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(Thema begonnen von: Colevar am 30. Mai 2008, 11:46 Uhr)

Titel: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 30. Mai 2008, 11:46 Uhr
Am Ende des Frostwegs, Brage in den nördlichen Rhaínlanden


Colevar erwacht von einem gebieterischen Klopfen, das in seinem branntweingeschädigten Kopf dröhnt wie das Schlagen einer riesigen Bronzeglocke, und noch bevor er auch nur missmutig ein ebenso herrisches "Verschwinde!" brummen kann, betritt eine Magd der "Schwarzen Elster" den Raum. "Mach Feuer und richte ein Bad," weist er sie verschlafen an und klappt unter größten Mühen ein einzelnes, blutunterlaufenes Auge auf. "Aber bei der Götter Liebe Willen, tu es leise, Mädchen!" "M'lord", knickst die Magd ergeben, wackelt mit dem drallen Hintern und trippelt zur Feuerstelle, linst jedoch unter gesenkten Wimpern interessiert in seine Richtung. Colevar ist sicher, dass er sie hier noch nie gesehen hat, obwohl er seit Wochen in der Elster logiert, er hat jedoch im Moment zumindest keinen weiteren Blick für sie übrig - in seinem Kopf hämmert eine Horde verrückt gewordener Zwergenschmiede um die Wette, seine Zunge fühlt sich geschwollen an und in seinem Mund gärt der Geschmack vermodernder Heide. Er hätte mit dem alten Wyrmentung nicht trinken sollen und schon gar nicht solche Mengen - aber Branntwein, viel Branntwein, war das einzige gewesen, dass dem gerissenen Juwelenhändler die Zunge wenigstens soweit gelockert hatte, dass er den ein oder anderen Namen zwielichtiger Größen im Edelsteinhandel hatte fallen lassen. Hör auf zu jammern, du hast eine Spur, genau das, was du wolltest. Das ist wahr - den ganzen Winter über war er in diesem verschlafenen Nest, das sich "Grenzstadt" schimpft, fest gesessen, ohne das Geringste herauszufinden, jetzt hat er endlich einen Namen: Ilbrec Olfin, ein steinalter Greis und den Gerüchten nach der richtige Mann, um Edelsteine auch abseits der einschlägig bekannten Schwarzhandelsgilden für Juwelen unter der Hand zu verkaufen. Das Beste an der ganzen  Geschichte ist dabei, dass Olfins Frau hübsch, nicht die hellste, furchtbar verwöhnt und noch keine zwanzig Sommer alt sein kann. Kinderspiel, versichert sich Colevar, ignoriert das Scheppern der aufdringlichen Magd im Zimmer und schläft ungerührt weiter.

Ein paar Stunden später, als er etwas im Magen hat und nicht mehr stinkt wie ein in Branntwein eingelegtes Wildschwein, liegt zwar immer noch ein eiserner Reif um seine Stirn, aber die Zwergenschmiede hämmern kein metallenes Stakkato mehr und er sieht nach seinem Bad auch wieder halbwegs wie ein Mensch aus - dafür liegt das tropfende Gewand der Magd zum Trocknen über einer Stuhllehne und seine Besitzerin nackt in den zerwühlten Laken des Bettes. Colevar steht am Fenster, das dick mit Eisblumen verkrustet ist - der Norden Rijverlâns im Nebrar ist die reinste Winterhölle - und beobachtet die wenigen Passanten auf den schneeverwehten Straßen. Brage ist klein - die einzige gepflasterte Straße ist der Frostweg, der mitten durch die Stadt führt, alles andere sind mehr oder weniger kleine Gässchen, die so voller Schnee sind, dass schon zu Fuß kaum ein Durchkommen ist. Vom Treiben auf der Straße unten kehrt sein Blick zu der Frau in seinem Bett zurück - er weiß noch nicht einmal ihren Namen, aber was spielt das schon für eine Rolle? Sie hatte ihn auch nicht nach seinem gefragt. Den weiß sie zweifellos schon. "Du kannst liegen bleiben, bis dein Kleid trocken ist." Colevar ringt sich ein Lächeln ab, das freundlich wirken soll, vermutlich aber zur Grimasse gerät. Seine Worte bedeuten nichts anderes als Du kannst jetzt gehen, sie sind nur höflicher. Immerhin hat die Magd genug Verstand, auch zu begreifen, was er meint, denn sie steht wortlos auf, rafft ihr Gewand vom Stuhl und eilt mit zitterndem Kinn hinaus. Colevar ignoriert den verletzten Ausdruck, den er in ihren Augen gesehen zu haben glaubt und schüttelt den Kopf. Sie war schließlich um ihn herumscharwenzelt wie die Katze um den Sahnetopf, kaum dass er seine Kleider abgelegt hatte, um in die Wanne zu steigen, und er hatte ihr nicht die Ehe versprochen. Genau genommen hast du kein Wort mit ihr gewechselt. Der Gedanke geistert durch seinen Kopf, bevor er ihn aufhalten kann. "Das ist auch besser so," bemerkt er trocken zu seinem verschwommenen Spiegelbild in den dicken Butzenglasscheiben. "Wer weiß, ob du sie sonst gevögelt hättest." Ja, wer weiß. Das hohle Gefühl in seinem Inneren narrt ihn trotzdem.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 18. Juni 2008, 10:27 Uhr
In Immerfrost


Vier Wochen später hat Colevar die Rhaínlande verlassen, den Hochlandpass durchquert und vor ihm liegen die endlosen, immerfroster Wälder. Ilbrec Olfins Frau hatte sich in Brage als wahre Fundgrube erwiesen, was Informationen über die zwielichtigen Geschäfte ihres steinalten Mannes, sowie seine noch zwielichtigeren Geschäftspartner anging. Die Gerüchte, die Colevar über sie zu Ohren gekommen war, hatten sich als alle als wahr erwiesen - bis auf eines. Swanhildja Olfin war hübsch, furchtbar verwöhnt und noch keine zwanzig Sommer alt, aber sie war keineswegs dumm, im Gegenteil. Er hatte sehr bald festgestellt - genau genommen, nachdem er zum ersten Mal mit ihr in ihrem eigenen Bett gelandet war, während ihr Göttergatte selig in der Halle unter ihnen auf dem Tisch zwischen leeren Branntweinflaschen und Weinkrügen seinen Rausch ausgeschlafen hatte -, dass sich hinter ihrem zarten Porzellanpuppenäußeren ein ziemlich durchtriebenes kleines Luder verbarg. Sie hatte ihm auf den Kopf zugesagt, dass sie genau wisse, was er vorhabe, aber da er nun schon einmal hier sei und - ohne ihm schmeicheln zu wollen - tausendmal besser aussähe und sehr viel jünger sei als ihr "alter Furz von Ehemann", sei sie durchaus nicht abgeneigt, das Spiel mitzuspielen, so lange Ilbrec dabei nicht zu Schaden käme. Die Wahrheit war, dass er im Nachhinein nicht mehr hätte sagen können, wer hier wen verführt hatte. Die Hintergründe der ganzen Geschichte hatten Swanhildja überhaupt nicht interessiert - ihr genügte es vollkommen, dem alten Olfin eines auszuwischen (was offenbar der einzige Sinn in ihrer Ehe war) und sich auf das Abenteuer einer Liebschaft mit einem Fremden einzulassen (anstatt immer nur mit den langweiligen Soldaten der Flammardgarde). Drei Siebentage lang hatte Colevar also ihr Bett geteilt, wann immer sich ihnen die Gelegenheit geboten hatte und sie hatte ihren Mann dafür ausgehorcht, seine Bücher durchwühlt und ihm, als er sie einmal beinahe in seinen geheimen Lagerräumen erwischt hatte, schlagfertig die Szene eines hysterischen, eifersüchtigen Eheweibs vorgespielt, dass ihr Gespons der Untreue verdächtigte - etwas, das Ilbrec äußerst geschmeichelt, Swanhilda höllischen Spaß bereitet und sie selbst über jeden Verdacht erhaben gemacht hatte.

Colevar hatte gelacht, als sie es ihm erzählt hatte, aber an diesem Abend hatte er an der leisen Verwunderung in ihren grünen Augen auch noch etwas anderes erkannt: "Du liebst ihn."
"Wen?"
"Deinen Mann."
"Was den alten Tattergreis? Sei nicht albern!"
"Doch. Ich kann es sehen."
Sie hatte lange geschwiegen und ihn dann fast betroffen angesehen, als nehme sie ihn zum ersten Mal wirklich wahr - als Mensch, als Mann, nicht nur als kurzweilige Ablenkung von der Leere ihres Lebens. "Woher weißt du es?" Hatte sie ein wenig zittrig gefragt, und Colevar hatte müde gelächelt, sie auf die Stirn geküsst und das zerwühlte Bett verlassen, um sich anzukleiden und zu gehen. "Deine Augen verraten es."
"Er sieht mich einfach nicht," hatte sie geflüstert und so hoffnungslos einsam ausgesehen, dass irgendwo in seinem Inneren etwas in Bewegung geraten war, aber er hatte keine Worte, die er ihr hätte geben können, keinen Trost, keinen Rat. Mit solchen Gefühlen, und das war die bittere Wahrheit, hatte er keinerlei Erfahrung. Es war das Ende ihrer Affäre gewesen - eine der wenigen, an die er sich ohne einen schalen Nachgeschmack erinnern konnte, auch wenn es seinem männlichen Stolz durchaus einen leisen, wenn auch amüsierten Stich versetzt hatte, dass ein alter Mann im Herzen einer Achtzehnjährigen allen Platz für sich beanspruchte, während sie in ihm nur Kurzweil für ihr Bett gesucht hatte. Dennoch war ihr Abschied... ehrlich gewesen. Genau genommen sogar der ehrlichste Abschied vom Bett einer Frau, den er je genommen hatte.
"Du kommst nicht wieder," hatte sie festgestellt und höflicherweise ein wenig traurig gelächelt - aber er hatte die Erleichterung in ihren Augen gesehen, ebenso wie sie die seine gespürt haben musste.
"Nein. Es wäre... nicht richtig." Hatte er sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen hören und Swanhildja hatte nur genickt.

Eine Viertelstunde vor Sonnenaufgang hat der Himmel die Farbe von mit Roststreifen durchzogenem Eisen. Colevar sitzt schon seit einer Weile wieder im Sattel, treibt sein Pferd über eine Anhöhe oberhalb des Frostweges und starrt hinaus auf das grüne Meer der Baumwipfel, das sich bis zum Horizont vor ihm ausbreitet, endlos wie eine gigantische, wogende, dunkle See, über die dünne Nebelschwaden treiben. Weit im Süden und längst hinter ihm, ist der schwache Schimmer der Herberge zu erkennen, in der er die Nacht verbracht hatte... oder zumindest die Hälfte der Nacht. Die Reise durch den Hochlandpass war die reinste Hölle gewesen - die Frühjahrsstürme waren heftig gewesen und aufeinander prallende Gewitter hatten tagelang in dem tiefen Einschnitt zwischen Eisenkamm und Ostwall gewütet, durch welchen der Frostweg hinaufführt. Die kleine Karawane von Händlern, der er sich angeschlossen hatte, und er selbst waren nach Tagen des Dauerregens so nass wie triefende Ratten durch eine ebenso triefende Welt gezogen, bis sie endlich die erste Herberge in diesen völlig leeren götterverlassenen Landen erreicht hatten. Obwohl Colevars Wiege im Larisgrün stand, das wahrlich nicht gerade überbevölkert ist, ist er doch Talyras vielfältige Lebendigkeit und die überbordende Fülle der Stadt gewöhnt, die zahllosen kleinen Dörfer im Umland, die Anwesenheit anderer Menschen, auch wenn sie nicht gleich um die nächste Ecke anzutreffen sind und das quirlige, vielsprachige Chaos von Händlern und Märkten... aber dieses Land ist vollkommen anders. Leer. Leer und weit und von einer Art erhabenen Wildheit erfüllt, die ihn tief in seinem Inneren seltsam anrührt. Mittlerweile hat der Regen aufgehört, aber die Luft ist immer noch kalt und nass, und schmeckt sogar in den letzten Taumondtagen noch nach Schnee. Mit einem leisen Zungenschnalzen treibt Colevar Filidh weiter, lässt den grauweißen Fryslâner sich seinen Weg durch das Gewirr moosbewachsener Felsen am Fuß des Hanges über dem Frostweg jedoch selbst suchen. Seine Rüstung hatte er zu Hause gelassen und auch die Farben seines Hauses trägt er längst nicht mehr, stattdessen abgewetztes Leder über solidem Kettenstahl und einen dicken, wollenen Umhang. Sein Haar ist zu zahllosen kleinen Zöpfen geflochten und auf seinen Wangen und seinem Kinn liegt ein stoppeliger Bart. Er hat keine Ahnung, wie er aussieht, da er seit Wochen keinen Spiegel mehr gesehen hat und die dunklen, moorigen Wasserlöcher, an denen er vorüber gekommen war, nur düstere Schemen hatten preisgeben wollen. Offenbar sieht er jedoch tatsächlich nordisch genug aus, auch ohne die rituellen Stammestätowierungen, denn die seltenen Male, die er anderen Reisenden begegnet war, war er durchweg im Norrœnt mál der Barbaren angeredet worden oder auf Pakkakieli - wenn man ihn angesprochen hatte.

Vor ihm steigen die Schatten der Wälder auf und Colevar atmet tief die frische Morgenluft ein. Seine Gedanken wandern zurück nach Brage, zurück zu seinem Auftrag und dem, was er herausgefunden hatte... oder besser gesagt, was Olbrecs Frau für ihn herausgefunden hatte. Swanhildja, das intrigante kleine Ding, die ihren Mann betrog, weil sie ihn liebte und er sie nicht sah. Kopfschüttelnd unterdrückt Colevar ein Schnauben und fragt sich, warum beim Vermummten er sich in letzter Zeit auf einmal philosophische Gedanken um Weibergeschichten macht. "Ich kann nur nicht glauben, dass sie den alten Furz liebt, das ist alles," faucht er sein Pferd an. Hier muss er ehrlich sein. Es gibt nur wenige unverbrüchliche Regeln in seinem Leben, aber eine davon lautet: Nie das Pferd belügen! "Ich war da. Ich bin wochenlang mit ihr ins Bett gegangen, und es hat ihr gefallen - und wie es ihr gefallen hat." Noch jetzt hat er all die Geräusche im Ohr, die Swanhildja von sich gegeben hatte und weiß augenblicklich, dass er schon viel zu lange ohne eine Frau war. "Ich wollte nichts von ihr, zu keinem Zeitpunkt." Das willst du nie. Du willst nur Befriedigung zwischen ihren Schenkeln, sonst nichts. "Ich will nur wissen, warum. Wäre der Gedanke so abwegig?" Filidh schnaubt leise und, wie Colevar findet, entschieden missmutig. "Besten Dank auch," knurrt er erbost und hüllt sich in Schweigen, während sein Weg ihn endgültig ins Innere der Wälder führt. "Du hast Recht," gibt er nach einer Weile versöhnlich zu und spürt, wie der Hengst augenblicklich zufrieden auf dem Gebiss herumkaut. "Ich wollte rein gar nichts von ihr, außer ein wenig Spaß und ein paar Informationen. Hätte sie mir ihr Herz geschenkt, hätte ich es doch nur gebrochen. Aber sie hat einen senilen alten Knochen, der sie nicht beachtet, mir vorgezogen. Mir. Ist ihr gutes Recht, weißt du, nur... oh schön, na gut, ich gebe es zu. Mein Stolz ist das Problem." Wirklich? "He - selbst du musst zugeben, dass das schon ein herber Schlag für meine Eitelkeit ist, oder?" Die hohen, moosigen Stämme der Bäume stehen dicht an dicht entlang der Straße wie bärtige Wächter an den Grenzen einer verwunschenen Welt und Filidh schnaubt zufrieden, als Colevar ihm die Zügel lang lässt - er hätte schwören können, das Prusten des Pferdes klingt schadenfroh.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 07. Jan. 2009, 08:14 Uhr
Anfang Grünglanz in Immerfrost



Angefangen von den Kais, die sich am Hafen entlang ziehen, über die stufenförmig angeordneten, schlammigen Terrassen von Aranurs Ruh' und das Marktviertel mit seinen bucklig gepflasterten Plätzen und den hohen, dunklen Speicherhäusern, weiter über das Voittoviertel, den Tempelbezirk,  den Herttuahügel mit der Frostschlangenfeste und den Anwesen der Reichen und Adligen, bieten die düsteren Dächer von Dunkelschein einen einzigartigen Anblick: eine Mischung aus Reetflächen und moosigen Schindelhängen, gewölbten Giebeln, kegelförmigen Türmen und Anbauten, Lauben und Erkern in solcher Hülle und Fülle, als sollten sämtliche Straßen für immer vor der Sonne verborgen bleiben - an einem Ort, an dem sie vier Monde im Jahr kaum über den Horizont kriecht, ist Tageslicht vielleicht einfach nicht von Belang. Dunkelschein liegt nicht in den Herzlanden und ist schon gar nicht mit Arrassigué oder Mar'Varis zu vergleichen, doch die Stadt ist groß, Immerfrosts einziger und wichtigster Hafen am Nordmeer, und für die hiesigen Verhältnisse pulsiert sie geradezu vor Leben. Für Colevar ist es ein besseres Dorf und ein dunkles, fremdartiges, nach Fisch und Waltran stinkendes dazu - im Hafen rauchen und rußen die Trankessel Tag und Nacht. Die Welt unterhalb der Dächer ist in den rötlichen Schein eiserner Nachtfeuerkörbe getaucht, deren flackerndes Licht die Vieh- und Fischmärkte, die belebten Durchgangswege und die großen Straßen notdürftig erhellt. Dennoch bleiben in der Stadt hunderte von Gassen und die meisten verwinkelten, schlammigen Wege im Schatten und werden nur gelegentlich vom Schein einer Fackel oder den Laternen der in Pelze und Eisen gehüllten Stadtwächter erhellt. Tagsüber liegen die Dächer leer und still unter einer überraschend warmen, nordischen Grünglanzsonne. Zwischen ihnen flattern über Straßen und Wegen Seile, Aalreusen, Hummerkäfige und Netze, und die Dörrfischgestänge auf denen Hering im salzigen Seewind trocknet, knarren leise vor sich hin. Nachts erleuchten Mond und Sterne eine Welt voller bizarrer Seilwaren, leerer Wäscheleinen und Darren sowie den wirren Schatten, die sie werfen. Nachts ist es hier oben dunkel - dunkel und still. Zumindest nach der elften Nachtstunde, wenn die Sonne endlich untergegangen ist und selbst dann ist es noch bis Mitternacht dämmrig.

In dieser Nacht windet sich eine fremde Gestalt um Seile und durch matte Schatten. Sie trägt geschwärzte Kleidung, die sich eng an den Körper schmiegt, ihr Gesicht ist ebenfalls mit Ruß verschmiert und das ansonsten lange blonde Haar voller Schlamm vom Ufer des Tummavirta, um nicht den kleinsten, verräterischen Mondstrahl oder Fackelschein zurückzuwerfen. Seit zwei Siebentagen ist Colevar nun schon jede Nacht hier oben und er hat bereits Bekanntschaft mit ein paar hiesigen Dieben gemacht, die die Dächer ebenfalls nutzen, um in dieser Stadt schnell, ungesehen und ohne schlammige Stiefelsohlen von einem Ort zum anderen zu gelangen... jetzt schwimmen sie mit aufgetriebenen Bäuchen im Becken des Lumpensammlerhafens. Irgendwo hatte er einmal gehört, dass etwas, das im Nordmeer ins Wasser falle, nie wieder hoch käme - Colevar hat keine Ahnung, ob das der Wahrheit entspricht, aber bisher hat noch keine Gilde eine Jagd auf ihn angezettelt und was ihn anbelangt, so kann das auch noch ein oder zwei weitere Siebentage lang so bleiben. Die Diebe Dunkelscheins sind ihm vollkommen gleich, sein Ziel liegt an anderer Stelle und im Augenblick ist es nicht mehr als zwei Straßen und ein gutes Dutzend Dächerfluchten entfernt. Arvos... oder besser Rikus... Hauptquartier. Die Nachtluft riecht nach Rauch und Salz und Fisch und der Mond würde heute schwarz sein; gestern war er schon kaum noch eine dünne Sichel gewesen. Colevar zieht sich über einen hölzernen Erker und einen Alkoven auf ein mit silbergrauem Reet gedecktes Dach und kauert sich hinter den gemauerten Kamin, hinter dem er schon die Nächte der letzten beiden Siebentage verbracht hatte... zumindest die Stunden, in denen es dunkel war. Von hier aus hat er einen guten Blick in die schmale, gepflasterte Gasse, in der das Haus des vermeintlichen Pelzhändlers Arvo steht, wie der Mann sich hier in Dunkelschein nennt. Arvo... Riku... für Colevars an Tamaraeg und die Allgemeinsprache gewöhnte Ohren klingt das allzu kurz und viel zu weich. Ihn zu beobachten ist allerdings eine mühselige Angelegenheit, denn der Mann benimmt sich so paranoid, dass es lächerlich wirken würde, wäre er dabei nicht so gerissen. Als läge ständig etwas in der Luft... Allein in den letzten zwei Wochen hatte Colevar sechs verschiedene Maskeraden gezählt - meist war er als einfacher Seemann oder Hafenarbeiter aus dem Haus gegangen, wie es sie zu Hunderten unten an den Kais gibt, einmal als reicher Kaufherr in edlen Pelzen, behängt mit schwerem Gold, ein anderes Mal sogar als Bettler.  

Der Mann trägt ein solches Allerweltsgesicht, dass es leicht fällt, es sofort wieder zu vergessen und seine Verkleidungen sind so gut, dass er die meisten damit wohl leicht an der Nase herumführen kann - aber nicht Colevar. Er hatte schon vor Jahren gelernt, genau hinzusehen und nur das zu sehen, was wirklich ist, nichts sonst. Den Vordereingang des Gebäudes kann Colevar von seinem Versteck aus nicht direkt im Auge behalten, da ein Mauervorsprung und ein tief gezogenes Dach im Weg sind, aber unmittelbar unter ihm liegen der schmale, ummauerte Hinterhof des Hauses und ein gut, aber nicht gut genug versteckter und daher ziemlich aufschlussreicher Nebeneingang. In den letzten zwei Wochen hat er sieben Männer gezählt, die regelmäßig dort unten aus und eingehen - den blassen Wächter auf dem Dach und die alte Bettlerin, die den Hauseingang von der gegenüberliegenden Straße aus für ein paar Münzen im Auge behält, nicht mit eingerechnet, ebenso wenig wie die beiden echten Pelzhändler, die das Tarngeschäft betreuen. Der Wächter auf dem Dach ist ein Vampir und gewiss kein Jünger Sithechs, das haben Colevar sowohl seine Augen als das Brennen der Ringe auf seinem Unterarm verraten, schon als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Munduskind! Hatte jede Faser seines Körpers geschrieen und verlangt, die Kreatur auf der Stelle anzugreifen - doch er hatte es nicht getan. Mit hämmerndem Herzen hatte er ausgeharrt, hatte sich gezwungen, weiter ruhig und gleichmäßig zu atmen und sein Fleisch zu kühlen, um nicht die kleinste verräterische Spur von Wärme in der Nacht zu hinterlassen - und war auf seinem Posten geblieben. Warte. Beobachte. Das ist deine Aufgabe. Ihre Zeit wird kommen. Er darf dich nicht sehen, nicht hören, nicht riechen und nicht fühlen. Jede Nacht hier herauf zu kommen, über die Dächer Dunkelscheins zu schleichen, Riku in seinem Nest zu beobachten, die unglücklichen Diebe zu beseitigen, die ihm dabei zufällig in die Quere gekommen waren und sich dabei vor dem Vampir verborgen zu halten war eine Herausforderung für all seine Disziplinen geworden, aber es war ihm gelungen.

In den vergangenen zwei Siebentagen war der Vampir jede Nacht zu seiner einsamen Wache aufgetaucht, wenn die Dämmerung wirklich der Dunkelheit gewichen war, lautlos wie ein Schatten, ein fremder Fleck noch schwärzerer Materie in der trüben Finsternis. Er hatte gewissenhaft die Straße und die Dächer ringsum im Auge behalten, aber er hatte nie etwas von der Gefahr bemerkt, die nur eine Straßenbreite entfernt hinter einem Kamin aus grauem Stein auf ihn lauert. So gerissen und vorsichtig Riku auch sein mag, er rechnet nicht mit einem Fremden. Und mit mir schon gar nicht. Einen Siebentag lang hatte Colevar nur beobachtet. Er weiß also längst, wie viele Männer der Immerfroster sein Eigen nennt, zu welchen Fraktionen oder Institutionen der Stadt er Beziehungen pflegt und wen er eher meidet. Er hat eine ungefähre Vorstellung davon, wie Rikus Geschäfte laufen, die offiziellen wie die geheimen, welche Wachen geschmiert sind und, anhand der sehr simplen Rechnung "Drei gehen hinein, nur eine geht wieder hinaus", weiß er auch, wie viele Hafenhuren ein Munduskind in einer Woche etwa... verbraucht. Die letzten Tage hatte er Nacht für Nacht sein weiteres Vorgehen geplant und den Entschluss gefasst, Riku eine unmissverständliche Nachricht zukommen zu lassen, eine Einladung nach Talyra, die der Mann gar nicht ablehnen kann - und dann zu verschwinden. Wir spielen, mein Freund, aber nicht nach deinen Regeln. Finden wir heraus, ob du das Spiel der Könige kennst. Deine Dame hast du bereits an Olyvar verloren... und ich werde dir deinen Turm nehmen.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 18. Juli 2009, 08:46 Uhr
Auf den Dächern Dunkelscheins


Zwei Stunden nach Mondaufgang verrät ein Geräusch kaum lauter als das Zittern eines Heuschreckenbeines, dass das Munduskind seinen Platz auf dem Dach eingenommen hat und mit seiner Wache beginnt. Colevar schiebt sich lautlos ein Stück höher und mustert sein Gegenüber auf der anderen Straßenseite. Der Vampir sitzt ganz offen vor einer Dachluke, die so geschickt mit Schindeln getarnt wurde, dass sie geschlossen vermutlich noch nicht einmal bei Tageslicht wirklich zu sehen ist, und säubert sich mit der Spitze eines altertümlich verzierten Scheibendolches die langen, gekrümmten Fingernägel. Colevar wirft einen Blick in den tintendunklen Himmel und blickt dann die finstere Straße unter ihm hinauf und hinunter. Alles ist still und ruhig. Er würde sich mit unendlicher Vorsicht  von diesem Dach zum nächsten bewegen, dann in die Schatten der Häuser kriechen, die Straße überqueren, auf der anderen Seite wieder aufs Dach steigen und sich von hinten anschleichen müssen. Der Weg war nicht die Schwierigkeit und Colevar hatte schon vor langer Zeit gelernt, alle Wärme des Körpers im Inneren zu konzentrieren, so dass der Vampir ihn auch nicht spüren würde, bevor es zu spät war. Aber gegen seinen Geruch und den Gestank des Flussschlamms in seinem Haar kann er leider rein gar nichts tun und der Wind steht nicht zu seinen Gunsten – niemand greift einen Vampir an, wenn er mit dem Wind kommt und nach Schlamm vom Ufer der Tummavirta riecht. Lass dir besser etwas anderes einfallen… Colevar ist noch dabei, in Gedanken seine verschiedenen Möglichkeiten durchzugehen und schiebt sich gerade behutsam rückwärts am Kamin entlang, als ein Prickeln im Nacken ihn leise, aber unmissverständlich warnt - und als er aufblickt, sieht er sich beinahe Nase an Nase einer sehr hässlichen und sehr felligen Katzenvisage gegenüber.  Die rechte Hälfte des grausilber gestreiften Gesichtes ist langnasig und anmutig, die linke dagegen so  narbig und verbeult, als habe jemand einen Schraubenzieher  seitlich  in die Schnauze des Tieres gesteckt, und einmal kräftig umgedreht. Abgesehen davon ist das Mistvieh halb so groß wie ein Luchs und wiegt mindestens zwanzig Stein. Seine Krallen sind größer als die des verfluchten Blutsaugers auf dem Dach gegenüber und es beobachtet jede von Colevars Bewegungen mit scharfen, grünen Augen.

Oh, Sithech liebt mich! Eine Rotatkissa… und eine ausgewachsene dazu… Colevar atmet behutsam aus.  Von  Immerfroster Rattenkatzen hatte er  zum ersten Mal  etwas gehört und gesehen, als er nach Dunkelschein gekommen war, doch die vergangenen Nächte auf den Dächern dieser Stadt hatten ihn bald gehörigen Respekt vor den Tieren gelehrt. Diese Katzen sind keine Haustiere und dienen nur einem Zweck: den düsteren Hafen am Nordmeer frei von Ratten zu halten und diese Aufgabe erledigen sie meisterhaft. Colevar hatte selten einen Ort gesehen, an dem es weniger Ratten gab, als hier. Des Nachts  gehören die Dächer den Katzen und selbst die Diebe weichen ihnen gern aus, denn die Rotatkissa sind vor allem für ihr kräftiges Gebiss und ihren furchtlosen Wahnsinn bekannt. Vermutlich müssen sie wahnsinnig sein, sonst würden sie sich nicht ständig mit Ratten von der Größe verdammter Feuermelonen anlegen. Colevar blickt in das vernarbte Gesicht des Tieres und unterdrückt nur mit Mühe ein Schnauben. Und ausgerechnet ich treffe auf die Wahnsinnigste von allen so wie es aussieht… Es ist unmöglich zu sagen, was die Katze tun wird. Sie mustert ihn aus Augen, hell und grün wie Ambarine, und könnte ihm im nächsten Moment wohl schnurrend um die Beine streichen oder ihm ebenso gut mit ausgefahrenen Krallen ins Gesicht springen. So wie sie aussieht wohl eher… Er bringt den Gedanken nicht mehr zu Ende. Das Fauchen kommt ohne Vorwarnung und hallt wie das Zischen eines überkochenden Dampfkessels durch die Nacht, während die Katze gleichzeitig mit gesträubtem Fell und angelegten Ohren herumwirbelt. Colevar macht einen Satz über den Dachfirst. Unter ihm ist eine verschwommene Bewegung zu sehen und er springt direkt darauf zu, den Dolch in der Rechten. Noch während er durch die Luft segelt, ist er überzeugt davon, dass  dies sein Ende ist. Finsternis lodert von der anderen Dachseite empor wie aufwirbelnder Rauch und trifft ihn wie ein Faustschlag. Er windet sich, verfehlt sein Ziel und landet mit der linken Schulter auf dem knisternden Reet, das seinen Sturz zum Glück abfedert wie eine alte Strohmatratze. Allerdings ist es glatt von Alter und Witterung, und das Dach ist schräg, so dass er augenblicklich ins Rutschen gerät. Sein Messer segelt in die Dunkelheit davon und irgendwo hinter ihm dauert das irre Fauchen an.  

Zähne blitzen auf, als sich die Schatten teilen und der Vampir ihn angreift, ein schwarzer Schemen in der Düsternis, doch Colevar dreht sich gerade noch rechtzeitig zur Seite – ein zweites Mal gelingt es ihm dann nicht mehr auszuweichen. Messerscharfe Krallen fahren zu beiden Seiten an seinen Rippen entlang und zerfetzen Leder, Haut und Fleisch, dann kracht die marmorne Stirn des Munduskindes gegen seine Nase und lässt ihn Sterne sehen. Er zappelt wild und tritt um sich, doch sein Gegner hockt schon rittlings auf ihm, schwer und kalt wie ein Grabstein. Dann hebt der Vampir eine Klaue, um ihm die Kehle aufzuschlitzen und taumelt im nächsten Moment auf Knien zurück, als ein fauchendes grauschwarzes Fellbündel auf seinem Kopf landet und ihm mit spitzen Reißzähnen und scharfen Krallen die fischbauchweiße Haut aufreißt. Schwarzes Blut quillt hervor.  Die Katze versenkt ihre Krallen im linken Auge des Vampirs und ihre Zähne in seiner Wange, reißt und zerrt an Haut und Fleisch. Fauchen, Kreischen und Grollen erfüllt die Nacht mit ohrenbetäubendem Lärm. Colevar stürzt vor, packt ein Handgelenk des Vampirs, bricht es und wirft das Munduskind auf den Rücken, dann zieht er seinen Langdolch. Der Vampir greift nach der sich windenden, knurrenden Katze, sein bleiches Gesicht eine zerfetzte Ruine, doch Colevar hält ihn fest, drückt ihn nach unten und stößt ihm den Dolch dann mit seinem ganzen Gewicht durch die frostkalte Haut und das Fleisch mitten ins Herz. Der untote Körper unter ihm bäumt sich auf und wirft ihn zurück. Die Schatten tanzen und lodern empor. Einen Herzschlag lang gehört das eine Augen des Vampirs, das die Katze ihm gelassen hat, wieder dem Menschen, der er einst war, dann zerfasern und verwehen alle Schatten und mit ihm der Leichnam, der verraucht wie Nebel, den der Wind davonträgt, bis nur noch schmauchende, graue Knochen übrig bleiben. Colevar schiebt die schwelenden Reste beiseite und richtet sich taumelnd auf, nur um festzustellen, dass er und die Katze nicht mehr allein auf dem Dach sind. "Du kannst dein Rauhtierchen jetzt zurückrufen, Fremder", mahnt die Stimme einer Frau. Sie spricht die Allgemeinsprache, jedoch gebrochen und mit schwerem Savo-Akzent. Colevar wirft einen Blick auf das Tier hinunter. Es kauert mit peitschendem Schwanz und angelegten Ohren vor ihm und knurrt noch immer. Rund um die Stelle, wo eben noch der Kopf und der Hals des Vampirs waren, ist das silbergraue Reet schwarz vor Blut. Hinter der Frau stehen zwei Armbrustschützen, ihre Waffen im Anschlag. "Sie gehört nicht mir - leider", erwidert er und in seiner Stimme schwingt echtes Bedauern mit. In seiner Nase wütet pochender Schmerz und Blut tropft von seinen Lippen und dem Kinn.  Die Katze windet sich seitwärts und faucht geifernd. "Bei Liktiks Fingern!" Zischt die Frau und weicht einen Schritt zurück. Colevar lächelt trotz seiner Schmerzen bei dem leichten Anflug von Panik in ihrer Stimme. "Tötet das verdammte Biest endlich!"


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 30. Juli 2009, 09:35 Uhr
Auf den Dächern Dunkelscheins



"Nein", hört er sich selbst zu seiner eigenen Überraschung sagen, macht einen Schritt nach vorn, packt die Katze im Nacken und wirft sie hinter sich über den Dachfirst. Das Tier faucht erneut, diesmal eindeutig empört, und für einen halben Herzschlag trifft ihn ein höchst erstaunter, ambaringrüner Blick, dann verschwindet die Katze hinter dem gemauerten Kamin außer Sicht und nur ein dumpfer Aufprall und wildes Kratzen von scharfen Krallen auf dürrem Reet zeugen von ihrer Landung. Colevar betrachtet die Frau vor ihm, eine Diebin Dunkelscheins, daran hat er keinen Zweifel. Bei meinen Glück ist sie vermutlich die Schwester eines der Männer, die jetzt im Hafen treiben… "Also. Erschießt mich oder küsst mich oder schaff mich von diesem Dach herunter, aber tut etwas."
"Mit dem größten Vergnügen."
"Mit dem größten Vergnügen was?!"
"Mit dem größten Vergnügen würden wir dich töten, Fremder. Du hast zwei von uns erledigt, zwei Gildenbrüder. Gute Männer, gute Diebe. Wir sollten dich erschießen. Oh, ich weiß, du bist schnell, Sithechritter. Schneller als ein Munduskind, aber nicht so schnell wie ein Armbrustbolzen. Doch vielleicht wäre das gar nicht klug. Du hast gerade Arvos besten Leibwächter äh… vernichtet. Sei es, wie es sein mag. Uns… also meine Herren und auch mich… interessiert eher das Warum. Du bist nicht aus Immerfrost, obwohl du aussiehst, wie ein Barbar. Du gehörst keiner Gilde an und wir wissen auch von keinem Krieg. Seit zwei Siebentagen wanderst du über die Dächer unserer Stadt und tötest unsere Leute. Was also hat Tausendgesicht dir in dieser kurzen Zeit getan, dass er dich nun zum Feind hat?"
"Tausendgesicht?" Der Name passt. "Ihr mögt ihn nicht." Das ist eine Feststellung, keine Frage. Ihr Tonfall hat es verraten, auch wenn sie versucht, so unbeteiligt wie nur irgend möglich zu klingen. "Sagen wir er hat sich schon andernorts viele Feinde gemacht. Mächtige Feinde, die ihn gern tot sehen wollen, ihn aber bisher nie zu fassen bekamen. Tausendgesicht ist ein sehr vorsichtiger Mann. Erst durch dich wurde man auf ihn aufmerksam, verstehst du? In Nachtschimmer ist eine Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt. Also, bist du allein oder nicht? Und wenn nicht, zu wem gehörst du? Nachtmesser? Erstgeher? Oder jemand ganz anderes?"
Colevar hat nicht viel Zeit zu überlegen, tatsächlich brennt ihm die sogar ziemlich unter den Nägeln und die Armbrustbolzen sind immer noch auf sein Herz gerichtet, also entscheidet er sich schlicht für die Wahrheit. "Zu keiner dieser Gruppen und auch zu sonst niemandem, der für Euch oder Eure Herren von Belang wäre. Die Angelegenheit ist persönlich." Die Frau erwidert nichts, sieht ihn nur an und die Armbrustbolzen bewegen sich keinen Sekhelrin. Colevar wirft einen Blick auf das Dach von Arvos Haus hinüber – noch ist dort alles ruhig, aber das würde sicher nicht mehr lange so bleiben. "Dann lasst mich eine Geschichte erzählen. Aber hinter dem Schornstein und dem Erker, wenn es recht ist." Die drei Dunkelschein-Diebe folgen ihm wie zu klein geratene Schatten und huschen lautlos und mit traumwandlerischer Sicherheit über den Dachfirst auf die andere Seite. Ihm selbst gelingt das zwar ebenfalls beinahe geräuschlos, aber es wirkt nicht halb so elegant.

"Also die Kurzfassung: Vor ein paar Jahren, als Tausendgesicht noch in Nachtschimmer war, gab es ein Mädchen an seiner Seite. Sehr jung, blaue Augen, Sommersprossen, goldene Locken und wenn Ihr mich fragt so unschuldig wie ein Eimer frisch geschlagene Sahne. Er hat ihr entsetzliches angetan, aber sie überlebte, floh, schwor Rache und sucht seither nach ihm. Ihr kennt sicher die Redensart, dass man sich immer zweimal im Leben begegnet, aye? Nun, ich schätze, es ist einfach Pech für Arvo, dass unser kleiner Goldspatz inzwischen die Frau eines mächtigen Mannes ist. Eines Mannes, der über Ritter, Soldaten, Einfluss und Gold verfügt und keinen Spaß versteht, wenn es um die Ehre seines Weibes geht. Er will Tausendgesicht und ihr tätet besser gut daran, ihm nicht in die Quere zu kommen." Einen Augenblick überlegt Colevar, wie weit er sich aus dem sprichwörtlichen Fenster lehnen soll, aber dann zuckt er nur mit den Schultern. Falls diese Diebe mit denen in Nachtschimmer in Verbindung stehen, können sie seine Worte gleich weitertragen. "Wenn Arvo meine Botschaft erhält, wird er mir folgen. Er weiß, dass er noch eine Rechnung zu begleichen hat und die Dame ist überzeugt, er wird… die Einladung annehmen."
"Und wenn er das nicht tut?"
"Verlasst euch darauf."
Die Armbrustschützen starren ihn unverwandt an, die Frau auch. Ihr Haar ist ein Wirrwarr fingerlanger, dunkler Strähnen, die wild von ihrer niedrigen Stirn abstehen und unter ihren geraden Brauen glänzen ihre Augen wie Stein. Dann dreht die Diebin den Kopf und mustert die noch immer ein wenig dampfenden Überreste des Vampirs hinter ihm. "Was für eine nette Art, einen Gast zum Tanz zu bitten."
"Ja, nicht wahr?" Colevars Lächeln ist nicht mehr als ein wildes, kurzes Aufblitzen von Zähnen. "Und so effektiv."
Ein paar Herzschläge lang herrscht Stille auf dem nächtlichen Dachfirst und Colevar glaubt so etwas wie Humor in den Augen seines Gegenübers zu erkennen, doch dann wird ihre Miene wieder distanziert und das vage aufkeimende Fünkchen Hoffnung, doch noch ungeschoren davonzukommen, verabschiedet sich ins Nirgendwo.
"Warum tut Ihr das alles? Es ist schließlich nicht Eure Frau."
Colevar schenkt ihr einen kalten Blick. Seine Erwiderung kommt leise und ein wenig angestrengt, aber vollkommen klar: "Weil mein Lord Commander mir gesagt hat, ich soll Tausendgesicht nach Talyra schaffen, und bis er etwas anderes sagt, tue ich genau das."
Langes Schweigen und ein paar undeutbare Blicke antworten ihm, dann jedoch zuckt die Frau mit den Schultern und schnattert etwas auf Pakkakieli hervor, das er nicht versteht. Ihre Begleiter, scheinbar alles andere als einverstanden mit ihrer Entscheidung, speien einen Schwall gezischter Widerworte hervor, doch eine harsche Geste ihrer Anführerin lässt die beiden zähneknirschend verstummen. Dann richten sich ihre Augen wieder auf Colevar. "Wir werden Euch gehen lassen", verkündet sie unumwunden, doch er kann das "Aber" in ihrer Stimme hören, noch ehe sie es ausspricht. "Aber wir können Euch nicht unversehrt gehen lassen."
Wunderbar. "Ihr redet zu viel."

