger, um  auf einen verschwommenen Streifen von noch dunklerem Schwarz in der dunklen Nacht steuerbord vor dem Bug zu weisen. "Noch vor Mitternacht schlüpfen wir in den Hafen, wenn uns der Wind keinen Streich spielt!"




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