"Sagen wir, ich habe eine Schwäche für romantische Geschichten, Sire."
"Blablabla…"
Ihre linke Braue rutscht ein Stück nach oben und lässt sie aussehen wie ein zweifelndes Wiesel. "Doch, wirklich. Aber mein Herr, der Lord der Lumpen, schreit nach Vergeltung wegen der Männer, die Ihr getötet habt."
Wie edel. "Versucht doch einfach mich zu erschießen. Dann habt ihr es hinter euch."
"Spott steht euch nicht an, Sire. Habt Ihr gar keine Angst?"
Vor euch? Nein. "Beeilt euch besser, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit."
"'Ich will sein Blut sehen…' Ja, ich denke, genau das waren seine Worte. Ich will sein Blut sehen. Nun, das wird er auch, mein Wort darauf. Aber von einer Leiche hat er schließlich nichts gesagt. Ich bin nur eine einfache Diebin, aber ich bin nicht dumm. Ein toter Sithechritter auf den Dächern meiner Stadt bedeutet vor allem eines: Ärger. Und Ärger ist schlecht fürs Geschäft, nicht wahr? Maino, ein Bolzen. Linke Schulter. Jetzt."
Die Armbrust ruckt hoch und ein wenig zur Seite, noch bevor Colevar auch nur blinzeln kann. Ein zischendes Sssstock! und ein dumpfer Schlag, und der Bolzen fährt ihm glühend wie ein Schürhaken durchs Fleisch. Er taumelt zurück und die Wucht des Aufpralls wirft ihn fast vom Dach. Fluchend vor Schmerz kämpft er sich auf die Beine, doch von seinen Gegnern sind nur noch Schatten am anderen Ende des Dachfirsts zu sehen. "Vergesst nicht, Eure Einladung zu überbringen, Sire", wispert eine spöttelnde Stimme aus der Dunkelheit. "Und dann verschwindet aus unserer Stadt."
"Blödes... Miststück!" Keuchend rappelt er sich hoch, blinzelt durch die Tränen, die ihm in die Augen schießen und die Sicht verschleiern, schnappt nach Luft und versetzt den immer noch rauchenden Knochen des toten Vampirs dann einen Tritt. "Blödes… blödes… Weib!"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 01. Aug. 2009, 00:09 Uhr
An den Ausläufen des Ostwalls, in der Nähe des Frostwegs – Kesäkuu/ Sonnenthron

Es ist früher Morgen, als Calait fröstelnd erwacht. Verschlafen tastet sie nach der Decke, die auf Höhe ihrer Hüfte hinab gerutscht ist, erntet dafür ein ganzes Orchestern an „Kieks“, „Oinks“, „Fieps’“, „Mähs“ und „Schnatters“ und blinzelt verwirrt, als sie anstelle weicher Felle raues Leder zu fassen kriegt. Oder besser gesagt, einen kurzen, zuckenden Lederstummel. Ihr sich noch im Dämmerzustand befindlicher Verstand braucht eine geraume Weile, bis er kapiert, dass sie da nicht etwa einen Zipfel ihrer Decke, sondern den Schwanz von Nimmersatt erwischt hat. Der überhaupt schuld daran ist, dass sie friert, wie sie kurz darauf mit immer noch etwas holprig wirkendem Abtastens der unmittelbaren Umgebung feststellt. Wie ein Vogel hat sich der Trold aus dem oberen Teil ihrer Decke ein Nest gebaut und sich gemütlich darin eingerollt. Hmpf. Damit hat sich das Ausschlafen auch erledigt. Denn was das verfressene – und verwöhnte! – Biest erst einmal hat, gibt es so schnell nicht wieder her. Dann eben das Feuer wieder anfachen. Was leichter gesagt ist, als getan. Vorsichtig zupft sie sich Schnappsdrossel, eines von drei Waldhörnchengeschwister, aus den Haaren, schiebt Rouva, die Zwergsaudame, ein Stück zur Seite, vertreibt Vi-Vi, das Schleiereulenjunges, von ihren Beinen, windet sich zwischen zwei von vier Schneeschafen hervor, hievt sich über ihre Schwester hinweg und krabbelt bis zum Wagenrand. Hinter sich hört sie das leise Rascheln von Stoff, als Lía schlaftrunken hinter dem Fellberg, den sie über sich angehäuft hat, hervorblinzelt und fragend nuschelt: “Eschischnochsofrühwasmachsudennda?“
Calait gähnt, streckt und reckt sich und wirft dann ein liebevolles, wenn auch immer noch deutlich müdes Lächeln über die Schulter zurück und streicht sich ein paar wirrer Locken aus dem Gesicht: „Nichts weiter. Schlaf noch ein wenig, ma chaseourez vihan.“ Kurz hält sie inne, bis ruhige, tiefe Atemzüge ihr verraten, dass ihre Schwester wieder eingeschlummert ist. Gut so, denkt sich Calait, lässt ihre Beine ein wenig baumeln und ihre Gedanken abschweifen. Weit fort, vier Monde Reiseweg zurück, in die höchsten Höhen des Ostwalls, zu ihrem Vater, Rozenn und ihren Brüdern. Ein Schmunzeln stiehlt sich auf ihre Lippen, als sie an die frühmorgendlichen Streifzüge mit ihrem Vater zurückdenkt. Da hatten wir um diese Zeit längst den Frosthang hinter uns gebracht… verflixt… ich bin faul geworden. Noch einmal gähnt sie ausgiebig und angelt dann nach ihrem Umhang, den sie zusammengefaltet als Kopfkissen benutzt hat. Dabei stösst sie versehentlich gegen ein weiteres Fellbündel, dass vor Schreck einen riesigen Satz macht und dann laut krakeelend seinem Unmut freien Lauf lässt. „Psssst!“, zischt sie leise und streckt hastig den Arm in die ungefähre Richtung des jammernden Temperamentbündels. Es entpuppt sich als Ériu, das Fichtenmarderweibchen, die sich nicht zweimal bitten lässt. Noch etwas tappsig meistert sie die kurze Hürde und macht es sich dann auf Calaits Schultern bequem. Sprich, sie macht sich erst lang und vergräbt ihre winzigen Krallen in deren Nacken, bevor sie wie ein Schluck Wasser in der Kurve zusammenklappt und schlaff um den Hals baumelt. Zärtlich krault Calait dem Tier die weichen, winzigen Öhrchen, schlägt dann die Lederplane zurück und klettert aus dem Wagen.
Klare, frische Morgenluft schlägt ihr entgegen und lässt einen dünnen, glitzernden Film frischen Taus auf ihrer Haut zurück. Tief atmet sie den Duft nach Nebel, warmer, regengetränkter Erde, feuchtem Holz ein und geniesst das sanfte Prickeln der ersten Sonnenstrahlen auf ihren nackten Armen. Munteres Vogelgezwitscher rundet das Bild eines rundum friedlichen Morgens ab.

Erst als ihre Zähne zu klappern anfangen, wickelt sie sich in ihren Umhang und schlurft barfüssig zum Rand der Lichtung. Dort verschwindet sie kurz für kleine Gauklerinnen im Dickicht, um dann die erbärmlichen und vor allem nassen Überreste ihrer winzigen, aber ehemals hartnäckigen Wärmequelle zu beseitigen, das trockene Holz aus dem vorderen Teil des Wagens zu holen und ein neues Feuer anzufachen.
Dabei stolpert sie über den nächsten Fellhaufen, der er sich halb unter dem Wagen bequem gemacht hat. Heftig stösst Calait sich den linken Zeh am Rad, als die Resanderhündin Shirin winselnd herumschiesst und sie beinahe das Gleichgewicht verliert. „Verflixt und zugenäht, auauau!“, entfährt es ihr und der kurze, aber heftige Schmerz treibt ihr die Tränen in die Augen. Ungelenkt stützt sie sich mit der Rechten an der Wagenwand ab, balanciert auf einem Bein und reibt sich mit der Linken den heftig pochenden Zeh. Drei unterdrückte Flüche und ein entschuldigendes Jaulen später ist der Vorfall auch schon wieder vergessen und der warme Leib der Hündin schmiegt sich vertrauensvoll an ihre Beine. „Schon gut, ist ja nichts passiert“, murmelt Calait halb belustigt, halb resigniert, als Shirin immer wieder winselnd ihre feuchte Nase gegen die Handinnenfläche ihrer Herrin stösst.
Der kleine Zwischenfall hat nun auch noch die beiden Rüden auf den Plan gerufen, die sich auch erstmal hechelnd in Calaits Weg drängen und ihre allmorgendliche Streichelration beantragen. Auf diese Art und Weise geht es weiter, bis sie es dann doch irgendwann geschafft hat und das kleine Feuer wieder munter brennt. Rasch legt Calait drei Stück von den trocken gehaltenen Holzscheiten nach, damit die Flammen rasch wachsen und schon bald genug Glut für das Frühstück da ist.

Erst als der Duft nach frischgebackenem Fladenbrot die Morgenluft versüsst, erwacht der Rest der Kompanie. Wildes Rumoren und ein ganzes Sammelsurium an Tiergeräuschen dringt dumpf aus dem Inneren des Wagens, bevor Calait hört, wie die Plane zurückgeschlagen wird und Lía sich zu ihr gesellt. Im Anhang ihre pelzigen und fedrigen Freunde, die nicht weniger Hunger haben als die Schwestern. „Hier“, grinst Calait und hält ihrer Schwester, oder besser gesagt dem Schatten, der das wärmende Sonnenlicht von ihrem Gesicht vertreibt, einen Becher mit dampfendem Tee entgegen. Ériu hat sich derweil von Calaits Schultern verzogen und liefert sich jetzt lautstark den obligatorischen morgendlichen Streit mit dem Jadeotterweibchen Noraya um den Platz in Lías Schoss. Noraya gewinnt, wie Calait anhand Érius beleidigtem Fauchen ausmacht. Munter rückt Calait ein wenig näher an ihre Schwester heran, um deren langes Haar erst zu entwirren und dann zu einem lockeren Zopf zu flechten.
„Ich habe geträumt“, beginnt sie leise und lässt ihre Finger suchend über den schlanken Hals ihrer Schwester gleiten, um auch die letzten, frechen Strähnen zu erwischen, „Von Winoc und Mael. Sie waren glatt einen Kopf grösser als ich und hatten mir meine frisch gesammelten Beeren geklaut. Das war richtig gemein. Ich habe mich total lächerlich gemacht, indem ich Gift und Galle gespuckt habe und wie ein Irrwicht herumgeh - wirst du jetzt wohl aufhören zu kichern, ich fand das überhaupt nicht witzig! Das waren grosse, richtig dicke, rot glänzende Beeren und sie haben sie mir alle vor der Nase weggefuttert! Hmpf, du bist mir ja eine Schwester…“ Gespielt eingeschnappt knufft Calait Lía in die Schulter und zieht eine Schnute, was leider die gewünschte Wirkung vollkommen verfehlt und nur dazu führt, dass sie gleich darauf beide lachen. Es ist ja nicht so, als wäre ihr Traum völlig falsch. Dummerweise hat er den Alltag viel zu realistisch wiedergegeben, als dass Lía sich nicht an besagte Beeren und den Tobsuchtsanfall ihrer Schwester erinnern könnte. Wie ihre Brüder, gerade mal den Windeln entwachsen, Calait gekonnt an der Nase herumgeführt und sie ihrer süssen Beute erleichtert hatten. „Wobei Beeren ein gutes Stichwort ist. Du solltest die Augen offen halten, vielleicht finden wir dann die ersten Blaubeeren. Und Ukonhatut.“ Damit fischt Calait das goldbackene Brot von der dünnen Schieferplatte, teilt es und reicht Lía die eine Hälfte - und kann grad noch verhindern, dass Nimmersatt ihr ihr eigenes Stück hinterhältig aus den Fingern stibitzt. "Oey!", schnappt sie und schubbst die Lederkugel demonstrativ von ihrem Knie: "Nichts da! Das ist meins. Du kriegst nachher dein Es..." Sie hört das geniesserische Knuspern und weiss im gleichen Momet, dass Lía das Leid des verfressenen Viehs nicht mitansehen konnte und ihr Brotstück mit ihm geteilt hat. "Oh, na gut, na gut, Lía, behalt dein Essen, du teilst es nämlich schon mit dem ganzen Rest." Resignierend hebt sie den Trold also in ihren Schoss und reicht ihm ein ordentliches Stück ihres Brots, bevor sie endlich selber dazu kommt, hineinzubeissen. Es ist noch warm und schmeckt herrlich. Gemeinsam geniessen sie ihr karges, aber leckeres Frühstück.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 01. Aug. 2009, 13:19 Uhr
Auf den Dächern und in den Straßen Dunkelscheins, Ende Grünglanz



In seiner linken Schulter tobt reines Feuer und er spürt sein Blut unter dem Lederwams auf Brust und Rücken, klebrig und nass. Allen Göttern sei Dank hatte das Geschoss seine Schulter wenigstens glatt durchschlagen, auch wenn das im Augenblick nicht seine größte Sorge ist. Er hat keine Zeit mehr – wenn Arvo bisher noch nichts von dem ganzen Spektakel auf dem Dach mitbekommen hat, dann müssen er und alle seine Männer stocktaub sein. Immer noch fluchend zerrt Colevar die Knochen des Vampirs hinter sich her, hangelt, rutscht und klettert einhändig irgendwie (und mehr schlecht als recht) vom Dach, verliert zu viel Blut, hinterlässt rote Schlieren auf dem silbergrauen Reet und weiß, dass er schwächer wird. Und das schnell. Hinter ihm ist ein leises Knistern zu hören, doch als er zurückblickt, sieht er nur noch einen grauen Schemen davon huschen. Die Katze… Einen Augenblick verharrt er, geduckt an der Häuserwand und späht in die Gasse hinein, in der Arvos Haus liegt. Hinter den niedrigen Fenstern ist noch alles dunkel, aber er glaubt Geräusche auf dem Dach und wispernde Stimmen in der Nacht zu vernehmen. Sie suchen schon. Colevar wirft einen letzten Blick über die Schulter. "Meinen Dank, Mistress Grau", flüstert er mit schiefem Grinsen in die Dunkelheit hinter sich. Die Gasse vor ihm ist menschenleer und liegt in tiefen Schatten. Er taucht lautlos hindurch bis vor die Stufen der Eingangstür von Arvos Quartier und lässt die kalten Knochen dort so leise wie möglich zu Boden gleiten. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Colevar zieht ein sorgfältig zusammengerolltes Pergament und eine kleine Holzschnitzerei  Dianthas unter seinem Wams hervor und heftet dem Vampir dann beides mit einem grimmigen Lächeln und seinem eigenen Dolch ans Brustbein – einen Herzschlag später ist er verschwunden. Etwa einen Viertelstunde später lehnt Colevar am schrägen Dach einer Fleischerei und versucht, wieder zu Atem zu kommen. Bis auf zwei betrunkene Huren, die singend und lallend seinen Weg gekreuzt hatten und einem übermüdeten Nachtwächter, der gähnend in einen Feuerkorb gepisst hatte, war niemand zu sehen oder zu hören gewesen. Entweder verfolgen Arvo und seine Männer ihn überhaupt nicht, oder es ist ihm gelungen, sie abzuschütteln. Das glaubst du doch selbst nicht. Mach, dass du aus der Stadt herauskommst!

Behutsam richtet er sich auf und sieht sich um. Aus dem Loch in seiner Schulter strömt immer noch zu viel Blut, aber wenigstens zieht er jetzt dank einiger sauberer Windeln von einer Wäscheleine aus einem Hinterhof keine Spur roter Tropfen mehr hinter sich her. Ein Stück entfernt rutscht eine hölzerne Schindel klappernd über die Dachschräge. Colevar wirbelt herum und sieht eine Gestalt auf sich zufliegen, aufblitzende Messer in beiden Händen, doch er gibt ihr keine Gelegenheit zu einem Angriff, sondern schießt in Richtung Dachkante davon und springt blind in die Dunkelheit. Die Häuser auf der anderen Straßenseite sind viel zu weit entfernt, doch er kennt Dunkelscheins Dächerwelt längst gut genug, um zu wissen, dass er nur die Hände auszustrecken braucht. Eine Leine für Aalreusen scheuert an seinen Unterarmen entlang und eine Traube Hummerkörbe bremst seinen Fall ein wenig, während seine Finger verzweifelt nach festem Halt suchen. Dann bekommt er ein dünnes Hanfseil zu fassen, an dem tagsüber vermutlich Wäsche trocknet, und baumelt einen Augenblick später zwanzig Fuß über einem schlammigen Gässchen. Seine linke Schulter fühlt sich dabei zwar an, als würde ihm der Arm aus dem Gelenk gerissen und er spürt, wie die Wunde noch heftiger zu bluten beginnt, aber wenigstens ist er noch am Leben. Mit zusammengebissenen Zähnen hangelt er sich das Seil entlang auf die gegenüberliegende Wand zu, doch an der Dachkante erwartet ihn bereits eine weitere Schattengestalt mit einer Armbrust in den Händen. Lautlos fluchend lässt Colevar die Leine los und spürt noch den Luftzug des Bolzens, der eine Handbreit über seiner Stirn hinweg zischt, während er in die Tiefe stürzt. Sein Fall wird von einer ganzen Reihe Seile, Schnüre, Hummerfallen, Netze und Leinen gebremst, die an ihm zerren, ihn hin und herwerfen wie beim Stock-und-Ball spielen, bevor sie reißen oder peitschend durch seine Kleidung schneiden und rote Striemen auf seiner Haut hinterlassen, ehe er mit einem dumpfen Klatschen im Matsch landet und dann mit dem Kopf gegen den Fuß eines eisernen Feuerkorbes knallt. Ein Schauer winziger Funken regnet auf ihn herab. Ich hätte mich erschießen lassen sollen… Stöhnend rollt er sich zur Seite und für einen Moment sieht er nur Sterne, selbst mit geschlossenen Augen.

Steh auf! Torkelnd und mit dröhnendem Schädel kämpft er sich auf die Beine zurück. Direkt über ihm sind verschwommene Bewegungen am Rand der Dächer zu beiden Seiten der Straße zu sehen. Colevar dreht sich um, macht ein paar wacklige Schritte und hastet dann die Gasse hinunter durch den knöcheltiefen Schlamm. An der Ecke zur nächsten Straße, diesmal eine gepflasterte, gerät er in den Lichtschein eines Feuerkorbes und verschwindet dann wieder in der Mündung des nächsten kleinen Gässchens. Hier sind die Häuser kleiner, schäbiger und dunkler, und ein eindeutiger Geruch verrät, dass er bereits im Hafenviertel angelangt sein muss. Kaum ist er wieder in die Schatten getaucht, bleibt er stehen und riskiert einen vorsichtigen Blick zurück, doch er hat noch nicht einmal die Nasenspitze um die Ecke geschoben, als auch schon ein Armbrustbolzen dicht neben seinem Gesicht in die Wand kracht und zitternd in einem Balken stecken bleibt. Sithechverdammt! Er zuckt zurück, dreht sich um und hastet weiter, obwohl alles in ihm danach schreit, sich seinen Verfolgern zu stellen, sich in den Schatten zu verbergen und ihnen dann die dürren Hälse zu brechen oder die Kehlen durchzuschneiden. Nein. Lauf! Lauf! Hinter ihm sind Schritte zu hören, Stiefel in aufspritzendem Matsch, und nur ein paar Herzschläge später zischt ein weiterer Bolzen knapp an seiner rechten Schulter vorbei. Häuserfronten ziehen vorüber, alle finster und abweisend, bis er an die nächste Ecke gelangt, wo trotz der späten Stunde wenigstens ein paar Menschen auf den Straßen zu sehen sind – betrunkene Seeleute, Huren, Bettler und dahinter ein windschiefes Gebäude mit einem Schindeldach und einem gemauerten Fundament, auf dem es kauert wie ein schlafender Hund über seinem stinkenden Knochen. Durch die schmutzigen Fenster strömt gelber Lichtschein und ein schmuddeliges Schild über dem breiten Eingang weist es als "Sirpas Schüssel" aus. Colevar stößt die Tür auf und stürmt ins Innere des Hauses – es ist ein Bordell, eines der erschwinglicheren Sorte, wie es sie im Hafen Dunkelscheins zu Dutzenden gibt. Der Geruch nach billigen Parfums, schalem Wein, Samen, Salzwasser und ungewaschenen Körpern hängt so schwer in der Luft wie die mottenzerfressenen, staubigen Samtvorhänge von den Wänden. Schummriges Licht enthüllt einen breiten Gang und an dessen Ende eine schmale Treppe, die von Kindern jeden Alters nur so wimmelt. Von irgendwo her zu seiner Linken dringen die Geräusche einer Schankstube an sein Ohr – Geschirrklirren, Gelächter und Stimmengewirr. Hinter den Vorhängen zu seiner Rechten steigt ein Chor ganz anderer Geräusche auf, doch dafür hat er ebenso wenig Aufmerksamkeit übrig, wie für die leichtbekleideten, mageren Mädchen, die sich auf den Bodenkissen an den Wänden räkeln.

Den Blick fest auf die Treppe gerichtet  hastet er weiter, scheucht die Kinder beiseite und hetzt die knarzenden Stufen hinauf. Er kennt dieses Haus nur von außen, denn er war in den letzten Siebentagen oft genug über sein Dach geschlichen, aber dahinter liegen ein verwilderter Garten und der Alte Markt. Egal wie spät die Stunde in Dunkelschein sein mag, am Alten Markt herrscht immer geschäftiges Treiben und wenn er Glück hat, bringen die Fischweiber gerade den ersten Fang der Nacht an die Stände. Im Gewühl aus Schauerleuten, Straßenkindern, hungrigen Katzen, der Nachtwache, heimkehrender Fischer und verschlafener Mägde wäre es ein leichtes unterzutauchen oder seine Verfolger wenigstens so lange abzuhängen, bis er den Grünen Drachen erreicht hatte, das Gasthaus am anderen Ende des Alten Marktes, in dem er abgestiegen war. Im zweiten Stock von "Sirpas Schüssel" hält Colevar inne, versucht sich zu orientieren und entscheidet sich dann für einen Raum zu seiner Rechten im vorderen Drittel des Ganges. Er schlüpft durch den Vorhang, ignoriert das erschrockene Quietschen der nackten Hure und ihres fetten Kunden auf der strohgefüllten Matratze, und steuert geradewegs auf das dem Eingang gegenüberliegende, winzige Fenster zu. Er öffnet die Läden, quetscht sich hindurch bis auf das Sims und späht hinunter in den völlig verwahrlosten, überwucherten Garten, der in der Dunkelheit kaum auszumachen ist. Ein einsamer Baum vor dem Fenster reckt ihm seine knorrigen Ästen entgegen. Das wird weh tun... Colevar macht einen tiefen Atemzug und wirft sich dann mit Schwung nach vorn. In dem Herzschlag, den er durch die Nacht segelt, hört er vom Dach des Bordells hinter ihm ein überraschtes Grunzen und ein wildes Kratzen, dann kracht jemand in einer Kakophonie aus schmerzerfüllten Flüchen und wildem Katzenkreischen hinunter in den Garten. Colevar selbst klammert sich an einen Ast, der sich unter seinem Gewicht spürbar biegt, klettert hastig um den Stamm herum und balanciert dann über ein, zwei andere Äste bis zur Krone der hohen Mauer, die das Gestrüpp  hinter "Sirpas Schüssel" vom Alten Markt trennt. Einen Augenblick später ist er auf der Mauer, kauert sich in die Dunkelheit und versucht, wieder zu Atem zu kommen.  

Viel Zeit bleibt ihm jedoch nicht, denn er hat kaum Luft geholt, als er schon wieder ein sirrendes Geräusch und einen dumpfen Aufprall vernimmt. Da ist noch ein Schütze auf dem Dach. Kleine Steinsplitter fliegen um ihn herum, als der Bolzen ihn verfehlt und stattdessen über seinen luftigen Freisitz schrammt, so dass er hastig weiter krabbelt, bis er endlich an eine Stelle kommt, wo sich von außen ein Marktstand an die Mauer schmiegt. Ohne auch nur einen Moment inne zu halten, lässt Colevar sich fallen und landet drei Klafter tiefer in einem Baldachin aus durchhängendem Segeltuch. Die hölzernen Stangen des Rahmens ächzen bedenklich unter seinem Gewicht, halten jedoch - und er kann einfach rittlings hinunter rutschen wie ein Kind von einem weichen Strohhaufen. Ein paar Fischmarktweiber kreischen und ein paar betrunkene Seeleute machen große Augen, doch da er sich galant verbeugt (was ihn mit gesenktem Kopf zischen und schmerzerfüllt das Gesicht verziehen lässt) und dann breit grinsend in die Runde winkt, als hätte er gerade einen glanzvollen Auftritt als Gaukler hinter sich gebracht, gibt es nur Gelächter, "Bahs" und Kopfschütteln. Ein paar Augenblicke später ist er über den alten Marktplatz verschwunden. Der "Grüne Drache" ist nicht weit, eingezwängt zwischen hohen Speicherhäusern an der Westseite des alten Marktes. Über der Tür hängt ein hölzernes Schild, welches das schlafende Untier, das dem Gasthaus seinen Namen eingebracht hat, über seinem goldenen Hort zeigt. Von den Schuppen des Drachen blättert die verblasste grüne Farbe bereits in großen Stücken ab, das Gold seines Schatzes ist nur noch fahles Gelb und das Gebäude selbst ist auch nicht in bestem Zustand, aber der Wirt stellt keine Fragen, die Zimmer sind leidlich sauber und das Essen ist gut. Colevar zwingt sich, langsam zu laufen, irgendeine Schattengestalt in der Dunkelheit zu sein, schwankt ein wenig, als er die drei niedrigen Stufen hinauf stapft und stößt die Tür auf. Eine Woge aus Wärme, Licht und Lärm schlägt über ihm zusammen, doch niemand stört sich an seiner Aufmachung, seinem Zustand oder schenkt ihm mehr Beachtung als einen misstrauischen Blick, während er sich durch die Gaststube drängt – der Drache ist voll und in Dunkelscheins Hafenviertel treiben sich andauernd alle möglichen und unmöglichen Gestalten herum. Am Tresen drückt ihm der Wirt, ein alternder Seebär namens Yriö Bauchschwabbler, ungefragt einen Becher in die Hand und raunt dann, es sei alles vorbereitet, wie er es gewünscht habe, sein Pferd stehe am Osttor für ihn bereit, seine Sachen seien gepackt. Dann wirft der Mann unter seinen buschigen grauen Brauen (die Colevar irgendwie an Borgil erinnern, auch wenn Yriö dem Zwergenwirt sonst in keiner Weise ähnelt), einen vielsagenden Blick auf seine mit blutigen Windeln gepolsterte Schulter.

"Könnt Ihr einhändig reiten?" Colevar nickt nur und nimmt einen gewaltigen Schluck. "Wenn es sein muss auch ohne Hände. Wo ist die Alte?" Trotz des abenteuerlichen Sammelsuriums seiner Kundschaft weiß der Fette Yriö sofort, wer gemeint ist. "Maegi? Sitzt am Kamin. Die Nachtkälte beißt in ihre Knochen, sagt sie."
"Ich brauche ihre Dienste. Dann bekommt Ihr Euer Gold und ich bin verschwunden."
"Geht ins Hinterzimmer, hier entlang. Ich bringe sie zu Euch."
Auf dem baufälligen Dach von "Sirpas Schüssel" steht eine von Arvos Getreuen, eine Schmugglerin mit Namen Okka, am Rand der löchrigen Schindeln und beobachtet den Alten Markt, auf dem selbst jetzt, lange nach Mitternacht, noch etwas los ist. Die Armbrust in ihren Händen hat sie längst sinken lassen – ihre Beute ist ihnen entschlüpft. Arvo wird uns die Köpfe abreißen. Ein zweiter Verfolger gesellt sich zu ihr, blutfleckig und zerschrammt, und schiebt hörbar keuchend seine beiden langen Messer zurück in die Scheiden. "Ich bin mit einer Katze aneinander geraten", erwidert der Dieb, als hätte Okka ihm eine Frage gestellt, doch die Schmugglerin schüttelt nur den Kopf. "Alles in allem haben wir beide versagt. Hier ist zu viel schief gegangen – Arvo wird alles andere als zufrieden mit uns sein." Eine Weile schweigen sie, vereint in ihrer Niederlage. "Komm, gehen wir in den Bau zurück. Wir müssen ihm berichten, dass wir ihn verloren haben."
"Das macht mir keine Sorgen. Es war ein Fremder Okka, und wir erfahren früher oder später alles über jeden Fremden, über den wir etwas wissen wollen. Irgendjemand wird reden, irgendjemand hat  immer etwas gesehen oder gehört. Was mir mehr Kopfzerbrechen bereitet ist etwas ganz anderes." Der Dieb ignoriert den stechenden Blick seiner Begleiterin und kaut zweifelnd an seiner Unterlippe herum. "Er hätte ein Dutzend Mal die Gelegenheit gehabt, uns beide zu töten, Okka. Das weißt du so gut wie ich. Aber er hat uns nicht einmal angegriffen. Der Kerl hat Iivari getötet und du weißt, wie stark der war. Warum leben wir noch?"
"Er war verwundet. Er ist gestürzt. Vielleicht hat er seine Waffen verloren. Vielleicht hatte er einfach Angst vor uns, was weiß ich." Okkas Antwort ist barsch, doch er kann das Beben in ihrer Stimme hören, und das macht ihm mehr Angst, als alles andere. Sie hat es genauso gespürt, wie ich. Diese Geschichte wird nicht gut ausgehen, Okka. Erinnere dich an meine Worte. Sie wird böse enden.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 09. Aug. 2009, 17:57 Uhr
An den Ausläufen des Ostwalls, in der Nähe des Frostwegs – Kesäkuu/ Sonnenthron

Das geschäftige Rumoren ihrer Schwester dringt nur gedämpft zu ihr durch. Noch ist Lía weder gewillt noch wirklich in der Lage den Nebelschleier, den der Schlaf, über ihre Gedanken ausgebreitet hat, abzustreifen, also begnügt sie sich mit einem leisen unwilligen Murren und gräbt ihr Gesicht tiefer in den weichen Pelz Louans. Der warme Körper ihres treuen Gefährten schmiegt sich etwas enger an sie gibt jedoch keinen Mucks von sich. Erst als sie die Berührung von tastenden Fingern über den Haufen Pelz, der sich in Form von Decken und allen möglichen und unmöglichen Tieren den sie auf sich gehäuft hat zeigt, gleiten spürt gelingt es ihr für einen kurzen Moment den Schlaf soweit abzuschütteln, dass sie sich etwas in die Höhe kämpfen kann und verschlafen zur Plane hinüberlunzt. Ein erstaunter Ausdruck macht sich auf Lías müden Zügen breit, als sie ihre Schwester bereits wach vorfindet. “Eschischnochsofrühwasmachsudennda?“, murmelt sie und unterdrückt ein Gähnen. Doch noch bevor Calait sich auch nur zu ihr umdrehen, geschweige denn zu einer Antwort ansetzen kann, ist Lía auch schon wieder friedlich eingeschlummert.
Erst in den frühen Morgenstunden hat sie sich zum Schlafen niedergelegt, da sie mit Louan noch bis spät in die Nacht durch die Gegend gestreunt ist. Sie lässt ihre Schwester nicht gerne allein – weder tagsüber noch bei Nacht. Doch Calait war am vergangenen Abend früh eingeschlafen und so hatte Lía die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Es ist noch nicht lange her, dass sie sich schlafen gelegt hat; daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Krach den ihre kleinen pelzigen Freunde bereits draußen – nicht ganz ohne die Unterstützung Calaits – veranstalten sie nicht aus dem Land der Träume reißen kann. Jedenfalls nie für mehr als einen kurzen Augenblick, denn die wohlige Wärme ihres Schutztieres lässt sie immer wieder einnicken.

Erst der verlockende Geruch von frischgebackenem Fladenbrot vermag die jüngere der beiden Schwester samt Anhang aus dem Wagen zu treiben. Mit den Haaren auf Sturm und völlig zerknitterten Kleidern die noch Dreckspuren von der nächtlichen Wanderung zeigt tapst Lía barfuss durch das taufrische Gras. Ein herzhaftes Gähnen und einen liebevollen Blick in ihre weichen Lederstiefel in welchem immer noch das Schleiereulenjunge Vi-Vi friedlich schläft. Soll es ruhig noch ein wenig schlafen; schließlich brauche ich die Stiefel im Moment ja nicht zwingend.
„Guten Morgen“, murmelt Lía immer noch etwas verschlafen und nimmt dankbar den dampfenden Becher entgegen und lässt sich neben Calait plumpsen. „Woah!“ Obwohl sie um die morgendlichen Kämpfe um den heißbegehrten Platz auf ihrem Schoß weiß, erstaunt es die Jüngere doch immer wieder mit welchem Eifer vor allem Noraya und Ériu dieser Tradition nachkommen. Wie auch schon am Tag zuvor gelingt es Noraya mit einem reichlich fiesen Trick Ériu auszubuhlen, was das Fichtenmarderweibchen alles andere als gut aufnimmt und mit einem letzten verzweifelten Versuch Noraya mit einem Fauchen den Platz streitig machen will – sich am Ende dann doch geschlagen geben muss und sich beleidigt neben Lía einkringelt. Doch es gelingt der Tierfreundin schnell das Fichtenmarderweibchen mit liebevollen Worten und Streicheleinheiten zu besänftigen.


Mit flinken Fingern, aber ohne übertriebene Hast um ihre Schwester nicht misstrauisch werden zu lassen wickelt sie sich etwas enger in ihren geflickten Überwurf und schiebt das Amulett mit einer beiläufigen Bewegung unter den rauen Stoff, während Calait ihre schmalen Finger über ihren Hals gleiten lässt um auch ja jedes noch so widerspenstige Haar zu erwischen.
„Ich habe geträumt“
Bei diesen Worten dreht sie sich neugierig zu ihrer großen Schwester hin, sagt jedoch kein Wort und fordert sie lediglich mit einem Nicken auf doch bitte weiterzuerzählen. Dass Calait nicht in der Lage ist dieses Nicken zu sehen ist dabei ohne Belang, denn Lía hat von Kinderbeinen an niemals dazu tendiert andere zu unterbrechen, sondern lediglich zum Erzählen ermuntert.
„Von Winoc und Mael. Sie waren glatt einen Kopf grösser als ich und hatten mir meine frisch gesammelten Beeren geklaut. Das war richtig gemein. Ich habe mich total lächerlich gemacht, indem ich Gift und Galle gespuckt habe und wie ein Irrwicht herumgeh - wirst du jetzt wohl aufhören zu kichern, ich fand das überhaupt nicht witzig! Das waren grosse, richtig dicke, rot glänzende Beeren und sie haben sie mir alle vor der Nase weggefuttert! Hmpf, du bist mir ja eine Schwester…“
So sehr sie sich auch bemüht, so gelingt es ihr nicht sonderlich lange das Lachen zu unterdrücken; anfangs nur durch das Beben ihrer schmalen Schultern verraten, so dauert es nicht lange bis Lías glockenklares Lachen die Luft erfüllt. Erst als ihre Seiten wehtun und ihr die Tränen übers Gesicht laufen gelingt es ihr langsam sich wieder zu beruhigen. Calait wartet noch einen Moment bis ihre kleine Schwester wieder zu Atem gekommen ist bevor sie sie auf die Beeren und Kräuter aufmerksam macht. „Es wird ebenfalls Zeit, dass wir unsere Kräutervorräte etwas auffrischen, denn leider haben die zahlreichen Kratzer und Wunden der vergangenen Wochen mehr an unsere Vorräten gezehrt als ich bisher angenommen hatte.“ Vor allem die Bisswunde die Tanguy sich von weiß der Geier was für nem Vieh zugezogen hatte, hatte jede Menge Pflege gekostet. Lía hatte viel Zeit investieren müssen um das verschreckte Tier überhaupt dazu bewegen zu können, sich von ihr verarzten zu lassen.
„Mmh“, schnurrt sie genießerisch und nimmt dankbar das noch warme Stück Fladenbrot entgegen. „Das riecht herrlich“, und mit diesen Worten fängt sie an ihr Essen mit den kleineren Tieren zu teilen. Ihr ist durchaus bewusst, dass Calait es nicht gutheißt wenn sie ihr Essen den Tieren gibt, aber so war Lía nun mal – sie konnte diesen hungrigen Knopfaugen einfach nicht widerstehen. Ganz im Gegensatz zu Louan. Dieser hat es sich neben der Dunkelhaarigen bequem gemacht und öffnet nur ab und zu träge ein Auge um zu ihr hoch zu spähen. Eine ganze Weile beobachtet er nur, wie sich die kleinen Fellknäuel auf Lías Frühstück stürzen bevor er dann mit einem kurzen Zucken der Ohren dafür sorgt, dass man ihm auch die gewünschte Aufmerksamkeit schenkt, ehe Louan dann den klugen Kopf in den Himmel reckt und wie zufällig gähnt und somit ausreichend Ausblick auf seine starken Fänge bietet. Und wie immer begreift der Rest der Bande schnell was ihnen das sagen soll; und wie üblich zeigt sich nur Nimmersatt völlig unbeeindruckt und kaut zufrieden auf seinem Stück Brot herum während er bereits Lía mit großen Augen um einen weiteren Anteil des Frühstücks anbettelt.

Nachdem die Schwestern das Frühstück beendet und ihr gesamtes Hab und Gut wieder im Wagen verstaut haben erscheint Lía lächelnd an der Seite ihrer Schwester. Immer noch barfuss. „Tut mir leid, ich kann das nicht“, erklärt sie sanft und drückt Calait ihre Stiefel in die Hand, ergreift die andere freie Hand ihrer Schwester und führt diese vorsichtig zu dem Federknäuel in ihrem Stiefel. „Vi-Vi“, ist alles was sie sagt bevor sie Calait umarmt und ihr leise ins Ohr haucht: „Lassen wir Vi-Vi doch schlafen, ich hab ja noch meine alten Stiefel.“ Und mit diesen Worten dreht sie sich um und verschwindet im Wageninnern, nur um wenige Augenblicke später mit einem alten, ausgelatschten Paar Wildlederstiefel zurückzukehren. Nicht annährend so gut wie die in welchen das Schleiereulenjunge schlummert, aber sie werden ihren Zweck erfüllen.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 27. Aug. 2009, 22:22 Uhr
Sanft aber bestimmt schiebt Calait Broeur und Traõn mit ihren Knien beiseite und kaempft sich durch ein wildes Durcheinander an Fell und Wolle bis zum Wagen vor, immer darauf bedacht auf keinen ihrer Schuetzlinge zu treten. Gerade hat sie den Kutschbock erreicht, wo sie ihren Umhang vorerst verstauen moechte, als sie Lías Hand auf ihrem Arm spuert. “Was ist denn?” Sie hat noch nicht ausgesprochen, da bekommt sie mit der Aussage „Tut mir leid, ich kann das nicht“ weiches Leder zwischen die Finger gedrueckt, das sich schnell als Lías Stiefel entpuppt. “Achso”, lacht Calait leise, als ihre Fingerspitzen, von Lía gelenkt, ueber kuekenzarten Flaum gleiten. Vi-Vi gibt ein erschoepftes Fiepsen von sich, knabbert kurz an Calaits kleinem Finger und ist dann schon wieder eingeschlummert. Lía bringt es, wie Calait schon befuerchtet hat, nicht uebers Herz, die Jungeule in ihrem Schlaf zu stoeren und beschliesst fuer einen Tag eben ihre alten Stiefel anzuziehen. Die des Nachts wiederum als Schlafstaette fuer die drei Waldhoernchen dienen, die sich jetzt gerade eine wilde Hetzjagd quer durch die umliegenden Baumkronen liefern.
“Sicher. Aber heute Nacht schlaeft er wieder in meiner Muetze. Du kannst nicht jeden Tag mit deinen alten Stiefeln herumlaufen”, gibt Calait zu bedenken, obwohl sie ahnt, dass es wenig Erfolg hat. Wuerde Vi-Vi wieder in Lías neuen Stiefeln schlafen, wuede ihre Schwester auch morgen wieder die alten anziehen. Immer das gleiche Lied. “Und jetzt komm”, damit nimmt sie Lía den Stiefel aus den Fingern, verstaut ihn vorsichtig, aber sicher in einer Nische unter dem Kutschbock und hakt sich dann bei ihrer Schwester unter; “Es wird Zeit, dass wir uns mal wieder richtig waschen. So eine schoene Quelle finden wir so schnell nicht wieder.”
Gemeinsam greifen sie sich ihre Kleider und schlendern dann leise summend durch die goldgruenen Schatten der Baeume. Gemuetlich legt Calait ihren Kopf auf Lías Schulter und geniesst das Gefuehl von feuchtem Blattwerk unter ihren Sohlen. Hie und da sinkt sie knoecheltief in ein Moosbett ein und grinst, weil die Flechten sie zwischen den Zehen kitzeln. Manchmal spuert sie, wie eines der Tiere um ihre Beine herumstreicht, oder hoert Lías Belustigung ob etwas, dass sie nicht sehen kann. Sie weiss auch nicht wirklich, ob die Quelle so schoen ist, wie sie es sich in Gedanken ausmalt, aber das schlaefrige Plaetschern, das mit hohem, weichem Gras gesaeumte Ufer und der kristallklare Geschmack des Wassers verheissen ein Paradies.
Flink haben sie sich beide ausgezogen und stehen dann mit klappernden Zaehnen in friedlicher Eintracht nebeneinander.
“Du zuerst”, presst Calait hektisch atmend zwischen zusammengepressten Lippen hervor und huepft von einem Fuss auf den anderen, um der Kaelte entgegen zu wirken. Im naechsten Augenblick hat Lía sie an der Hand gepackt und meint mit soviel Zuversicht, wie sie wohl gerade irgendwo zusammenkratzen kann: ”Zusammen!”
“Ah, nein, warte, moment, Lía, ich…” Aber alles Winseln, Betteln und Flehen hilft nichts. Lía bleibt hart und schiebt Calait unachgiebig vor sich her. ”Hopp jetzt, so kalt ist es nun auch wieder nicht.” Normalerweise verlauft das Gespraech andersrum, aber im Fall von kaltem Wasser macht Calait gerne eine Ausnahme.
“Nicht so kalt? Nicht so kaAAAHH!” Mit wild rudernden Armen rutscht sie durch das Gras die kleine Boeschung hinunter, bekommt gerade noch Lías Hand zu fassen und zieht ihre Schwester einfach mit. Mit einem lauten Platschen landen sie beide, die eine baeuchlings, die andere ruecklings, in ihrem paradiesischen, aber eiskalten Badezuber. Wie vom Blitz getroffen schiesst Calait fluchend und zeternd wieder in die Hoehe, springt herum, wie ein Daemon auf heiligem Boden und versucht hektisch das Ufer zu erreichen. “Nicht kalt, nicht kalt, pha, von wegen nicht kalt! Es ist EISKALT!”, lammentiert sie laut und kriegt als Antwort einen Schwall Wasser ins Gesicht gespritzt. Kreischend versucht sie auszuweichen, kriegt nur lose Grasbueschel und schlammige Erde zu fassen und setzt gleich darauf zur Verteidigung an. “Na warte.”
Eine Weile lang bietet sich den Waldbewohnern der einmalige Anblick zweier junger, splitterfasernackter Frauen, die in einer tuerkisblauen Gebirgsquelle lachend und kieksend Hasch-mich spielen und sich dabei gegenseitig mit Wasser bespritzen.
Irgendwann mischt sich auch Noraya noch ein, die keinerlei Schwierigkeiten damit hat, dass die Wassertemperatur nur wenig oberhalb der Gefriergrenze liegt. Ausgelassen turnt sie herum, schiesst wie ein Pfeil zwischen Calaits und Lías Beine hindurch, springt aus dem Wasser heraus und dreht sich wie ein verrueckt gewordener Brummkreisel um die eigene Achse.
Irgendwann, als den Schwestern die Luft ausgeht und Zehen, Finger und Lippen laengst blau angelaufen sind, balgen sie sich bis zum Ufer durch und lassen sich dort muede, aber erfrischt und sauber ins sonnenwarme Gras fallen.
Eine geraume Weile liegen sie einfach ruhig nebeneinander, jede in ihren eigenen Gedanken versunken, bis Calait sich langsam aufsetzt sich an die allmorgendliche Aufgabe macht die Dreitausend Knoten in ihrem Haar zu entwirren, die das Gebiest des nachts hineingestrampelt hat. Mit einem versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht ueberlegt sie dabei, wie sie ihren Weg am besten fortsetzen koennten. Noch etwa einen Siebentag, dann haben wir den Frostweg erreicht. Diesem koennen wir dann bis nach Falkenwacht folgen. Die Frage ist ja eigentlich nur, wo wir ueberhaupt hinwollen.

“Lía?”
”Hm?”
“Erinnerst du dich an die nandésische Leibwache von dem reichen Tuchhaendler  in Tuathbailémór? Der grosse Mann, mit der wunderschoenen schwarzen Haut und der roten Toga, die er wie einen Koenig trug.”
“Hmh.”
Einen Moment lang herrscht Stille, dann wirft Calait den fertigen Zopf ueber ihre Schultern zurueck und kriecht etwas naeher zu ihrer Schwester: “Warum reisen wir nicht bis zum Ildorel, dem Ufer entlang bis nach Ildala und von Ildala mit dem Schiff bis nach Mar Varis oder Naggothyr. Zu den grossen, goldenen Staedten im Sand, von denen wir bis jetzt immer nur gehoert haben.”
Wieder einen Augenblick Schweigen, auf den ein zaghaftes: ”Ah?, folgt. Mit einem breiten Grinsen schuettelt Calait den Kopf und meint mit einem gesunden, selbstironischen Lachen: “Ach, vergiss es. Ich will hoch hinaus und vergesse mal wieder, dass ich kein Vogel bin. Bis wir dort unten ankommen, sind wir greis und zahnlos und unsere Augen so schlecht, dass wir nichts mehr von der vielgeruehmten Schoehnheit der Staedte sehen koennen.” Das Letzteres in ihrem Fall keine grosse Rolle spielt, tut nichts zur Sache. Ihre Erblindung ist noch nicht lange genug her, um derlei Redewendungen aus ihrem Sprachgebrauch zu verbannen.
Bevor Lía dazu kommt, etwas darauf zu erwidern, faehrt Calait unverbindlich fort: “Aber zum Ildorel koennten wir wohl reisen.” Mit diesen Worten tastet sie nach ihrer Kleidung und erhebt sich. “Ja, zum Ildorel. Vielleicht nach Talyra, Sûrmera oder zu den Erikabergen.” Nur nicht dem Nordufer entlang. Weder Caerhen, noch Bluarrent, eigentlich ueberhaupt keine Stadt und kein Dorf  hinter den Grenzen zur Llelar-Ebenen. Zwar reisen die Staemme der Resande hauptsaechlich durch die Ostlande, aber vereinzelt zieht es sie auch bis an den Rand der Llelar-Ebenen. Oder irdendwo ins Nichts zwischen den Auslaeufern des Ostwalls und des Eisenkamms. Der Gedanke laesst sie schmunzeln und erstickt das drohende Truebsal im Keim.
“Komm”, nuschelt sie in das helle, duenne Leder ihres Hemdes, das sie sich gerade ueber den Kopf zieht: “Gehen wir.” Damit schluepft sie in Lederhose, rote Wollweste und Lederstiefel, deren Glasperlen bei jedem Schritt fein klingeln und klemmt sich ihr Nachthemd – ein altes, ausgeleiertes Wollhemd von ihrem viel zu gross geratenen Halbbruder – unter den Arm. Sicheren Schrittes fuehrt Lía sie zum Wagen zurueck, wo ein wilder Haufen Tiere in heillosem Durcheinander nur darauf wartet endlich losziehen zu koennen.
Derweil also Lía sich an die schwierige Aufgabe macht, das Kleingetier zu entwirren und zu platzieren, die Hunde, die Zergsau, Louan, sowie den Schellenfalken Skar zu fuettern und das Hengstfohlen Hirii und den Sturschaedel Artum einzufangen, kuemmert sich Calait um das Aufzaeumen und Anschirren der beiden Reninker. Obwohl von starkem Blut, sind es genuegsame Tiere und sie halten geduldig still, derweil Calait ihr Fell striegelt, die Hufe auskratzt, die langen Maehnen und Schweife von Gras und Gaest befreit und ihnen dann das Geschirr anlegt. Es dauert seine Zeit bis auch der Hinterletzte abreisebereit ist. Die Sonne steht schon hoch am Horizont, als der kleine Zug aus sehr viel Tier und sehr wenig Mensch endlich in aller Gemuetlichkeit losruckelt.
Schon nach wenigen Hundertschritt stimmt Calait ein Lied an und Lía setzt ein. Singend bringen sie den ganzen Mittag durch, legen Nachmittags mehrfach eine kurze Rast ein, als Lía erst eine Stelle mit Ukonhatut, dann eine Lichtung mit Wegwarten, Seifenkraut und Immerfroster Moos und schliesslich noch in grossen Mengen Aurinkojäkälä auf einer sonnenbeschienenen Lichtung  findet und kreuzen ausserdem einen kleinen Gebirgsbach, an dem sie die Tiere traenken.
Es ist schon beinahe dunkel, als sie einen etwas groesseren, von Schilf und stellenweise Wasserwueterich gesaeumten Tuempel erreichen und gemeinsam beschliessen hier die Nacht zu verbringen. Etwas Abseits des Wassers, inmitten einer kleinen Ansammlung von alten, knorrigen Steineichen, deren Kronen ueber Jahrhunderte hinweg ein natuerliches Dach aus Geast und Blaetterwerk gebildet haben, zuegeln sie die Pferde. Beinahe sofort entsteht Chaos, denn zwischen “Anhalten” und “Futter” besteht fuer die Tiere kein Unterschied.
“Ah, lass das… wer auch immer du bist!”, ruft Calait aus, als sie, kaum Boden unter den Fuessen, hinterlistig von einem der Waldhoernchengeschwister von hinten angefallen wird. Und in diesem Ton geht es weiter, bis die Pferde endlich abgeschirrt, das Kleingetiert mit Speis – Beeren und Nuesse – und Trank – “Scherts euch zum Tuempel, hopp!” – verkoestigt wurde, die Schaafe ihren naechtlichen Schlafplatz zwischen den wuchtigen Wurzeln einer besonders alten Zeder gefunden haben und Calait es geschafft hat – trotz drei sich streitender Waldhoernchen im Haar und einem zufrieden an einem Stueck Brot muemmelnden Zwerghaeschen zwischen den Beinen – ein Feuer anzufachen.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 16. Sept. 2009, 23:24 Uhr
Mit einem warmen Lächeln auf den Zügen beobachtet sie wie die Finger ihrer Schwester vorsichtig über Vi-Vis Köpfchen streichen. Es sind Momente wie diese in denen Lía bewusst wird, was für ein Glück sie mit ihrer großen Schwester hat. Schließlich ist es längst keine Selbstverständlichkeit, dass Calait ihr ihren kleinen Zoo einfach so stillschweigend gestattet. Sie weiß nicht was sie tun würde, wenn die Ältere eines Tages verlangen würde sich von den Tieren zu trennen – immerhin wollen diese auch verpflegt werden. Und leider kommt es auch schon mal vor, dass Lías kleine – oder auch etwas weniger kleine – Freunde für mächtig Ärger sorgen. Vor allem in größeren Städten wird es manchmal problematisch, aber Calait hat sich bisher nie darüber beschwert. Für Lía sind es mehr als einfach nur Tiere, sie betrachtet sie als Freunde – mehr noch, als einen Teil ihrer Familie. Einen Teil auf den sie sich mehr verlassen kann als auf so manch anderes Mitglied ihrer Sippe. Bei der Erinnerung daran befällt sie tiefe Traurigkeit und für einen kurzen Moment droht sie von dem Strudel der Erinnerung mitgerissen zu werden; es sind Calaits Worte die sie zurück ins Hier und Jetzt bringen.
“Sicher. Aber heute Nacht schlaeft er wieder in meiner Muetze. Du kannst nicht jeden Tag mit deinen alten Stiefeln herumlaufen”
Lía erspart sich eine Antwort, die ist nicht nötig. Ihre große Schwester kennt sie gut genug um zu wissen, dass sie es einfach nicht übers Herz bringt den Tieren ihren Willen nicht zu lassen. Zumindest dann nicht, wenn es nicht bedeutet, dass es anderen – als eventuell ihr selbst – schadet. Da ihre tiefe Liebe zu ihren pelzigen und gefiederten Freunden jedoch keineswegs einseitig ist, tun auch diese nichts was ihrer Freundin schaden könnte – zumindest nicht absichtlich; und im Fall der Fälle ist da noch Louan, der auf sie aufpasst und sie auch manchmal vor sich selbst schützen muss – wofür Calait ihm vermutlich bis ans Ende ihrer Tage dankbar sein wird.

“Und jetzt komm”
Etwas perplex sieht sie Calait dabei zu wie sie die Stiefel in einer freien Nische unter dem Kutschbock verstaut, wird jedoch noch bevor sie auch nur die Zeit findet zu fragen wohin sie denn eigentlich kommen soll auch schon von ihrer Zwillingsschwester mitgeschleift.
“Es wird Zeit, dass wir uns mal wieder richtig waschen. So eine schoene Quelle finden wir so schnell nicht wieder.”
Lía nickt fast unmerklich und ergreift sanft die Hand der Älteren.
„Du hast recht, es ist wirklich traumhaft. Es sieht so….rein aus“, kurz muss sie über ihre eigene Wortwahl lachen „mir fällt kein besseres Wort ein“, erklärt sie schmunzelnd und streicht sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. „Fast wie im Märchen….weißt du, ich mag die Vorstellung, dass dies ein Hort der Ruhe und des Friedens ist den die Tiere bewachen“ Ja, sie ist eine Träumerin, aber Lía liebt es sich ab und an in ihre eigene kleine Welt zurückzuziehen – und manchmal nimmt sie Calait auf ihre kleinen Reisen mit. Eine Weile schreitet sie einfach schweigend neben Calait her, fällt dann doch zuerst leise, dann immer lauter in ihr Summen mit ein bis sie schließlich ein melodisches Lied, getragen von exotischen und wohlklingenden Lauten anstimmt. Mag Lía auch sonst noch so schüchtern und zurückhaltend sein was ihren Gesang angeht, so singt sie gern und viel wenn die Schwestern unter sich sind. Als sie das Gewicht von Calaits Kopf auf ihrer Schulter spürt, lächelte sie flüchtig und umschlingt die Hüfte der Älteren.
„Es ist traumhaft“, schwärmt sie Calait vor und überlegt fieberhaft wie sie die Gefühle die der Anblick des Quells in ihr auslöst in Worte fassen kann. Nach einer Weile erklingt ihr leises Lachen und sie umfasst euphorisch den Arm ihrer Schwester. „Hörst du das? Diese Stille?“, sie schweigt und horscht selbst. Tatsächlich ist nichts zu hören als die Geräusche der Natur. „Ich liebe diese Momente der Stille in denen die Welt innezuhalten scheint – es ist als lege sich ein Schleier über die reale Welt....nur um Träume zu beflügeln. Fast wie ein erwartungsvolles Schweigen!“ Lía hüpft aufgeregt auf und ab und sieht Calait dabei erwartungsvoll an. Ob sie es wohl auch fühlt?
Sachte führt sie Calait weiter und erfreut sich an dem paradiesischen Anblick der sich ihr bietet. „Ich wünschte du könntest es sehen...“, murmelt sie leise; diese Worte sind nicht wirklich für die Ohren der Älteren bestimmt, da Lía weiß, dass manche Dinge nun mal nicht zu ändern sind. Aber irgendwann wird sie Calait ihr Augenlicht zurückgeben! Das hat sie sich damals geschworen und sie wird von diesem Vorhaben nicht ablassen. Es ist ihr gleich was andere sagen – sie wird einen Weg finden!
„Der Quell führt kristallklares Wasser und steht im Schutz von großen, jahrhunderte alten Bäumen....Der Tau liegt noch auf den Blättern und das Gras ist von sattem Grün. Und die Blumen....Calait...sie sind so wunderschön! Die Natur erwacht hier; genau in diesem Augenblick!“ Plötzlich bleibt die jüngere der beiden Schwestern stehen und blickt zu Boden. Sie ist seit einiger Zeit Calaits Augen und dennoch versagt sie so kläglich bei dem Versuch ihrer Schwester zu beschreiben was sie sieht. Schnell verdrängt sie diese trüben Gedanken und folgt dem Calaits Beispiel, welche schon emsig dabei ist sich ihrer Kleider zu entledigen. Auf den Vorschlag hin sie solle zuerst ins kalte Nass wirft sie ihrer Nebenfrau einen Blick zu der Bände spricht, schnappt sich dann ihre Hand und versucht wenigstens für einen Moment das Zähneklappern zu unterbinden.
„Zusammen!“ Erstaunlicherweise klingen diese Worte wesentlich zuversichtlicher als sie sich fühlt. Gut, dass Calait das verräterische Glitzern von kleinen Eisschichtteilchen nicht sehen kann....Lía wünscht sich in eben diesem Moment SIE würde sie auch nicht sehen. Das Betteln und Winseln ihrer großen Schwester ignorierend macht sie einen weiteren Schritt auf das Wasser zu und umklammert dabei unnachgiebig den Calaits Arm, damit diese auch ja nicht ausbüchst. ”Hopp jetzt, so kalt ist es nun auch wieder nicht.” Von wegen...schießt es der Jüngern bei diesen Worten augenblicklich durch den Kopf, aber das muss Calait ja nicht wissen. Louan, der das Rumgejammer scheinbar satt hat beschließt selbst einzuschreiten – und schubst Calait mit seinem mächtigen Kopf auf das kalte Nass zu; doch dieser gelingt es dummerweise noch im letzten Moment Lías Hand zu ergreifen, so dass die beiden Frauen gemeinsam in das eiskalte Wasser platschen. Als sie japsend und prustend wieder an die Oberfläche kommt hört sie ihre Schwester hinter sich schimpfen wie ein Rohrspatz. Amüsiert beobachtet sie ihren Zwilling dabei, wie sie versucht aus dem Wasser zu klettern und lässt dabei das klare Wasser durch ihre Finger rieseln. Plötzlich erstrahlt ein breites Grinsen auf ihren Zügen und sie pirscht sich vorsichtig etwas näher an Calait heran und spritzt ihr schwungvoll eine handvoll Wasser entgegen. „Nun hab dich nicht so – eben warst du doch noch so begeistert!“, neckt sie die Ältere und weicht einer Ladung Wasser lachend aus.
Irgendwann, nach ausgiebigem Toben im Bergquell, fallen die Schwester erschöpft und völlig außer Atem ins Ufergras.

Eine Weile herrscht Schweigen woraufhin Lía, welche die Augen geschlossen hat, einen Moment fast droht wieder einzudämmern.
“Lía?”
Ein mattes „Hm?“, ist alles was sie als Antwort zu Stande bringt; doch das scheint Calait auch schon zu reichen, denn sie fährt begeistert fort ihrer kleinen Schwester ihre Idee zu erläutern.
“Warum reisen wir nicht bis zum Ildorel, dem Ufer entlang bis nach Ildala und von Ildala mit dem Schiff bis nach Mar Varis oder Naggothyr. Zu den grossen, goldenen Staedten im Sand, von denen wir bis jetzt immer nur gehoert haben.”
Erst jetzt öffnet Lía matt die Augen und blinzelt gegen die Sonne. Wortlos dreht sie sich zu ihrer Schwester um und runzelte verwirrt die Stirn. „Ahm...“
“Ach, vergiss es. Ich will hoch hinaus und vergesse mal wieder, dass ich kein Vogel bin. Bis wir dort unten ankommen, sind wir greis und zahnlos und unsere Augen so schlecht, dass wir nichts mehr von der vielgeruehmten Schoehnheit der Staedte sehen koennen. Aber zum Ildorel koennten wir wohl reisen. Ja, zum Ildorel. Vielleicht nach Talyra, Sûrmera oder zu den Erikabergen.”
Wortlos greift Lía nach der Hand ihrer Schwester und hält sie zurück als sie sich erheben will. Der Blick mit dem sie die andere mustert spiegelt Mitgefühl und Traurigkeit wider, aber sie schweigt auch weiterhin und kuschelt sich stattdessen eng an Calait und streicht ihr durch das nasse Haar. „Vermisst du sie?“, erklingt schließlich nach einer Ewigkeit kaum hörbar die Frage, die der Jüngeren schon so lange auf der Seele brennt. Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten löst sie sich von Calait und kommt in die Höhe. „Es ist spät, lass uns aufbrechen“, stimmt sie ihr zu und beeilt sich in ihren Flickenrock, sowie ein ausgeleiertes Leinenhemd aus grobem Stoff und ihre ausgelatschten alten Stiefel zu schlüpfen. Auf dem Weg zurück zur Kutsche wirft sie sich noch ihr buntes Tuch um die schmalen Schultern und schmiegt sich an ihre große Schwester. Sie verliert kein Wort mehr über ihre Frage – es war rücksichtslos sie zu stellen, weshalb die Jüngere sich auch nach Kräften bemüht ihrer Zwillingsschwester zu zeigen, dass sie glücklich ist. Bevor wirklich alles fertig ist und der kleine Trupp bereit zum Abmarsch ist streicht noch einige Zeit ins Land, aber schließlich ist auch das letzte Tier eingefangen und sie können endlich aufbrechen. Den ganzen Rest des Tages über ist Lía ungewöhnlich schweigsam, auch wenn sie sich bemüht sich nichts anmerken zu lassen.

Dunkelheit hat sich bereits über das Land gelegt als sie schließlich einen geeigneten Platz erreichen um ihr Nachtlager aufzuschlagen. Während Calait sich mit Lía kleinem Zoo rumärgert und für Feuer sorgt schlendert Lía über die kleine Lichtung und versucht bei dem fahlen Licht des Mondes zu erkennen, was sich zwischen den Bäumen befindet. Mit einem knappen „Ich seh mich mal ein bisschen um“ verschwindet sie, dicht gefolgt von Louan, zwischen den Bäumen. Sie stört sich nicht daran, dass sie nicht weiter als ein paar Schritte sehen kann. Lía hat keine Angst vor der Dunkelheit, die hat sie nie gehabt. Im Gegenteil, sie liebt die Nacht ebenso wie den Tag und schätzt die Kreaturen die die Dunkelheit aus ihren Verstecken treibt hoch. Anders als viele andere Mädchen in ihrem Alter findet sie Fledermäuse, Eulen und andere Tiere der Nacht keineswegs abartig, vielmehr üben sie diese ganz spezielle Faszination auf die junge Frau aus, die sie nicht in Worte fassen kann. Wie von selbst gleitet ihre schmale Hand in das weiche Nackenfell ihres treuen Begleiters und sie beginnen ihren gemeinsamen Streifzug durch die Nacht. Die Leichtigkeit mit der sie sich, trotz der armseligen Lichtverhältnisse im Wald bewegt, ohne verräterische Geräusche zu machen, zeugen von viel Erfahrung. Als sie schließlich an einen umgestürzten Baum gelangt unter welchem sich eine Mulde befindet wirft sie Louan einen kurzen Blick zu. „Hier, wehe du frisst welche davon!“, mit diesen Worten läd Lía all ihre bisher gesammelten Kräuter und Knollen bei dem Valkoinen Ilves ab und sinkt auf den Boden, wirft den Zopf über die Schulter zurück und zwängt sich unter dem umgefallenen Baum durch. Nur das angestrengte Keuchen und das Strampeln ihrer Beine verraten, dass ihr Plan offensichtlich nicht ganz so gut funktioniert wie sie sich das erhofft hat. „Ha! Hab ich dich!“, stößt sie triumphierend hervor und vergisst in ihrer Euphorie prompt den Baum. Ein dumpfes „Klonk“ gefolgt von einem gewinselten „Ouch...“ ist jedoch alles was man in der nächtlichen Stille hört. Es vergeht noch einige Zeit bevor er Lía gelingt sich wieder unter dem Hindernis hervorzukämpfen, doch irgendwann ist auch das geschafft. Schwer atmend, aber zufrieden klaubt sie sich Blätter und kleineres Geäst aus den Haaren und wirft Louan einen Blick zu. „Siehst du, ich wusste doch, dass ich da was finde“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 27. Sept. 2009, 13:35 Uhr
Monde später, irgendwo in den Ausläufern des Ostwalls im Südosten Immerfrosts



Es ist ein kalter Morgen, selbst für den Süden Immerfrosts im Spätsommer, aber hier oben in den letzten Ausläufern des Ostwalls kommt der Herbst wohl früher als in den tiefliegenderen Wäldern. Colevar neigt  den Kopf und trinkt aus den Händen – das grüne Aufblitzen von Wasser im Sonnenlicht, das durch die Bäume fällt, hatte ihn auf die Quelle aufmerksam gemacht, sonst hätte er sie nie gesehen, dazu liegt sie zu weit entfernt von dem schmalen Saumpfad, der ihn aus den Bergen hinab in die tiefen Wälder irgendwo zwischen Muurla und Falkenwacht zurück führt. Tags zuvor hatte er den Ostwall an seinem Südende überquert und Filidh und die kleine, aber stämmige Stute, die ihm seit Kimito, wo er sie gekauft hatte, als Packpferd dient, die meiste Zeit zu Fuß über steile Berggrate geführt. In den nächsten Tagen würde er die Grenze zu den Rhaínlanden passieren, in Falkenwacht oder Brage endlich einen Heiler für seine Schulter auftreiben, der auch wirklich einer ist, kein selbsternannter Quacksalber oder schmieriger Knochenbrecher, und den Rest seiner langen Heimreise dann im Luxus einer breiten, gepflasterten und vielbefahrenen Handelsstraße mit Gasthöfen, Instandsetzungshäusern und Schmieden hinter sich bringen - jedenfalls ist das der Plan. Das schmale Rinnsal aus der dunklen Felsspalte vor ihm füllt eine kleine Mulde im Waldboden, der ringsum von Baumwurzeln zerwühlt und mit einem dicken, grünen Pelz aus Moospolstern und Farnbüscheln überzogen ist, und Colevar betrachtet eine lange Weile sein verschwommenes Spiegelbild im dunklen Wasser. Die letzten Monde haben ihn mit Schmutz überzogen - seine Schulter ist geschwollen, rot und stinkt, und er hat seit zwei Siebentagen kein Bad mehr gesehen, von einem Rasiermesser ganz zu schweigen. Sein Haar ist lang und struppig, sein Bart ein glänzender Wirrwarr, der zimtfarben, golden, kupferrot und silbern gewesen wäre, wäre er nur sauber. Im Augenblick sieht er eher aus, als klebten die halben verdammten Wälder Immerfrost darin. Beim nächsten größeren Wasserloch nimmst du ein Bad und rasierst das elende Gestrüpp aus deinem Gesicht. Und wenn es nur eine Pfütze ist. Er hatte oft zu hören bekommen, er laufe mit dem Gesicht eines Seharim herum, zu oft für seinen Geschmack - doch als er nun auf sein Ebenbild im schattigen Wasser blickt, kann er gar nicht anders, als schief und voller Selbstironie zu Grinsen. Jetzt würde das niemand mehr behaupten, denn er sieht bestenfalls halb wie eine Leiche aus. Die Alte im Grünen Drachen hatte seine Schulter zwar gesäubert und die Wunde mit schiefen Stichen genäht, ihm aber prophezeit, dass sie noch Ärger machen würde.
>Bin ich vielleicht die gesegnete Laihiala?< hatte sie mit ihrer fisteligen Altweiberstimme gekrächzt und ihr zahnloser Mund hatte ihn böse angegrinst, während ihre gekrümmten Finger in der Wunde herumgestochert hatten. >Sieh mich an, meine Finger zittern, mein Rücken ist krumm und meine Augen erkennen gerade noch so viel, dass sie sehen, dass Ihr ein Loch von der Größe einer verdammten Schiffsluke in der Schulter tragt.<

"Näht mich einfach zusammen und lasst es gut sein," hatte er durch zusammengepresste Zähne gezischt und versucht, irgendwie nicht in Ohnmacht zu fallen oder sich auf ihre Röcke zu übergeben, während sie mit einem Messer, Wundzwirn und einer gebogenen Fischernadel ihr blutiges Werk verrichtet hatte. Seither hatte er seine Schulter behandeln lassen, wann immer er auf dem Weg einen halbwegs anständig aussehenden Wundscher, Bader oder auch nur eine Bauersfrau mit sauberen Händen getroffen hatte, doch auf seiner Reise durch die östlichen Wälder Savos war ihm nicht ein Heilkundiger oder gar Heiler begegnet, der etwas von seinem Handwerk verstanden hätte -  und entsprechend sieht seine Schulter jetzt aus. Manchmal hatte er Fieber gehabt, manchmal nicht - einmal hatte er drei Tage in der Scheune eines freundlichen Waldbauern vor sich hin geglüht, ehe er hatte weiterreiten können -, doch er hatte weder Anzeichen von Wundbrand entdeckt, noch die dunklen Streifen einer Vergiftung des Blutes. Unter den klaffenden Wundrändern gären mehrere matschige Eiterherde und es ist wohl allein der ständigen Bewegung durch das Reiten und Gebrauchen seines Armes zu verdanken, dass die Abszesse nicht tiefer ins Fleisch wandern, aber dadurch heilt die Wunde auch nicht und er kann unmöglich sagen, wie lange er noch solches Glück haben wird. Es war leicht gewesen aus Dunkelschein zu entkommen, beinahe zu leicht – Riku und seine Männer dann auf seine Fährte zu locken und dort auch zu halten, sich aber nicht von ihnen erwischen zu lassen, hatte sich dann schon als schwieriger erwiesen. Ein Dutzendmal oder öfter war Colevar tagelang auf seiner eigenen Fährte zurückgeritten, hatte den armen Filidh mehr als einmal mit Schlamm und Erde in alles andere als einen Schimmel verwandelt, hatte in den wenigen Städten und Dörfern, durch die er gekommen war, Wirte, Bettler und Wachen bestochen, sie bedroht oder ihnen geschmeichelt, um in Erfahrung zu bringen, ob jemand Fragen nach einem Fremden auf einem großen weißen Pferd stellt, war lange nur des Nachts geritten und seinen Verfolgern in Askainen einmal beinahe in die Arme gelaufen. Colevar füllt seinen Wasserschlauch und wirft dann einen Blick auf sein Pferd, das ein paar Schritt entfernt an einem Büschel grünen Waldgrases rupft. Mitten auf dem Sattel in einem Keil Sonnenlicht, thront Mistress Grau und schnuppert in die kühle Morgenluft. Zwei Tage nachdem er Dunkelschein verlassen hatte, irgendwo in der grüngrauen, ertrunkenen Welt der Nebelwälder im nordöstlichen Savo, war die narbengesichtige Rotatkissa plötzlich bei ihm aufgetaucht - hatte eines morgens einfach auf seiner Brust gesessen, ihn aus grünen Augen angestarrt und ihm damit den Schrecken seines Lebens verpasst.

"Geh nach Hause", hatte er verblüfft geknurrt, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte und die Katze hatte die Ohren angelegt. "Verschwinde. Los!" Er hatte sich aus seinen Schlafpelzen geschält und die Katze damit unsanft auf den Waldboden befördert. Sie hatte sich nicht einen Sekhel bewegt, außer, um ihn anzufauchen. "Wenn du hier bist, um mir Ärger zu machen, weil ich dich vom Dach geworfen habe, dann stell dich hinten an. Da waren Armbrustbolzen auf dich gerichtet." Die Katze hatte nur mit den Ohren gezuckt und ihn beobachtet, während er einarmig seine Felle zusammengerollt und das Feuer neu geschürt hatte. Seine Schulter hatte wie verrückt gepocht. "Du kannst nicht bei mir bleiben. Was beim Vermummten machst du eigentlich hier? Du bist eine Katze, kein verfluchter Hund. Katzen laufen einem nicht hinterher. Sie bleiben dort, wo sie hingehören." Das hatte sie dann auch getan, jedenfalls wenn man nach ihrer Meinung ging, denn sie war aus dem Stand zwei Schritt hoch gesprungen und dann mit der Eleganz und dem Gewicht eines soliden Keulenschlages auf seine Schulter niedergekracht (immerhin auf die gesunde). Dort hatte sie sich wie ein überdimensionierter Pelzkragen um seinen Nacken gelegt, sein linkes Ohr einer gründlichen Reinigung unterzogen, was sich angefühlt hatte, als schrubbe eine übereifrige Magd mit einer Stahlbürste an ihm herum, mit gerümpfter Nase an den blutdurchtränkten Verbänden geschnüffelt, ihre Krallen dann behaglich in sein Fleisch geharkt und ihren Platz erst wieder verlassen, um ihm sein Frühstück vor der Nase wegzufressen. Seitdem ist sie bei ihm und hatte ihn auf seinem ganzen Weg bis hierher begleitet, mehr als sechshundert Tausendschritt weit. Sie ist wirklich keine Schönheit mit ihrem gescheckten Fell, dessen graubraunblaue Farbe an eine verschimmelte Schüssel Haferschleim erinnert, ihrem verbeulten Narbengesicht und den zerfledderten Ohren, außerdem hat sie ein Schnurren im Leib, das sich anhört als schnarche Borgil, aber sie ist eine gute Gefährtin, eine hervorragende Wächterin und noch bessere Jägerin, und aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund hat sie ganz offenbar einen Narren an ihm gefressen. Colevar richtet sich auf, hebt das Kinn und genießt für einen Moment den prickelnden Hauch auf seiner Haut. Vor ihm senkt sich das Land in endlosen grüngrauen Wellen, zwischen denen hier und dort schon bronzene Flecken aufflammen und den Nebel in den Mulden erleuchten, als sei er der Rauch von Lagerfeuern. Der Wind kommt von Süden und trägt einen Hauch Altweibersommer mit sich, den Geruch sonnenwarmer Wälder und fetter schwarzer Erde… und außerdem ein Geräusch, so leise, dass er im ersten Moment glaubt, seine Ohren spielen ihm einen Streich, doch dann ist er sich sicher – es ist Gesang. Irgendwo dort unten ist eine Frau auf den verschlungenen Pfaden dieser Wildnis unterwegs und sie singt. Er kann weder Worte noch Melodie erkennen, aber der Wind trägt ihm das Echo ihrer Stimme zu, an und abschwellend wie das wispernde Gelächter von Feen.

Eine Viertelstunde später ist er wieder auf dem Weg und gegen Mittag lässt er die letzten Ausläufer des Ostwalls mit ihren zerklüfteten Graten und sprudelnden Bergquellen endgültig hinter sich. Die Wälder wandeln ihr Gesicht und mehr und mehr Steineichen, Bergahorne, Kastanien und Pappeln mischen sich unter die borkigen Riesen von Bergföhren und Schwarztannen. Flechten hängen wie die Bärte alter Männer von ihren verschlungenen Ästen, dicke  Moospolster und hüfthohe Farne überziehen jeden Fußbreit Boden links und rechts des schmalen Saumpfades, dem er folgt und obwohl die Sonne hoch am Himmel steht, hängt Nebel immer noch in silbernen Schleiern zwischen den Baumstämmen, durchglüht von leuchtenden Flecken und gesprenkelt von Gold, und die Luft ist so feucht, dass man das Gefühl hat, bei jedem Atemzug zu ertrinken. Von der geheimnisvollen Sängerin, die er am Morgen bei der Bergquelle gehört hatte, ist weit und breit noch nichts zu sehen, doch als sein Pfad in einen etwas breiteren Weg direkt von Osten her mündet, findet er im weichen Waldboden zum ersten Mal Spuren. Wagenräder, Pferde und eine ganze Menge anderer Tiere haben hier ihre Fährten hinterlassen, wie es scheint, außerdem kommt er an jeder Menge Schafkötteln und  Haufen von Pferdemist vorüber, die unübersehbare Wegmarken bilden. Er hat keine Ahnung was für Menschen das sein mögen, deren Spuren er hier folgt, aber sie scheinen ihren gesamten Viehbestand mitzuschleppen und außerdem zwei ziemlich große und einen etwas leichteren Hund, was die großzügig verteilten Pfotenabdrücke im Schlamm nahelegen. Aus den anderen Fährten, welche die Wagenspuren ebenso wie die der Pferde, Schafe und Hunde scheinbar willkürlich kreuzen, darüber und darunter liegen und bestimmt genauso alt sind,  wird Colevar hingegen überhaupt nicht schlau - und Mistress Grau offenbar auch nicht, die überhaupt nicht mehr damit fertig werden will, Witterung aufzunehmen und deren Schwanz so nervös hin und her peitscht als erwarte sie hinter jedem Baum einen Branbären. So wie es aussieht, waren hier nicht nur zur gleichen Zeit ein paar Schafe, mindestens vier Pferde und drei Hunde unterwegs, sondern auch noch eine ziemlich große Katze, wahrscheinlich ein Luchs, ein paar Marder und Hörnchen. Wem folge ich hier? Einem Druidenzirkel? Colevar setzt seinen Weg fort, eher amüsiert als beunruhigt, auch wenn angesichts der Spuren leises Unbehagen in ihm aufkeimt - allerdings weniger wegen ihrer verwirrenden Vielfalt, sondern wegen ihrer absoluten Unübersehbarkeit. Wer immer vor ihm auf diesem Pfad unterwegs sein mag, schert sich offensichtlich keinen Deut um Gefahren durch Räuber, Gesetzlose oder ein paar hungrige Bären und das, obwohl die Wälder Savos nicht gerade für ihre sichere Friedlichkeit bekannt sind. Und obwohl sie nur zu zweit sind. Zwei Frauen mit so zierlichen Füßen, dass es auch Kinder sein könnten und keine wiegt mehr als hundertzehn Pfund oder ich bin ein Kobold…

Am Nachmittag erreicht er einen kleinen Teich, gespeist von einem gurgelnden Bach, der ein wenig Abseits des Weges in einem Hain uralter Steineichen liegt, deren moosige Stämme grüngolden im Licht der tiefstehenden Sonne leuchten. Hier verweilt er, berührt von der ungeahnten Schönheit der Quelle und allmählich kommt ihm zu Bewusstsein, dass dies ein besonderer Ort ist. Colevar kann die Stille und den Atem des Alters spüren, obwohl der Wald ringsum eigentlich gar nicht verstummt und allmählich überkommt ihn ein Gefühl des Friedens. Selbst Filidh, begierig den langen Tagesritt bald hinter sich zu lassen und hungrig, verharrt still wie eine Statue, die Ohren aufmerksam gespitzt, sein gewaltiger Widerrist dampfend in der kühlen Luft. Colevar kann seine Gedanken über solche Orte nicht in Worte fassen – er kennt einige solcher Stellen im Larisgrün, vor allem dort, wo noch die alten Herzbäume mit ihren wachenden Augen und traurigen Gesichtern stehen, aber er hätte sie vielleicht heilig genannt, nur dass ihre Atmosphäre nichts mit einem Götterschrein oder Tempel zu tun hat. Er fühlt sich ihnen einfach zugehörig, als flüstere ihm jeder Stein, jede Wurzel, das Wasser und die alte, dunkle Erde hier etwas zu und heiße ihn willkommen. Die Unbekannten, deren seltsamen Spuren er folgt, waren ebenfalls hier gewesen, allerdings ohne ihren Wagen, das verraten ihm die Abdrücke von barfüßigen Sohlen im Schlamm, und hatten hier ein Bad genommen. Das solltest du ebenfalls tun. Du stinkst. Die Sonne kriecht bereits in Richtung Horizont und eigentlich hatte er noch mindestens bis zum Einbruch der Nacht weiter reiten wollen, doch das ist die erste Gelegenheit für ein Bad seit Wochen und er will sie nicht ungenutzt verstreichen lassen - außerdem würde der Mond scheinen und sein Licht vielleicht ausreichen, um noch ein paar Tausendschritt zurückzulegen. Das Wasser sieht zwar eisig aus, aber seiner entzündeten Schulter täte es sicher nur gut, also scheucht er Mistress Grau unter seinem Wams hervor, steigt seufzend aus dem Sattel, versorgt die beiden Pferde, lässt sie am Wegesrand grasen und wühlt dann in den Packtaschen nach einem Stück Seife, dem Rasiermesser und frischer Kleidung. Die Katze macht sich ins Unterholz davon, wahrscheinlich um sich ihr Abendessen zu fangen, während er sich aus seinen Kleidern schält und dann ins Wasser steigt, doch Colevar macht sich keine Gedanken um die Rotatkissa - sie hatte noch nie einen Aufbruch verpasst. Das Wasser ist eisig und der Kälteschock kommt so augenblicklich, dass er beinahe mit den Zähnen geklappert hätte, doch er beherrscht sich und watet fluchend in die Mitte des Teiches. Das Wasser ist zu seicht für ihn, um wirklich darin zu schwimmen, doch um einmal ganz unterzutauchen reicht es allemal und er tut es. Im ersten Moment rast eine Säule reinen Feuers durch seine Schulter, doch dann, nach ein paar japsenden, atemlosen Herzschlägen, betäubt die Kälte gnädig das rotentzündete Fleisch und einen Großteil seiner ständigen Schmerzen. Mit ein paar Handvoll des feinen, hellen Sandes vom Grund schrubbt Colevar sich den gröbsten Dreck von der Haut, kämmt sich so gut es geht mit den Fingern Blätter und kleine Äste aus dem langen Haar und wäscht es dann mit Seife aus, reinigt sein Gesicht und nimmt sich den zottig gewordenen Bart ab. Seine Finger sind zwar schon nach wenigen Minuten vollkommen taub von der Kälte und seine Lippen blau, aber er schafft es immerhin, sich trotz seines Zitterns nicht mit dem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden und das Gefühl, endlich wieder sauber zu sein und dabei fast keine Schmerzen zu haben, ist das Frieren mehr als wert. Als er aus dem Wasser steigt, hat die Sonne bereits begonnen zu sinken und Mistress Grau verputzt gerade die letzten Reste dessen, was einmal ein fettes weißes Hörnchen gewesen sein muss. Braves Mädchen.

Colevar trocknet sich ab, polstert seine Schulter dick mit ein paar weichen Stücken alten Linnens, schlüpft in frische Kleider und rubbelt sich notdürftig das Haar trocken, ehe er es im Nacken zusammenbindet. Er tränkt die Pferde, lässt die Katze in die Satteltaschen kriechen, wo sie sich zufrieden zusammenrollt und in ekstatisches Schnurren ausbricht und ist wieder unterwegs, als das letzte Licht schwindet. Bis der Mond aufgeht und den Wald in sein kühles Licht taucht, ist er eine ganze Weile im Stockfinsteren unterwegs und überlässt es Filidh, auf dem Weg zu bleiben und sich nicht den Hals zu brechen, doch sie kommen gut voran und als der Mond aufgeht, kann er den Geruch eines Lagerfeuers irgendwo vor ihm ausmachen, den ihm der leichte Nachtwind zuträgt,  wenn auch noch nichts davon zu sehen oder zu hören ist. Mistress Grau krabbelt aus den Satteltaschen, wittert, spitzt die Ohren und legt sich dann wie ein Fellkragen um seinen Nacken, Kopf und Vorderpfoten auf seiner gesunden Schulter. "Du bist keine Katze, du bist ein Pararua," raunt er leise und hält Filidh für einen Moment an. War da ein Geräusch? Der Mond scheint, zwinkert silbern durch die Baumkronen zahllose Klafter über ihm und rändert die Umrisse der borkigen Stämme ringsum mit Silber, doch mehr als ein paar Schritt weit kann er in den Schatten auf dem Weg vor ihm nicht sehen. Die Katze offenbar schon, denn sie lässt ein leises Knurren hören und sträubt ihr Fell. Ein neuerliches Grunzen ertönt, irgendwo vor ihm und nicht allzu weit entfernt, dann eine ganze Reihe von dumpfen Geräuschen - als wühle oder  krauche etwas Größeres in oder auf der Erde herum. Wildschwein oder Vielfraß? Mist verdammt. Colevar lockert sein Schwert in der Scheide und Filidh schnaubt leise, klingt aber nicht, als wittere er irgendetwas auch nur ansatzweise gefährliches, dann kommen sie um eine Wegbiegung und bei dem Bild, das sich ihnen bietet, schießen Colevars Brauen überrascht in die Höhe und er zügelt sein Pferd. Unter einem Baumstamm der quer am Waldrand liegt, lugen ein paar wild strampelnder Frauenbeine, weiß wie Schnee im blassen Mondlicht, sich bauschende Falten hochgerutschter Röcke und ein kleines rundes Hinterteil hervor, mehr ist nicht zu sehen - dafür aber zu hören, denn wildes Keuchen und unterdrückte Laute des Ärgers dringen undeutlich an sein Ohr. Vervollständigt wird das pittoreske Bild von einem etwas in die Jahre gekommenen Valkoinen Ilves, der neben dem Baumstamm sitzt und die ganze Szene mit dem milden, schicksalsergebenen Gesichtsausdruck eines Großvaters betrachtet, der ein geliebtes, aber bisweilen recht anstrengendes Kind bei einer seiner zahllosen Dummheiten bewacht und darauf hofft, dass es sich nicht in allzu große Schwierigkeiten bringen würde. Der Luchs zuckt mit den Ohren und wendet den Kopf, gerade als Colevar Anstalten macht aus dem Sattel zu steigen, also verharrt er einen Moment, während ein paar großer, goldgelber Augen ihn aufmerksam und irgendwie abschätzend mustert. >Ha! Hab ich dich!< Tönt es unter dem Baumstamm hervor und klingt so dumpf, als habe die Sprecherin dabei den ganzen Mund voller Erde, dann lässt ein vernehmliches "Donk" gefolgt von einem jammernden Schmerzlaut sowohl ihn, als auch den weißen Luchs zusammenzucken und das Tier wendet den Blick wieder den wild rudernden Beinen seines Schützlings zu. Offenbar ist es zu dem Schluss gekommen, dass der Baumstamm und die eigene Ungeschicklichkeit eine weit größere Gefahr für seine Herrin darstellen, als ein unbekannter nächtlicher Besucher, und Colevar steigt mit einem unterdrückten halben Lächeln von seinem Pferd. Der Fryslâner schnaubt leise und berührt mit den weichen Nüstern kurz seinen Arm, während die Katze mit einem hoheitsvollen Fauchen seine Schulter verlässt und in den Sattel zurück springt. Sie mustert die strampelnden Beine eher mit einer Miene, als unterteile sie sie in Gedanken bereits nach weißem und dunklem Fleisch und Colevar schüttelt warnend den Kopf. Benimm dich! warnt sein Blick, doch er wird ignoriert. Dann warten sie, der Luchs, Mistress Grau, die Pferde und er, während sich die Besitzerin der Strampelfüße Stück für Stück unter dem Baumstamm hervor kämpft und dabei ungefähr soviel Lärm veranstaltet wie eine Horde Trüffelschweine auf der Suche nach einem Nest Wolkenohren. Schließlich ist es geschafft und eine keuchende junge Frau mit langem, wirrem dunklem Haar kommt zum Vorschein, dass großzügig mit Rinde, Moos, Wurzelstückchen und kleinen Ästen verziert ist, die sie sich hastig heraus zupft. Sie hat ihn bisher weder gesehen, noch gehört, denn ihr erster Blick gilt dem Luchs an ihrer Seite. >Siehst du, ich wusste doch, dass ich da was finde,< wird dem Tier triumphierend beschieden und Colevar kann gar nicht anders, als amüsiert zu grinsen. Dann räuspert er sich leise, aber laut genug, um auf sich aufmerksam zu machen. "Und was habt Ihr gefunden?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 28. Sept. 2009, 10:50 Uhr
Lía bekommt von der Ankunft eines weiteren Zuschauers nichts mit. Sie kämpft weiterhin verbissen mit den Käfern, Würmern und den Pflanzen die sie in der Dunkelheit kaum unterscheiden kann, weshalb sie sich mit einem kräftigen Ruck noch etwas weiter unter den Baum zieht. Es vergeht eine Weile bis sie sich endgültig entschieden hat was giftiges Gewächs ist und was nicht. Eine Fehlentscheidung kann schließlich nicht nur ihre Schwester, eins der Tiere oder sie selbst das Leben kosten, sondern auch einen ihrer anderen – manchmal zahlenden – Patienten. Als sie endlich schnaufend und japsend wieder den freien Nachthimmel über sich erblickt begegnet sie dem Blick aus klugen, gelben Augen….und Louan lacht. Mögen andere auch noch so oft behaupten, dass der Luchs keine Gesichtsregungen zeigt, Lía kennt ihren Freund besser als jeder andere und sie ist sich sicher: er lacht. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Tier sich köstlich über dieses Schauspiel amüsiert. Die Dunkelhaarige runzelt leicht die Stirn und wirft einen Blick über Louan hinweg in die Schatten hinter ihm, kann jedoch nichts erkennen. Aber irgendetwas – oder jemand ist da, denn die Ohren ihres Schutztieres zucken wachsam hin und her, so als erwarte er, dass jeden Moment etwas aus dem Gebüsch hervorbricht. Da das Tier jedoch nicht wirklich alarmiert scheint und auch Lía nichts Verdächtiges auffällt beschließt sie es vorerst einfach dabei zu belassen.

Der kühle Nachtwind spielt mit ihrem Haar, welches sie nun zu lösen beginnt und ihren eigenen Gedanken nachhängend mit den Fingern kämmt. Die Frische der Nacht tut gut und kühlt ihr erhitztes Gesicht. Louan, immer noch an Ort und Stelle verharrend, erhebt sich und blickt starr an Lía vorbei in die Nacht. Doch es ist das leise räuspern das die junge Frau fast zu Tode erschreckt, aber immerhin endlich dazu veranlasst den Kopf zu wenden und den Neuankömmling anzusehen. Schnell weicht der Schrecken und ein ehrliches Lächeln ziert ihre Lippen. Dieses elegante Gesicht wird umrahmt von seidigem Haar, beherrscht wird es jedoch ohne jeden Zweifel von diesen wunderbaren Augen….Augen in denen es im Moment nichts als Erheiterung zu lesen ist; es ist der Ausdruck dieser wundervollen klaren Augen, was ihr den attraktiven Fremden gleich sympathisch macht. Etwas zu lange verharrt der Blick ihrer sanften Augen auf der Gestalt dieses Mannes; aus irgendeinem Grund fällt es ihr schwer sich seinem Blick zu entziehen, allerdings strahlt er gleichzeitig etwas aus, das die junge Frau einschüchtert. So senkt sie die Augenlider und richtet ihren Blick wieder nach vorne. Wortlos erhebt sie sich und klopft sich den gröbsten Schmutz von den Röcken bevor sie es wagt wieder aufzublicken. Ihr bisher eher zaghaftes Lächeln wird offener und sie macht einige Schritte auf den Fremden zu, Louan, das lauernde Raubtier an ihrer Seite. Lía mag sich keine Gedanken um mögliche Gefahren machen, doch das Tier weiß durchaus was unbekannte Männer bei Nacht im Wald bedeuten können.

„Euch.“, antwortet sie schließlich lächelnd auf seine Frage. Kurz huscht der Blick ihrer dunklen Augen über die Gestalt des Mannes und unterzieht ihn einer etwas eingehenderen Musterung. Die abgetragenen Kleider, die erschöpften Züge, die Augenringe…das Äußere dieses Mannes erzählt seine eigene Geschichte und ihm gleichen Moment wo ihr das klar wird fällt sie eine Entscheidung. Langsam geht sie auf den Unbekannten zu, bleibt jedoch stehen als ihr Blick auf seine Schulter fällt. Ein sorgenvoller Blick begleitet ihre Augen bei der Wanderung zurück zum Gesicht des Fremden. Ohne Fragen zu stellen ergreift sie ihn sacht an dem gesunden Arm, krault die Rotatkissa kurz hinter den Ohren, klopft dem Pferd liebevoll auf den Hals…und blickt verdattert auf ihren treuen Gefährten, welcher scheinbar bereits einen Narren an dem jungen Mann gefressen hat. Lächelnd bedeutet sie Louan, dass sie aufbrechen wollen und blickt kurz zur Seite. „Kommt mit; unweit von hier ist unser Lager“ Louan verhält sich ruhig…er scheint ihn zu mögen. Calait wird sich freuen! Eine Weile schreitet sie schweigend mit ihrem frisch aufgelesenen Anhängsel durch die Nacht bevor sie erneut ihr Schweigen bricht. „Es…“, etwas schüchtern senkt Lía den Blick und setzt erneut an: „Bitte verzeiht, dass ich vorhin so gestarrt habe.“

Als sie die kleine Lichtung erreichen hat die junge Frau sich immerhin vorgestellt (auch wenn sie bisher versäumt hat ihr neues Fundstück nach dem seinen zu fragen) und dem Mann an ihrer Seite versichert, dass er sich keine Sorgen machen muss wegen der Tiere. Was genau sie damit wirklich meint ist jedoch nicht wirklich ersichtlich; nicht bevor sie das Nachtlager erreichen und ihr Begleiter mit eigenen Augen sieht was ihm bisher nur die Spuren erzählt haben. Mit der etwas mitgenommen aussehenden Katze ihres Nebenmannes bewaffnet durchschreitet sie mit schnellen Schritten das Lager. Während ihre Finger geistesabwesend über den Kopf des Tieres streicheln beobachtet sie ihre Schwester dabei wie sie den Dolch in ihrer Hand fest umklammert hält und die großen Hunde um sich geschart hat. Lía schickt die Hunde mit einer knappen Geste weg und legt der Älteren beruhigend die Hand auf den Arm. „Ich bin wieder da!“, bescheidet sie fröhlich dicht gefolgt von einem „und ich habe jemanden mitgebracht“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 28. Sept. 2009, 14:19 Uhr
“Aber…” … pass auf dich auf!, will sie ihrer Schwester noch hinterherrufen, da ist diese bereits mit lautlosem Schritt in die silbergespickte Finsternis zwischen den Baeumen eingetaucht.
Calait bleibt am Feuer sitzen. Die Haende im Schoss gefaltet, lauscht sie angestrengt, bis nur noch das Knistern des Feuers und der Herzschlag der Nacht zu hoeren sind.
Natuerlich macht sie sich Sorgen. Sie macht sich immer Sorgen, sobald Lía sich auch nur zwei Schritt alleine irgendwohin bewegt und sehr wahrscheinlich haette sie ihre Schwester laengst mit einem Halsband versehen an den naechsten Baum gebunden – nur zu ihrer eigenen Sicherheit -, waere nicht Louan gewesen. Der Valkoinen Ilves ist nicht nur ein altgedienter Veteran seiner Art, der mit dem letzten Rest seiner Zaehne noch eindrucksvoll seinen Standpunkt klar zu machen weiss, sondern auch Lías Totemtier. Er ist ihr Herz, ihre Seele, ihr Geist. Er folgt ihren Spuren, ohne zu wissen wohin, er hoert ihren Ruf, so weit sie auch fort ist und er wuerde selbst sein eigenes Leben opfern, um sie vor Unheil zu bewahren.
Schoen und gut, nur leider wird er auch nicht juenger. Er ist alt. Sehr alt. Wenn sein Geist stark ist, hat er vielleicht noch zwei oder drei Jahre, aber… was dann? Ob dieser Frag hat sich Calait schon oft den Kopf zerbrochen und mit jedem Tag waechst die Angst vor Louans Tod, denn sie weiss genau, dass sie nicht faehig ist ihn zu ersetzen, und wenn es nur um die banale Angelegenheit geht Lía staendig hinterher zu laufen und alles mit wachsamem Blick zu bedenken, was sich ihr mehr als drei Schritt naehert. Schon den ganzen Tag plagt sie eine unangenehm melancholische Stimmung, die nun, gefangen in duesteren Gedanken, einen bitteren Hoehepunkt erfaehrt. Ich koennte sie nicht mal beschuetzen, wenn ich mit einem Dolch bewaffnet direkt zwischen ihr und der Gefahr stehen wuerde. Es ist das alte Lied, das eine fiese, kleine Stimme in ihrem Hinterkopf dauern singt, seit sie die Ostlande verlassen haben. Dass sie ein denkbar schlechter Ersatz fuer die trauten Feuer und die warme Umarmung der Familie ist, von der Sicherheit, die ein Stamm bietet, ganz zu schweigen.
Lías Frage kommt ihr in den Sinn. Ob ich sie vermisse?
Ein Seufzen hebt ihre Brust und gedankenverloren krault sie Ériu hinter den kleinen, feinen Oehrchen. Das Fichtenmarderweibchen hebt traege den Kopf, rollt sich auf den Ruecken und gibt ein hoechst zufriedenes „Zssst“ von sich. Irgendwo hinter sich hoert Calait die Schaafe und die Pferde und ein zaghaftes, ganz leises Schuhu verraet ihr, dass Vi-Vi wach ist und die Gemuetlichkeit von Lías Stiefel verlassen hat. Noch ist sein Federkleid nicht mehr als ein gelbgrauer Flaum, doch dazwischen spriessen bereits die ersten Federn und es wird nicht mehr lange dauern, bis aus dem verschupften, aengstlichen Flauscheball ein Jaeger der Nacht wird. Bisweilen wagt er sich schon bis an den Wagenrand, um von dort scheu in die Tiefe zu linsen, nur um dann mit erschrecktem Geflattert sofort wieder den Rueckzug anzutreten. So zumindest hat Lía es beschrieben. Bei der Erinnerung an Lías aufgeregtes: „Da! Da! Schau doch nur!“, muss Calait leise lachen. Natuerlich war Lía die Unsinnigkeit ihrer Aufforderung gleich darauf selber bewusst geworden und nach einer genuschelten Entschuldigung, die Calait mit einem Handwink abgetan hatte, war sie in eifriges und begeistertes Erzaehlen ausgebrochen. Fuer einen Moment lang geniesst Calait den Klang von Lías Stimme, dann richtet sie sich gerade auf: „So. Genug Truebsal geblasen, jetzt mach ich uns mal etwas essen. Ganz richtig gehoert, Nimmersatt, uns, also mir und Lía, nicht dir.“ Nimmersatt, der sich neben ihr in ihrem Umhang eingerollt hat, grummelt schmollend vor sich her, was in ungefaehr klingt, als wuerde sein Magen gefaehrlich hungrige Knurrlaute von sich geben. Calait ignoriert es, hebt Tanguy aus ihrem Schoss und erhebt sich, um mit ausgestreckten Armen in Richtung Wagen zu laufen. Dort sucht sie Brot, gesalzenen Fisch, frisch gepflueckte Beeren, etwas Honig, Wasser und die letzten, harten Rest des Siebentagekuchens zusammen, platziert alle Sachen auf der Schieferplatte, die sie als Herd zwecksentfremden, und bringt sie zur Feuerstelle zurueck. Da es schon merklich kuehler geworden ist und die klare Luft eine kalte Nacht verspricht, zieht sie sich noch eine lange Wollweste ueber. Unwillkuerlich beginnt sie wieder zu singen und das Saeuseln des Windes, der hoch ueber ihrem Kopf mit den Blaettern tanzt, begleitet ihre einsame Klage…

„Kein Licht, dein Schatten scheint noch da.
Die Wärme kann ich spüren,
schon ewig fern und doch so nah.
Verwelkte Rosen blühen,
in Gedanken noch mal auf,
schweben zu dir hinauf.

Ich weiß nicht wie es weitergeht.
Wohin es geht warum es geht,
doch geht es leider.
Wo ich steh, wohin ich geh,
bist einfach du und es geht leider weiter,
immer weiter ohne dich.


Im Grau der Summe aller Farben,
stachst du einfach heraus.
Für dich, für mich, für uns,
war doch das Licht nie aus.
Ich wollt, ich könnt dich noch mal sehen
dir sagen wie sehr du mir fehlst.“ *

Gerade dabei die Fische zu entgraeten und mit in Honig getunkte Beeren zu fuellen, spuert sie, wie Breur, der eben noch friedlich neben ihr lag, sich ploetzlich erhebt, aber nicht von der Stelle weicht. Fluechtig wischt sie ihre Finger im Gras grob sauber und laesst ihre Hand ueber den massigen Schaedel des Karjakoira gleiten. Er hat die Ohren gespitzt und hat die Nase erhoben und die Muskeln unter dem dicken, weichen Fell sind gespannt, wie die Sehne eines Bogens kurz vor dem Abschuss. Der Wind scheint ihm eine Witterung zugetragen zu haben. Wachsam verfolgt Calait, wie auch Traõn und Shirin zu ihr treten, tastet nach dem Dolch, mit dem sie eben noch dem Fisch zu Leibe gerueckt war, und lauscht angestrengt in die altbekannte Finsternis. Doch es dauert eine geraume Weile, bis auch sie das leise Geraschel von Strauchwerk, das Knacken von Geaest und dumpfen Hufschlag auf dem weichen Waldboden hoert. Geraeuschlos erhebt sie sich und konzentriert sich, den Dolch fest in ihrer Linken, den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf den ungebetenen Gast, der sich ihnen naehert. Seltsamerweise gibt keiner der Hunde ein warnendes, geschweige denn feindseliges Knurren von sich. Mit wachsender Verwirrung bemerkt Calait, dass die Tiere sich zwar nicht gaenzlich entspannen, aber auch keinerlei Anstalten machen das, was da auf sie zukommt, anzufallen.
In diesem Moment durchbricht der weiche Hall von Lías Stimme das angestrengte Schweigen und Calait bleibt beinahe das Herz stehen, als sie hoert, wie ihre Schwester sich jemandem vorstellt, nur um denjenigen, diejenige, oder was auch immer es ist, was sie da im Schlepptau hat, dann mit einem leisen Lachen vor den Tieren zu warnen. Goetter, Lía, was tust du? Na gut, du lebst noch… und lachst, das heisst es geht auch Louan gut. Und wenn der das, was auch immer sie schon wieder im Wald aufgelesen hat, nicht schon zwischen die Pranken genommen hat, kann es so gefaehrlich nicht sein… Hoffe ich.. Etwas ruhiger, aber immer noch besorgt verharrt Calait an Ort und Stelle und wartet, bis sie hoert, wie Lía zu ihr tritt. In diesem Moment weichen auch die Hunde einen Schritt zurueck, wenn auch ohne ihre Wachsamkeit einzubuessen. Calait selbst atmet hoerbar erleichtert ein, als sie die warmen Finger ihrer Schwester auf ihrem Arm spuert und ergreift sofort deren Hand, nur um sicher zu gehen, dass auch wirklich alles in Ordnung ist. Alles scheint noch dran. Arme, Schultern, Hals, Kopf...
„Ich bin wieder da! Und ich habe jemanden mitgebracht,” verkuendet Lía mit einer unbeschwerten Froehlichkeit in der Stimme, dass man meinen koennte, sie haette eine besonders schoene Ueberraschung im Schlepptau. Eine Ueberraschung ist es auf jeden Fall, nur hegt Calait berechtigte Zweifel, ob es auch eine schoene ist. Gerade noch so kann sie an sich halten ihrer Schwester nicht jetzt und sofort – wieder einmal – eine Standpauke ueber ihre Blaueugigkeit, ihr viel zu grosses Herz und die natuerliche Veranlagung vieler Menschen, selbiges fuer ihre boesen Zwecke auszunutzen zu halten. Wie oft hat sie Lía schon eingetrichtert, dass man nicht alles, was man findet, nach Hause mitnimmt, oder in ihrem Falle, zum Lager. Schon gar keine Menschen, die mutterseelenallein irgendwo im Nichts der Immerfroster Waelder herumstreunen. Das koennte wer weiss wer sein! Raeuber, Pluenderer, Wegelagerer, Raufbolde, Diebe, Moerder, gnaedige Ahnen! Calait will gar nicht erst alles aufzaehlen, was hier so herumstreunt. Sie hielt Soris in letzter Zeit schon in hohen Ehren, dass diese ihr noch keinen der eben genannten auf den Hals gehetzt hat und jetzt… hat Lía nichts Besseres zu tun als die Herrschaften auch noch einzuladen. Ihr guten Geister, steht mir bei!

„Oh“, ist vorerst alles, was Calait von sich gibt, derweil sie darum bemueht ist sowohl ihr Misstrauen im Zaum zu halten, als auch so viel als moeglich von dem aufzunehmen, was der Geruch und die Geraeusche ueber den Besuch verraten. Es mag reichlich verwunderlich aussehen, wie sie dort stumm steht, die Augen geschlossen, die eine Hand auf Lías Arm, in der anderen einen blanken Dolch.
Seife, ist das erste, was Calait etwas perplex feststellt, dann: Wald. Kraeuter, Pferd. Er ist schon laenger unterwegs… aber er stinkt nicht. Das es ein Mann ist, spuert sie, ohne seine Stimme hoeren zu muessen., und seine Ausstrahlung laesst sie vernehmlich nach Luft schnappten. Selbst hier draussen, wo sein Leben genauso so viel wert ist, wie der hungrige Magen des naechstbesten Branbaeren, wirkt er stolz und aufrecht. Ein Mann, der weiss was er wert ist und der weiss, was er kann. Vielleicht ein wenig zu gut, was aber nichts daran aendert, dass er eine imposante Erscheinung ist. Und er ist gefaehrlich, fuegt sie in Gedanken leise hinterher, als ein feiner Luftzug ihre Arme mit Gaensehaut ueberzieht. Gefaehrlich, aber nicht bedrohlich. Ausserdem sehr erschoepft. Na gut. Zu den Hoellen jagen kann ich ihn immer noch, wenn er uns Aerger macht. Dafuer wuerden ihre pelzigen und gefiederten Freunde schon sorgen.
Langsam loest sie sich von Lías Seite, ueberbrueckt die Distanz zwischen sich und dem Fremden bis auf drei Ellen und nickt ihm zu, ohne den Kopf in den Nacken zu legen oder sonstwie Anstalten zu machen, ihm in die Augen zu sehen. Er wird schnell genug merken, warum sie derlei Hoeflichkeiten aussen vor laesst. Jetzt, wo sie ihm so nahe ist und seinen Atem hoert, irgendwo ueber sich, verstaerkt sich ihr erster Eindruck von einem grossen, durchaus starken Mann, der viel zu lange schon unterwegs ist. Und da ist noch etwas anderes, etwas, dass sie nicht naeher in Worte fassen kann und es ihr doch einfacher macht ihn zu begruessen. Ein warmes, ehrliches Laecheln erscheint auf ihren Lippen – so viel Freundlichkeit und Offenheit scheint ihr angebracht, hat doch Louan ihn immerhin am Leben gelassen -, aber sie behaelt den Dolch weiterhin zwischen ihren Fingern. Vorerst.
„Sei mir gegruesst, Fremder. Ich dachte eigentlich, meine Schwester sei auf der Jagd nach Wurzeln gewesen… Mit so einem Fang habe ich allerdings nicht gerechnet. Ich hoffe du schmeckst wenigstens.“ Das ihre Worte als Scherz gedacht sind, laesst sich unschwer an ihrer amuesierten Miene erkennen, die sich allerdings rasch verhaerte, als ihr der bittersuesse Geruch nach Eiter in die Nase steigt. Er ist verwundet. Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung und mit einem innerlichen resignierenden Seufzen tritt sie einen Schritt zur Seite und deutet dem Fremden an, dass er willkommen ist. „ Setzt dich zu uns. Hast du gerne Fisch? Ich nehme nicht an, dass du schon… oh… nein, ganz offensichtlich nicht.“ Ein vernehmliches Magenknurren kommt ihrer Frage zuvor und ein belustigtes Schmunzeln zupft an ihren Mundwinkeln. Na das kann ja noch heiter werden.

* Letzte Instanz ~ Ohne dich

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 28. Sept. 2009, 23:49 Uhr
Sie fährt so erschrocken zu ihm herum wie ein kleines Mädchen, das man gerade mit der Hand in der Schale mit den Honigkugeln erwischt hat, doch schon nach einem Herzschlag lächelt sie ihn an, ein wenig schüchtern vielleicht, aber durch und durch aufrichtig, als wäre sie wirklich ein Kind und freue sich ehrlich, ihn, einen völlig Fremden, mitten in der Nacht hier in der Wildnis zu treffen – und Colevar ertappt sich dabei, wie sein eigenes Lächeln anhält. Sie ist klein und sehr zierlich, und ihr Haar, dunkel wie Zobelpelz, fällt ihr in langen Wellen und gekringelten Locken bis weit über den Rücken. Ihr Gesicht ist zweifellos hübsch, mit hohen sanft gerundeten Wangenknochen und tausenden von Sommersprossen, die sich wie Zimtstaub darauf verteilen, mit dunklen Bögen feingezeichneter, aber ausdrucksvoller Brauen über leicht schräg stehenden Katzenaugen, einer stupsigen Nase und einem sehr vollen, beinahe einen Hauch zu groß geratenem Mund. Die Farbe ihrer Augen kann er in diesem Licht nicht ausmachen, doch sind sehr groß und glänzend, und für den Moment liegt in ihnen, ebenso wie in ihrem Lächeln, nichts als die reine Unschuld. Colevar schnappt lautlos nach Luft. Götter im Himmel, ein Rehkitz… Hat dir denn nie jemand beigebracht, dass man einen Mann nicht so ansieht, schon gar keinen, den man nachts allein im Wald trifft?! Dann wendet sie den Blick ab, richtet ihn auf ihre Füße und schüttelt fast verlegen ihre Röcke aus, doch als sie den Kopf wieder hebt, um ihn erneut zu mustern, wird ihr Lächeln nur noch breiter und sie kommt völlig arglos auf ihn zu. Da ist keine Berechnung in ihrem Gesicht, keine Hintergründigkeit in ihrem Blick, keine ihrer Bewegungen scheint auch nur im Geringsten affektiert oder unnatürlich. Sie wirkt immer noch schüchtern und sie nähert sich ihm bedächtig, aber unaufhaltsam, als wäre er ein großes und möglicherweise gefährliches Tier, von dem sie dennoch felsenfest überzeugt ist, dass es ihr kein Leid zufügen wird.

Er hätte nicht einmal gekonnt, wenn er gewollt hätte, denn wie er sich zu seinem eigenen Entsetzen eingestehen muss, hat ihre absolute Treuherzigkeit - zumindest was ihn angeht - in diesem Augenblick etwas geradezu unheimlich entwaffnendes an sich. >Euch,< beantwortet sie seine Frage sehr schlicht und lächelt immer noch, aber diesmal auch ein ganz klein wenig so, als habe sie nur für sich einen kleinen, geheimen Scherz gemacht. Sie betrachtet ihn sorgfältig, fast wissend, von Kopf bis Fuß und je länger ihre Augen auf ihm verweilen, desto besorgter wird ihr Blick, auch wenn sie kein Wort über seine Aufmachung, seine Schulter oder seine unübersehbare Erschöpfung verliert, im Gegenteil. Alles, was sie schließlich sagt, nachdem sie Filidh mit einem sanften Klopfen für sich eingenommen, beiläufig Mistress Grau mit einem Kraulen bezaubert, und ihn selbst so kurz und vorsichtig am rechten Arm berührt hat, als wolle sie sich vergewissern, dass er sich nicht unter ihren Fingern in Rauch auflösen würde, ist: >Kommt mit; unweit von hier ist unser Lager.< Das einzige, was ihren Gleichmut für einen Herzschlag durchbricht scheint die Tatsache, dass ihr Begleiter, der betagte weiße Luchs, sich schnurrend an seinen Beinen reibt und ihn damit begrüßt, als wäre er ein guter alter Bekannter, doch auch das verwundert ihn selbst offenbar weit mehr als dieses winzige, seltsame Persönchen, das der Zufall oder das Schicksal oder was auch immer auf so merkwürdige Art seinen Weg hatte kreuzen lassen. Colevar ist viel zu entgeistert um ihr nicht zu folgen, ganz abgesehen davon hat sie seine Katze. Mistress Grau, sonst die Zurückhaltung in Person, windet sich nämlich längst in schnurrender Begeisterung in den Armen des Mädchens, während der Luchs wie ein braver Hund an seiner Seite trottet und ihm ab und an einen spöttischen Blick aus goldenen Augen zuwirft, als wolle er sagen: Versuch's gar nicht erst, du kommst ohnehin nicht davon.  

Es ist wirklich nicht weit – er kann den Schein eines hell prasselnden Lagerfeuers bereits sehen und Schafe riechen, als die junge Frau an seiner Seite schließlich ihr Schweigen bricht. >Es... Bitte verzeiht, dass ich vorhin so gestarrt habe.< Sie spricht schon wieder mit ihrem Rocksaum, als sei ihr das tatsächlich peinlich, doch Colevar schüttelt nur sacht den Kopf und seine Mundwinkel zucken, als wolle er ein Grinsen unterdrücken: "Ich glaube, ich überlebe es." Hatte sie? Das war ihm nicht aufgefallen. Mmpf. Vermutlich weil du sie genauso entgeistert gemustert hast. Als sie den Rand des Lagers und damit den Kreis des Lichtes erreichen, das von den tanzenden Flammen in der kleinen Feuerstelle ausgeht, dreht sie sich noch einmal zu ihm um. Ihre Augen sind so hell und braun wie Uisge. >Ich bin Lía. Und... Ihr müsst Euch keine Sorgen machen wegen der Tiere. Wirklich nicht.< Damit eilt sie voraus, immer noch mit Mistress Grau auf dem Arm und direkt auf eine von großen Hunden umgebene Gestalt nahe des Feuers zu, die ihr so verblüffend ähnlich sieht, das er für einen absurden Moment glaubt, schlicht doppelt zu sehen - nur dass die zweite Frau einen Dolch in der Hand hält und alles andere als arglos oder mädchenhaft wirkt. Schwestern. Sorisgesegnete, schießt es ihm durch den Kopf. Der Luchs ist immer noch an seiner Seite und blickt hechelnd auf seine Herrin, deren Schwester und das bunte Sammelsurium an Hunden, Mardern, Hörnchen, Schafen, Pferden und sonstigem Viehzeug, dass auch Colevar nun der Reihe nach mustert – buchstäblich jeder Winkel der kleinen Lagerstätte ist mit irgendwelcher Art von Getier vollgestopft, das frisst, herumliegt, Wache hält, neugierig auftaucht und wieder verschwindet oder kopfüber in Tonkrügen steckt und dabei laut schmatzt wie es ein überaus dicker Trold soeben tut.

>Ich bin wieder da! Und ich habe jemanden mitgebracht,< verkündet Lía ihrer Schwester gerade und das in einem Tonfall, der Colevar einen geradezu hilflosen Blick mit dem Luchs tauschen lässt. Ein ziemlich misstrauisches >Oh!< ist alles, was die andere erwidert, und er kann das mühsam bezwungene Verlangen, ihre vertrauensselige Schwester zu schütteln förmlich von ihrer Nasenspitze ablesen, was ihm ein melancholisches Lächeln und ein belustigt-mitfühlendes Schnauben zugleich entlockt. Er selbst hatte dieses Bedürfnis allein in der letzten Viertelstunde… oh, schätzungsweise ein halbes Dutzend Mal verspürt. Lías Schwester, wie immer ihr Name sein mag, rührt sich nicht von der Stelle, sie steht einfach nur da, sehr aufrecht und sehr wachsam und er fühlt sich merkwürdigerweise sehr genau gemustert, obwohl ihre Augen fest geschlossen sind. Filidh stößt mit der Nase gegen seinen Arm und Colevar gibt dem Hengst einen sanften, aber bestimmten Klaps auf die Nüstern. Lass das. Du wirst warten müssen, bis wir willkommen geheißen werden oder auch nicht. Nach einem langen Augenblick des Schweigens kommt Lías Schwester auf ihn zu und etwas an ihrer Art sich zu bewegen ist seltsam, ohne dass er sagen könnte, was - und noch bevor er den Finger darauf legen kann, hält sie an, etwas über einen Schritt von ihm entfernt. Ihr Blick richtet sich irgendwo auf seine Brust, nein… genau genommen geht er direkt durch ihn hindurch. Sie ist blind. Götter im Himmel, das darf nicht wahr sein. Blind. Anstatt in einem Lager draller Huren und sauflustiger Schausteller lande ich bei einem Rehkitz und einer Blinden…Ohja. Sithech.Liebt.Mich. Yffern! Sie steckt das Messer nicht fort, aber sie ringt sich ein Lächeln ab und obwohl es ganz anders ist, als die zwingende Offenheit  ihrer Schwester, ist es doch warm. >Sei mir gegrüßt, Fremder. Ich dachte eigentlich, meine Schwester sei auf der Jagd nach Wurzeln gewesen... Mit so einem Fang habe ich allerdings nicht gerechnet. Ich hoffe du schmeckst wenigstens.< Anders als  Lía benutzt sie das vertrauliche Du statt dem förmlicheren Ihr, doch ihm soll es recht sein – schließlich sind sie hier mutterseelenallein in der Wildnis und nicht auf der Burg irgendeines Lords. Schmecken? Nach Tod vielleicht.

"Zu zäh und zu bitter, " erwidert er im selben leichten Tonfall, "und genau genommen hat sie nicht mich gefangen, sondern ich sie. Aber da ich für gewöhnlich keine kleinen Mädchen fresse, dachte ich mir, ich tausche sie lieber gegen etwas zu Essen und einen Platz am Feuer ein. Ich verspreche auch, ich werde mich gut benehmen." So rasch wie ihre Laune zu scherzen aufgekommen war, verschwindet sie auch wieder und die junge Frau vor ihm wird übergangslos ernst, aber immerhin bittet sie ihn ans Feuer, auch wenn sie keine Anstalten macht, ihren Namen zu nennen. >Setz dich zu uns. Hast du gerne Fisch? Ich nehme nicht an, dass du schon... oh... nein, ganz offensichtlich nicht.<
"Nein," erwidert er mit einem halben, gequälten Lächeln. "Aber ich esse alles, so lange  ich es nicht selbst kochen muss. Ich will nur zuerst die Pferde versorgen." Falls hier irgendwo noch ein Stück Platz ist, heißt das. Bevor er sich abwendet, um Filidh und die Hunaiastute, die seinen Proviant, den Hafer für die Pferde und seine wenige übrige Habe abgesehen von seinen Waffen schleppt, ein wenig beiseite zu führen und sie unter einem Baum anzubinden, hält er noch einmal inne und das blinde Mädchen scheint es zu spüren, denn sie dreht ihm immerhin das Gesicht zu, wenn auch nicht ihre Augen. "Mein Name ist Colevar. Ich habe mehr Vorräte als ich brauche, also nehmt für ein Abendmahl was ihr wollt, aye? Ich will es nur nicht selbst kochen müssen - und glaubt mir, ihr wollt das auch nicht."  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 29. Sept. 2009, 14:25 Uhr
Lía merkt an der Reaktion ihrer Schwester, dass diese voller Sorge und Argwohn ist. Lächelnd greift sie nach den tastenden Händen und drückt sie beruhigend. „Es ist alles in Ordnung“, beruhigt sie die Ältere und drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Calaits Ärger entgeht ihr ebenso wenig und es tut ihr ja auch leid, dass sie die Ratschläge der Älteren ständig einfach in den Wind schlägt, aber sie kann einfach nicht anders. Ihre Weltansicht lässt es einfach nicht zu, dass sie Fremden mit Misstrauen oder auch einfach nur der gebotenen Vorsicht begegnet. In dieser Hinsicht ist sie stur wie ein Esel – was schon früher ihren Vater in den Wahnsinn getrieben hat. Als Calait schließlich an ihr vorbei tritt um den Unbekannten den ihre Schwester angeschleppt etwas genauer unter die Lupe zu nehmen beeilt sich Lía ihr zu folgen, bleibt jedoch in einigen Schritt Entfernung hinter ihr stehen. Jedoch nah genug um einschreiten zu können falls ihre Schwester anders reagieren sollte als Lía sich das wünscht.

“Setz du dich ans Feuer, damit Lía sich deine Wunde oder Wunden genauer ansehen kann. Darauf wartet sie naemlich.” Ohne Colevars Reaktion abzuwarten tritt Lía lautlos an Calait vorbei, ergreift ihn sanft am Arm und bugsiert ihn zum Lagerfeuer wo sie ihm einen Sitzplatz zuweist. Scheinbar ist auch Louan davon überzeugt, dass es jetzt oberste Priorität ist seinen neuen, verletzten Freund zu versorgen; denn der Luchs trottet noch einmal vor dem Neuankömmling auf und ab bevor er sich dann wie ein träges Raubtier vor ihm niederlässt, ohne Colevar dabei jedoch auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Sein Blick ist nicht länger misstrauisch, sondern viel eher herrisch. Widerworte werden nicht geduldet – weder von Lía noch von Louan. Schweigend wendet Lía sich ab, allerdings nicht ohne Colevar ein letztes warmes Lächeln zu schenken, und verschwindet hinter dem Kutschbock auf der anderen Seite des Lagers.

Während sie die Tonschüssel ins kalte Wasser taucht wandern ihre Gedanken zurück zu dem Mann der sich in genau diesem Augenblick an ihrem Feuer wärmt. Woher er wohl kommen mag? Was auch immer er vorhat, er ist scheinbar in Eile. Lías geschulter Blick verrät ihr, dass Colevar weder sich selbst noch sein Pferd geschont hat auf seiner Reise. Ein tiefes Seufzen und es sachtes Kopfschütteln sind allerdings alles was sie an äußeren Reaktionen zeigt. Sie mag ihn nicht kennen, was jedoch nichts daran ändert, dass sie tief besorgt ist. Seine Wunde ist alt…und alles andere als gut verheilt. Wen auch immer er daran gelassen hat, derjenige war ein Stümper. Wenn er Pech hat haben sie ihm mehr geschadet als geholfen. Bei diesem Gedanken wirft sie einen kurzen Blick über die Schulter zurück. Ihr Ahnen…lasst mich ihm helfen können

Mit der Wasserschüssel in der einen Hand und den Kräutern und einem Stampfer aus Lehm in der anderen Hand kehrt sie zu ihrem Patienten zurück und geht vor ihm auf die Knie. Ihr Blick streift seine Schulter bevor sie ihm dann direkt in die Augen sieht. Seine intensiv blauen Augen sind umrahmt von langen, geschwungenen Honigfarbenen Wimpern. Ihr Gegenüber ist in jeder Hinsicht schön, aber auf eine kriegerische, stolze Art und Weise. Obwohl Lía bewusst ist, dass dies ein durchaus gefährlicher Mann ist empfindet sie keine Angst, lediglich ihre schüchterne Zurückhaltung die sie immer in Gegenwart von Fremden befällt. Vorsichtig gleiten ihre Finger über seinen Arm und sie beobachtet jede noch so kleine Reaktion seinerseits um festzustellen wie weit die Entzündung sich ausgedehnt hat. Ihre Hand ruht immer noch leicht auf seiner Brust als sie schließlich wieder aufblickt und ihm ein sanftes Lächeln schenkt. „Ich muss mir das genauer ansehen; würdet Ihr euch vielleicht oben frei machen?“, ihre Stimme ist warm und strahlt eine enorme Ruhe aus. Anders als ihre Schwester hält sie sich auch weiterhin an die förmliche Anrede, was jedoch in ihrem Wesen begründet liegt. Dieser Mann schüchtert sie mit seiner bloßen Gegenwart ein und dies spiegelt sich in ihrem Verhalten wider. Nicht, dass sie ihm gegenüber reserviert wäre oder weniger aufgeschlossen…Lías Offenheit ist so natürlich, dass sie gar nicht anders könnte, selbst wenn sie wollte. Während Colevar sich seines Hemdes entledigt krempelt Lía ihre Ärmel hoch wodurch die bis weit über die Handgelenke reichenden hässlichen Brandnarben zum Vorschein kommen. Mit flinken Fingern öffnet sie ein kleines Leinensäckchen welches an ihrem Gürtel befestigt ist und wählt sorgsam einige der Kräuter aus. Ihre zierlichen Hände tasten sich über die Wunde und ein mitfühlender Ausdruck tritt in ihre dunklen Augen. Er mag sich nichts anmerken lassen, doch Lía weiß um die Schmerzen und es tut ihr in der Seele weh, dass sie gleich dafür verantwortlich sein wird, dass er noch viel größere Schmerzen haben wird. „Das sieht nicht gut aus…“, murmelt sie leise vor sich hin ohne dabei von der Wunde aufzusehen. Ein Kopfschütteln und ein ärgerliches Schnauben später lässt wieder von ihrem Patienten ab, sieht ihn jedoch nicht an, sondern reißt einen Stofffetzen aus ihrem Flickenrock, den sie zu einem dicken Knoten zusammenrollt und ihn wortlos an Colevar weiterreicht, welcher sie nur verständnislos ansieht. „Nur für den Fall“, ihr Lächeln ist zwar immer noch aufmunternd, doch ihre Stimme klingt traurig. Während ihr Gegenüber den Knoten kurz etwas genauer in Augenschein nimmt wandern ihre Finger unbemerkt zu dem kleinen Dolch, den sie eigens für diesen Zwecke bereits vorbereitet hat, in ihrem Gürtel und alles was Colevar an Vorwarnung bekommt ist ein gepresstes: „Jetzt!!“ Dicker, gelbbrauner Eiter spritzt aus der Wunde hervor den sie mit einem sauberen Stück Stoff, welches sie vorher ins Wasser getaucht hat, abwischt. Wie nicht anders zu erwarten hat er seine Muskeln, in dem Versuch den Schmerz zu lindern, angespannt. Beruhigend streichen ihre Fingerkuppen über seine warme Haut und massieren die Muskeln, damit er sich wieder entspannt. „Verzeiht, aber würde ich langsam vorgehen würde ich den Schmerz nur verlängern; so entzündet wie Eure Verletzung ist…immerhin kein Wundbrand..“, ihre Worte sind kaum mehr als ein Flüstern. Kurz sieht sie auf und sucht seinen Blick, ihre Augen sprechen Bände, es hätte ihrer Entschuldigung nicht einmal bedurft. Sie löst eine Hand von seinem Arm und wischt ihm sanft den kalten Schweiß von der Stirn. Es tut mir aufrichtig leid….aber ich werde deinen Schmerz lindern. Ich verspreche es! Nachdem sie behutsam auch das letzte bisschen Eiter aus der Wunde gedrückt hat, schneidet sie das tote Fleisch ab und beginnt damit ihre Kräuter zu zerstampfen unter dem wachsamen Blick aus blauen Augen. Und sie ist sich sicher, dass auch Calait die Ohren gespitzt hat und jeder noch so kleinen Bewegung folgt – ihre Schwester mag blind sein, aber das hindert sie nicht daran auf der Lauer zu liegen wenn ihre kleine Schwester einen fremden Mann zusammenflickt den sie in der nächtlichen Wildnis aufgelesen hat. Behutsam verteilt sie die klebrige Kräuterpampe auf der Wunde. „Der Schmerz wird bald nachlassen…aber Ihr solltet den Arm ruhig halten.“, nach einem kurzen Schweigen fügt sie dann fast flehend hinzu: „und bitte achtet darauf die Wunde sauber zu halten.“ Ihre großen, braunen Augen blicken ihn voller Güte und Sanftmut – aber auch tiefer Sorge an. Wenn er weiterhin so nachlässig mit der Verletzung umgeht kann das böse Folgen haben, etwas das sie um jeden Preis verhindern will. Schweigend setzt sie die Maden auf das Loch von der größe eines Bolzens, erneut keimt in ihr die Frage auf wo er sich diese Verletzung nur zugezogen hat, und beginnt damit ihre Utensilien aufzuräumen. Einige Zeit lässt sie die Wunde noch offen damit die Frische der Nacht ihren Teil zur Heilung beitragen kann, bevor sie die Wunde dann endgültig verbindet. Kaum ist klar, dass der Patient nun entlassen ist stürzen sich sowohl Tanguy als auch Noraya auf Lía, wohingegen Louan seinen Kopf auf den Schoß des Besuchers schiebt und ein kehliges Grollen vernehmen lässt. Amüsiert beobachtet sie ihren Gefährten. „Er scheint Euch zu mögen. Er ist sonst nie so zutraulich“

Nachdenklich bespritzt sie ihr Gesicht mit dem kalten Wasser und taucht ihre Arme bis zu den Ellbogen in den klaren Wasserlauf. Ob sie ihrer Schwester davon erzählen soll? Sie ist ohnehin schon misstrauisch…..die Tatsache, dass ein Bolzen seine Schulter durchschlagen hat dürfte das wohl kaum ändern. Im Gegenteil.
Als sie schließlich zurück ans Lagerfeuer kommt ist das Essen fertig und Calait reicht ihr wortlos ihren Anteil – und erwischt Nimmersatt gerade noch rechtzeitig am Schwanz bevor dieser sich auf die Jüngere der beiden Schwester stürzen kann um ihr ihr Essen abspenstig zu machen. Das laute Schmatzen das kurz darauf erklingt verrät jedoch, dass es Lía dennoch irgendwie gelungen ist dem kleinen Fresssack ein Stück Fisch zuzuschustern auf ihrem Weg an ihm vorbei bevor sie sich neben Colevar am Feuer niederlässt. Erst jetzt wo ihre Arbeit getan ist spürt sie die Müdigkeit und es gelingt ihr nur mit Mühe und Not ein Gähnen zu unterdrücken. Ein fahriges Streifen über die müden Augen soll die Erschöpfung verbannen, allerdings ist das Resultat gleich Null. Die Müdigkeit hält sich hartnäckig und immer öfter blinzelt die junge Frau um die Augen offenhalten zu können.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 29. Sept. 2009, 18:07 Uhr
"Zu zäh und zu bitter, und genau genommen hat sie nicht mich gefangen, sondern ich sie. Aber da ich für gewöhnlich keine kleinen Mädchen fresse, dachte ich mir, ich tausche sie lieber gegen etwas zu Essen und einen Platz am Feuer ein. Ich verspreche auch, ich werde mich gut benehmen."
“Brav”, erwidert Calait und kann sich eines spoettelnden Laechelns mehr schlecht denn recht erwehren, das noch groesser wird, als er fast schon verzweifelt darum bittet, nicht kochen zu muessen. Seine Stimme ist dunkel und warm, wobei ein leicht kraechzender Nachhall davon zeugt, dass er in der letzten Zeit nicht allzuviel geredet hat. Mit wem denn auch, abgesehen von seinen Tieren.
Sie hat kaum ausgesprochen, da macht er schon Anstalten seine Pferde versorgen zu wollen. Rasch streckt sie die Hand nach ihm aus, um ihn zurueck zu halten. Ihre Fingerkuppen gleiten ueber raue, stellenweise aufgerissene, aber saubere Haut und weiches Linnen, und sie fuehlt die Waerme seiner Handinnenflaeche gegen ihre Finger pochen. Das die blassrosa Narbengeflechte, die geschwuerartig ihre Haende und Handgelenke uberziehen, sichtbar werden, merkt sie selbst nicht. “Lass mich das machen”, wendet sie ein und deutet mit dem Kopf zu Lía, die lautlos hinter sie getreten ist, um den armen, einsamen Mann im Notfall vor Schaden durch ihre viel zu misstrauische Schwester zu bewahren, “Setz du dich ans Feuer, damit Lía sich deine Wunde oder Wunden genauer ansehen kann. Darauf wartet sie naemlich.” Dazu muss Calait Lías Gesicht gar nicht sehen, um es zu wissen. Sie kann Lías Besorgnis spueren und aus ihrer Stimme heraus hoeren und ausserdem kennt sie ihre Schwester, insbesondere deren Reaktion auf ein verwundetes Wesen – und es spielt hierbei ueberhaupt keine Rolle, worum es sich dabei handelt. Ob nun Tier, Mensch, Elb, Sandnarg, Jääpiru oder Kobold, fuer Lía macht das nicht den geringsten Unterschied. Sie wuerde auch einem Môrgrimm noch die gebrochene Pfote schienen, wuerde der ihr nicht vorher den Arm abbeissen.
Fordernd streckt sie die Hand nach den Zuegeln aus, die ihr auch prompt in die Finger gedrueckt werden. Allerdings nicht von dem Mann, sondern von Lía, die seine Reaktion gar nicht erst abwartet. Mit einer Selbstverstaendlichkeit, als ginge es gar nicht um seine Tiere, nimmt sie ihm die Lederriemen aus der Hand, gibt diese ihrer Schwester weiter und schiebt den Fremden gleichzeitig sanft in Richtung Lagerfeuer. Er findet gerade noch genug Zeit, sich noch einmal umzudrehen und sich mit einigen wenigen Worten vorzustellen. "Mein Name ist Colevar. Ich habe mehr Vorräte als ich brauche, also nehmt für ein Abendmahl was ihr wollt, aye? Ich will es nur nicht selbst kochen müssen - und glaubt mir, ihr wollt das auch nicht." Das Angebot, dass sie seinen Vorrat beliebig pluendern koennen, nimmt Calait mit einem Nicken dankend an, denn fuer einen so hungrigen Magen in der Groesse werden die zwei kuemmerlichen – und unzweifelhaft sehr heroisch gefangenen - Mondaugen kaum ausreichen. Das er zum wiederholten Male beteuert, dass es fuer sie alle besser waere, ihn nicht an Topf und Kochloeffel zu lassen, hebt sie sueffisant grinsend eine Augenbraue und meint mit freundschaftlichem Spott: “Wenn dein Essen so schlecht ist, wie du sagst, frage ich mich wie du bis jetzt ueberlebt hast. Du duerftest Doerrfleisch und trockenes Brot ziemlich satt sein.” Zum zweiten Mal an diesem Abend ist es sein Magen, der fuer ihn antwortet, indem er sich unter einem einem gurgelnden Knurren schmerzhaft zusammenzieht, als loese schon die Erwaehnung von Trockenfutter ueble Kraempfe aus. “Ich werte das als `ja`”, beantwortet sie ihre rethorische Frage selbst und fuegt gleich darauf noch hinterher: “Mein Name ist Calait.” Mit diesen Worten wendet sie sich endgueltig ab und fuehrt die Pferde, einen Hengst ungekannter Rasse und eine schwer beladene Hunaiastute, etwas abseits von Adnan und Zhabiz, die die Neuankoemmlinge mit einem herzlichen Wiehern begruessen, bevor sie sich sofort wieder dem saftigen Gras und den koestlichen Flechten zu ihren Hufen zuwenden. Hiiri, schon von Geburt aus unertraeglich neugierig, stakst auf seinen duennen, krummen Beinchen vorsichtig ein wenig naeher und verfolgt mit nach vorne gerichteten Ohren und aufgeblaehten, milchhellen Nuestern, was Calait tut.

Mit wenigen, geuebten Handgriffen hat sie die Pferde mit einem weichen Strick festgebunden und von Sattel und Zaumzeug befreit. Beides haengt sie ueber einen naheliegenden, tief haengenden Ast, waehrend sie Colevars Gepaeck, abgesehen von etwas, dass sich anfuehlt wie eine Decke, einem halben Brotlaib, etwas Poekelfleisch und einem Viertelrund harzigem Ziegenkaese, unter der Kutsche verstaut. Dann greift sie sich einen leeren Eimer und bringt die Pferde zum Tuempel, um sie zu traenken. Wobei die beiden Tiere eher Calait fuehren, als umgekehrt, denn zielbstrig steuern sie das kleine, truebe Gewaesser an und verhelfen der Blinden damit ohne grosse Umwege zum Ziel.
Als sie, die Stiefel schlammverspritzt, mit Schaumflecken auf der Kleidung, nassen Aermeln und einem roten Band um den Kopf, mit dem vollen Eimer zurueckkommt, vernimmt sie gerade noch, wie Lía Colevar mit hoerbarer Erleichterung versichert, dass er immerhin nicht an Wundbrand leide. Die Wunde duerfte auch so schlimm genug sein, stellt Calait mit geruempfter Nase anhand des durchdringenden, suessen Eitergeruchs in der Luft fest. “Geht es, Lía?” Sie erhaelt nur ein hochkonzentriertes “Hmh” als Antwort und gibt sich damit vorerst zufrieden. Ihre Schwester wuerde sich melden, sofern sie Hilfe benoetigt, dafuer war Lía noch nie zu stolz, denn ihr geht es einzig und allein um das Wohl ihres Schuetzling. Ihre Schwester ist wahrscheinlich die selbstloseste Person und die hilfsbereiteste Seele dies und jenseits aller Hemmisphaeren, was sehr schoen, aber mitunter auch sehr anstrengend sein kann, denn so selbstlos und hilfsbereit sie ist, ist sie auch naiv und blauaeugig. Derweil jedem halbwegs vernuenftigen Menschen der Immerlande ein gewisser Gefahreninstinkt in die Wiege gelegt wird, kennt Lía die Bedeutung von Argwohn und natuerlichem Misstrauen nur vom Hoerensagen, was ein Haufen Schwierigkeiten und Probleme bedeutet – von Lía natuerlich nie willentlich beabsichtigt. Und boese sein kann Calait ihrer Schwester nicht wirklich.
Behutsam fuellt sie das Wasser in einen Kupferkessel und stellt diesen ins Feuer, woraufhin das helle Prasseln tausender Funken zu vernehmen ist. Dann widmet sie sich wieder dem Fisch, der noch darauf wartet fertig gefuellt zu werden. Obwohl es aussieht, als waere sie gaenzlich darin vertieft, Brot mit Kaesebelag knusprig zu backen, Fisch mit dem Rest an Honig einzuschmieren und das salzige Fliesch mit den suessen Beeren abzuschmecken, sind alle ihrer restlichen Sinne auf das Geschehen nur wenige Schritt neben ihr gerichtet. Ihr entgeht weder, dass Lía die Wundraender sauebert, noch wie sie Eichenrinde, Lindenblueten und etwas Immerfroster Moos zu einem dicken Brei zerdrueckt und auf die nun saubere Wunde streicht. Das sie auch noch Maden auf die Wunde setzt, die den letzten Rest toten Fleischs fressen sollen, bekommt sie in dem Sinne zwar nicht mit, weiss sie aber, denn sie kennt das uebliche Prozedere bei solch einer Verwundung.
Kurz hebt Calait den Kopf, als Lía Colevar nahezu verzweifelt darum bittet, er moege sich doch ein wenig schonen, da die Wunde Ruhe braeuchte. Lange unterwegs, ohne Rast und Ruh, mit zwei Pferden, damit er schneller vorwaerts kommt, und ohne sich anstaendig um seinen verletzten Arm zu kuemmern. Die boesen Geister sollen mich holen, wenn der nicht was verbrochen hat. Das er in Schwierigkeiten stecken koennte interessiert Calait an dieser Stelle eigentlich herzlich wenig. Jeder hat sein Paeckchen zu tragen und seine Suppe auszuloeffeln. Aber angenommen er ist auf der Flucht, dann gibt es noch jemanden, der so verrueckt ist um diese Jahreszeit durch die Immerfroster Waelder zu preschen und der wird bestimmt nicht erfreut sein, wenn er erfaehrt, dass wir seiner Beute geholfen haben. Sie behaelt alle ihre Gedanken fuer sich. Fuer derlei vernuenftige Zurechtweisungen hat Lía sowieso kein Ohr offen, ganz zu schweigen davon, dass auch Calait keine herzlose Person und Colevar ihr bisher sehr sympathisch ist.

Der scharfe, bittere Geruch der Heilkrauter unter den sauberen Linnen vermischt sich schon bald mit dem koestlichen Duft nach gebratenem Fisch, geschmolzenem Kaese und goldbackenem Brot. Gerade als Lía ihre Haende und Arme waescht, lehnt sich Calait zufrieden grinsend zurueck: “Das Essen ist fertig.” Schwesterlich teilen sich Lía und Calait die mit Beerensaft getraenkten Poekelfleisch und etwas Fladenbrot vom Morgen, derweil Colevar ohne ein weiteres Wort die Schieferplatte mit dem Fisch und die kaeseueberbackenen Brotscheiben zugeschoben wird. Dazu reicht Calait ihm einen grossen Becher mit einer dampfenden, gold schimmernder Fluessigkeit darin und einen Wasserschlauch. “Wir nennen das Gebraeu `Feuerkehle`”, merkt sie mit einem unergruendlichen Schmunzeln an und hebt ihren eigenen Becher, der nicht halb so voll ist, wie der von Colevar. Auch Lía erhaelt einen Becher, der jedoch lediglich zu zwei Fingerbreit gefuellt ist. “Unser Onkel brennt das Zeug seit Jahren und der Name spricht fuer sich. Zu viel davon und du hoerst die Seharim singen, aber im richtigen Mass waermt es die Knochen und schenkt einen gesunden, tiefen Schlaf. Trink es in kleinen Schlucken, um den Zimt herauszuschmecken.” Waehrend sie ihm das auslegt, kriecht sie an ihm vorbei und sucht die Naehe ihrer Schwester. Besorgt schlaegt Calait neben ihr die Beine uebereinander und tastet mit den Haenden nach Lías Gesicht. Sie haelt die Augen halb geschlossen und ihre Zuege sind entspannt. Calaits Stimme wird weich und warm, als sie in ihrer Muttersprache, dem Tamartuarach, liebevoll fluestert: “Iss, mein Herz, und dann leg dich hin. Du hast deine Arbeit gut gemacht.” Zaertlich streicht sie ihrer Schwester eine wirre Straehne aus der Stirn und laesst Fragen Fragen sein. Eigentlich wollte sie sich erkundigen, was Colevar fuer eine Verletzung hat, aber angesichts der Tatsache, dass Lía schon waehrend dem Essen fast einschlaeft, schluckt sie alles ungesagt herunter.
Sie haelt Lía auch zurueck, als sich diese, nachdem Colevar auch noch den letzten Kruemel Kaesebrot erfolgreich verspeist hat, erheben will, um den Lagerplatz aufzuraeumen. “Lass das Lía. Ich mach das schon. Leg dich hin, komm.” Damit zieht sie ihre Schwester sanft, aber bestimmt zu sich, bis deren Kopf in ihren Schoss sinkt. Fuer den Bruchteil eines Herzschlags liegt in Calaits Gesicht offen und fuer jeden ersichtlich all die Liebe und Zuneigung, die sie fuer ihre Zwillingsschwester empfindet. Dann beginnt sie vorsichtig Lías langes Haar mit ihren Fingern zu kaemmen. Zwei der Waldhoernchen machen es sich in Lías Armen bequem, waehrend Tanguy sich an Calaits Fuesse kuschelt, Noraya ihren Kopf unter Calaits Bein zwaengt und Eriu sich auf Lía langstreckt, wie ein knochenloser Fellkragen. Louan gibt sich von dem ganzen Gewimmel, das kurzzeitig losbricht, voellig unbeeindruckt und weicht nicht einen Sekhel von seinem Platz neben Colevar, dem Mistress Grau am Hals haengt. Beinahe wie von selbst stimmt Calait ein Lied an, dass auch ihre Mutter ihnen frueher oft vorgesungen hat.

“Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.”

Calait verstummt bereits nach der zweiten Strophe, um den tiefen, festen Atemzuegen ihrer Schwester zu lauschen. “Eingeschlafen”, erklaert sie leise lachend und hebt den Kopf, um ihr Gesicht in Colevars Richtung zu drehen. Noch immer laechelt sie, aber als sie erneut zum Sprechen ansetzt meint sie ihre Frage absolut ernst, ohne das Misstrauen, Aerger oder gar Feindseligkeit mitmischen: “Und jetzt moechte ich doch wissen, ob unsere Hilfsbereitschaft uns Aerger einbringen wird. Oh, und wuerdest du mir noch ein wenig Feuerkehl einschenken? Ich kann mich grad so schlecht von der Stelle ruehren.”

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 30. Sept. 2009, 00:38 Uhr
Sein Wunsch zuerst seine Tiere zu versorgen wird von der blinden jungen Frau, der älteren Schwester, wie er glaubt, jedenfalls benimmt sie sich ganz so, entschieden ignoriert, ganz gleich was er dazu zu sagen hat. >Lass mich das machen. Setz du dich ans Feuer, damit Lía sich deine Wunde oder Wunden genauer ansehen kann. Darauf wartet sie naemlich,< Eine von Colevars Brauen hebt sich fragend, fast ein wenig süffisant angesichts dieses herrischen Tonfalls, doch noch ehe er ernsthaft etwas unternehmen kann, um sich erst Filidhs und der kleinen namenlosen Hunaiastute anzunehmen, und der Katze ein wenig Dörrfisch zu geben, ist Lía bereits an seiner Seite, nimmt ihm die Zügel aus der Hand, reicht sie an ihre Schwester weiter und zieht ihn dann sanft, aber unnachgiebig ans Feuer, kräftig unterstützt von ihrem pelzigen weißen Freund, der vermutlich versucht hätte, ihn mit seinem dicken Schädel mit den langen Pinselohren vorwärts zu schieben,  wäre er nicht freiwillig mitgegangen. Sie hätten ihn beide (und auch alle drei) nicht einen Sekhel von der Stelle rühren können, hätte er sich ernsthaft dagegen gewehrt, aber was immer dieses winzige, sommersprossige Mädchen mit dem breiten Mund und den Rehkitzaugen mit dem Teil seines Hirns angestellt haben mag, der normalerweise etwas gegen Bevormundung einzuwenden hat, er fügt sich, und das auch noch eher leicht belustigt, als wirklich zähneknirschend. Also schön. Dann eben erst meine Schulter. Mistress Grau schließt sich ihnen an und leckt sich das Mäulchen, was Colevar zu einem strengen Blick und der stummen Frage veranlasst, sie habe doch wohl keines der Hörnchen im Vorbeigehen gefressen, doch die Katze ignoriert seltsamerweise alles kleinere Nagegetier, das überall in diesem noch seltsameren Lager herum hüpft, als habe ihre neue Freundin und Gönnerin ein wortloses Verbot ausgesprochen. >Wenn dein Essen so schlecht ist, wie du sagst, frage ich mich wie du bis jetzt ueberlebt hast. Du duerftest Doerrfleisch und trockenes Brot ziemlich satt sein,< tönt es hinter ihnen, während Lía ihm bedeutet sich zu setzen und für einen Herzschlag bringt ihn die plötzliche Nähe der jungen Frau vor ihm aus dem Konzept. Sie riecht nach Wald, nach zerdrücktem Moos, Humus und Laub, und auch nach verschiedenen Kräutern von ihrem nächtlichen Ausflug unter einen Baumstamm, aber da ist noch etwas, ihr ganz eigener Geruch, zart und süß wie wilde Rosen, aber auch kräftig wie die Erde. Sie hat überhaupt etwas Erdiges an sich, trotz ihrer Mädchenhaftigkeit. Er wirft Lías blinder Schwester an ihren schmalen Schultern - wenn er sitzt und sie steht sind ihre Gesichter tatsächlich fast auf gleicher Höhe - vorbei einen erheiterten Blick zu. Doch noch bevor er ihre Frage beantworten kann, gibt sein Magen ein hörbares Knurren von sich und sie nickt wissend.

>Ich werte das als 'Ja'.< Sie nimmt die Zügel Filidhs behutsam kürzer und tastet sich langsam, aber alles andere als unsicher, zum Kopf des Hengstes vor, ehe sie noch einmal kurz innehält und sich ihm als Calait vorstellt. Dann ist sie fort und führt die Pferde an den Rand des Lagers, um sie dort an seiner Stelle zu versorgen. Calait. 'Gesungen'. Colevar erinnert sich daran, dass es der Gesang einer Frau gewesen war, der ihn aus den Bergen auf ihre Spur geführt hatte und fragt sich, ob sie wohl weiß, was ihr Name auf Elbisch bedeutet. Vermutlich nicht. Auch Lía lässt ihn kurz allein, um irgendetwas von der anderen Seite des kleinen Wagens zu holen, wahrscheinlich sauberes Wasser und Verbandszeug. Er wagt es nicht zu hoffen tatsächlich im Lager einer Frau gelandet zu sein, die wirklich etwas von Heilkunst versteht, aber gereinigt werden muss die Wunde auf jeden Fall und genau das scheint sie vorzuhaben, also wartet er geduldig und schweigend, bis sie wieder bei ihm ist. Die Wärme des Feuers hüllt ihn angenehm ein und allmählich sickert die Erschöpfung eines harten Rittes durch seine allgegenwärtige Selbstbeherrschung ebenso wie seine eiserne Disziplin. Er ist müde und er hat Schmerzen, außerdem gibt sein Magen allmählich Geräusche von sich wie ein verärgerter Höhlenbär. Und er würde sich gleich foltern lassen, noch bevor er etwas zwischen die Zähne bekäme. Vielleicht ist das auch besser so. Ich glaube nicht, dass sie sehr begeistert wäre, wenn du dich auf ihren Rock übergibst… Bewaffnet mit einer Schüssel voll Wasser, einem Mörser und Kräutern kehrt Lía zu ihm zurück und kniet sich vor ihn, um ihn im Licht des Feuers noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen, doch sie sieht ihm geradewegs in die Augen, als sie sich ein wenig aufrichtet, die linke auf seine Brust legt und mit der rechten dann seinen ganzen Arm und die grotesk angeschwollene Schulter betastet… und was er in ihren Augen lesen kann, lässt seine eigenen eine Spur dunkler werden. Sie scheint keine Angst vor ihm zu haben - dazu hat er ihr auch keinen Grund gegeben, aber ganz geheuer scheint er ihr auch nicht zu sein, also lächelt er so sanft und so harmlos wie er nur irgend kann. Auch wenn er schon Zeit seines Lebens in den allermeisten Angelegenheiten so seine Schwierigkeiten mit dem hatte, was man gemeinhin als anständiges Benehmen bezeichnet, es gibt ein paar Regeln, an die er sich unverbrüchlich hält. Er stiehlt nicht, er schändet keine Frauen und er tritt niemanden, der bereits am Boden liegt. Außerdem ersäuft er keine Welpen, bricht keine Eide, belügt niemals das Pferd und tötet keine Kinder. Jetzt gesellt sich offenbar eine Weitere dazu, die das Potential hat, ebenfalls ziemlich unverbrüchlich zu werden: Erschreck keine Rehkitze.  

Lías Frage reißt ihn aus seinen Gedanken. Ihre Stimme ist ebenfalls dunkel, aber nicht ganz so rauchig und eindringlich wie die ihrer Schwester Calait, und sie klingt in seinen Ohren tatsächlich jünger, obwohl er sicher ist, dass die beiden Sorisgesegnete sind und gleich nacheinander zur Welt gekommen sein müssen. >Ich muss mir das genauer ansehen; würdet Ihr euch vielleicht oben frei machen?< Er fängt ihren Blick ein und für einen Moment hält er ihn fest in seinem, während sein Lächeln sich vertieft und verändert. Es büßt nichts von seiner Freundlichkeit ein, wohl aber etwas von seiner brüderlichen Harmlosigkeit. "Du und Colevar genügen völlig. Du musst mich wirklich nicht mit "Ihr" anreden, es sei denn, du willst unbedingt." Er steht auf und schält sich seufzend aus ledernen Wams und dem Hemd, wohl wissend, was sie zu Gesicht bekommen würde - einen sehr großen, sehr kräftigen Mann mit einer Haut, die alles andere als unversehrt ist. Ein Geflecht dünner weißer Stränge läuft kreuz und quer über seine Schultern und er hat auch sonst viele Narben, auch wenn die meisten verblasst und gut verheilt sind, und bisher keine von ihnen mehr Spuren als helle Linien auf sonnendunkler Haut hinterlassen hat.  Er hat weit mehr als die Hälfte seines Lebens als Krieger verbracht und in zwei Kriegen gekämpft - und das sieht man ihm auch an. Abgesehen davon wären da auch noch die Ringe, vier an der Zahl, die sich eingebrannt und ineinandergreifend in einer Kette von seiner Ellenbogenbeuge bis etwa drei Fingerbreit vor dem Handgelenk ziehen. Als er sich wieder setzt, damit sie seine Schulter versorgen kann, sieht er ihre Hände im Schein des Feuers, verbrannt und überzogen mit einem wirren Muster, rot und weiß und seltsam leuchtend auf dieser sonst so makellosen honigfarbenen Haut. Er sagt kein Wort, nur sein Blick wird fragend, doch wie es einfach ihre Art zu sein scheint, verschwendet das Mädchen keinen Gedanken an sich selbst, nicht mit einem Verwundeten vor der Nase, den es zu versorgen gilt  - das tut sie wohl ohnehin viel zu selten. Geduldig wartet er, während sie sich schnuppernd und mit prüfendem Blick über seine Schulter beugt, doch als sie beginnt, mit ihren kühlen kleinen Fingern das ganze Ausmaß des Schadens abzutasten, schließt er die Augen. Der Schmerz ist in den letzten Wochen und Monaten sein ständiger Begleiter geworden, und er ist erträglich, so lange niemand seine Schulter berührt und er selbst keine unbedachte Bewegung macht. Jetzt stechen tausend glühende Nadeln in seinen Arm, obwohl sie unendlich vorsichtig und behutsam mit ihm umgeht.

>Das sieht nicht gut aus…< murmelt sie so dicht neben seinem linken Ohr, dass er die Wärme ihres Atems auf seiner Haut spüren kann und er antwortet mit einem belustigten "Ach?" das leicht gequält gerät, weil ihre Finger gerade in sein knallrotes, schorfiges Fleisch drücken, wohl um zu sehen, ob der größte der matschigen Eiterherde um und in der Wunde nicht von allein aufgehen möchte. Er möchte nicht. Zu Colevars größter Verwunderung reißt Lía jedoch zunächst einmal ein Stück Stoff aus ihrem Rock, knüllt es zusammen und reicht es ihm mit einem vielsagenden, wenn auch mitfühlenden Lächeln. "Oh, hervorragend. Flickenrock", erwidert er schwach und spürt allmählich, wie der Schmerz in seiner Schulter von einem pochenden Stechen, das aufflammt und wieder verblasst, zu einem heulenden Stakkato wird. Doch er hatte seinen Humor bisher nicht verloren und er würde auch jetzt nicht damit anfangen. "Wollte ich schon immer mal versuchen, Mädchen. Vielleicht… mit… einer Sauce aus…"
>Jetzt!!<
"…aus…" Sein Atem, stoßweise und schwer, ist das einzige Geräusch neben dem Prasseln des Feuers, als sie die Wunde mit einer Klinge öffnet und dann soviel Eiter herausquetscht wie sie nur kann. Eine Wolke bestialischen Gestanks steigt auf, doch sie verzieht keine Miene, sondern reinigt seine Wunde ruhig und geschickt. Colevar bekommt davon kaum etwas mit und das erste, das er wieder halbwegs bewusst wahrnimmt, sind ihre Finger auf seiner Haut, die geduldig die Muskeln über seinem linken Schulterbein kneten - ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, weil das Mädchen so kleine Hände hat, dass sie seinen Kappenmuskel überhaupt nicht umfassen kann.
Als sie nach einer Weile ein paar Worte an ihn richtet, klingt sie so geknickt, als habe ihr die ganze Prozedur weit mehr Schmerzen verursacht, als ihm. >Verzeiht, aber würde ich langsam vorgehen würde ich den Schmerz nur verlängern; so entzündet wie Eure Verletzung ist…immerhin kein Wundbrand…< Sie ihrzt ihn immer noch, obwohl er halbnackt vor ihr sitzt und sich freiwillig und ganz artig von ihr quälen lässt, ihre Finger in seinem Fleisch und allen möglichen übel riechenden Körperflüssigkeiten herumgestochert haben und er sich bei all dem noch nicht einmal ein Stück von ihrem Rock in den Mund gestopft hat. "Keine Ursache", bringt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Du musst dich wirklich nicht entschuldigen, dass du meine Wunde versorgst. Tu einfach, was du tun musst."

Als erstes wischt sie über seine Stirn, sanft und kühl, als wäre er fünf Jahre alt und läge mit Fieber im Bett, dann reinigt sie die Wunde noch einmal und schneidet eine Menge wilden, toten Fleisches von den zerfetzten Wundrändern, nur um anschließend eine ziemlich streng riechend Paste darauf zu verteilen. >Der Schmerz wird bald nachlassen…aber Ihr solltet den Arm ruhig halten,< ermahnt sie ihn streng, doch ihre Stimme klingt mehr als besorgt, als sie nach einem Moment noch hinzufügt, er solle bitte darauf achten, die Wunde sauber zu halten. "Ich werde mein bestes tun, Mädchen. Meinen Dank." Ruhig halten wird er den Arm nicht können, schon gar nicht längere Zeit - er muss weiter und nach Hause und das so rasch wie irgend möglich. Sie sieht ihn an, aber diesmal erwidert er ihren Blick nicht und sieht so weder die Anteilnahme noch die Sanftheit in ihren Augen, er starrt nur ins Feuer, die Zähne so fest aufeinander gepresst, dass die Muskeln über seinen Wangenknochen spielen. Sie macht sich noch irgendwie an seiner Schulter zu schaffen, doch es tut kaum weh, also achtet er nur halb darauf, bis er aus den Augenwinkeln wahrnimmt, was sie da behutsam mit Zeigefinger und Daumen aus einer kleinen Tonschale pickt. Dann verrenkt er sich schier den Hals um einen Blick auf seine Schulter zu werfen. "Was machst du?" Sie erklärt ihm seelenruhig, sie stecke Maden zwischen die Wundränder, das habe sie von einer weisen alten Frau gelernt, die sehr viel von der Heilkunst verstehe. "Maden?" Echot er fassungslos und sie nickt, ganz auf ihre Arbeit konzentriert, während ein kleiner weißer Wurm nach dem anderen auf seinem Arm… nein, in seinem Arm landet. "Ah… und was genau wird sie davon abhalten, meinen ganzen äh… Arm zu fressen?" will er wissen und bemüht sich um Gelassenheit, was jedoch gründlich misslingt. "Sie ahm… sie breiten sich doch aus?"
Lía versichert ihm geduldig, dass das nicht der Fall sei und dass seine neuen Freunde, die Maden, nur abgestorbenes Gewebe fressen würden. Hätte er genug davon, um sie zu ernähren, bis sie sich verpuppen würden, würden sie das tun und einfach davonfliegen. Andernfalls würden sie hungrig weiterziehen und sich etwas Neues suchen. Colevar, mittlerweile ziemlich blass um die Nase, bringt immerhin ein schwaches Nicken zustande. Wie beruhigend. Ein Festmahl für Maden, wer will das nicht sein? "Ah. Schön. Maden. Werden sie lange genug bleiben, dass ich ihnen Namen geben muss?"

Sie bleibt ihm die Antwort schuldig, aber er glaubt immerhin so etwas wie Erheiterung in ihren Augen zu sehen, als sie ihre Sachen zusammenpackt und anschließend seine Schulter dick und weich gepolstert verbindet. Sie reicht ihm sein Hemd und er schlüpft wieder hinein, kommt jedoch nicht dazu, aufzustehen, um nach den Pferden zu sehen oder sich auch nur die Beine zu vertreten, denn kaum hat Lía sich von ihm abgewandt, wird er sowohl von dem weißen Luchs, als auch von Mistress Grau belagert. Er rutscht von dem alten Baumstrunk, auf dem er gesessen war, so dass er sich mit dem Rücken daran lehnen kann und streckt Beine aus - zwischen ihm und dem Feuer ist gerade soviel Platz, dass seine Stiefelsohlen nicht anbrennen. Der Luchs, der anscheinend die ganze Zeit an seiner Seite gewesen war, rollt sich neben ihm zusammen und bettet den pelzigen Kopf auf seine Knie. >Er scheint Euch zu mögen. Er ist sonst nie so zutraulich.<  
"Vielleicht ist es ansteckend", erwidert er und lächelt, aber diesmal gilt es der Katze, die sich an seine freie Seite schmiegt und dem alten Valkoinen Ilves, der auf seinen Beinen döst. "Neuerdings laufen mir dauernd irgendwelche Katzen zu."
Calait ist mit dem Essen fertig, als Lía zurückkehrt, die blutigen Finger wieder sauber und sich zu seiner Überraschung nicht neben ihre Schwester, sondern an seine Seite setzt, so dass sie den Luchs zwischen sich haben. Er bekommt eine steinerne Platte mit Fisch und gerösteten Käsebrotscheiben zugeschoben, deren Duft allein seinen Magen schon wieder knurren lässt und die er restlos vertilgt, dazu einen Wasserschlauch und anschließend einen Becher, dessen branntweinartiger Inhalt einen Duft verströmt, der überwältigend scharf und klar in seine Nase steigt. >Wir nennen das Gebraeu 'Feuerkehle'.< erklärt Calait mit einem Lächeln, das zu gleichen Teilen schalkhaft und warm vor Erinnerungen ist. >Unser Onkel brennt das Zeug seit Jahren und der Name spricht fuer sich. Zu viel davon und du hoerst die Seharim singen, aber im richtigen Maß waermt es die Knochen und schenkt einen gesunden, tiefen Schlaf. Trink es in kleinen Schlucken, um den Zimt herauszuschmecken.< "Aye? " Er nippt vorsichtig an seinem Becher und spürt augenblicklich sein Herz, während die Wärme, die seine Kehle hinab sickert in seinem Magen schlagartig zu Hitze wird. "Sehr gut." Er würde sich heute Nacht sicher nicht betrinken und beschließt im Stillen, es bei einem einzigen Schluck zu belassen, obwohl das Zeug höllisch gut schmeckt und er nichts lieber täte, als sich bis zur Besinnungslosigkeit damit  zu betäuben. Calait schiebt sich vorsichtig an ihm vorbei, um neben ihre Schwester zu gelangen, die schon beinahe im Sitzen schläft, und er hört sie leise mit ihr flüstern. Ihre Worte klingen fast vertraut, obwohl sie die Sprache wechselt, doch es ist dem Tamaraeg, der alten Sprache der Herzlande, nicht ähnlich genug, als dass er alles verstehen könnte. Dennoch wendet er den Blick ab, sieht in die Flammen und beugt sich vor um ein paar Äste zurück in die Glut zu schieben. Als er sich wieder zurücklehnt, liegt Lías Kopf im Schoss ihrer Schwester und Calait glättet behutsam ihre dunklen Locken mit den Fingern, während eins nach dem anderen der kleineren Tiere näher kommt, um sich irgendwo einen Schlafplatz möglichst dicht am Körper einer der beiden Frauen zu suchen, als wollten sie sie alle auf einmal wärmen.

Calait beginnt zu singen, ein altes und melancholisches Abendlied, das er schon oft gehört hat, wenn auch nur selten von einer so schönen Stimme wie der ihren, doch sie singt nicht lange. "Du hast gelogen," stellt er leise fest, klingt jedoch überhaupt nicht vorwurfsvoll. "Du hast gesagt man müsse einen ganzen Becher trinken, um die Seharim singen zu hören." Ob das Kompliment sie freut oder nicht, es ist die Wahrheit, sie hat die Stimme einer Bardin, doch Calait lächelt nur. >Eingeschlafen,< verkündet sie dann und Colevar wirft einen Blick auf Lías völlig entspanntes Gesicht. Ihre langen Wimpern werfen Schatten auf die hohen Wangenknochen und selbst jetzt liegt in den Mundwinkeln ein beständiges Lächeln, als seien selbst ihre Träume voller Licht und Farbe. Nicht zum ersten Mal an diesem denkwürdigen Abend fragt er sich, wie bei allen Göttern man in einer Welt wie der ihren nur älter als fünf Jahre sein und dennoch ein solches Gemüt besitzen kann. Calaits rauchige Stimme lässt ihn aufblicken und ihre Frage überrascht ihn nicht wirklich. Sie muss schließlich misstrauisch für zwei sein. >Und jetzt moechte ich doch wissen, ob unsere Hilfsbereitschaft uns Aerger einbringen wird. Oh, und wuerdest du mir noch ein wenig Feuerkehl einschenken? Ich kann mich grad so schlecht von der Stelle ruehren.< Colevar will schon den Mund öffnen, um ihr zu antworten, dass er schließlich nicht um ihre Hilfe gebeten hatte und ihr Lager noch nicht einmal betreten hätte, wäre ihm da nicht ein gewisses Mädchen mitten in der Nacht über den Weg gelaufen und hätte ihn schlicht genötigt, mit ihr zu kommen, als ihm einfällt, dass Filidh in Hörweite steht. Nie das Pferd belügen. Er nimmt ihren Becher, füllt ihn und reicht ihn ihr zurück. Es wäre keine Lüge gewesen, verteidigt er sich vor sich selbst. Ja. Aber auch nicht ganz die Wahrheit. Ein weiterer Blick auf das Gesicht der Schlafenden genügt. Yffern! "Möglicherweise," hört er sich selbst sagen. "Ich halte es nicht für wahrscheinlich, jedenfalls nicht, wenn ihr nicht im Morgengrauen beschließen solltet, umzukehren und nach Norden zu ziehen. Aber ich kann es auch nicht ganz ausschließen. Wenn es anders kommt, hätte der… Ärger euch allerdings auch ganz unabhängig von mir gefunden, Calait. Und es wäre vollkommen gleich gewesen, ob ihr mir geholfen hättet oder nicht. Diese Straßen sind alles andere als sicher, aber das weißt du, nehme ich an. Mach dir nicht mehr Sorgen, als du musst. Ich werde nicht zulassen, dass euch etwas geschieht, das in irgendeiner Weise mit mir zu tun hat. Genügt dir das als Antwort?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 01. Okt. 2009, 20:12 Uhr
Das Kompliment kommt unerwartet und freut sie sehr, auch wenn es ihr nicht anzusehen ist. Sie weiss um die Schoenheit und die Wirkung ihrer Stimme und ist es sich gewohnt dafuer gelobt zu werden, aber von Colevar – oder besser gesagt, einem voellig Fremden mitten in der Wildnis - hat sie dergleich nicht erwartet. Auf ihre Frage hin folgt allerdings ersteinmal ausgedehntes Schweigen. Sie hoert das Schaben von Stoff auf Erde, spuert, wie er ihr den Becher aus den Fingern nimmt, lauscht dem leisen Gluckern des Branntweins und nickt dankend, als Colevar ihr das Gebraeu wieder reicht. Geduldig wartet sie auf eine Antwort und nimmt derweil einen grossen Schluck. Hitze explodiert in ihrer Kehle und kurzeitig muss sie sich zusammenreissen, nicht zu husten, bis das Erstickungsgefuehl nachlaesst und die scharfe Zimtnote ihren Mund und wohlige Waerme ihre Brust erfuellt. Colevar braucht derweil viel zu lange fuer seine Antwort, als das sie ihm ein “Nein” noch abkaufen wuerde, sie nimmt es ihm allerdings nicht uebel, dass er gruendlich darueber nachdenkt, was er genau sagen moechte und sie haette ihn unterbrochen, waeren es ihrer Meinung nach zu viele Informationen gewesen. Neugierde ist der Katze Tod. Mit einer Schwester wie Lía weiss Calait genau wovon sie spricht, mal ganz unabhaengig davon, dass ihre eigene Nase sie frueher auch oft genug in verzwickte Situationen gebracht hat. Bis zu dem Moment, wo sie ihre Schwester dazu gedraengt hatte, eine Hoehle zu erforschen und sie ploetzlich in ihrer einsamen Zweisamkeit einem ausgewachsenen, in seinem Winterschlaf gestoerten Branbaeren gegenueber gestanden hatten.
"Möglicherweise," reisst Colevar sie aus ihren Erinnerungen und einen Herzschlag lang fragt sie sich, ob sie ihm glauben kann oder nicht. Bis er fortfaehrt und ihr naeher auslegt, was er damit meint. Ein-, zweimal moechte sie den Mund oeffnen und etwas dazwischenwerfen, belaesst es aber dabei hier und da zu nicken oder leicht den Kopf zu schuetteln. Als er geendet hat, denkt sie noch einmal ueber das Gesagte nach und unwillkuerlich schliessen sich ihre Finger etwas fester um die schmale Schulter ihrer Schwester. Lía gibt einen leisen Unmutslaut von sich, wie eine kleine, unausgeschlafene Katze die nach Futter maunzt, wacht aber zum Glueck nicht auf, sondern vergraebt ihr Gesicht nur noch etwas fester in Calaits weicher Wollweste. Im naechsten Augenblick landet Louan mit einem grossen Satz an ihrer Seite, als habe er die kurzzeitige Unruhe seines Maedchens gespuert, und in vaeterlicher Manier vergraebt er seine grosse Nase in ihrem Haar und schnauft sanft, als wolle er ihr einen Kuss geben. Dann laesst er sich neben ihr einfach auf alle viere sinken und legt den Kopf zwischen die Vorderpfoten, den goldgluehenden Blick auf Lías Gesicht gerichtet.
Schmunzelnd zieht Calait ihre Hand zurueck und lehnt sich nach hinten, den Kopf in den Nacken gelegt und das Gesicht zum Himmel gerichtet. Wenn alles stimmt, was du sagst, dann ist dein Verfolger entweder sehr grausam, oder sehr, sehr wuetend. Oder beides. Guetige Ahnen, musste Lía unbedingt einen verletzten Krieger auf der Flucht auflesen? Haette es nicht auch ein spassiger Schaustellergeselle, ein schmucker Bauernsknecht oder ein netter Waldlaeufer sein koennen, denen nichts im Nacken sitzt, ausser die Lust auf einen feuchtfroehlichen, ausgelassenen Abend? Na gut. Colevar ist spassig und nett. Ausserdem verletzt, erschoepft und hundemuede.
“Ja”, erwidert sie schliesslich schlicht, um nach einem Augenblick des Zoegerns mit Bedacht hinzuzufuegen: “Es war kein Vowurf, Colevar. Mir ist sehr wohl bewusst, dass du nicht um unsere Gastfreundschaft gebeten hast.” Gezwungen waere das richtige Wort. “Umso dankbarer bin ich dir, dass du sie angenommen hast, sonst waeren wir dem Aerger moeglicherweise ahnungslos in die Arme gelaufen. Oder Lía haette ihn eingesammelt und mit ins Lager geschleppt, wie auch dich.” Der weiche Zug um ihren Mund straft der harschen Worte Luegen und mit einem gewisperten: “Nicht wahr, mein Herz?”, streicht sie Lía eine einzelne, verirrte Straehne aus dem Gesicht. Ihre Schwester ruehrt sich nicht, nur ihre Schulter hebt und senkt sich im festen Rythmus ihrer Atemzuege. Calait empfindet es als ein sehr beruhigendes Geraeusch, wie auch das Klopfen eines gesunden, starken Herzens, das silberhelle Plaetschern einer kleinen Quelle, oder das leichte Gefluester einer lauen Sommerbriese.
“In der Annahme, dass du in Richtung des Frostwegs unterwegs bist, schlagen Lía und ich morgen einen kleinen Bogen gen Westen. Einen Siebentag  mehr oder weniger in unserer Heimat kann uns nicht schaden und es duerfte deinen Aerger davon abhalten, uns einen Besuch abzustatten.” Hoffe ich. Doch diesen Gedanken behaelt sie wohlweislich fuer sich, denn der Zweifel ist ein sehr unsteter und gefaehrlicher Gefaehrte, der sich rasch in unsinnige Schreckensvorstellungen und quaelende Alptraeume verwandeln kann. Stattdessen leert sie den Becher in einem Zug, schuettelt sich, weil der Alkohol ihren Gaumen verbrennt, und grinst dann breit: “Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umstaenden kennengelernt haben. Da spuert man in den tiefsten Tiefen der Immerfroster Waelder den einzigen humorvollen und freundlichen”, bewusst vermeidet sie das Wort anstaendig, denn ein Unschuldslamm ist er wohl kaum, “Mann weit und breit auf, und der ist natuerlich angeschlagen, zu muede fuer einen guten Schluck Alkohol und schleift einen ganzen Rattenschwanz von Problemen hinter sich her. Meine Ahnen hatten schon immer Sinn fuer Schabernack.”

Es ist merklich kuehler geworden, seit sie sich hingesetzt haben und ueber das Essen hergefallen sind und der Mond ist ein ganzes Stueck gewandert. Sein klares, kaltes Licht taucht den Wald in einen schummrigen Nebel silberschwarzer Schatten und selbst die lodernden Flammen des Feuers koennen nur wenig gegen die wachsende Dunkelheit ausrichten. Die Nacht holt sich, was ihr gehoert und ihre Geschoepfe erwachen zum Leben. Das Heulen eines einsamen Wolfes hallt ueber die schweigenden Baumkronen hinweg, begleitet von dem Schuhuhen einer Eule. Das Vi-Vi den Ruf als Einladung sieht, seine eigenen, noch reichlich unbeholfenen Gesangskuenste zu erproben, quittiert Calait mit einem durch und durch gluecklichen Laecheln, denn… es ist gut so wie es ist. Hier, jetzt, mit ihrer Schwester und diesem Fremden, an dem Lía – und auch Louan - einen Narren gefressen hat. Dabei spielt das `Morgen` ueberhaupt keine Rolle.
“Ich denke es wird Zeit, dass wir uns schlafen legen.” Unabhaengig davon ob Colevar mit einem Nicken zustimmt, oder doch noch lieber ein wenig seinen eigenen Gedanken nachhaengen moechte, verscheucht Calait die Fichtenmarderdame von Lías Koerper und schiebt das Zwerghaeschen ein Stueck zur Seite, um sich erheben zu koennen. Die Bewegung laesst ihre Schwester aufschrecken und hastig legt Calait ihr beruhigend eine Hand auf den Arm: “Ruhig ma kalon, es ist alles gut, es ist nur spaet und mir muessen morgen frueh weiter.” Sie laesst es gar nicht erst so weit kommen, dass Lía richtig wach wird und versteht, was sie damit eigentlich meint, sondern schiebt ihre Schwester sanft, aber bestimmt in Richtung des Wagens. Lía laesst alles wortlos mit sich geschehen, nuschelt noch ein “Gute Nacht” und ist auch schon verschwunden. Calait indes sorgt dafuer, dass das ganze Kleingetier seinen Platz findet, ohne ihr eigenes Lager in Beschlag zu nehmen, zupft die Decken und den Pelz ueber ihrer Schwester zurecht, wirft sich den Zopf nach vorne ueber die Schulter und klettert mit ihrem weissen Valkoinen Ilves Pelz und einer weiteren Decke bewaffnet wieder aus dem Wageninneren heraus.
Weil sie nicht weiss, ob Colevar sich in der Zwischenzeit erhoben hat, oder immer noch sitzt, er sich nicht ruehrt und sein Atem ueber das Knistern der brennenden Scheite hinaus nicht zu hoeren ist, fragt sie leise: “Colevar?” Irgendwo hinter ihr, dort wo sie sein Gepaeck abgeladen hatte, erklingt gedaempft seine Stimme und streicht als rauer, aber nicht unangenehmer Schauer ueber ihren Nacken. Eine Erinnerung flammt in ihr auf und der warme Schatten alter Zeiten schlingt quaelend liebevoll die Arme um ihre Schultern. Fast ist sie geneigt sich in der wahnwitzigen Vorstellung zu verlieren, dass nicht Colevar, sondern… Hoer gefaelligst sofort auf dich in Selbstmitleid zu baden. Es war schliesslich ganz alleine deine Schuld, dass es so weit gekommen ist. Es ist eine bittere Wahrheit und als sie hoert, wie Colevar naeher tritt wendet sie ihr Gesicht ab. “Hier”, haucht sie und stolpert ueber das Zittern in ihrer eigenen Stimme. Gute Geister, jetzt reiss dich endlich zusammen, sonst glaubt Colevar noch, du haettest nicht mehr alle Kruege im Schrank!
“Hier”, wiederholt sie mit fester Stimme und findet nach einem weiteren Moment zu ihrem Laecheln zurueck, auch ist es von Sehnsucht und Wehmut gleichermassen erfuellt: “Mach es dir wenigstens fuer eine Nacht so bequem wie moeglich.” Damit drueckt sie ihm den Pelz und die Decke aus dicker Schneeschafwolle gegen die Brust, bevor sie sich etwas abrupt abwendet und daran macht das Lager aufzuraeumen, beziehungsweise das Chaos, das Lías Wundversorgung und ihre Kocherei hinterlassen haben, zu beseitigen. Sie packt schmutziges, blutiges und in stinkenden Eiter getraenktes Linnen in einen Sack, spuelt die Schieferplatte, die Holzteller und den Kupferkessel, fuettert Vi-Vi mit vorgekauten, rohen Fleischstueckchen und in Wasser aufgeweichtem Brot und holt frisches Wasser fuer den Morgen. Ihre Bewegungen sind langsam und bewusst und es dauert geraume Zeit, bis sie mit allem fertig ist, aber sie schafft es ohne ein einziges Missgeschick. Um Colevar nicht beim Einschlafen zu stoeren – und weil es ihr, aller Umstaende zum Trotz, nicht wirklich schicklich erscheint, sich vor einem fremden Mann nackt auszuziehen, selbst wenn dieser der fraulichen Anatomie sehr wahrscheinlich alles andere als unkundig ist und ihre eigenen Schamgefuehle sich auf ein Minimum beschraenken – zieht sie sich hinter den Wagen, vor den Kutschbock zurueck, um sich ihrer Kleidung zu entledigen und das alte, ausgeleierte Hemd ueberzuziehen. Baren Fusses tastet sie sich dem Wagenrand entlang und krabbelt mit einem leisen: “Gute Nacht”, neben Lía unter die Decke. Lía dreht sich prompt zu ihr um und schiebt ihre warmen Fuesse zwischen deren kalte. “Gute Nacht, ma karol”, brummt Calait gegen Lías Stirn und schlingt einen Arm um den schmalen, zierlichen Koerper. Doch wie ueblich dauert es, bevor der Schlaf sie in sein Reich holt und waehrend sie darauf wartet, wandern ihre Gedanken zu dem grossen Mann, der vor ihrem Wagen neben dem Feuer auf dem Boden ruht und der vielleicht schon bald sterben wird, weil sein Verfolger ihn einholt oder die Wunde ihn dahinrafft.
“Moegen die Geister dich beschuetzen, Colevar.”

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 01. Okt. 2009, 21:25 Uhr
Sorgsam breitet sie alles griffbereit neben sich aus bevor sie sich dann wieder Colevar zuwendet um sich um dessen Verletzung zu kümmern. Unendlich behutsam tasten ihre flinken Finger über seinen Arm, völlig auf ihre Arbeit konzentriert bemerkt sie Colevars Blick zuerst gar nicht; erst als sie sich ein wenig aufrichtet wird sie sich dessen gewahr. Sein warmes Lächeln genügt damit ein strahlendes Lächeln ihre Züge erhellt und ein erfreutes Funkeln in ihre Augen tritt. Einen Herzschlag verharrt sie in ihrer Position und sieht ihn einfach nur schweigend an, bevor sie dann wieder die Arbeit aufnimmt; das Strahlen immer noch in den Augen. Erneut gleiten ihre Finger über die Schulter ihres Patienten, allerdings dauert es nicht lange bevor sie wieder aufblickt und ihn bittet sein Hemd auszuziehen. Colevar gelingt es ohne weiteres ihren Blick einzufangen und ihn auch zu halten. Vermutlich wäre ihm das auch weiterhin gelungen wäre nicht eine leichte Veränderung mit ihm vorgegangen. Etwas in seinen Augen und seinem Lächeln erlischt und macht etwas anderem Platz…nichts was sie wirklich geängstigt hätte, aber es verwirrt und verunsichert sie zutiefst weshalb sich Lía beeilt den Blick zu senken und auf ihre Knie zu starren.
"Du und Colevar genügen völlig. Du musst mich wirklich nicht mit "Ihr" anreden, es sei denn, du willst unbedingt."
Ein verlegenes Nicken ist alles was er als Antwort bekommt. Das Rascheln von Stoff und ein mühsam unterdrückter Schmerzenslaut verraten ihr, dass Colevar ihrer Bitte Folge leistet. Erst als er sich wieder hinsetzt schaut sie ihn von unten her scheu an, richtet sich jedoch weiter auf als ihr Blick auf seine breiten Schultern und die imposante Brust fällt. Lía registriert zwar durchaus seine beeindruckende Erscheinung, doch es ist etwas anderes was ihre Aufmerksamkeit so auf sich zieht. Langsam gleitet der Blick aus dunklen Augen über seinen freien Oberkörper und nimmt jede Schramme, jede Wunde jede noch so kleine Narbe wahr. Am längsten verharrt ihr Blick allerdings an dem Narbengeflecht das sich über seine Schultern zieht und ohne es zu merken hebt sie die Hand und berührt die Stelle unendlich sanft, so als befürchte sie die bloße Berührung könnte ihm Schmerzen bereiten. Peitschenhiebe? Sie sagt kein Wort, doch ihr Blick wird sanft und mitfühlend. Hätte sie bisher daran gezweifelt, dass Colevar ein Krieger ist, so wären spätestens jetzt alle Zweifel beseitigt worden. Dass er vermutlich anderen ähnliches, vielleicht sogar schlimmeren angetan hat ist für Lía in diesem Moment ohne Belang. Alles was sie sieht ist seine Geschichte. Eine traurige Geschichte voller Leid und Schmerz…und Verlust. Natürlich hat jeder früher oder später in seinem Leben Verluste zu verbuchen; auch ihre Schwester hat viel verloren und sie selbst ist bisher auch nicht verschont geblieben. Doch das Schicksal anderer trifft die junge Frau mehr als ihr eigenes. Das ist schon immer so gewesen und wird sich vermutlich auch nicht ändern. Während sie ihr Päckchen stillschweigend trägt ohne sich zu beklagen, ist es ihre Umgebung auf die sie so unendlich sensibel reagiert. Obwohl sie spürt, dass er sie ansieht blickt sie nicht auf, sieht ihm nicht in die Augen, sondern widmet sich erneut ihrer Aufgabe.

Sie sprechen kaum während Lía die Wunde versorgt, einerseits weil sie ihre ganze Konzentration auf das Zusammenflicken Colvears richtet, andererseits da Colevar vermutlich seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen muss um nicht in Ohnmacht zu fallen oder sich zu übergeben. Obwohl sie nicht viel übrig hat für falschen Stolz und gespieltes Heldentum wenn es darum geht Verletzte zu versorgen kommt sie nicht umhin ihn für seinen eisernen Willen und seine Selbstkontrolle zu bewundern. Jeder andere hätte vermutlich längst geschrien oder sich vor Pein übergeben; Lía weiß das, schließlich tut sie dies nicht zum ersten Mal. Nachdem sie auch noch das letzte Bisschen Eiter aus der Wunde gequetscht hat wirft sie Colevar einen prüfenden Blick zu. Schweiß perlt auf seiner Stirn und seine gesamte Haltung ist verkrampft und angespannt, seine Lippen presst er so fest zusammen, dass sie kaum mehr als eine dünne blassrosa Linie sind, seine Finger krallen sich tief in das Stück Stoff, das er immer noch in der Hand hält, so als wolle er sich daran festklammern. Keuchend stößt er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, dass sie sich nicht dafür entschuldigen muss, dass sie sich um seine Wunde kümmert.

„Ich werde mein bestes tun, Mädchen. Meinen Dank."
Lías milder Blick wird um einige Nuancen betrübter bei diesen Worten. Er hat es schöner formuliert, aber sie versteht durchaus was Colevar ihr zwischen den Zeilen zu verstehen gibt. Es ist nicht die Tatsache, dass er ihren Rat nicht befolgen wird der sie so trifft, es sind die Folgen die es haben könnte die sie ängstigen. Lía mag diesen Mann nicht kennen, doch der Gedanke daran, dass ihm etwas zustößt lässt etwas tief in drin klirrend zu Bruch gehen. Seine Antwort ist deutlich und macht ihr bewusst, dass sie ganz egal was sie sagt bei ihm nichts erreichen wird. Eigentlich erstaunt es sie nicht mal sonderlich, so gehetzt und erschöpft wie ihr Gegenüber aussieht kann er es sich vermutlich einfach nicht leisten sich lange mit seiner Verletzung zu beschäftigen…Ob ihm wohl bewusst ist, dass seine Verletzung ihm ebenso zusetzen kann wie das was auch immer ihm da auf den Fersen ist?

"Was machst du?"
Ohne auch nur einen Moment innezuhalten erklärt Lía ihm den Vorgang. Sie erzählt ihm von Loana Mathé und wie sie bei ihr die Heilkunst erlernt hat. „Die Maden fressen das abgestorbene Gewebe“, schließt sie ihre Erläuterung und fährt fort mir ihrer Behandlung.
"Maden?" Lía nickt immer noch auf ihre Arbeit konzentriert, kann allerdings ein amüsiertes Lächeln nicht ganz unterdrücken. Mit den Maden hat seine Fassung scheinbar ihre Grenzen erreicht, denn er wirkt alles andere als beruhigt und je mehr Maden sie in seine Wunde schiebt umso blasser wird Colevar.
"Ah. Schön. Maden. Werden sie lange genug bleiben, dass ich ihnen Namen geben muss?"
Bei diesen Worten blitzt es belustigt in ihren Augen auf, aber sie sagt nichts dazu, sondern macht sich daran ihre Sachen wegzupacken, damit sie endlich essen können bevor Colevar ihnen vielleicht doch noch verhungert. Sie beobachtet liebevoll wie Louan sich an den Besucher kuschelt, als wäre er ein alter, treuer Freund.
"Vielleicht ist es ansteckend. Neuerdings laufen mir dauernd irgendwelche Katzen zu."
Fast unmerklich schüttelt sie den Kopf und blickt lächelnd auf Colevar hinab.
„Tiere laufen einem niemals einfach zu; sie finden einen. Wenn sie zu dir kommen, dann haben sie einen Grund“, erklärt sie ruhig und bedient sich zum ersten Mal des vertraulichen Dus.

Sobald sie sitzt und die angenehme Wärme des Feuers sie einzulullen beginnt schleicht sich die Müdigkeit in ihre Knochen und die Anstrengungen des Tages und die vorherige viel zu kurze Nacht, die sie damit verbracht hat mit ihren pelzigen Freunden durch die Dunkelheit zu streunen, fordern ihren Tribut. Ein erschöpftes Lächeln ist alles was sie noch zustande bringt als Calait sich an Colevar vorbeizwängt um neben sie zu gelangen und sie sanft aber bestimmt daran hindert das Lager aufzuräumen. Kaum hat ihr Kopf den Schoß ihrer großen Schwester erreicht beginnt sie auch schon langsam einzudämmern und ist schon nach wenigen Zeilen des Schlaflieds ist sie endgültig eingeschlafen, auch wenn sie noch gerne etwas länger dem Gesang ihrer Schwester gelauscht hätte. Louans Kopf ruht immer noch auf Colevars Beinen, doch in dem Moment wo die Lippen seiner Herrin sich lautlos bewegen schnellt er in die Höhe und setzt mit einem mächtigen Satz sowohl über seinen neuen Freund, als auch dessen Katze hinweg und eilt an die Seite seines Schützlings, fast so als habe Lía ihren Freund im Schlaf gerufen.

Das Feuer ist fast gänzlich heruntergebrannt als sie durch Calaits plötzliche Bewegung aus dem Reich der Träume gerissen wird. Es dauert jedoch eine Weile bis es Lía gelingt die müden Augen zu öffnen und das erste was sie erblickt ist Colevars Gesicht, woraufhin ein erschöpftes Lächeln über ihre Züge huscht bevor sie sich dann in die Höhe kämpft. Sie spürt wie Calait ihr einen Arm um die schmalen Schultern legt und das nächste was sie wirklich wahrnimmt ist, dass die Ältere sie in Richtung Schlafplatz schiebt. Lía tapst schlaftrunken auf den Wagen zu und klettert etwas unbeholfen hinein, wo sie sich ohne sich die Mühe zu machen sich auszuziehen oder auch nur die Stiefel abzustreifen in ihre Decke kuschelt und wenige Augenblicke später auch schon wieder eingeschlafen ist.

Als Lía später in der Nacht erwacht hat sich Stille über das Lager gesenkt. Vorsichtig löst sie sich aus Calaits Umarmung und krabbelt zum Wagenrand, wo sie noch einmal kurz innehält und einen Blick über die Schulter zurück auf ihre schlafende Schwester wirft, bevor sie dann lautlos die Plan zurückschlägt und mit einem kurzen Sprint den Rand des Lagers erreicht. Der Fryslâner gibt ein leises Schnauben von sich als Lía ihm zärtlich über den großen Kopf streichelt. Eine ganze Weile steht sie einfach nur da und liebkost das Tier bevor sie ihren Kopf an den des Pferdes legt.
„Achte auf Colevar, ja? Ich weiß er steckt in Schwierigkeiten – lass nicht zu, dass ihm etwas passiert. Lauf so schnell du kannst und bringe ihn in Sicherheit“, ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern als sie in ihrer Muttersprache dem Schimmel ihr Herz auszuschütten beginnt. Sie spürt die feuchten Nüstern die gegen ihre Handflächen stupsen und ein Lächeln legt sich auf ihre Züge. „Guter Junge…“, murmelt sie zufrieden und streicht dem Tier über den Hals. „Weißt du, ich mach mir Sorgen, dass wenn wer auch immer ihn jagt ihn nicht in die Finger bekommt seine Verletzung ihm schwer zusetzen wird. Ich wünschte er würde auf mich hören…“ es folgt ein tiefes Seufzen dann „bewahre ihn vor Schaden, ich verlass mich auf dich Großer“


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 02. Okt. 2009, 19:24 Uhr
Einen Moment schweigt Calait und Colevar betrachtet im flackernden Schein der Flammen ihre schlanken Hände, die den Becher halten und ebenso von Brandnarben überzogen sind wie die ihrer Schwester. Er hat sie längst gesehen, aber nicht danach gefragt... nun, genau genommen hatte er, wenn auch nur mit den Augen, zumindest Lía, doch sie hatte seinen Blick nicht bemerkt, weil sie zu diesem Zeitpunkt viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, mit ihrer plötzlichen Verlegenheit fertig zu werden und sich dann um seine Wunde zu kümmern. Als sie seine Schulter versorgt hatte, hatte er sie für einen Moment wirklich aus der Fassung gebracht und obwohl sich sein neuester Grundsatz - der keine Rehkitze zu verschrecken - bestürzend schnell einen Platz ziemlich weit oben auf seiner Liste unverbrüchlicher Regeln erobert hatte, muss er sich eingestehen, dass es ihm dennoch gefallen hatte. Sie hatte die Augen niedergeschlagen, zu Boden gestarrt und höchst verlegen genickt. Und er hätte schwören können, dass ihr Atem ein wenig schneller gegangen war und sich ihre sommersprossigen Wangen und die Nasenspitze mit einem Hauch Rosa überzogen hatten. Er hatte ziemlich viel Willenskraft aufbringen müssen, um sie nicht behutsam noch ein klein wenig mehr aufzuziehen, nur um zu sehen, wie sie wirklich rot werden oder ihr vielleicht, nur vielleicht, sogar ein atemloses kleines "Oh" entfahren würde. Oh ja, es hatte ihm gefallen. Denk nicht mal dran.
>Ja.< Beantwortet Calait schließlich seine Frage und bewahrt ihn so davor, dass seine Gedanken in wissen die Götter allein welche abstrusen Richtungen abdriften. >Es war kein Vorwurf, Colevar. Mir ist sehr wohl bewusst, dass du nicht um unsere Gastfreundschaft gebeten hast. Umso dankbarer bin ich dir, dass du sie angenommen hast, sonst wären wir dem Ärger möglicherweise ahnungslos in die Arme gelaufen.<
"Lauft ihm bitte auch so nicht in die Arme, aye? Ich meine es Ernst, Calait - mit diesem Ärger wollt ihr nichts zu tun haben," wirft er leise ein. Ihre nächsten Worte allerdings lassen ihm fast das Herz stehen bleiben: >Oder Lía hätte ihn eingesammelt und mit ins Lager geschleppt, wie auch dich.< Eingesammelt? Ins Lager geschleppt?! Götter im Himmel! Er will sich wirklich nicht ausmalen, was geschehen würde, träfe ein Mädchen wie Lía nachts im Wald auf Riku, aber seine allzeit hilfreiche Vorstellungskraft ist schneller als er und lässt sich gerade nicht im Zaum halten. Schlagartig wird die Nacht ringsum ein paar Grad kälter, trotz des hell lodernden Feuers. Zuzutrauen wäre es ihr... Yffern! Er starrt mit mahlenden Kiefern ins Nichts, flucht lautlos in ungefähr fünf Sprachen vor sich hin, ist froh, dass Calait, blind wie sie ist, seinen Gesichtsausdruck in diesem Moment nicht sehen kann und fasst im gleichen Augenblick einen Entschluss. Es ist ein bitterer Entschluss, der ihm nicht schmecken will und ihn viel kosten könnte, aber er ist unumstößlich.

>In der Annahme, dass du in Richtung des Frostwegs unterwegs bist, schlagen Lía und ich morgen einen kleinen Bogen gen Westen. Einen Siebentag  mehr oder weniger in unserer Heimat kann uns nicht schaden und es dürfte deinen Ärger davon abhalten, uns einen Besuch abzustatten.< Einen Moment lang sieht er sie an, versucht abzuschätzen, wie groß ihre Chancen sind und was ihre Worte für ihn bedeuten und nickt dann langsam. "Ich werde tun was ich kann, um... den Ärger hinter mir zu halten. Gelingt mir das nicht, sorge ich dafür, dass er euch nicht erreicht." Mein Wort darauf.
Calait hebt ihren Becher, wie um auf seine Worte zu trinken, kippt den Inhalt hinunter und schüttelt sich wie ein nasses Kätzchen. Dann verzieht ein breites Lächeln ihr Gesicht, das dem ihrer Schwester auf so unheimliche Weise ähnlich und unähnlich zugleich ist. Ähnlich, weil es ein exaktes Abbild ist, und gleichzeitig unähnlich, weil es einen völlig anderen Ausdruck besitzt und eine eigene Geschichte erzählt. >Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben. Da spürt man in den tiefsten Tiefen der Immerfroster Wälder den einzigen humorvollen und freundlichen Mann weit und breit auf, und der ist natürlich angeschlagen, zu müde für einen guten Schluck Alkohol und schleift einen ganzen Rattenschwanz von Problemen hinter sich her. Meine Ahnen hatten schon immer Sinn für Schabernack.< Ihre vollkommen unerwarteten Worte lassen ihn erst erstaunt die Brauen heben und dann leise und ein wenig selbstironisch lachen. "Aye, sehr schade. Da spürt man in den tiefsten Tiefen der Immerfroster Wälder zwei Frauen auf, die ganz allein reisen, sehr freundlich und ein bisschen einsam sind und dann..." Dann ist eine von ihnen ein... eine... ein... nun, eben ein Rehkitz und die andere blind und auch nicht von der Sorte, mit der ein Mann guten Gewissens ein wenig Spaß in den Fellen, aber sonst nichts weiter haben kann. "...hmpf. Sithech liebt mich wirklich." Er nimmt einen tiefen Schluck, doch nur von dem Wasser und eine ganze Weile herrscht Schweigen am Feuer, auch wenn in der nächtlichen Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins allmählich die vertrauten Geräusche der Nacht erwachen. Auch das Lager selbst hat seine ganz eigene Melodie - ab und an knarrt ein Windhauch in den Brettern des alten, schreiend bunten Wagens, die Pferde schnauben und mahlen mit beruhigenden Kaugeräuschen ihr Heu, die Tiere huschen umher oder bewegen sich im Schlaf, die Hunde hecheln und Mistress Grau und der weiße Luchs liefern sich ein behagliches Schnurrduell, die eine auf seinen Beinen, der andere inzwischen an der Seite seines schlafenden Schützlings. Tiere laufen einem niemals einfach zu, hatte Lía mit ihrer samtdunklen Stimme gesagt, die eigentlich gar nicht zu diesem zierlichen Mädchen passen will und es irgendwie doch tut. Sie finden einen. Wenn sie zu dir kommen, dann haben sie einen Grund.

Colevar verzieht seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln. Was Mistress Graus Grund gewesen sein mag, ahnt er - doch warum der Luchs ihn sofort akzeptiert hatte und ihm seither beständig das Gefühl gibt, er sei eine Art heimlicher Verschwörer (bei was auch immer) kann er beim besten Willen nicht sagen, aber ihm geht es genauso. Abgesehen davon mag er den alten Knaben einfach. Das Feuer brennt allmählich nieder und sein Blick verliert sich gedankenverloren in den Flammen und dem kleinen Reigen wirbelnder Funken, die in der Hitze aufsteigen und verglühen. Er spürt den Schmerz in seiner Schulter nachlassen, bis er zu einem dumpfen Pochen verblasst, das ihn vielleicht zum ersten Mal seit Wochen wirklich fest und tief würde schlafen lassen - wenn er nur könnte. Colevar ist erschöpft und mehr als nur müde, aber die neun Höllen sollen ihn holen, wenn er die Wache über die beiden Mädchen allein einem zahnlosen Tattergreis von Luchs und ein paar Hunden überlassen würde, die gegen jeden Armbrustbolzen aus der Finsternis völlig machtlos wären. Sei nicht albern - als du zum letzten Mal auf deiner eigenen Fährte zurückgeritten bist, um zu sehen, wo sie sind, war Riku fast zwei Siebentage hinter dir. Das ist wahr. Du hast in den Bergen vielleicht Zeit verloren, aber auf keinen Fall so viel, dass es eine Rolle spielen könnte. Das heißt nicht, dass es nun überhaupt keinen Grund gäbe, sich Sorgen zu machen, aber ein wenig Schlaf könnte er sich eigentlich getrost erlauben. Trotzdem haben Calaits Worte ...Oder Lía hätte ihn eingesammelt und mit ins Lager geschleppt, wie auch dich... eine Unruhe in ihm geweckt, die sich nicht besänftigen lassen will und die ihn selbst gelinde gesagt überrumpelt. Wie auch immer - er würde Wache halten und damit genug. Mit einem gemurmelten >Ich denke es wird Zeit, dass wir uns schlafen legen,< erhebt sich Calait schließlich und bringt auch Lía auf die Beine, die so schlaftrunken und müde ist, dass sie nicht einmal wirklich aufwacht, sondern ihr blinzelnd wie ein Käuzchen einfach hinterher stolpert und etwas von "Gute Nacht" brummelt. Aber sie lächelt, als sie ihn sieht und er spürt, wie seine Mundwinkel sich ganz von selbst nach oben verziehen, wenn auch ein wenig melancholisch. Schlaf gut, Sommersprosse... und leb wohl. Die meisten der kleineren Tiere verziehen sich mit den beiden jungen Frauen und eine Weile sitzt Colevar noch am Feuer, ehe er seufzend aufsteht, noch einmal Holz nachlegt und dann zu seinem Gepäck in der Nähe der beiden Pferde geht, um seine Schlafpelze und Waffen zu holen. Er würde noch vor Sonnenaufgang weiterreiten, zurück nach Norden, um sicher zu gehen, dass den Mädchen keine Gefahr auf dem Fuß folgt. Bei den Spuren, die sie hinterlassen, könnte ihnen ein tauber Blinder ohne Nase und mit auf den Rücken gebundenen Händen folgen, götterverdammt.

Er sieht nach Filidh und der kleinen Stute, die beide zufrieden schnauben, vergewissert sich, dass der große Hengst weit genug von den anderen Pferden entfernt angebunden ist und schüttet ihnen dann ihre Haferrationen hin. >Colevar?
"Bei den Pferden... Augenblick." Er klopft Filidh ein letztes Mal den kräftigen, gewölbten Hals und wendet sich dann dem Wagen zu, aus dessen Schatten Calaits Stimme dringt. Er muss einmal herumgehen, ehe er sie zu Gesicht bekommt, doch was er im rötlichen Widerschein des Feuers in ihrem Gesicht sehen kann, hätte ihn beinahe wieder umdrehen lassen, weil er sich plötzlich fühlt wie ein Eindringling. Ihre Miene ist weich und offen wie der weite Himmel, sehr verwundbar und beherrscht von einer Erinnerung, die zu gleichen Teilen kostbar und schmerzlich sein muss. Ein sehr leises, kaum geatmetes >Hier,< wispert ihm entgegen, ehe sie es noch einmal gefasster wiederholt und ihm dann ein Stück weiches Fell und flauschige Wolldecken in die Arme drückt. Ihr Lächeln ist so bittersüß und schwer, und ihr Gesicht ist von solchem Kummer erfüllt, dass er sie für einen Moment am liebsten tröstend in den Arm genommen hätte, doch dann streckt er nur die Hand aus und fährt mit dem Daumen sacht über ihre Wange. Er sagt kein Wort, es gibt auch nichts zu sagen - er hat nicht die leiseste Ahnung, woran sie gerade gedacht hat oder was die genauen Gründe für ihren Schmerz sind, aber er kann die tiefe Wunde in ihrem Inneren so deutlich sehen, als trage sie sie auf der Haut und erfasst ihre Stimmung blind und zielsicher. In diesem Augenblick erkennt er zwei Dinge - Unschuld ist eine unsichtbare Rüstung, ebenso wie Höflichkeit, auch wenn sie nur vor manchen Gefahren schützt und Calaits Wunde ist rot und tief. Sie wirkt in so vielem stärker als Lía, aber nicht hier... "Ich werde aufbrechen sobald es hell wird... und danke für alles." Sie nickt nur, und während er ans Feuer zurückkehrt und seinen Schlafplatz richtet, beginnt sie bedächtig, aber trotz der völligen Dunkelheit ihrer Welt sehr anmutig, das Chaos im Lager zu beseitigen. Er geht ihr erst zur Hand, doch mehr als das Feuer neu zu schüren und ein paar wenige Handlangerdienste werden ihm mit dem leisen, aber bestimmten Hinweis, er habe Lía versprochen, seinen Arm zu schonen, nicht erlaubt. Colevar seufzt ergeben und zieht sich auf seine Schlafpelze zurück, wo er die nächsten Stunden, auch nachdem Calait lange schon verschwunden ist, damit zubringt, seine Waffen zu reinigen, mit arniser Kalk zu polieren und sorgsam einzuölen. Die frisch gefettete und geladene Armbrust liegt dabei griffbereit neben ihm... nur für den Fall.

Irgendwann, als der Mond längst untergegangen ist und nur ein Meer kalter silberner Sterne das schwarze Firmament erhellt, tappt der alte Luchs wieder an seine Seite. Mistress Grau hat sich längst zu einer pelzigen Kugel neben ihm zusammengerollt, zuckt nur kurz mit einem Ohr, streckt sich ein wenig und schnurrt dann weiter. Colevar legt den Kopf leicht schräg und der Luchs tut es ihm gleich, dann rammt er den breiten Kopf gegen sein Knie und grollt leise. "Kommst du, um mich abzulösen, Pelzgesicht?" Er kratzt das Tier hinter den Ohren und streicht über das samtweiche Fell. Er weiß noch nicht einmal seinen Namen. "Daraus wird nichts, alter Junge. Ich bleibe wach... aber du kannst uns gern eine Weile Gesellschaft leisten." Der Luchs schnurrt, noch lauter und knurrender als die Rotatkissa das für gewöhnlich tut und lässt sich mit einem hörbaren Plumps neben ihn fallen. "In ein paar Stunden bin ich fort." Die große Katze dreht den Kopf und spitzt die Pinselohren und ihre schrägen goldenen Augen blicken ihn unverwandt an. "Geht nicht, Pelzgesicht. Wenn ich bleibe, bringe ich sie nur in Gefahr. Sobald die Dämmerung kommt, breche ich auf." Aus dem Schnurren wird ein fast fragender Groll-Laut, der Colevar ein schwaches Lächeln abringt. "Du passt gut auf sie auf, ja? Hörst du Pelzgesicht? Lass sie nicht aus den Augen." Der Luchs legt den Kopf auf sein Bein und seufzt schicksalsergeben. Vier Stunden später verlässt Colevar das Lager mit dem quietschbunten Holzwagen und der seltsamen Tiermenagerie und wendet sich mit einem tiefen, hörbaren Luftholen zurück nach Norden.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 03. Okt. 2009, 20:14 Uhr
Calait entgeht nicht, wie Lía mitten in der Nacht noch einmal aufsteht und auf leisen Sohlen aus dem Wagen schleicht und kurzzeitig ist sie versucht sich ebenfalls zu erheben und ihr zu folgen, nur um sicher gehen zu können, dass alles ihr nichts passiert. Gerade noch rechtzeitig nimmt sie wahr, wie Lía am Wagenrand noch einmal innehält und mit angehaltenem Atem in die Stille lauscht, wohl in der Hoffnung niemanden geweckt zu haben. Calait stellt sich schlafend, was schneller gesagt ist als getan, denn es fällt ihr mehr als schwer ein leises Lachen zu unterdrücken angesichts Lías missglückten Versuchs unbemerkt verschwinden zu wollen. Eigentlich hätte diese wissen müssen, dass es für sie ein Ding der Unmöglichkeit ungehört die Decken von sich zu schieben, aufzustehen und die Plane zurückzuschlagen. Schon immer mit einem leichten Schlaf gesegnet und empfindlich für das Geschehen um sie herum, sind Calaits Sinne und auch ihr Instinkt seit ihrer Erblindung noch sehr viel feiner und präziser geworden und sie müsste schon sturzbetrunken ihres Rausches frönen, von einem Schlafelixier übermannt oder auf der Schwelle zwischen Leben und Tod wandeln um nicht mitzukriegen, dass ihre Schwester sich vom Acker macht. Vor allem wenn nur drei Schritt vor ihrem Wagen ein immer noch wildfremder, wenn auch nicht mehr namenloser, bewaffneter Mann schläft, von dem sie zwar glaubt, dass er halbwegs vertrauenswürdig ist – und anständig genug nicht über die Frau, die ihm vielleicht das Leben gerettet hat, herzufallen -, aber keinen Dämonenpakt darauf abschliessen würde. Ganz davon abgesehen braucht Lía keinen Mann mit Schwert um sich im Alleingang mitten in der Nacht in Schwierigkeiten zu bringen. Es genügt der helllichte Tag, ein unschuldiges Kaninchen und eine alte, zahnlose Frau, die so gar nicht einsehen will auf ihre Fleischsuppe verzichten zu müssen, nur weil Lía schon bei dem Gedanken daran das Tier zu töten das Herz bricht.
Kaum ist Lía aus dem Wagen raus, setzt Calait sich auf, wühlt sich so leise wie nur irgendwie möglich durch die Felle und Decken, bis sie direkt hinter der Plane zu sitzen kommt, schiebt diese einen Spaltbreit zur Seite und vernimmt gerade noch das feine Knacken eines Astes und das Rascheln von Blätterwerk aus der Richtung, wo sie Colevars Pferde untergebracht und angebunden hat. Noch etwas weiter neigt sie sich nach vorne, um besser hören zu können, was Lía da tut und auch um im Notfall, sollte Colevar aufwachen und – dummerweise gerechtfertigt, denn wer, ausser jemand, der etwas zu verbergen hat, schleicht sich schon im Schutz der Schatten an fremdes Eigentum heran - von falschen Tatsachen ausgehen, eingreifen zu können. Das Lía nicht vorhat dem Tier zu schaden, steht für Calait ausser Frage. Umso mehr brennt es ihr unter den Fingernägeln zu erfahren, was ihre närrische Schwester für Unfug treibt.
Der laue Nachtwind trägt lediglich vereinzelte Wortfetzen von dem eindringlichen, aber geflüsterten Gespräch, das Lía mit dem Hengst führt, mit sich, doch es genügt, damit Calait eine Hand vor den Mund pressen muss, um sich nicht durch ein sanftes, aber deutlich erheitertes Schnauben zu verraten. Lía fährt derweil ungebremst damit fort dem Tier eindringlich zu erläutern, das es gut auf seinen Herren achten, ihn beschützen und wenn nötig wie der Wind davontragen muss, sollte er in Gefahr geraten, und sie tut es mit einer Innbrunst, die Calait die Kehle zuschnürt und ihr vor Augen führt, wie leicht Lía anderen Menschen ihr Herz anvertraut. Auf offenen Händen trägt sie es durch die Welt, bereit jedem, dem ihre Wege kreuzt, ohne Zögern ein kleines Stück zu überlassen und erfüllt mit dem blinden und zugegeben wahnwitzigen Glauben, es gäbe niemanden, der ihre Geste mit Füssen treten würde. Und tut es doch einmal einer, kniet sie sich in den Staub, sammelt den Herzsplitter wieder ein und wäre im gleichen Atemzug bereit ihrem Peiniger eine zweite Chance zu geben.  
Nicht eine Sekunde lang zweifelt Calait an der Aufrichtigkeit von Lías Sorge. Diese ist echt und warm und für Calait nur schwer zu ertragen, obschon auch sie sich um Colevars Schicksal Gedanken macht... jedoch ohne ihr Herz in Mitleidenschaft zu ziehen. Lía indes quält sich regelrecht und es gibt nichts, was Calait dagegen tun könnte. Der Erkenntnis, dass Lía den hochgewachsenen Mann wirklich mag, steht sie hilflos gegenüber. Wie oft habe ich sie schon gescholten, sie solle nicht alles und jedem ihre Liebe schenken. Und wie oft hat sie daraufhin nur entschuldigend gelächelt und ihre Hände gewrungen in der Hoffnung, ich würde es eines Tages vielleicht doch verstehen. Aber ich habe es nie verstanden. Ich verstehe es noch jetzt nicht. Aber ich weiss, mit jedem Wesen, das sich in ihr Herz schleicht, ob verdient oder nicht, existiert eine Seele mehr, deren Verlust sie zum Weinen bringt. Und einem verwundeten Krieger auf der Flucht sein Herz zu schenken ist wohl mitunter das Dümmste, was man tun kann. Bei allen Ahnen, ich schwöre, wenn du es wagst zu sterben Colevar, dann jag ich dir sämtliche Geister Rohas und den meiner Tante gleich mit auf den Hals. Es kostet sie Mühe, die Beherrschung zu wahren und das Versprechen nicht laut auszusprechen, bis sie, von der Heftigkeit ihrer eigenen Gefühle überrumpelt, stockt und ihr Herz hart und schnell gegen ihre Rippen schlagen hört. Mit einem stummen Seufzen streicht sie sich mit gespreizten Fingern über das Gesicht und lehnt mit dem Hinterkopf gegen die Plane, wissend, dass nicht nur sie Lías Gespräch mit dem Hengst verfolgt hat. Sie ist sich absolut sicher, dass Colevar ebenso angestrengt lauscht und ebenso gut weiss, dass er nicht der einzige Zuhörer ist. Trotzdem sagt sie kein Wort, sondern zieht sich, als weiche Schritte Lías Rückkehr ankündigen, unter die Decken zurück wo sie gespielt schlafend wartet, bis ihre Schwester wieder auf ihrem Schlafplatz liegt. Erst dann drängt sie sich ein wenig näher, bette ihren Kopf an Lías Schulter und murmelt: „Hab keine Angst ma kalon. Colevar ist ein grosser Junge. Der weiss, was er tut.“ Glaube... denke... hoffe ich.

Für einmal erwacht sie erst, als Lías Schlafstätte schon längst eiskalt ist und erschrocken ruckt Calait in die Höhe. „Lía?“ Keine Antwort. Es herrscht ausnahmslose Stille, als hätte selbst der Wald seine Stimme eingebüsst. Hastig schlägt Calait sämtliche Decken und Felle zurück und kämpft sich mit wachsender Panik aus dem Wageninneren. „Lía?! Ma kalon, wo bist du?“ Beinahe wäre sie Kopf voran über den Wagenrand zu Boden gestürzt, als ihre Beine sich in ihrem Nachtgewand verheddern und gerade noch rechtzeitig bekommt sie die Plane zu fassen. Keuchend windet sie sich aus dem Stoff, ignoriert das Ratschen, als die Naht reisst, kommt falsch auf dem weichen Waldboden auf und keucht schwer, als ein dumpfer Schmerz durch ihren Fuss jagt. Leise fluchend stützt sie sich an dem Wagen ab, als neben ihr auch schon ein ziemlich bestürztes „Calait!“, ertönt. Ihr Herz macht einen Satz und sie selbst macht einen Satz und Lía kommt gar nicht erst dazu zu fragen, ob etwas passiert ist, denn Calait bekommt ihre Schwester an den Schultern zu fassen und zieht sie so fest an sich, als wolle sie sie nie wieder loslassen. „Himmel und Hölle, bist du von allen guten Geistern verlassen Lía?! Du kannst doch nicht einfach... du kannst doch nicht... ich meine...“ Ja, was kann sie nicht? Vor dir wach werden? Den Wagen ohne deine Erlaubnis verlassen? Sie schilt sich selbst eine dumme Kuh, doch das Flattern ihres Herzens ist lauter, als die Unmut ob ihrer eigenen Fürsorglichkeit.
Und dann schmeckt sie Salz auf ihren Lippen. Einen abstrusen Moment lang, weiss sie nicht, woher es kommt, bis sie das leise, unterdrückte Schluchzen hört und schlagartig wir ihr klar, was geschehen ist. Ein tiefes, langes Seufzen hebt ihre Brust und noch eine Spur näher zieht sie ihre Schwester an sich und streicht ihr liebevoll über die dichten, schwarzen Locken. „Er ist fort, hm?“ Es ist weniger eine Frage, als eine Feststellung, trotzdem nickt Lía und vergräbt schniefend ihr Gesicht an Calaits Hals. Ein trauriges Lächeln umspielt Calaits Züge und sie gibt ihrer Schwester alle Zeit die sie braucht, bis sie sich soweit gefasst hat, dass keine neuen Tränen mehr nachkommen. Es dauert eine geraume Weile und selbst als Lía sich von ihr löst und Calait ihr mit den Daumen die Wangen trocknet ist die Trauer noch längst nicht verflogen. Und irgendwie hegt Calait das ungute und seltsamerweise auch befremdliche Gefühl, dass Colevars Verschwinden sie nicht nur trifft, weil es so wortlos wie plötzlich kam – er hätte sich verabschieden können -, sondern weil Lía ihr nicht nur sympathisch war, wie jeder, den sie mitschleppt und umsorgt, sondern sie ihn wirklich mochte. Fest umfasst sie die zarten, mit Brandnarben überzogenen Hände ihrer Schwester mit ihren eigenen Fingern, die genauso aussehen, und drückt diese zärtlich. Es bedarf keiner Worte, um ihrem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen, das war noch nie der Fall. Seit sie aus den Ostlanden verstossen wurde und Lía ihr ohne einen einzigen Blick zurück gefolgt ist, ist das Band zwischen ihnen noch sehr viel stärker geworden, als es von Geburt an war, und Calait fühlt den Schmerz, der Lía nach Atem ringen lässt, als wäre es ihr eigener. Da sie nicht an Zufall glaubt, sondern an das ständige Wechselspiel von Ealaras ewigem Weg und den unsichtbaren Einflüssen durch die Geister ihrer Ahnen, fragt sie sich insgeheim, was sowohl die Göttin, als auch ihre Vorfahren sich bei diesem Narrenspiel gedacht haben. Ihr hättet ja wenigstens dafür sorgen können, dass er nicht Hals über Kopf wieder verschwinden muss, weil er von einem Mann verfolgt wird, der noch nicht einmal eine Blinde und eine Unschuldige schonen würde, verflucht noch eins, klagt sie im Stillen und schnaubt unwillentlich.
Aber es bleibt nun einmal dabei: Colevar ist mitsamt Pferden und Gepäck verschwunden, ohne die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu hinterlassen. Hätte Calait in dem Moment auch nur im Ansatz geahnt, wie schnell und warum sie sich wieder begegnen würde, hätte sie ihm Cholera, die Pest und alle tausend Dämonen sowieso an den Hals gewünscht und ihre Schwester wenn nötig an den Haaren so weit weg wie möglich in Sicherheit vor ihm gebracht. Da sie aber ahnungslos ist, hofft sie wirklich, dass Ealaras Pfade sie irgendwann noch einmal auf Colevars Spuren stossen lassen, und ist es nur um zu erfahren, dass es ihm gut geht und er sowohl den Verfolger, als auch seine eigene Nachlässigkeit in Sachen Wundheilung gut überstanden hat.
„Komm jetzt, ma kalon. Es wird Zeit, dass wir aufbrechen, denn wir sollten es tunlichst vermeiden Colevars Verfolger in die Arme zu laufen. Sonst hat er umsonst Wache gehalten.“ Eine Schrecksekunde lang ist es totenstill, dann keucht Lía mit der absoluten Bestürzung einer Heilerin, deren Schützling ihr nach dem letzten Nadelstich im Brustton der Überzeugung erklärt hat, er könne ja jetzt weiterkämpfen: „WAS hat er?!“ Calait lächelt nur wissend und schiebt Lía dann in Richtung des erloschenen Feuers: „Wache gehalten. Und ich befürchte leider die ganze Nacht über. Wir sollten das zu schätzen wissen und es honorieren, indem wir uns schnellstmöglich vom Acker machen und darauf achten einen grossen Bogen um seinen Ärger zu schlagen. Sonst hege ich den leisen Verdacht, dass Colevar uns im Nachhinein finden und uns übers Knie legen wird.“ Sofern wir dann noch leben, was ich dezent bezweifel. <...Ich meine es Ernst, Calait - mit diesem Ärger wollt ihr nichts zu tun haben.> Will sie nicht, da hat er absolut Recht, ganz zu schweigen davon, dass Colevar mehr als überzeugend sein kann, wenn er will. Lía indes, nach Luft schnappend, hakt nach, was sie denn jetzt bitteschön genau mit ‚Ärger‘ meine und dieses Mal ist Calait nicht danach zumute, ihre Schwester zu schonen, egal wieviele Sorgen sie sich danach um Colevar noch machen wird. Sie muss verstehen, wie dringend ihre Abreise ist. „Mit Ärger meine ich Colevars Verfolger, die nicht davor zurück schrecken werden wissen die Geister was mit uns anzustellen, egal ob wir etwas wissen oder nicht. Lía, frag mich später aus, aber jetzt müssen wir gehen.“
Ist es nun der barsche Tonfall, oder der Ernst in Calaits Gesicht, ihre Schwester lässt Fragen Fragen sein – auch wenn Calait ihre wachsende Unruhe und die nun noch sehr viel grössere Angst um Colevar ihr nicht entgeht – und hilft dabei das Morgenzeremoniell für einmal aufs Nötigste zu kürzen. Noch  bevor die ersten Sonnenstrahlen die Baumkronen kitzeln setzt sich der bunte Planwagen, gezogen von zwei sehr verschlafen wirkenden Reninkerpferden, ruckelnd in Bewegung in Richtung Osten. Calait hat gerade genug Zeit nach Luft zu schnappen, als auch schon ein ganzer Schwall an Fragen, Sorgenbekundungen und kleinlauten, mit Sicherheit nicht ernst gemeinter Vorwürfe auf sie einprasselt und ihr die Sprache verschlägt.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 04. Okt. 2009, 00:30 Uhr
„Hab keine Angst ma kalon. Colevar ist ein grosser Junge. Der weiss, was er tut.“
Kurz huscht ein schwaches Lächeln über ihre Züge bevor sie ihrer Schwester einen sanften Kuss auf das Haar haucht und sich an ihren warmen Körper drängt. Der Umstand, dass ihre große Schwester alles mit angehört hat verwundert sie nicht wirklich – auch wenn sie sich im ersten Moment hatte täuschen lassen – doch leider hilft es ihr nicht. Gern hätte die Jüngere ihre Gedanken mit ihr geteilt, aber irgendetwas hindert sie daran. Diese Tatsache bestürzt sie, konnten die Schwestern doch bisher über alles reden. Nein, können wir nicht…, schießt es ihr durch den Kopf und ihre Gedanken wandern zurück zu der Schamanin, doch bevor sie sich in der Erinnerung verlieren kann reißt Calaits Umarmung sie wieder zurück vom Abgrund. Lía schüttelt innerlich den Kopf. Es kommt selten vor, dass sie dem Strudel so nahe kommt, doch heute Nacht scheint sie anfälliger und verletzlicher als sonst zu sein. Es dauert lange, sehr lange bis sie endlich wieder einschläft. Und selbst dann wollen die Angst und Sorge um Colevar nicht vollständig weichen.

Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Nebel durchbrechen wacht sie auf. Eine geraume Weile bleibt sie einfach liegen und lauscht den tiefen, regelmäßigen Atemzügen ihrer Schwester. Erneut kreisen ihre Gedanken um den verwundeten Mann den sie in der Nacht aufgelesen hatte. Wer ihm wohl auf den Fersen ist? Und warum? Wer auch immer es sein mag mit demjenigen ist nicht zu spaßen. Ansonsten hätte Colevar wohl kaum so mitgenommen und völlig erschöpft ausgesehen – niemand verlangt sich und seinem Pferd so viel ab wenn er nicht einen wirklich guten Grund dafür hat.

Es ist Louans seltsames Verhalten das sie schließlich dazu veranlasst ihren Schlafplatz zu verlassen und in die kühle Morgenluft hinauszutreten. Die Welt um sie herum schläft noch, während sie sich kurz streckt bevor ihr Blick dann auf Colevar fällt, oder besser dorthin wo er sich hätte befinden sollen. Langsam, sehr langsam wendet sie sich um und blickt zu den Pferden hinüber, das ungute Gefühl das sich in ihr breitzumachen beginnt nur noch mit Mühe beherrschend. Für einen schmerzhaften Moment setzt ihr Herzschlag aus, nur um im nächsten Moment hart und schnell gegen ihre Brust zu schlagen. Einen absurden Moment lang hält sie an dem Glauben fest er könnte nur kurz mit dem Pferd zum Wasser sein, doch der Blick aus klugen gelben Augen macht ihr klar, dass Colevar fort ist. Und zwar endgültig. Wie zur Salzsäule erstarrt steht sie da und blickt ins Nichts. Im ersten Augenblick empfindet sie gar nichts, so als hätte sich ein Schleier über ihre Sinne und Gefühle gelegt. Sie spürt nicht einmal wie der Wind auffrischt und sie zu zittern beginnt. Selbst Louans Nähe, der sich eng an sie drückt und ein leises Winseln hören lässt, vermag sie nicht zu einer Regung zu verleiten. Erst als der weiße Luchs in ihren Rockzipfel beißt und sie hinter sich her zum Rand des Lagers schleift fällt die Starre von ihr ab. Schnell begreift sie was ihr Freund ihr zeigen will und ein erstickter Schrei entweicht ihr. „Er ist zurück…Er reitet zurück…Louan! Er reitet auf seinen Verfolger zu!!“, mit jedem Wort wird die Panik in ihrer Stimme deutlicher. Das ist nicht wahr…Colevar…was tust du nur?! Plötzlich sinkt Lía neben dem Valkoinen Ilves zu Boden und vergäbt ihr Gesicht in seinem Fell. Eine Ewigkeit vergeht in der sie einfach so da sitzt und die Nähe ihres Gefährten ihr Trost spendet.

Es ist das hektische Rumoren ihrer Schwester was sie aufblicken lässt. Wortlos wandert ihr Blick zum Wagen, ohne dass Lía auch nur den geringsten Anstalten macht sich zu erheben, oder auch nur auf Calaits Rufen zu reagieren. Erst nach einem Moment des in sich Gehens traut sie es sich zu ihrer Zwillingsschwester gegenüberzutreten, ohne dass diese sich gleich wieder Sorgen um sich macht.
„Calait!“, entfährt es ihr erschrocken als sie sieht wie die Ältere falsch aufkommt und sich mit Schmerz verzerrtem Gesicht an der Plane festkrallt. Doch noch bevor sie auch nur dazu kommt nachzufragen, ob sie sich etwas getan hat zieht Calait sie auch schon in ihre Arme und drückt sie so fest an sich als befürchte sie Lía könne jeden Augenblick ausbüchsen.
„Himmel und Hölle, bist du von allen guten Geistern verlassen Lía?! Du kannst doch nicht einfach... du kannst doch nicht... ich meine...“
Obwohl diese Worte bloßer Ausdruck der Sorge ihrer Schwester sind ist dies dennoch der letzte Tropfen der das Fass zum Überlaufen bringt. Ohne dass sie etwas dagegen tun kann spürt sie wie ihr die Tränen in die Augen schießen. Lautlose Tränen rinnen über ihr Gesicht während ihre zierlichen Schultern geschüttelt von stummem Weinen Calait schnell verraten, dass etwas passiert ist.
„Er ist fort, hm?“ Schluchzend sucht sie Halt bei ihrer großen Schwester. Es ist so leicht Lía zu treffen oder ihr wehzutun, reagiert sie doch so unendlich sensibel auf alles, doch es kommt selten vor, dass sie so heftig weint. Zwar merkt Calait ihr immer an wenn sie verletzt ist, aber schon allein ihrer Schwester Willen vermeidet Lía es so oft sie nur irgend kann zu weinen, weiß sie doch nur zu gut, dass es der Älteren jedes Mal das Herz bricht. Es dauert lange bis sie sich soweit gefangen hat, dass Calait es wagt sich von ihr zu lösen und ihr sanft erklärt, dass es nun an der Zeit ist aufzubrechen.
„Komm jetzt, ma kalon. Es wird Zeit, dass wir aufbrechen, denn wir sollten es tunlichst vermeiden Colevars Verfolger in die Arme zu laufen. Sonst hat er umsonst Wache gehalten.“
Für den Bruchteil einer Sekunde denkt sie es sei ein Spaß, doch dann wird ihr bewusst, dass ihre Schwester mit so was niemals scherzen würde wo sie doch genau weiß, was eine solche Aussage für Lía bedeutet.
„WAS hat er?!“, stößt sie fassungslos hervor und starrt ihre Schwester mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen an.
„Wache gehalten. Und ich befürchte leider die ganze Nacht über. Wir sollten das zu schätzen wissen und es honorieren, indem wir uns schnellstmöglich vom Acker machen und darauf achten einen grossen Bogen um seinen Ärger zu schlagen. Sonst hege ich den leisen Verdacht, dass Colevar uns im Nachhinein finden und uns übers Knie legen wird.“
Eine Sekunde herrscht Schweigen. Dann: „Okay, was ist los? Was ist das für ein Ärger?“
„Mit Ärger meine ich Colevars Verfolger, die nicht davor zurück schrecken werden wissen die Geister was mit uns anzustellen, egal ob wir etwas wissen oder nicht. Lía, frag mich später aus, aber jetzt müssen wir gehen.“ Erschrocken über den plötzlichen barschen Ton zuckt Lía zusammen und nickt nur verstehend bevor sie sich dann an die Arbeit macht. Es dauert nicht lange bis sie all ihre pelzigen und gefiederten Freunde eingepackt hat und sie bereit zum Aufbruch sind. Die ganze Zeit über spricht sie kein einziges Wort, sondern arbeitet im Eiltempo – Calaits Worte immer noch im Ohr. Sie hat Angst… Diese Erkenntnis ist mehr als Grund genug sich zu beeilen. Kaum ruckelt der quietschbunte Planwagen durch den Schlamm platzt plötzlich alles aus der Jüngeren heraus.
„Du hast es gewusst, oder? Du wusstest, dass er gehen würde? Was wenn ihm etwas passiert? Warum um alles in der Welt ist er auf seiner eigenen Fährte zurück geritten – er läuft offenen Auges in sein Unglück! Weißt du was das für ein Ärger ist? Wer ist ihm da auf den Fersen?“

Den Rest des Tages erlebt sie wie in Trance, ebenso wie die darauffolgenden Tage woran auch Calaits besorgte Miene und ihrer Versuche ihre kleine Schwester aufzumuntern nichts ausrichten können. Es scheint als dringe nichts von ihrer Umwelt wirklich zu ihr durch. Die ganze Zeit über beherrscht Sorge und Angst ihre dunklen Augen. Lía bleibt schweigsam und in sich gekehrt. Der plötzliche Verlust Colevars hat sie schwer getroffen und es fällt ihr unsagbar schwer zu ihrem Frohsinn zurückzufinden. Es ist nicht die Tatsache, dass er sie verlassen hat die sie so mitnimmt, sondern die Art und Weise wie er es getan hat. Nicht genug damit, dass er ihre Mahnung einfach in den Wind geschlagen hat, nein, er hat ihr nicht einmal die Gelegenheit gegeben ihm Kräuter mitzugeben…oder sich zu verabschieden. Die beißende Angst Colevar könnte längst etwas zugestoßen sein tut ihr in der Seele weh.

Es ist bereits später Abend und Lía sitzt gedankenverloren an Louan gekuschelt am Lagerfeuer, als plötzlich jemand aus dem Wald hervorprescht und sie von einem Augenblick auf den anderen zu strahlen beginnt. Mit einer geschmeidigen Bewegung kommt sie in die Höhe und eilt Colevar entgegen, bleibt jedoch stehen, als sie den Ausdruck in seinen Augen sieht. Ihr Blick flackert. Freude, Erleichterung aber auch Sorge und Furcht sind in den sanften Augen der jungen Frau zu lesen. Noch bevor Colevar auch nur die Gelegenheit findet vom Pferd zu steigen spitzt Louan die Ohren und lässt ein kehliges Grollen vernehmen. Kein gutes Zeichen; offensichtlich spürt das Tier eine sich nähernde Gefahr. Schlagartig wird Lía bewusst was Colevars Erscheinen zu bedeuten hat.


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 04. Okt. 2009, 11:55 Uhr
Die merkwürdige Enge, die seine Brust fast einen Siebentag lang beherrscht und ihn nicht mehr frei hatte atmen lassen, löst sich innerhalb eines Herzschlags in Nichts auf, als er in ihr Lager prescht und Lía unversehrt am Feuer vorfindet. Unversehrt und ganz offensichtlich froh, ihn zu sehen, denn ihr Gesicht beginnt bei seinem Anblick zu strahlen, als habe jemand ein Dutzend Kerzen hinter ihren Augen entzündet. Sie hüpft und tanzt ihm ein Stück entgegen wie ein kleines Mädchen, das einen verschollen geglaubten Lieblingsbruder wieder zu Hause begrüßt und das Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitet, ist warm wie die Sonne, auch wenn er es überhaupt nicht verdient hat. Doch als er Filidh vor ihr zum Stehen bringt, verharrt auch sie wie angewurzelt und ihre Augen verdunkeln sich vor plötzlicher Sorge und vager Angst gleichermaßen. Kluges Mädchen. Er hätte ihr Lächeln gern erwidert. Er hätte gern gesagt: "Hallo Sommersprosse" oder: "Ich freue mich auch, dich zu sehen." Er hätte auch gern noch ganz andere Dinge getan, und er hätte ganz sicher sagen sollen, dass es ihm leid tut, einfach so verschwunden zu sein. Aber in seinem Inneren ist kein Platz für irgendein Gefühl außer einer Art dumpfen Erstaunens und absurder Erleichterung, und alles, was er schließlich sagt, ist: "Brecht das Lager ab und packt ein, was ihr unbedingt braucht und auf keinen Fall zurück lassen könnt. Wo ist Calait, Lía?" Sie starrt ihn immer noch an, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie ihm gleich um den Hals fallen oder lieber mit ihm schimpfen soll. Lieblingsbruder, vergiss das nicht. Sie ist wahrscheinlich zu jedem so, den sie einmal zusammengeflickt hat. Es ist einfach ihre Art, es hat nichts mit dir zu tun. Es ist ohnehin das reinste Wunder, dass sie ihn unter all dem Dreck überhaupt erkannt hat, denn er ist von Kopf bis Fuß mit Schlamm gesprenkelt, ebenso wie sein Pferd, weil es in den vergangenen sieben Tagen an fünf davon Katzen und Hunde geregnet hatte. "Lía?" Wiederholt er drängend, doch es ist das warnende Grollen des Valkoinen Ilves, das sie schließlich aus ihrer Starre reißt und ein paarmal erschrocken blinzeln lässt, während er vom Pferd steigt. "Calait?" Ruft er ins Halbdunkel des Lagerplatzes, weil er sie nirgends entdecken kann, aber genau weiß, dass sie ihn längst gehört haben muss, wenn sie hier in der Nähe irgendwo ist.

In Lías Augen macht sich Verwirrung breit, ehe langsames Begreifen in ihnen aufkeimt, doch er drückt ihr nur Filidhs Zügel und die Leine des Packpferdes in die Hand. Mistress Grau blinzelt kurz aus den Satteltaschen, verschwindet jedoch sofort wieder und der Luchs, mit einem weit besseren Gespür für Gefahren gesegnet als sein kleiner Schützling, streicht ihm nur einmal kurz um die Beine, als wisse er genau, dass jetzt weder für lange Begrüßungen noch für irgendwelche Erklärungen Zeit ist. "Calait!" Sein umherschweifender Blick trifft Lías erschrockenes Gesicht und was er eigentlich auf keinen Fall tun wollte, tut er jetzt doch. Er tritt zu ihr und nimmt ihre Hände in seine, sucht ihren Blick und hält ihn fest. Sie ist wirklich klein, so klein, dass sie ihm gerade einmal bis zur Brust geht und vermutlich unter seinem ausgestreckten Arm hindurch spazieren könnte, ohne den Kopf einziehen zu müssen. Ihre Hände sind schmal, ihre Finger so zart wie der ganze Rest von ihr, aber überraschend warm und kräftig über diesen zerbrechlichen Vogelknochen. "Lía, hör mir zu, ihr müsst sofort von hier verschwinden. Wir haben nur ein paar Stunden Vorsprung und wir müssen bis Mitternacht noch mindestens zwanzig Meilen hinter uns bringen." Er hatte sich ein fast fünftägiges Versteckspiel mit Rikus höllisch guten Spähern geliefert, als er sie zu seiner Bestürzung viel näher hinter sich entdeckt hatte, als erwartet. Doch ganz gleich, was er auch angestellt hatte, wie oft er im Kreis geritten war, wie viele falsche Fährten er auch gelegt hatte, wie sorgsam er seine Spuren - und die der Mädchen - zu verwischen versucht hatte, sie hatten sich einfach nicht beirren lassen. Also hatte er vor zwei Tagen alle Vorsicht fallen lassen und war so schnell es gegangen war ohne Filidh dabei zu Schanden zu reiten dem ruckelnden Planwagen hinterher geritten, der zum Glück - oder zur Verdammnis, ganz wie man es nehmen will -, nur so langsam wie eine Schnecke vorankommt. Der Spur, die die beiden Mädchen und ihr seltsames Gefährt hinterlassen haben, ist so breit wie der Ildorel und eigentlich nur mit einem einzigen Wort zu beschreiben: unübersehbar. Riku, vor lauter Misstrauen ohnehin stachlig wie ein Igel, würde den Dunklen tun, und sich nicht vergewissern, wer hier außer ihm und seiner vermeintlichen Beute noch im Niemandsland der Wälder Savos herumschleicht - dazu kennt Colevar den Mann inzwischen zu gut.  

"Sammle die kleinen Tiere ein, die du mitnehmen kannst und lass alles andere zurück. Könnt ihr reiten? Kann Calait reiten? Der Wagen ist viel zu langsam, ihr müsst ihn zurücklassen. Sieh mich nicht so an, Lía, es muss sein. Wenn ihr den Wagen behaltet, haben sie uns noch vor dem Morgengrauen eingeholt. Ich kann mit meiner Schulter nicht allein gegen acht kämpfen und euch beschützen. Wir müssen aufbrechen so schnell es geht."  Calait taucht aus den Schatten jenseits der Feuerstelle auf und kommt auf sie zu, ebenso blind wie zielstrebig und obwohl Colevar sich sicher ist, dass sie ebenfalls erleichtert ist, ihn am Leben zu sehen, malt sich auf ihrem Gesicht neben Sorge durchaus auch Entschlossenheit. Sie weiß genau was seine gehetzte Rückkehr bedeuten muss und fügt sich beinahe sofort in unvermeidliches. >Was sollen wir tun?< Ist alles, was sie fragt und er nickt knapp. "Die kleineren Tiere können wir mit nehmen, wenn ihr sie irgendwo sicher in Packtaschen unterbringt." Er weiß, dass alles, was in diesem Lager kreucht und fleucht und Federn, Fell oder Schuppen hat in Lías Nähe bleiben wird, ganz gleich, wie schnell oder hart ihr nächtlicher Ritt auch werden würde. "Nimm euer trittsicherstes und willigstes Pferd. Die übrigen können mit uns laufen, die Hunde auch. Packt zusammen, was ihr braucht." Ihm wird bewusst, dass er immer noch ein Paar bebende Hände in seinen hält und lässt sie widerstrebend los - bedächtig und bestimmt genug, um ihr deutlich zu machen, dass er sie notfalls auch fesseln, knebeln und über die Schulter werfen würde. "Lía reitet mit mir. Irgendjemand muss den Luchs halten und sie wird beide Arme dafür brauchen - er ist zu groß für die Satteltaschen und er kann nicht schnell genug mithalten. Alles andere muss hier bleiben."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 04. Okt. 2009, 15:54 Uhr
Colevars Schweigen beunruhigt sie nur noch mehr. Es vergeht eine schiere Ewigkeit bevor er endlich von seinem Hengst steigt und ihr die Zügel in die Hand drückt. Lía kann seine innere Unruhe spüren, als wäre es ihre eigene und ihr Blick huscht für einen kurzen Augenblick zu den Bäumen hinter ihm, so als wolle sie sich davon überzeugen, dass nicht gleich noch jemand aus dem Unterholz hervorprescht.
"Brecht das Lager ab und packt ein, was ihr unbedingt braucht und auf keinen Fall zurück lassen könnt. Wo ist Calait, Lía?"
Zwar nimmt sie seine Worte durchaus zur Kenntnis, aber dennoch braucht es eine Weile bis sie deren Bedeutung vollständig versteht. Immer noch steht sie Colevar völlig überrumpelt gegenüber; hin und hergerissen zwischen Wiedersehensfreude und der Angst die sein gehetzter Blick in ihr auslöst. Selbst als er sie erneut anspricht, diesmal drängender, antwortet sie nicht, sondern starrt ihn einfach nur aus großen ungläubigen Augen heraus an. Er lebt! ist alles was sie an zusammenhängenden Gedanken zustande bekommt. Oh, ihr Ahnen, ich danke euch!

Je länger sie Colevar beobachtet, desto bewusster wird ihr wie nah die Gefahr schon sein muss. Plötzlich trifft sie die ganze Wucht dieser Erkenntnis und sie starrt ihn aus vor Angst weit aufgerissenen Augen an. Der Schrecken der soeben einen großen Hüpfer in ihre Richtung gemacht hat gilt nicht der Tatsache, dass sie in Gefahr ist, sondern, dass Colevars Auftauchen bedeutet, dass niemand von ihnen in Sicherheit ist. Weder er noch ihre Schwester. Erst als er auf sie zutritt und ihre zitternden Hände fest in seine nimmt klärt sich ihr Blick und sie sieht ihm ebenfalls direkt in die Augen. In seinen Augen liest sie Sorge und Angst, es ist diese Erkenntnis die sie erbleichen lässt. Sein ganzes Gebaren lässt nur eine Schlussfolgerung zu: seine Verfolger würden sehr bald hier sein. Trotzdem rührt Lía sich keinen Sekhel.
"Lía, hör mir zu, ihr müsst sofort von hier verschwinden. Wir haben nur ein paar Stunden Vorsprung und wir müssen bis Mitternacht noch mindestens zwanzig Meilen hinter uns bringen."
Wortlos erwidert sie seinen Blick und langsam aber sicher dämmert ihr, was seine Worte wirklich bedeuten. Noch bevor sie diesen Gedanken auch nur zu Ende denken kann, kommt Colevar ihr auch schon zuvor und spricht Lías größten Albtraum laut aus.
"Sammle die kleinen Tiere ein, die du mitnehmen kannst und lass alles andere zurück. Könnt ihr reiten? Kann Calait reiten? Der Wagen ist viel zu langsam, ihr müsst ihn zurücklassen. Sieh mich nicht so an, Lía, es muss sein. Wenn ihr den Wagen behaltet, haben sie uns noch vor dem Morgengrauen eingeholt. Ich kann mit meiner Schulter nicht allein gegen acht kämpfen und euch beschützen. Wir müssen aufbrechen so schnell es geht."
Hätte Colevar ihr mit der Hand ins Gesicht geschlagen, es hätte sie nicht mehr verletzt als diese Worte. Für einen kurzen Moment taumelt sie, fängt sich jedoch im letzten Augenblick wieder und starrt Colevar fassungslos an. Niemals unter gar keinen Umständen würde sie auch nur ein einziges ihrer Tiere absichtlich zurücklassen. Es ist ihr egal wie groß die Gefahr auch sein mag, ohne ihre treuen Freunde würde sie nirgends hingehen. Lía würde nicht zulassen, dass man sie erneut von ihrer „Familie“ trennt. Diese Erfahrung hatte sie in ihrem jungen Leben zu oft gemacht, als dass sie einen derartigen Verlust erneut überwinden könnte. Das absolute Entsetzen in ihrem Blick weicht schließlich Entschlossenheit. Nein!

Schritte hinter ihr in der Dunkelheit verraten ihr, dass Calait Colevars Ankunft nun ebenfalls bemerkt hat und ihre Worte klingen entschlossen. Sie weiß, was sein Auftauchen zu bedeuten hat
„Die kleineren Tiere können wir mit nehmen, wenn ihr sie irgendwo sicher in Packtaschen unterbringt."
Die Ältere verschwendet keine Zeit mit überflüssigen Fragen, sondern begnügt sich mit einem knappen Nicken und verschwindet erneut in den Schatten um alles vorzubereiten. Derweil hält Colevars immer noch Lías Hände fest in seinen. Er scheint zu ahnen, dass die Aussicht darauf die Tiere zurückzulassen Lía nicht gefällt, denn sein Blick macht sehr deutlich, dass er sich nicht auf eine Diskussion einlassen wird, die nur Zeit die sie nicht haben verschwenden würde. Einen Moment noch sieht sie ihm mit einer Mischung aus Trauer und Schmerz entgegen bevor dann auch sie sich umwendet und hastig damit beginnt die kleineren Tiere einzufangen und in den Satteltaschen zu verstauen. „Seid schön artig, ja?“, wispert sie Noraya und Ériu entgegen die sie aus glänzenden Knopfaugen heraus ansehen. Skar zieht längst seine Runden am Nachthimmel und stößt ab und zu einen schrillen Schrei aus. Mit Colevars tatkräftiger Unterstützung dauert es nicht lange bis alles zum Aufbruch bereit ist. Alles außer Lía. Wortlos drückt sie Calait beruhigend die Hand und streicht dem Pferd auf dem ihre Schwester bereits sitzt über die kräftigen Flanken. Louan, der seinen Schützling viel zu gut kennt als dass er nicht wüsste was sie erwartet, baut sich knurrend und mit gebleckten Zähnen vor ihr auf. Ein trauriger Ausdruck tritt in ihre Augen als sie den goldenen Augen des Luchses begegnet. „Nein, Louan“, ihre Stimme klingt fest entschlossen. Sie wird dieses Lager nicht verlassen in dem Wissen, dass nicht alle Tiere in Sicherheit sind. Neben Calait sind ihre tierischen Freunde das einzig beständige in ihrem Leben und sie liebt sie ebenso innig wie andere Menschen ihre Familie. Sie hier zu lassen würde ihr nicht einfach nur das Herz brechen; wenn nötig würde sie sich auch mit Händen und Füßen dagegen wehren. Ein letztes Mal streift ihr Blick Colevar und der Ausdruck in ihren Augen lässt keinen Zweifel daran, dass sie seiner Bitte niemals Folge leisten würde, so sehr sie ihn auch versteht, so wenig ist es ihr möglich anders zu reagieren.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 04. Okt. 2009, 18:13 Uhr
Wie hatte er auch nur für einen Moment glauben können, dass sie vernünftig sein würde? "Götter, verschont mich mit den verrückten Weibern", grollt er, aber so leise, dass ihn bestenfalls Filidh hören kann, der prompt zustimmend schnaubt, und springt wieder aus dem Sattel. Alles ist zum Aufbruch bereit und sie hatten es tatsächlich in weniger als einer Stunde geschafft, die Habseligkeiten der Mädchen in ein paar Satteltaschen zu stopfen und ausnahmslos alle Tiere außer den Schafen irgendwo unterzubringen, selbst das halbwüchsige Eulenküken, die Zwergsau, das Häschen und den meckernden Trold. Sogar seine Kleidung muss als Transportmittel herhalten, denn drei kleine Waldhörnchen waren kurzerhand in der Kapuze seines Umhangs einquartiert worden und baumeln nun irgendwo in seinem Rücken. Die Pferde, der Onager und die Hunde hingegen können selbst mithalten und der Falke zieht ohnehin schon seine Kreise über ihnen am nächtlichen Himmel. Lía hatte ihnen sogar geholfen, alle Körbe und Segeltuchsäcke auf die Pferde zu packen und festzuzurren, alle Tiere gut zu verstauen und ihrer Schwester ein Pferd aufzutrensen und mit einer dicken Wolldecke als provisorischem Sattelkissen zu versehen. Es hatte tatsächlich so ausgesehen, als füge sie sich in ihr Schicksal, doch nun, im allerletzten Augenblick, weigert sie sich schlicht mitzukommen und treibt den armen alten Valkoinen Ilves damit schier zur Verzweiflung. Verzweiflung - und gelinder Ärger - zeigen sich auch in Calaits Gesicht, die eingezwängt zwischen Schließkörben und Packtaschenbergen bereits auf dem Pferd sitzt und fassungslos auf ihre Schwester hinunter starrt (oder es tun würde, könnte sie sehen.) Ein unverständlicher Wortschwall in ihrer beider Muttersprache prasselt von oben herab auf Lía ein, doch die presst nur die Lippen aufeinander und schüttelt trotzig den Kopf. >Nein, Louan,< wird auch dem Luchs beschieden, der sie mittlerweile in seiner Hilflosigkeit tatsächlich anknurrt. Colevar tauscht einen Blick mit der Katze, schüttelt den Kopf, nimmt ihre Schultern und dreht sie zu sich um. "Es sind vier Schafe, Lía", erinnert er sie mit sich allmählich erschöpfender Geduld.

Er ist ohnehin in alles andere als einer guten Verfassung, er ist geritten, als wären die Dämonen aller Neun Höllen hinter ihm her, er hat Schmerzen, Hunger und ist erschöpft und sein Inneres ist im Augenblick auch nicht gerade das, was man als ruhig und ausgeglichen bezeichnen könnte. Es ist eigentlich das reinste Wunder, dass er sie nicht einfach bewusstlos schlägt und quer über den Sattel legt, zum Dunklen mit ihrem Viehzeug. "Sie haben Wasser und Fressen für mehrere Tage und finden auch im Wald genug. Sie sind nicht angebunden oder eingepfercht und können gut auf sich selbst achten. Der Mann, der mich und im Augenblick auch euch verfolgt, ist nicht an ein paar Schafen interessiert. Er wird ihnen überhaupt nichts tun. Wenn du hier bleibst allerdings schon. Dann hat er einen guten Grund auch hier zu bleiben, zumindest für eine Weile, und er wird seine Zeit damit zubringen, sich mit dir zu beschäftigen. Was glaubst du, was seine Männer derweil essen werden?" Ihre Augen werden womöglich noch größer, doch sie scheint ihn überhaupt nicht zu hören oder es ist ihr schlicht gleich, dass sie sich selbst, ihre Schwester, ihn und alle übrigen Tiere mit ihrer Unvernunft in Gefahr bringt - ihr Blick macht immer noch sehr deutlich, was sie von seinem Plan hält. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, in den Arm genommen, ihr versprochen, dass alles wieder gut werden würde und sie dann wieder geschüttelt, doch er hat weder für das eine, noch das andere Zeit, also hebt er sie einfach hoch, wirft sie über seine gesunde Schulter und stapft leise vor sich hin fluchend zu seinem Pferd zurück, da kann sie quietschen und fauchen, mit den Beinen strampeln und mit ihren kleinen Fäusten auf seinen Rücken trommeln so viel sie will. Bei Filidh angekommen setzt er sie in den Sattel und steigt hinter ihr auf, noch ehe sie die Flucht ergreifen und auf der anderen Seite wieder hinunter hüpfen kann, dann legt sich sein linker Arm wie ein Schraubstock um ihre Mitte und sie landet mit einem Ruck wieder an seiner Brust. "Halt still", brummt er und sieht sich nach dem Luchs um. Es braucht nur ein aufmunterndes Nicken in Richtung des Valkoinen Ilves - Louan, wie er inzwischen weiß - und das Tier landet mit einem Satz auf Lías Schoß. Keine Minute später ist das Lager verlassen und ihr schwer beladener, mit wenig Habe, aber vielen Tieren bepackter Zug, bestehend aus einem grauweißen Fryslânerhengst, einer Hunaiastute, zwei Reninkern, einem Onager und einem Fohlen und begleitet von drei Hunden und einem kreischenden Vogel setzt sich so rasch es geht in Richtung Süden in Bewegung.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 05. Okt. 2009, 23:37 Uhr
„Du hast es gewusst, oder? Du wusstest, dass er gehen würde? Was wenn ihm etwas passiert? Warum um alles in der Welt ist er auf seiner eigenen Fährte zurück geritten – er läuft offenen Auges in sein Unglück! Weißt du was das für ein Ärger ist? Wer ist ihm da auf den Fersen?“ Calait glaubt sich erst verhört zu haben, schnappt dann den Hals voll Empörung nach Luft und versteht doch genau, was ihre Schwester eigentlich sagen möchte, wahrscheinlich ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. “Warum hast du mir nichts gesagt? Warum hast du mir nicht gesagt, dass er gehen würde? Du hättest ihn zurück halten müssen! Du hättest ihn nicht auf seiner eigenen Fährte zurückreiten lassen dürfen! Du hast ihn offenen Auges in sein Unglück laufen lassen! Du ahnst doch genau, wie schlimm sein Ärger ist. Du weißt genau, wie gefährlich seine Verfolger sind.“
Normalerweise begegnet sie Lías Ueberfuersorglichkeit mit einem sanften Laecheln und ein paar beruhigender Worte, in diesem Moment aber, wo schliesslich sie selbst moeglicherweise in Gefahr schweben, geht es ihr gehoerig gegen den Strich, dass ihre Schwester ueber die Sorge und Angst um Colevar hinaus ihre eigene Sicherheit, von der der Tiere und ihrer Schwester einmal ganz abgesehen, wieder einmal voellig vergisst. Schaerfer als beabsichtigt erwidert Calait: “ICH bin NICHT verantwortlich fuer Colevar, Lía. Er ist ein erwachsener Mann, der die Konsequenzen seines Handelns gefaelligst selbst auszubaden hat. Welcher Narr ihn auch immer geritten hat, noch einmal umzudrehen, anstatt endlich das Weite zu suchen, es kann unmoeglich mein, und schon gar nicht unser Problem sein. Vielleicht moechte er ja sterben, verfluchte Ahnen nochmals!” Letzteres nimmt sie hastig wieder zurueck, denn sie moechte im Moment vieles, aber auf keinen Fall den Zorn ihrer Ahnen auf sich ziehen, und den Rest der Worte… bereut sie, kaum ist ihr Aerger verraucht. “Verflixt nochmals, ma kalon”, wispert sie tausend mal sanfter, als einen Herzschlag zuvor und lehnt ihren Kopf an Lías Schulter: “So meinte ich das nicht. Nicht wirklich.” Die Gewissensbisse zwicken und zwacken sie und unbehaglich kaut sie auf ihrer Unterlippe herum, auf der Suche nach einer verstaendsnisvolleren Erklaerung, die nicht verschleiert, dass die Kernaussage ihres Ausbruchs durchaus der Wahrheit entspricht. Es dauert einen Moment, bevor sie sich gefasst hat, und glaubt die richtigen Worte gefunden zu haben. “Ja, ich wusste, dass er gehen wuerde,” beginnt sie aufs Neue, streicht sich mit gespreitzten Fingern das Haar aus dem Gesicht und seufzt leise: “Ich ahnte auch, dass er es tun wuerde ohne ein Wort des Abschieds. Und das er auf seiner eigenen Faehrte zurueck geritten ist… Ich nehme an, er will uns schuetzen, indem er sicher geht, dass seine Verfolger zu weit weg sind, als das es sich in ein paar Tagen noch fuer sie lohnen wuerde, uns einzuholen. Moeglicherweise will er sie auch auf eine andere Faehrte locken.” Das ihr dieser Gedanke missfaellt, ist offensichtlich. Und wahrscheinlich moechte er auch verhindern, dass sie die Jagd aud ihn aufgeben. Was ihr noch sehr viel mehr missfaellt, sie aber fuer sich behaelt. Lía vergeht schon fast vor Sorge um ihren verschwundenen Schuetzling – sofern man einen Mann von beinahe zwei Schritt Groesse mit der Kraft eines Baeren als seinen Schuetzling bezeichnen kann -, da muss man ihr nicht noch auf die Nase binden, dass Colevar die Gefahr auch noch in vollem Bewusstsein provoziert. Und das er das tut, steht fuer Calait ausser Frage. Es waere ein Leichtes Colevar als einen armen Irren abzustempeln, der gar nicht recht weiss, mit welchen Daemonen er da gerade `Hasch mich` quer durch Savos Waelder spielt, nur ware das eine glatte Luege. Er weiss, mit wem er es zu tun hat, er weiss, wie gefaehrlich seine Verfolger sind und er haette sie schon vor vielen Tagen weit hinter sich lassen koennen.  Aber er will es nicht. Er will, dass sie ihm folgen, wohin auch immer. Und wissen die Geister, WARUM er es will. Calait moechte es gar nicht erst herausfinden und belaesst es auch dabei. Es reicht, dass sie ihm fuer die spaerlichen Informationen, mit denen er herausgerueckt ist, sowie die Warnung dankbar ist und jetzt dafuer sorgen kann, dass sie selbst sich nicht doch noch ploetzlich mit einem Haufen zorniger Haescher konfrontiert sehen. Deswegen verwundert es auch nicht, dass Lía mehrmals am Tag etwas ueberrascht blinzelt, wenn Calait einmal mehr einen kurzen Zwischenstop verbietet und den ganzen Tross weiterdraengt. Erst als Hiiri immer mehr zurueckfaellt und auch die Schafe oefters mal Anzeichen von Ermuedung zeigen, laesst Calait sich erweichen eine Rast einzulegen. Leider ist Calaits Unnachgiebigkeit nicht sonderlich hilfreich, um der angespannten Stimmung zwischen den Schwestern entgegen zu wirken, weswegen der groesste Teil der Zeit in unangenehmem Schweigen verlaeuft und sogar der Abend, als sie gemeinsam am Lagerfeuer sitzen, keine Erloesung mit sich bringt. Calait, wissend, dass Lía ihr immer noch boese ist, weil sie die armen Tiere so gehetzt hat, fuegt sich schicksalsergeben ihrer neuen, hoffentlich zeitlich begrenzten Rolle als herzlose Tyrannin und macht das Abendessen, um schon am naechsten Morgen noch vor Sonnenaufgang zum Weitermarsch zu blasen.

Am Tag darauf werden sie von feinem Nieselregen geweckt und innerhalb von Minuten wogen schwere, graue Regenschleier ueber das Land hinweg und tauchen es in eine eintoenige Suppe aus Braun, Gruen und Grau. Noch vor Mittag sind beide Frauen bis auf die Unterkleider durchnaesst und schlottern in trauter Zweisamkeit um die Wette, als gelte es das liebe Leben. Trotzdem laesst Calait nicht zu, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit anhalten und ein Feuer entfachen. Stattdessen verteilt sie irgendwann einen Grossteil ihres Gepaecks auf die Ruecken der Pferde und des Onagers und hievt dafuer mit Lías Hilfe die Schafe auf den Wagen, deren Wolle sich vollgesogen hat mit Wasser und die Tiere durch das Gewicht immer tiefer im Schlamm einsinken laesst. Leider passiert das auch mit dem Wagen. An einer besonders steilen Stelle, wo der anhaltende Regen den Feldweg in eine lebensgefaehrlich Rutsche aus Schlamm, Wasser und Morast verwandelt hat, verlieren die Pferde den Halt unter den Hufen. Sie haben dem Gewicht, das hinter ihnen herrollt, rein gar nichts entgegen zu setzen auf dem glitschigen Untergrund und es ist reines Glueck, dass keine Achse bricht, der Wagen nicht umkippt, weder Zhaabiz noch Adnan sich bei dem kurzen Intermezzo verletzen und der Weg unterhalb des Hanges ein ganzes Stueck einfach geradeaus weiter verlaeuft, so dass das Gefaehrt ausrollen und die Pferde sich wieder fangen koennen. Gleich darauf haelt Lía den Wagen an und meint mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet, dass sie jetzt sofort und auf der Stelle anhalten und sich einen Rastplatz suchen wuerden, bevor ihre komplett uebergeschnappte Schwester mit ihrer Hetzerei noch eines der Tiere zugrunde richten koenne… und Calait fuegt sich fuer einmal wortlos. Es war keineswegs ihre Absicht ihren Freunden zu schaden. Allerdings ist die Angst von dem Aerger eingeholt zu werden gross genug, um Lías Bitte um Schonzeit schon am naechsten Morgen wieder in den Wind zu schlagen und sich schlammbespritzt und tropfend von den Zehen bis zu den Haarspitzen wieder auf den Weg zu machen.
Die Tage beginnen grau, sind grau, und enden grau und nach der dritten Nacht haben sie kein einziges, trockenes Hemd mehr. Ausserdem verdirbt die ewige Feuchtigkeit ihnen das Futter fuer die Tiere, das Mehl und die restlichen zwei Brotlaibe, das Wasser aus den Fluessen und Baechen ist braun von aufgewuehlter Erde und abgetragenem Gras und schmeckt auch dementsprechend und Lía verbringt einen halben Tag damit auf der schaukelnden und ruckelnden Ladeflaeche des Wagens zu stehen und die eingerissene Plane zu flicken. Beinahe synchron sprechen sie ein Dankgebet an saemtliche Geister im Himmel und in der Hoelle, als der Regen gegen Mittag des fuenften Tages ihnen eine Verschnaufspause goennt und der Sonne einen kurzen Blick durch die pechschwarze Wolkenwand gewaehrt. Sie nutzen den Moment der Ruhe, um sich etwas von den Strapazen des vergangenen Siebentags zu erholen, ihre Kleider zu trocknen, die Umhaenge auszuwringen, Holz zu sammeln, ein Feuer anzufachen – wenn auch ein klaegliches, dessen Rauchfahne zehn Tausendschritt gegen den Wind zu sehen ist -, aus dem letzten Rest Weizen Mehl und dann Brot herzustellen, die Pferde zu putzen, die Hunde auf die Jagd zu schicken und die gefangene Beute zu haeuten, zu zerlegen und teilweise in  dem noch nicht verklumpten Salz zu einzulegen. Es ist einfache Arbeit, aber nach dem langwierigen Trott der letzten Tage eine willkommene Abwechslung und obwohl Lías Sorge um Colevar nicht weniger geworden ist, laesst sie sich doch gelegentlich zu einem Laecheln oder einem kleinen Scherz unter Schwestern hinreissen. Calait tut es in der Seele weh zu fuehlen, dass Lía diesen wortlosen Abschied sehr viel schlechter verkraftet, als viele andere zuvor, und nahezu alle drei Stunden betet sie zu ihren Ahnen, sie moegen den blonden Fremden sicheres Geleit geben.
In der darauffolgenden Nacht raubt ihr ein ungutes Gefuehl in der Magengegend den Schlaf. Unruhif waelzt sie sich von einer Seite auf die andere, zermartert sich den Kopf, woher die dunkle Vorahnung kommen mag und treibt damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Schwester und die ganzen Tiere beinahe in den Wahnsinn. Lía, feinfuehlig und sensibel wie eine Fee, fragt mindestens drei Dutzen mal, was denn los sei und erhaelt drei Dutzend mal die genau gleiche Antwort: “Ich weiss es nicht, ma kalon. Versuch jetzt zu schlafen.” Aber keine von ihnen macht laenger als fuenf Minuten die Augen zu und als die zarte Morgenroete in einem schimmernden Gewand aus Silber, Orange und Rosa einen neuen, herrlich schoenen Tag verkuendet krabbelt Calait voellig zerschlagen und todmuede aus den Fellen und Decken. Sie bietet Lía gar keine Moeglichkeit laenger als noetig ueber ihr seltsames Verhalten nachzudenken, sondern treibt die gesamte Kompanie zu einem raschen Aufbruch.

“Ihr Ahnen meiner Vaeter.

Das Land ist kalt, die Felder leer,
der Winterwald weht kahle Bäume hin und her,
die Vögel ziehn gen Süden hin.
Ist alles weiß und Schnee fällt leis, dann schlafen Bären ein.
Sie tun, was ihr Herz sie lehrt und geben sich hin.

Ihr Ahnen meiner Muetter.

Wenn ich doch genauso wär, dann wüßt ich, was zu tun,
doch wo führt mein Weg mich hin?
So viele Stimmen geh'n mir durch den Sinn,
und welche sagt mir, wohin ich wirklich geh?
Was wird geschehn? Wo führt mein Weg mich hin?

Ihr Ahnen meiner Brueder.

Ich lernte viel, ich lebte frei,
die Wahl traf mich, der Abschied brach mein Herz entzwei,
der Weg wird schwer zu finden sein.
So weit, verwirrt, wohin er führt, das liegt an mir allein.
Alles, was vertraut mir war, kenn ich nicht mehr.
Ja, ich will ein neues Ziel, ich wünsch es mir so sehr,
doch wo führt mein Weg mich hin?

Ihr Ahnen meiner Schwestern.

So viele Stimmen gehn mir durch den Sinn,
und welche sagt mir, wohin ich wirklich geh?
Was wird geschehn? Wo führt mein Weg mich hin?”

Fest drueckt Calait das Amulett in Form ihres Totems an ihre Brust, waehrend das Lied nur ganz leise, mehr gesprochen denn gesungen ueber ihre Lippen kommt. Es ist ein altes Lied, das der Tradition nach von Kindern gesungen wird, die sich auf der Suche nach ihrem Totemtier befinden. Calait weiss mit welchem Tier ihre Seele verbunden ist und auf welche Zeichen sie achten muss, aber die vertraute Melodie hat etwas Troestendes an sich und der Inhalt verspricht Hoffnung und Staerke. Dinge, die sie je laenger je mehr braucht. Mit jedem Tausendschritt, den sie sich weiter vom Ostwall und damit von ihrer Familie entfernen, fuehlt Calait die Verantwortung auf ihren Schultern wachsen und obwohl sie ungebeugt ihres Weges geht, kommt sie nicht umhin darueber nachzudenken, ob es nicht doch besser waere – fuer sie, wie fuer Lía – umzudrehen und in sichere Gefilde zurueck zu kehren. Wir sind noch keine drei Monde weg und wurden schon fast wegen Rufmordes eingekerkert, haben ein Fohlen gestohlen, einen Axenbruch erlitten, einem Muellerssohn das Bein geschient, nur um es gleich darauf fast wieder zu brechen, einen verletzten Krieger mitten im Nirgendwo mal eben aufgesammelt und hetzten jetzt gejagt von Maennern, die eigentlich gar nicht hinter uns, sondern hinter besagtem Krieger her sind, durch die eigentlich beschaulichen, nur leider regengeschuettelten Waelder Immerfrosts, in der Hoffnung bald den Frostweg zu erreichen. Geister helft, was hab ich mir nur dabei gedacht. Wobei ich weniger gedacht, als getan habe. Noch nie zu stolz um stark zu sein, muss sie sich in diesem Moment doch eingestehen, dass sie ihr Versprechen, dass sie ihrer Mutter gegeben hat, auf die Dauer nicht wird halten koennen… und das ein Wildfremder es an ihrer Statt fuer eine Nacht getan hat.
“Colevar”, murmelt sie leise und schmeckt eine ungewohnte, aber nicht unbekannte Waerme in ihrem Mund, die sie nachdenklich stimmt und ihr das Gefuehl gibt, etwas Bedeutendes zu uebersehen. Als ob der Name mit einem Schloss versehen waere, dessen Schluessel sie besitzt, ohne es zu ahnen. “Colevar”, wiederholt sie noch einmal und lauscht tief in ihrem Inneren, doch nichts ausser gaehnender Stille antwortet ihr. Nur der Wind streicht mit zaertlichen Fingern ueber ihre Wange, als wolle er sagen: Mein Kind, habe Geduld, du wirst deinen Weg finden. Ihre Finger zittern, als sie das Amulett unter ihre Kleidung zurueck schiebt und sich erhebt. Wir werden uns wiedersehen, Colevar. Irgendwann werden wir uns…
”Calait!”
Sie erstarrt in der Bewegung und glaubt erst sich verhoert zu haben. Sie muss sich verhoert haben, weil der Mann, zu dem die Stimme gehoert, ist mindestens sieben Tagesritte weit weg im Osten, in Sicherheit, wo ihnen keine Gefahr mehr drohen kann… dachte Calait. Aber es ist Colevar. Ganz eindeutig und er klingt nicht, als waere er auf der Suche nach einem Kaffeekraenzchen.… also mit irgendwann meinte ich nicht unbedingt jetzt auf der Stelle und sof…
"Calait!"
Augenblicklich nimmt sie die Beine in die Hand und angelt sich von Baum zu Baum in Richtung des Lagerplatzes, wo selbst der warme Feuerschein nichts gegen die ploetzliche Kaelte ausrichten kann, die Calait befaellt. Als wuerde die Gefahr, die Colevar im Nacken sitzt, seinen Atem vorausschicken und obwohl sie sich sogar sehr freut ihn immerhin lebend wiederzusehen, so braucht sie keinen Wink mit dem Zaunpfahl um die Situation und das eigentlich Problem zu erfassen. Deswegen verschwendet sie auch keine Zeit, sondern fragt ohne Umschweife in die Richtung, in der sie Colevar vermutet: “Was sollen wir tun?” Er rattert eine ganze Liste von Anweisungen hinunter, die Calait mit fast schon beaengstigender Ruhe erfasst. Sie nickt, nickt noch einmal und macht dann auf den Fersen kehrt, um den Anordnungen ohne ein weiteres Wort nachzukommen. Eilig, aber ohne sich zur Unvorsicht hinreissen zu lassen, sucht sie alle wichtigen Sachen zusammen, darunter ihre Felle und Decken, ihre Umhaenge, jeweils eine Garnitur frische Kleidung, die restlichen, noch nicht vergammelten Vorraete, ihren gesammten Schmuck, Schleudern und Dolche, sowie Lía neue Stiefel, die noch immer als Brutplatz fuer ein verwaistes Eulenjunges herhalten muessen. Lía sammelt derweil alles ein, was auch nur ansatzweise wie ein Tier aussieht und ihnen gehoeren koennte und verstaut es brav – und ueberraschenderweise ohne sich auch nur einmal gegen Colevars Beschluss, die Schafe und den Wagen zurueck zu lassen – aufzulehnen. Erst als alles verschnuerrt, festgezurrt, verlagen und verpackt ist, Calait auf dem Ruecken des Reninkerhengstes hockt, eingepfercht zwischen zwei Satelltaschen voller Getier, einem Jadeotterweibchen vor sich im Sattel und einem Schleiereulenjunges in den Rockfalten, wird klar, dass Lía nicht so einsichtig ist, wie sie sich gegeben hat. Es ist nicht so, dass Calait ihre Schwester nicht versteht. Auch ihr behagt es nicht, die Schafe ohne Schutz in einem Wald voller Baeren, Woelfen und Raubkatzen ihrem Schicksal zu ueberlassen, schliesslich mag sie die Tiere und schaetzt sie sehr, aber sie wuerde dafuer nicht ihr Leben und schon gar nicht das Leben ihrer Schwester riskieren.

Sie hoert das vernehmliche, erschreckend gereizte Knurren Louans und klappt irritiert den Mund auf, um sich nach der Ursache zu erkundigen, als Lía schon Antwort gibt. ”Nein, Louan, hoert sie ihre Schwester sagen und die Entschlossenheit trifft sie wie ein Schlag ins Gesicht. “Nein, Louan?”, echot sie noch immer mit offenem Mund, bevor ein wildes Gemisch aus Angst, Veraergerung und leichte Panik sie geraeuschvoll aufkeuchen laesst. Hastig versucht sie nach der Hand ihrer Schwester zu greifen, aber ihre Finger bekommen nur noch den Hauch von Rosen zu fassen. “Lía”, zischt sie, laengst nicht mehr so gefasst, wie einen Herzschlag zuvor: “Lía, mach keine Dummheiten! Setz dich augenblicklich auf Colevars Pferd, hast du gehoert. Bitte, Lía, das ist kein Spass mehr. Ich weiss, wie sehr du an den Schafen haengst, aber du kannst fuer sich nicht unser aller Leben aufs Spiel setzen.” Und du weisst genau, dass ich bleibe, wenn du auch bleibst. “Lía, mach, dass du auf dieses Pferd kommst, oder ich schwoere dir, ich … ich… steige ab und bleibe auch hier!” Das diese Drohung reichlich sinnlos ist, wenn auch mitunter die wirksamste, ist Calait klar und als Lía noch immer keine Anstalten macht, endlich in die Gaenge zu kommen, dreht sie den Kopf ungefahr zu Colevar und fleht ihn mit wachsender Verzweiflung an: “Colevar! Tu! Etwas!” Und Colevar tut. Zwar bemueht auch er sich erst um Verstaendnis und Geduld, schiebt Anstand und Manieren aber sehr schnell in den Hintergrund, als Lía weiterhin keine Einsicht zeigt, und wirft sie sich mit einem Ruck einfach ueber die Schulter. Calait braucht gar keine Augen, um es zu sehen. Die Geraeusche geben ihr ein genaues Bild von dem, was gerade vor sich geht und aller widrigen Umstaende zum Trotz kann sie sich ein hauchduennes Schmunzeln nicht verkneifen. Colevar flucht und stoehnt, Lía zischt, zetert und schreit. Zumindest so lange, bis ihr klar wird, was ihr Gezappel ihn fuer Anstrengung kostet und blankes Ensetzen sie einholt. Aus “AAAH! Lass mich sofort und auf der Stelle runter! Ich kann nicht gehen. Ich kann sie nicht alleine zuruecklassen!” wir urploetzlich: “AAAHH! Deine Schulter! Bist du des Wahnsinns?! Lass mich sofort runter, du machst es nur schlimmer!” Sie bettelt, fleht, winselt und jammert und stoesst – Calait dankt allen Ahnen gleichzeitig dafuer – auf taube Ohren, bis Colevar sie da hat, wo ein jeder aussert ihr selbst sie haben will. Vor ihm, im Sattel, ohne die geringste Fluchtmoeglichkeit.
Und dann reiten sie los, in einem Tempo, dass Calait das Herz in die Hosen sinken will. Zwar faellt es ihr nicht schwer, sich Adnans Bewegungen anzupassen, aber sie hat keinerlei Moeglichkeit dem Geaest, das auf ihrer Hoehe haengt, auszuweichen. Zweige peitschen ihre ununterbrochen ins Gesicht, Nadeln kratzen ueber ihre Wangen und ihre Stirn und  ihr Haar verfaengt sich in den Blaettern und der Rinde. Geschmeidig, ohne dabei eines der unzaehligen Tiere bei sich zu erdruecken, lehnt sie sich noch etwas mehr nach vorne, bis sie die lange, wilde Maehne des Hengstes auf ihrer Haut spuert und sein warmes Fell riecht. Colevar goennt ihnen gar nichts und schont sich selbst noch viel weniger. Bis kurz nach Mitternacht draengt er sie in dieser moerderischen und zumindest fuer die Reninker, den Onager und das Hunajafohlen absolut ungewohnten Geschwindigkeit ueber Stock und Stein und Flussbett und Baumstumpf, bis er an einem mittelgrossen Gebirgsbach, der noch immer hoch Wasser traegt, endlich seinen Hengst zuegelt und das vorlaeufige Ende ihrer Flucht verkuendet.
Calait sagt kein Wort. Zerschrammt, zerfleddert, von oben bis unten mit auffaelligen Kratzspuren uebersaeht und mit einem zitternden und fiepsenden Noraya um den Hals rutscht sie mit einem unterdrueckten Stoehnen von dem bebenden Pferderuecken und wuenscht sich spontan einen ganzen Eisberg fuer sich alleine. Au… Auauauau. Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck verbeisst sie sich jeglichen Jammerlaut, nimmt sich insgeheim aber vor in der naechsten Zeit wieder oefters und vor allem lange zu reiten. Jetzt aber entledigt sie den Hengst von Zaumzeug und Decke und reicht ihn dann, ohne Gepaeck und sonstigem lebenden Anhaengsel, an Colevar weiter, der saemtliche Pferde ins Wasser fuehrt. Calait bemueht sich derweil angestrengt nicht allzu breitbeinig zu laufen, ohne dabei bei jedem Schritt schmerzgepeinigt aufzukeuchen, und macht sich daran ein kleines, aber feines Feuer zu entfachen. Innert kuerzester Zeit hat sie von den Vorraeten alles Noetige fuer ein anstaendiges Nachtmahl zusammen gesucht und hantiert mit Flechten, ueberreifen Sommerbeeren, etwas Weizenflocken und frischem Kaninchen herum, derweil Lía es sich natuerlich nicht nehmen laesst – wo er ihr doch auch noch freiwillig wieder in die Arme gelaufen ist – Colevars Wunde noch einmal zu untersuchen. Calait kriegt am Rande mit, dass ihre Schwester ihn dazu aus seinem vor Schmutz starrenden Wams und Hemd schaelen und dann von ihr angelegten Bandagen regelrecht abkratzen muss, um ueberhaupt an die Wunde ran zu kommen. Dabei schnappt sie mindestens fuenfzehnmal entsetzt nach Luft, schimpft ihn zehnmal einen Dummkopf und entschuldigt sich mehr als doppelt so oft, weil sie ihm ein wenig weh tun muss. Calait schweigt weiterhin, kuemmert sich darum, dass das Kleingetier, sowie die Voegel etwas zu essen bekommen und nutzt einen passenden Augenblick, als Lía gerade dabei ist frisches Wasser zu holen, um sich vor Colevar auf ein Knie herabzulassen und ihm mit einem halb ernsten, halb belustigten Grinsen zu bescheren: “Wenn du dich morgen wieder wie ein Dieb in der Nacht davonstiehlst, dann werde ich dich finden und du wirst dir wuenschen uns nie begegnet zu sein.” Nach nur einer Sekunde fuegt sie mit einem dezenten Raeuspern hinzu: “Sofern du das nicht sowieso schon tust. Nun ja. Auf jeden Fall ertrage ich Lía in dem Gemuetszustand keinen Siebentag laenger.” Daraufhin wird ihr Laecheln noch ein wenig breiter und offener und es bleibt nichts als ehrliche Freude in ihrer Stimme, als sie leise fluestert: “Ausserdem ist es schoen dich wieder… wieder gefunden zu haben.” Dieses Mal ist sie es, welche die Hand hebt und ihre Finger ganz sanft ueber die Linie seines Wangenknochens und das wuchernde Bartgestruepp gleiten laesst. Obwohl es eine unglaublich zarte Beruehung ist, hat sie nichts anzuegliches, oder gar kokettes an sich, sondern wirkt natuerlich und entspannt, als sei es die uebliche Vorgehensweise bei einem Gespraech, seinem Gegenueber einfach ins Gesicht zu patschen. Calait aber sieht in diesem Moment so viel mehr, als sie es mit ihren Augen haette tun koennen und in ihrem Kopf bildet es sich langsam aber sicher eine ungefaehre Vorstellung von dem Mann, den sie da vor sich sitzen hat.
Als sie Lías Schritte hoert, zieht sie die Hand ohne Hast zurueck und laechelt zu ihrer Schwester auf: “Wie lange brauchst du noch?” Sie haette Colevar gerne noch ganz andere Dinge gefragt, aber dazu bleibt auch noch Zeit, wenn Lía schlaeft.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 06. Okt. 2009, 01:04 Uhr
“ICH bin NICHT verantwortlich fuer Colevar, Lía. Er ist ein erwachsener Mann, der die Konsequenzen seines Handelns gefaelligst selbst auszubaden hat. Welcher Narr ihn auch immer geritten hat, noch einmal umzudrehen, anstatt endlich das Weite zu suchen, es kann unmoeglich mein, und schon gar nicht unser Problem sein. Vielleicht moechte er ja sterben, verfluchte Ahnen nochmals!”
Wie vom Blitz getroffen sitzt sie einfach da und starrt ihre Schwester fassungslos an. Es ist bei Leibe nicht das erste Mal, dass sie Calait wirklich wütend erlebt und auch nicht das erste Mal, dass sie diese Wut gegen sie richtet – aber bisher hat die Ältere sie noch nie dermaßen angeschnauzt. Und das in vollem Bewusstsein, dass ihre Worte sie schwer treffen würden. Lía schluckt leer und wendet den Blick ab und starrt ins Leere nicht wissend wie sie reagieren soll.
“Verflixt nochmals, ma kalon. So meinte ich das nicht. Nicht wirklich.”
Als sie spürt wie Calait sich an sie lehnt erwidert sie die Geste – jedoch immer noch zu erschrocken über den plötzlichen Ausbruch ihrer Schwester um es auch nur zu wagen den Mund aufzumachen.
“Ja, ich wusste, dass er gehen wuerde. Ich ahnte auch, dass er es tun wuerde ohne ein Wort des Abschieds. Und das er auf seiner eigenen Faehrte zurueck geritten ist… Ich nehme an, er will uns schuetzen, indem er sicher geht, dass seine Verfolger zu weit weg sind, als das es sich in ein paar Tagen noch fuer sie lohnen wuerde, uns einzuholen. Moeglicherweise will er sie auch auf eine andere Faehrte locken.”
Wortlos dreht Lía sich zu ihr um und schließt sie in die Arme. „Es tut mir so leid…“, ist alles was sie hervorbringt bevor sie ihr Gesicht in den dunklen Locken der Älteren vergräbt. Natürlich weiß sie, dass Calait ebenfalls um Colevar besorgt ist und sie weiß auch, dass sie ihr aus gutem Grund nichts davon gesagt hat, dass er aufbrechen würde; und dennoch ist es genau diese Tatsache die sie so verletzt. „Ich…ich…ich hätte nur nicht gedacht….dass..dass es so plötzlich kommt…“, flüstert sie verschreckt am Ohr der Älteren.
Es dauert eine geraume Weile bis Lía sich endlich von ihr löst und Calait behutsam die Zügel aus der Hand nimmt. Obwohl sie ihrer Zwillingsschwester nichts nachträgt bleibt ihre Stimmung bedrückt, den ganzen Tag über verhält sie sich außergewöhnlich schweigsam und auch die darauffolgenden Tagen meidet sie längere Gespräche. Nicht etwa weil sie böse auf Calait ist, dies Bedeutung dieses Wortes ist ihr völlig unbekannt. Die Jüngere der beiden Schwester verzeiht alles und zwar jedem. Ganz egal was man ihr auch antut, sie bringt es nicht über sich wütend zu sein. Selbst ihre Großmutter kann sie nicht hassen dafür was sie Calait angetan hat…im Gegenteil: sie liebt die alte Frau und vermisst sie unendlich, auch wenn diese Worte niemals ihre Lippen verlassen werden. Sie schämt sich dafür, grenzt es doch an Hochverrat genau den Menschen zu lieben der ihre liebste Schwester aus der Sicherheit ihrer Familie gerissen hat, ihr das Augenlicht geraubt und mit Schimpf und Schande davon gejagt hat.

Zwar ermahnt Lía Calait immer wieder dazu nicht so zu hetzen, doch wird sie immer wieder aufs Neue ignoriert, was sie schließlich dazu veranlasst sich seufzend zu fügen. Erst als Calait in ihrem Wahnsinn droht die Tiere zu Schanden zu reiten ist für die Jüngere der Punkt gekommen an dem sie sich nicht mehr von irgendwelchen Argumenten überreden lassen wird – völlig egal wie berechtigt Calaits Sorge auch sein mag; für Lía ist dies noch lange kein Grund das Wohl der Tiere zu riskieren. Den Ahnen die Dank sieht das auch ihre Schwester ein und fügt sich zähneknirschend nachdem sie nur mit Glück einem Achsenbruch, dem Verlust ihrer Pferde und eigenen Verletzungen entgangen sind. Leider nicht für lange. Schon am nächsten Morgen drängt Calait bereits wieder zum Aufbruch. Schnell muss Lía erkennen, dass es sinnlos ist ihr das ausreden zu wollen und da sie nicht gewillt ist den Unmut ihrer Schwester erneut auf sich zu ziehen, sie kann nur schlecht damit umgehen wenn Calait wütend auf sie ist, gibt sie schließlich nach und fügt sich in Unvermeidliches. Immer noch ist die Stimmung zwischen den Schwester angespannt. Jede von ihnen hängt ihren eigenen Gedanken nach - die eine der drohenden Gefahr, die andere in stetiger Sorge um Colevar – und reden wenig. Der anhaltende Regen trägt auch nicht unbedingt dazu bei, dass sich die Laune der beiden Frauen verbessert vor allem da sie schon nach wenigen Tagen feststellen müssen, dass der Großteil ihrer Vorräte verdorben ist. Lía spürt immer deutlicher, dass sie langsam an ihre Grenzen stößt. Je länger sie durch die Wälder hetzen ohne sich oder die Tiere zu schonen um so schlechter fühlt sie sich. Sie isst kaum noch etwas und das Schwindelgefühl macht es ihr zwischenzeitlich fast unmöglich den Wagen zu lenken, weshalb sie froh ist, dass die Pferde auch so ihren Weg finden.

Doch als am Abend des fünften Tages plötzlich Colevar vor ihr steht sind die ganzen Strapazen und Entbehrungen der letzten Tage schlagartig nichtig geworden und das einzige was von Bedeutung ist, ist dass er lebt und es ihm – zumindest den Umständen entsprechend – gut geht.
Allerdings wird ihrer Freude schnell ein Dämpfer verpasst als sie hört was er zu sagen hat. Lía wird nicht ohne die Schafe gehen – selbst Calaits Drohungen können sie nicht dazu bewegen auf Colevars Pferd zu steigen und die Tiere zurückzulassen. Schnell muss auch Colevar einsehen, dass er mit seinen Argumenten nicht weiter kommt. Für dich sind es nur Schafe…für mich sind es meine Freunde…meine Familie…wie kann ich sie da zurücklassen? Doch scheinbar hat seine Geduld nun endgültig ihre Grenzen erreicht, denn plötzlich packt er sie und bevor Lía auch nur weiß wie ihr geschieht hat er sie über die Schulter geworfen und stapft stöhnend und fluchend zurück zu seinem Hengst.
“AAAH! Lass mich sofort und auf der Stelle runter! Ich kann nicht gehen. Ich kann sie nicht alleine zuruecklassen!”, winselt sie und wehrt sich mit Händen und Füßen, doch gegen den Krieger kommt sie nicht an. Dann, urplötzlich, verstummt sie und Entsetzen flackert in ihren Augen auf. “AAAHH! Deine Schulter! Bist du des Wahnsinns?! Lass mich sofort runter, du machst es nur schlimmer!” Jedoch werden auch diese Worte ignoriert. Colevar packt sie grimmig auf den Rücken seines Pferdes bevor er selbst hinter ihr aufsteigt und ihre Mitte so fest umschließt, dass sie kaum noch Luft bekommt.

Sie wehrt sich nicht länger, selbst der durch Colevars doch reichlich grobe Behandlung verursachte Schmerz kann sie nicht dazu bringen auch nur einen Mucks von sich zu geben. Lía will doch niemanden in Gefahr bringen, aber versteht er denn nicht? Ist ihm denn nicht klar was er da von ihr verlangt? Vermutlich nicht. Woher sollte er es auch wissen? Gefangen in ihren Schuldgefühlen sackt sie in sich zusammen, aber sie verbietet es sich zu weinen. Es würde nichts bringen. Im Gegenteil. Alles was sie damit bezwecken würde wäre, dass ihre Schwester sich noch mehr Sorgen machen müsste. Nur Louans leises Winseln lassen darauf schließen was gerade in der Jüngeren vorgeht. Der Luchs spürt ihre bodenlose Trauer und das Gefühl des Verrats als wäre es seine eigene. Kurz huscht ihr Blick zu Calait. Lía weiß, dass ihre eigene Schwäche oft genug Grund dafür ist, dass ihre Schwester ebenfalls leiden muss und diese Erkenntnis ist bitter. Sie lockert den Griff um die Brust des Luchses ein wenig, so dass es ihr gelingt ihre Hand auf Colevars Arm zu legen. Fast ängstlich berührt sie seine Hand, bevor sich ihre zierlichen Finger dann in den Stoff seines Hemdes krallen und ihr Kopf gegen seinen Oberarm sinkt. „Versprich mir, dass ihnen nichts passiert…“, ihre Worte sind so leise dahingehaucht, dass das Geräusch der durch die Nacht galoppierenden Pferde sie fast verschluckt. Natürlich weiß Lía, dass es nicht in seiner Macht liegt, dass er ihr dieses Versprechen zwar geben kann, aber keinen Einfluss darauf hat. Und dennoch: seine Worte wären genug. Colevar würde sie glauben.

In den drauffolgenden Stunden ergreift sie kein einziges Mal mehr das Wort. Stumm, mit in die Ferne gerichtetem Blick auf etwas, das wie es scheint nur für sie ganz allein sichtbar ist, sitzt sie eng an Colevar geschmiegt auf dessen Pferd. Ab und an dringen unterdrückte Schmerzenslaute an ihr Ohr, die ihr immer wieder deutlich vor Augen führen, dass ihr Hintermann eine Fehlentscheidung getroffen hat. Calait, zwar durchaus in der Lage zu reiten, ist jedoch aufgrund ihrer Blindheit der Natur um sie herum hilflos ausgeliefert. Im Stillen für sich beschließt sie, dass sie es nicht wieder zulassen wird, dass Calait allein reitet.
Doch ihre Schwester ist nicht die einzige um die sich ihre Gedanken drehen. So sehr Colevars Rückkehr sie auch freut, so löst sie ebenso Verwirrung in Lía aus. Warum bist du zurück gekommen?  Du könntest längst in Sicherheit sein; warum riskierst du alles? Wir sind deine Schafe und dennoch lässt du dich von uns aufhalten….

Als sie schließlich bereits lange nach Einbruch der Dunkelheit endlich Rast machen wäre Lía vermutlich einfach aus dem Sattel gestürzt hätte Colevar sie nicht festgehalten. Obwohl sie sich elend fühlt und alles andere als sicher auf den Beinen ist schlägt sie seine helfend dargebotene Hand aus und bedeutet ihm sich zu setzen, damit sie sich um seine Wunde kümmern kann. Trotz ihres erbärmlichen Zustandes sind ihre Hände ruhig als sie ihn verarztet und ihr Blick konzentriert. Die ganze Zeit über hüllt sie sich in Schweigen, schimpft nur einige wenige Male über seine Fahrlässigkeit und gibt erschrockene Laute von sich als sie sieht, in welchem Zustand seine Schulter ist. Da die Wunde sich erneut entzündet hat alles andere als sauber ist sieht ihr sauberes Wasser sehr schnell aus wie eine unklare Brühe, woraufhin sie sich stumm erhebt um neues zu holen. “Wie lange brauchst du noch?”Erst als sie ihm wieder in sein Hemd geholfen hat verharrt sie einen Herzschlag in einer sitzenden Position vor ihm und sieht ihm direkt in die Augen. "Gleich", antwortet sie zittrig und mit deutlicher Verspätung auf Calaits Frage. Die Fassade beginnt zu bröckeln. Und plötzlich schließen sich ihre Arme um seine Hüften und ihr Kopf lehnt gegen seiner breiten Brust. Was auch immer sie bis zu diesem Moment aufrecht gehalten hat, jetzt ist es weg und alles was bleibt ist es zittriges, verschrecktes, gepeinigtes Etwas. Lía weint so Herz zerreißend wie noch nie zuvor. In diesem Augenblick bricht alles was sich angestaut hat hervor; all die Sorge, der Schmerz, die Trauer, die Anspannung, Erleichterung….All diese Gefühlen überrollen sie mit einer solchen Heftigkeit, dass sie fürchtete in diesem Meer an Emotionen zu ertrinken.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 06. Okt. 2009, 23:56 Uhr
Ihr Ritt ist hart und schnell, und ihr Weg nach Süden führt sie über Stock und Stein. Sie jagen über weglose Waldlichtungen, rutschen und schliddern vom Regen aufgeweichte Steilhänge hinunter und donnern über schmale Saumpfade mit einem weichen Boden aus tausendjährigem Humus. Für Filidh ist dieser nächtliche Ritt bestenfalls eine kleinere Anstrengung und das Fliegengewicht Lias spürt der Fryslâner vermutlich noch nicht einmal. Die Pferde der beiden Mädchen jedoch sind solche Gewaltritte alles andere als gewohnt, so dass sie weitaus langsamer voran kommen und weniger Tausendschritt zurücklegen, als er gehofft hat. Dennoch geben die Tiere ihr bestes und sogar das kleine Hunaiafohlen hält gut mit. Lía war wirklich leicht wie ein Kind gewesen, als Colevar sie hochgehoben und in den Sattel verfrachtet hatte; jetzt schmiegt sie sich auch wie ein Kind an ihn, ein verängstigtes und verwirrtes Kind. Und ein schweigsames... Dummerweise - oder allen Göttern sei Dank, je nachdem, im Augenblick jedoch sehr viel eher dummerweise - ist sie kein Kind. Sie mag die großen, scheuen Augen eines Rehs ihr Eigen nennen, aber ihr Mund gehört eindeutig verboten und sie ist vielleicht klein und zierlich, aber sie besitzt einen durchaus fraulichen Körper mit sanften, weichen Rundungen an genau den richtigen Stellen. So eng an ihn gedrückt wie jetzt gerade kann er das beim besten Willen nicht ignorieren, auch wenn er sich geradezu heroisch darum bemüht. Irgendwann, mitten unter ihrem Ritt, bricht Lía ihr Schweigen doch, wenn auch nur für wenige Worte und verliert viel von ihrer bisher stocksteifen Haltung. Ihre Finger berühren seine Haut, packen den Stoff seines Hemd und halten sich fast verzweifelt fest, was völlig unnötig ist, weil seine Arme sie zu beiden Seiten umschließen und der hohe Vorderzwiesel des Sattels sie der ganzen Länge ihres Rückens nach an ihn presst. Dennoch versteht er ihren Wunsch nach einem Halt, einer Berührung, nach irgendetwas in diesem ganzen Durcheinander, nimmt die Zügel in eine Hand und legt den Arm wieder um ihre Mitte, sehr viel sanfter diesmal, als bei ihrem überstürzten Aufbruch. >Versprich mir, dass ihnen nichts passiert...< Flüstert es unter seinem Kinn und ihre Stimme klingt so besorgt, dass es ihm einen leisen Stich versetzt. Er weiß so gut wie sie, dass er ihr das nicht versprechen kann, aber vielleicht muss sie ja auch nur die Worte aus seinem Mund hören. "Es wird ihnen nichts passieren", erwidert er also ebenso leise, aber mit großer Überzeugungskraft. Colevar glaubt tatsächlich nicht, dass Riku sich mit ein paar Schafen aufhalten wird - und da sie sie zurückgelassen hatten, käme der Immerfroster auch noch nicht einmal auf den Gedanken, dass sie irgendjemandem etwas bedeuten könnten. Abgesehen davon ist er hinter ihnen her und würde niemals die kostbare Zeit verschwenden, die es brauchen würde, die Tiere zu schlachten und zu braten - und damit sind die vier Schafe so sicher, wie sie nur sein können. Der Rest ihres Rittes vergeht - bis auf gelegentliche Schmerzlaute Calaits hinter ihnen - in Schweigen.

Es ist lange nach Mitternacht, ehe er beginnt, nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau zu halten, weil die Tiere der Mädchen einfach nicht mehr können und auch Filidh allmählich müde wird. Sie halten in einem breiten Tal mit lichterem Baumbestand, dichtem, weichem Waldgras und einem Meer niedriger Preiselbeersträucher, durch dessen Mitte sich ein wild gurgelnder, schäumender Bach schlängelt. Sie suchen sich eine höher gelegene Stelle nahe am Wasser und geschützt von einer mächtigen, uralten Fichte, deren ausladende Äste fast so etwas wie ein hochgewölbtes Dach bilden. Hier bieten der Baum und ein paar Felsbrocken ausreichend Deckung und die Pferde können am Ufer grasen so viel sie wollen. Colevar steigt ab, nimmt ihr Louan ab, der sich schüttelt und dann ins hohe Gras verschwindet, vermutlich um das zu tun, was auch Luchse wenigstens einmal innerhalb eines Sonnenlaufs tun müssen, und hebt dann Lía vom Pferd. Sie will ihn nicht ansehen und sie sagt immer noch kein Wort, doch als er sie auf die Füße stellt, schwankt sie so sehr, dass er sie rasch wieder am Arm nimmt, um ihr Halt zu geben. Sie schüttelt seine Hand ab, blickt sich um und deutet wortlos auf einen größeren Stein in der Nähe. "Nein, Sommersprosse." Er weiß genau, was sie vor hat, doch diesmal würde er sich nicht überreden lassen. "Erst die Pferde." Er sattelt Filidh ab und nimmt den anderen Packtaschen und festgezurrte Körbe vom Rücken, dann bringt er die Tiere zum Bach, tränkt sie und stellt sie einfach ins kalte, fließende Wasser, um ihre überanstrengten Sehnen zu kühlen. Filidh und sein Packpferd, die diese Prozedur bereits kennen, bleiben stehen, lassen sich das Wasser um die Beine rauschen und fressen wo sie sind die Uferränder kahl. Die beiden Reninker der Mädchen sind ebenfalls gelassen oder vielleicht auch nur zu erschöpft um groß Gegenwehr zu leisten, abgesehen davon konnte er schon immer gut mit Pferden umgehen und sie folgen ihm willig. Der Onager und das kleine Hengstfohlen dagegen sind mehr als misstrauisch, was dieses schäumende, unsichere, nasse Bachbett angeht und sträuben sich eine ganze Weile, ehe sie schnaubend und prustend ebenfalls darin herum platschen. Er selbst hat gar nichts gegen kaltes Wasser - eine Menge kaltes Wasser. Am liebsten hätte er sich einfach hineinfallen lassen, ganz gleich wie verflucht eisig es war, doch dafür ist der Bach zu seicht. Nachdem die Pferde versorgt sind, sieht er nach den Hunden und untersucht ihre Pfoten auf Risse und Schwellungen, kann jedoch zum Glück nichts entdecken und füttert sie mit Dörrfleisch aus seinem Gepäck, weil sie ebenso hungrig wie sie alle, aber viel zu abgehetzt sind, um jetzt noch etwas jagen zu gehen.

Als auch das erledigt ist und ihm ein prüfender Blick in die Runde zeigt, dass alles andere Getier entweder schon versorgt wird oder sich selbst etwas zu fressen fängt, hat Calait längst ein kleines Feuer in Gang gebracht, die Schlafpelze ausgerollt und ist nun damit beschäftigt, für ihre eigenen knurrenden Mägen etwas essbares zu fabrizieren. Lía hingegen hat ihre Kräuter, ein paar Tücher und noch andere, wesentlich beunruhigender aussehende Utensilien zusammengesucht und wartet darauf, sich seine Schulter anzusehen. "Ich komme wohl nicht davon, hm?" Will er wissen, als er ans Feuer tritt, doch es ist nur ein Schatten seines üblichen trockenen Humors und sie schüttelt auch nur den Kopf - offenbar will sie immer noch nicht mit ihm reden. Sie schält ihn aus dem ledernen Wams und dem Hemd, zupft ungehalten an den verklebten Verbänden und Leinenkompressen herum und bricht ihr anhaltendes, und, wie er glaubt, verletztes Schweigen nur, um hin und wieder mit ihm zu schimpfen oder bestürzt die Wunde zu kommentieren, der die letzte Woche natürlich alles andere als gut getan hatte. "Schweig mich an soviel du willst, Sommersprosse", murmelt er irgendwann resigniert und starrt an ihr vorbei ins Feuer. Es ist klein, aber es tanzt lebendig und warm. "Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich versuche, dich in Sicherheit zu bringen, denn es tut mir nicht leid." Lía steht abrupt auf und im ersten Moment glaubt er schon, sie mit seinen Worten vertrieben zu haben, doch sie nimmt nur ihre Schüssel, leert sie und geht zum Bach, um frisches Wasser zu holen. Colevar folgt ihr mit den Augen bis die Dunkelheit jenseits des Feuerscheins sie verschluckt. Als er sich wieder umdreht, steht plötzlich Calait vor ihm. Die junge Frau tastet beiläufig nach dem Felsbrocken, auf dem er sitzt, um sich zu orientieren, dann geht sie leicht in die Hocke. >Wenn du dich morgen wieder wie ein Dieb in der Nacht davonstiehlst, dann werde ich dich finden und du wirst dir wünschen uns nie begegnet zu sein,< erklärt sie, doch ihre amüsierte Miene nimmt ihren Worten jeden Stachel. >Sofern du das nicht sowieso schon tust. Nun ja. Auf jeden Fall ertrage ich Lía in dem Gemütszustand keinen Siebentag länger.< In seinen Gedanken sieht er Lías Gesicht vor sich, als er am Abend in ihr Lager geritten war. Sie hatte sich gefreut ihn zu sehen. Sie war ihm entgegengelaufen und durch ihre Augen war ein quecksilbriges Leuchten getanzt... bis sie seinen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Dann hatte er das närrische Weibsbild  wie einen Mehlsack mit sich schleppen müssen und seither hat sie kaum ein Dutzend Worte mit ihm gewechselt. Und einen Blick oder auch nur ein Lächeln hatte er erst recht nicht bekommen. Und alles nur weil du nicht zulassen willst, dass ihr etwas zustößt... oder gibt es noch einen anderen Grund?

Erledigt wie er ist, wünscht er sich plötzlich einen Becher, nein noch besser einen ganzen Krug von diesem Dämonenzeug, das die beiden Branntwein nennen. Feuerkehl... Calait ignoriert seine Worte und flüstert, es sei außerdem schön, ihn wieder gefunden zu haben. Colevar erwidert ihr Lächeln, auch wenn seines sehr viel freudloser ausfällt und sie es gar nicht sehen kann. "Aye? Sag das deiner Schwester. Ich glaube, im Augenblick wäre sie ganz froh, wenn ich wieder verschwinden würde." Calait bleibt ihm eine Antwort schuldig, die wer weiß wie ausgefallen wäre, stattdessen hebt sie die Hand und berührt sein Gesicht mit ihren kühlen Fingerspitzen. Sie fährt über seine Stirn, die Schläfe und folgt der Linie von Wange und Kiefer, tastet über sein Kinn, seinen Mund und zeichnet seine Brauen nach. Er hält still, obwohl er keine Ahnung hat, was sie da tut, bis er sich blitzartig an eine Begebenheit vor fast zwanzig Jahren erinnert, als er ein kleiner Junge gewesen und zum ersten Mal Maester Ballabar in der Steinfaust begegnet  war. Der alte Heiler, schon damals fast völlig blind, hatte sein Gesicht auf ganz ähnliche Weise berührt, um sich ein Bild von seinem Aussehen zu machen. Einen Moment verharrt ihre Hand noch auf seiner Wange, dann nimmt sie sie fort und verzieht sich lächelnd wieder ans Feuer, um Lía Platz zu machen, die mit dem frischen Wasser zurückkehrt. Sie ist so schweigsam wie zuvor, selbst als Calait sich erkundigt, wie lange sie noch brauche, aber ihre Hände sind behutsam wie immer, als sie seine Schulter reinigt, einen frischen Verband anlegt und Colevar schließlich hilft, sein Hemd wieder anzuziehen. Zu seinem allergrößten Erstaunen sucht sie jedoch nicht augenblicklich das Weite, als sie ihre Heilerpflichten erfüllt hat und es damit eigentlich gar keinen Grund mehr für sie gibt, sich weiter in seiner Nähe aufzuhalten. Stattdessen verharrt sie, halb sitzend halb kniend im Gras, sieht ihm seit Stunden zum ersten Mal wieder in die Augen und sucht seinen Blick. >Gleich,< hört er sie murmeln, doch es gilt Calait hinter ihr und sie wendet sich nicht um. Das leise Beben in ihrer Stimme und etwas in ihrem Gesicht lassen ihn alarmiert die Hände nach ihr ausstrecken, einen Wimpernschlag bevor sie selbst die Arme hebt und um seine Mitte schlingt. Ihre schmalen Schultern beben einen Moment, als trage sie einen tonnenschweren Mühlstein mit sich herum, dann siegen Erschöpfung und Kummer. Sie sinkt gegen ihn, vergräbt das Gesicht an seiner Brust und wird von wildem, bitterlichem Weinen geschüttelt. Colevar sagt nichts, es gibt auch nichts zu sagen. Stattdessen hält er sie fest, streicht über ihr Haar, flüstert ihr leise, gemurmelte Worte in seiner Muttersprache ins Ohr und bietet ihr den Trost und Schutz seines so viel größeren Körpers. Er sagt nicht, sie solle sich zusammennehmen, er sagt nicht: hör auf zu weinen oder: alles wird wieder gut. Das, was jetzt aus ihr herausbricht, ist mit Sicherheit nicht nur die Sorge um ihre Schafe, ganz gleich, wie sehr sie an ihren Tieren hängt, doch er weiß nicht, was sie wirklich so aus der Fassung bringt, also lässt er sie sich einfach ausweinen.

Irgendwann, als ihre Beine zittern wie Espenlaub und sie sich kaum noch aufrecht halten kann, hebt er sie hoch und nimmt sie einfach auf den Schoß als wäre sie wirklich ein Kind. Aber das ist sie nicht. Ja... und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Trotzdem hätte er sie am liebsten unter dem Hemd getragen wie ein frierendes Kätzchen. Noch eine Weile später angelt er nach einer Wolldecke und packt sie darin ein, damit sie es warm hat, während ihre Tränen unaufhaltsam weiter und weiter rinnen - sie tränken sein Hemd und versickern nass und salzig an seiner Haut. Irgendwann, er kann nicht sagen wie viel Zeit vergangen ist, wird aus ihrem Schluchzen schließlich ein Schniefen, aus dem Schniefen allmählich ein Hicksen und dann ein zittriges Atmen. Irgendwann wird sie vollkommen still. "Lía?" Sie ist nicht wirklich eingeschlafen, eingerollt an seiner Brust als wäre sie tatsächlich ein Kätzchen, aber wohl schlicht und einfach zu erschöpft, um die Augen noch länger offenzuhalten und wird schwer - oh, nun so schwer man mit ihren lächerlichen hundert Pfund eben werden kann - und weich in seinen Armen. "Calait?" Beinahe hätte er geflüstert um Lía nicht aufzuschrecken. "Gibst du mir etwas von dem Essen? Diesmal kann ich mich gerade so schlecht von der Stelle rühren."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 08. Okt. 2009, 10:32 Uhr
Sein Gesicht wird von klaren, kuehnen Zuegen beherrscht, die ebenso weich wie hart sind und Calait das Bild eines durch und durch attraktiven Mannes vermitteln. Ihre Finger gleiten von einer hohen, glatten Stirn, ueber einen geraden Nasenruecken, markante Kieferlinien und breite Wangenknochen, fuehlen weiche Lippen und harte Stoppeln und verharren, ueberrascht, eine Sekunde laenger als noetig auf langen, seidigen Wimpern. Seine Mundwinkel tragen ein duennes Laecheln, das sich aber auf dem Weg zu seinen Augen verliert. Trotzem interpretiert Calait es nicht als unfreundlich oder gar unehrlich, sondern einfach nur als muede, erschoepft… und verloren. Fast ist sie geneigt ihm, wie einem kleinen, einsamen Jungen, liebevoll die Wange zu streicheln. Aber eben nur fast. Denn Colevar hat ueberhaupt nichts Kindliches an sich. Selbst in seiner Einsamkeit wirkt er stolz und ungebrochen, wenn auch sehr, sehr allein. Auf dich warten weder Frau noch Kinder. Dein Herz sehnt sich nicht nach dem Haus, in dem du wohnst, weil es kalt und dunkel ist. Dir ist es egal, wo du bist, denn ueberall ist es gleich. Calait haelt, ueberrumpelt von ihren eigenen Gedanken, in der Bewegung inne und schuettelt dann sanft den Kopf. Hoer auf, du dummes Ding. Das geht dich nichts an. Eine Hand noch immer auf dem moosueberzogenen Felsbrocken, auf dem Colevar sich niedergelassen hat, weicht sie ein Stueck zur Seite um ihrer Schwester Platz zu machen, die ihr eine Antwort schuldig bleibt und sich sofort wieder der Verletzung widmet. Ein kaum merkliches Zittern in der Luft und ein schwaches Ziehen in ihrer Brust warnen Calait vor, doch der Ausbruch kommt so ploetzlich und so heftig und so voellig anders, als erwartet, dass ihr nichts weiter uebrig bleibt, als wie erstarrt an Ort und Stelle zu verharren, die Rechte schon zur troestenden Beruehrung erhoben. Es dauert ganze drei Herzschlaege, bis sie sich der Leere in ihren Armen und an ihrem Hals bewusst wird, dann beginnen irrationale, aber nadelfeine Eifersucht, bittersuesse Freude und ein Hauch von Wehmut einen heftigen Streit um den ersten Platz in ihrer Gefuehlswelt. Heftig beisst sie sich auf die Unterlippe, schluckt leer und zieht ihre Finger zurueck. Einen ganzen, schrecklich langen Moment lang fuehlt sie sich wie ein Eindringling im eigenen Haus, dann hat sie sich gefasst, laesst sich wortlos neben Colevar und ihrer Schwester auf das weiche Gras sinken, zieht die Beine an und wartet. Nur mit halbem Ohr lauscht sie den vertraut klingenden, aber voelligen unverstaendlichen Lauten, die Colevars Mund so leise und so sanft verlassen, dass sie sich zusammenreissen muss, nicht voellig darin aufzugehen. Umso mehr konzentriert sie sich auf das Schluchzen und Schniefen, das Lía durchschuettelt und sie krampfhaft nach Luft schnappen laesst und sich wie ein eiserner Ring um Calaits Hals legt. Schon sehr lange hat Calait ihre Schwester nicht mehr so weinen hoeren, um genau zu sein nicht mehr, seit sie die Ostlande und damit auch ihre Mutter, ihre Grossmutter und alle, die so viele Jahre ein Teil ihrer Familie gewesen waren, hinter sich gelassen haben. Ob ich sie vermisse? Calait spuert es unter ihren Lidern heiss brennen und ist nicht zum ersten Mal mehr als froh die Augenbinde zu tragen. Himmel, ja, Lía, ich vermisse sie. Ganz schrecklich. Jede Nacht und jeden Tag denke ich an sie und bete fuer sie. Fuer Nazastra, Marka, Kteras, Danái, Sávvas … ach Sávvas. Unwillkuerlich hebt sie den Blick, um Colevar anzusehen und merkt zu spaet, dass sie das gar nicht kann. Es passiert ihr nur noch selten, dass sie eine derart unsinnigen Bewegung nachgiebt, nur hin und wieder ertappt sie sich selbst noch dabei, wie sie die Augen aufschlaegt und erwartet Farben, Licht und Formen zu sehen. Doch jedesmal erwartet sie nichts ausser Schwaerze. Auch jetzt wieder. Trotzdem sieht sie ihn an, sieht das Bild, das sie von ihm gewonnen hat, vor ihrem inneren Auge und muss laecheln, als ihr die Aehnlichkeit zu ihrem Lieblingsbruder aufgeht. So hast du uns auch immer festgehalten, wenn wir Trost brauchten. Hast uns auf den Schoss genommen und uns Maerchen von wunderschoenen Feenprinzessinen und listigen Kobolden erzaehlt, bis wir in deinen Armen erschoepft in den Schlaf gefallen sind. Noch eine geraume Weile schwelgt Calait in melancholischen und nostalgischen Erinnerungen, ohne ihre Schwester dabei aus den Augen, oder in ihrem Fall, aus den Ohren zu lassen. Als sie hoert, wie Colevar Lía in eine Decke wickelt und diese gleich darauf ruhig wird, stuetzt sie sich am Stein ab und kniet sich auf. Ganz behutsam tastet sie nach Lías Schultern und Kopf, streicht ihr das wirre Haar aus dem gluehenden Gesicht und haucht ihr einen Kuss aufs Ohr: “Es wird alles gut, ma kalon. Versprochen.” Das wird es wirklich. Irgendwann wirst du gluecklich sein duerfen. Dafuer sorge ich. Damit laesst sie von ihr ab und krabbelt zum Feuer zurueck, wo sie gerade noch rechtzeitig ankommt, um einen gewissen Trold davon abzuhalten ihnen ihr Abendessen unter der Nase weg zu stehlen. “Scher dich zu den Geistern, Nimmersatt, oder es gibt morgen anstatt Karnickel am Spiess Trold in Himbeersauce.” Ihre Drohung beeindruckt das Wesen nicht im Geringsten. Hoechst unelegant und stockbeleidigt watschelt es mit grummelndem Magen von dannen, um gleich darauf mit einem lauten Schmatzen darauf aufmerksam zu machen, dass es schamlos den Vorrat an Zuckerrueben pluendert. Calait laesst ihn gewahren, zu sehr damit beschaeftigt sich nicht die Finger zu verbrennen und gegen einen ganzen Sturm von Gedanken, Gefuehlen und Erinnerungen anzukaempfen.

"Calait?"
“Hm?”
"Gibst du mir etwas von dem Essen? Diesmal kann ich mich gerade so schlecht von der Stelle rühren."
Die Worte entlocken ihr ein vages Schmunzeln, obwohl ihr gar nicht wirklich nach Laecheln zumute ist. “Natuerlich.” Mit Bedacht klaubt sie die groessten Fleischstuecke von den Stecken, die ueber dem Feuer haengen, schoepft mit einer Holzkelle etwas in Beerensud gekochte Flechte aus dem Kupferkessel und reicht Colevar beides zusammen mit einem Loeffel auf einem einfachen Holzteller.
Gleich darauf erfuellt der scharfe Geruch nach Branntwein die Luft und beinahe beilaeufig stellt Calait Colevar noch einen Becher voll mit Feuerkehle rechts neben den Stein, so dass er ihn trotz der der Last auf seinem Schoss erreichen kann. Sich selbst schenkt sie auch grosszuegig ein, sprich, sie fuellt ihr Tongefaesst, trinkt es zur Haelfte leer und fuellt noch einmal nach. Die wohltuende Waerme dringt bis in ihre Knochen und laesst sie spueren, wie muede sie eigentlich ist.
Drei grosse Schlucke und ein kraechzendes Husten spaeter angelt Calait nach einem weiteren Fleischstueck und meint nebenbei in einem durch und durch trockenen Tonfall: “Schwachsinn.” Es folgt irritiertes Schweigen, das so lange anhaelt, bis sie erklaerend hinterher haengt: “Was du eben gesagt hast, von wegen Lía waere gluecklicher, du wuerdest auf der Stelle wieder verschwinden. Das ist absoluter Schwachsinn. Sieh… sieh sie dir doch an.” Kurz haelt sie inne, wissend, dass Lía noch nicht schlaeft, dann aber entschliesst sie sich diesen Umstand fuer einmal einfach zu ignorieren. Moeglicherweise ist es sogar besser, wenn ihre Schwester es auch hoert. Gedaempft faehrt Calait fort: “Ihre Wangen sind rot und geschwollen von den Traenen und sie laechelt nicht, aber sie ist entspannt, atmeet ruhig und tief und ihr Herz schlaegt kraeftig. Sie ist traurig, aufgewuehlt, verwirrt, veraengstigt und am Ende ihrer Belastbarkeit angelangt… aber sie ist gluecklich Colevar. Weil du da bist. So gluecklich wie sie ohne unsere Rammsnasen eben sein kann.” Ich befuerchte allerdings, dass du Recht behalten haettest, wenn sie wuesste, wie du wirklich bist. Selbst ich kenne nur einen Bruchteil mehr und es reicht mir um auf der Hut zu sein. Gleichzeitig bin ich einfach nur froh, dass du wieder da bist. Ob Lía Colevars andere Gesichter ertragen koennte, bezweifelt Calait ernsthaft. Irgendetwas sagt ihr, dass diese sanfte, hilfsbereite und aufopferungsvolle Seite an ihm wenn auch keinen unbedeutenden, doch eher kleinen Teil seines Wesens ausmacht. Als haette Lía mit dem ersten Wort die einzige Tuer zu seinem Inneren geoffnet, hinter der keine Finsternis lauert. Aber die anderen Tueren sind da. Selbst in diesem Moment, wo er Lía warm und fest in seinen Armen wiegt, bleibt etwas von ihm dunkel und kalt. Und endgueltig. Der Tod folgt deinen Spuren, denn du bist die Hand, die ihn fuettert. Gute Geister, das ist Irrsinn. Ich fuehle all diese Dinge und vertraue ihm doch ohne zoegern meine Schwester an. Hohe Ahnen, was hat das zu bedeuten? Ist es… wirklich so einfach? Obwohl sie nicht wirklich Lust hat, kaut sie auf einem Stueck Fleisch herum und schiebt sich etwas Flechte zwischen die Zaehne. Es schmeckt fad und eintoenig, ist haesslich salzigsuess und pampig obendrein. Aber es ist fast nichts anderes mehr da. Wuergend spuelt sie das Zeug mit einem weiteren Schluck Feuerkehl hinunter und schuettelt verwundert den Kopf, denn aus Colevars Richtung ist nur ein zufriedenes Kauen und leises Schmatzen zu vernehmen: “Himmel, Colevar, du musst wirklich ein mieser Koch sein, wenn dir das hier schmeckt.” Sie selbst hat redliche Muehe das, was sie in der Not zusammengemischt hat, zu essen, ohne es wieder auszuspucken, tut es aber trotzdem, denn sie hat Hunger und in der Not frisst selbst der Dunkle Fliegen.
Als sie auch den letzten Kruemel heroisch verdrueckt hat ist der Becher Feuerkehl laengst leer und sie fuehlt sich muede, schwer und knochenlos. Traege kaempft sie sich in die Hoehe und gebietet Colevar, der Anstalten macht Lía hoch und auf eine Lagerstaette zu legen, sitzen zu bleiben. “Bitte”, fluestert sie und legt Lía eine Hand auf die Stirn: “Bleib bei ihr. Ich schaff das schon allein.”

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 08. Okt. 2009, 15:46 Uhr
>Natürlich<, Calait sortiert mit großer Sorgfalt die größten Fleischstücke und eine Portion von ihrem breiigen Eintopf (was auch immer er enthält) auf einen Holzteller, der ausgereicht hätte um selbst Achim den Oger satt zu bekommen und reicht ihn ihm dann. "Himmel, erwartest du noch eine Horde Narge oder wer soll das alles essen?" Sie zuckt nur mit den Schultern und stellt einen Becher Feuerkehl neben ihn, als hätte sie etwas von seinen Gedanken von vorhin geahnt. Lía regt sich kurz und gibt einen kleinen, seufzenden Laut von sich, macht aber keine Anstalten aufzustehen oder auch nur die Augen zu öffnen, also lehnt Colevar sich behutsam an den mächtigen Stamm der Fichte in seinem Rücken, streckt vorsichtig ein Bein aus und beginnt einhändig zu essen. Es schmeckt wie alles, was sie ihm bisher vorgesetzt hat - ein wenig ungewöhnlich vielleicht und ganz anders als jede Art von Küche, die er schon kennengelernt hat, aber keineswegs schlecht. Calait stürzt ihren eigenen Becherinhalt mit ein paar großen Schlucken hinunter und die Art wie sie es tut, lässt ihn genauer hinsehen. In ihrem Gesicht ist im Widerschein des Feuers nicht viel zu lesen... nichts außer einer Art leisen, wehmütigen Bestürzung vielleicht. Dass Lía sich in ihrem Schmerz und mit ihren Tränen ausgerechnet an ihn gewandt hatte und nicht an den Menschen, der ihr auf Rohas weitem Rund am nahesten stehen dürfte, hatte wohl nicht nur ihn vollkommen überrumpelt und einen Moment fragt er sich, was in Calaits Kopf jetzt wohl vorgehen mag. Seltsamerweise hatte es sich absolut richtig angefühlt, als sei es das natürlichste der Welt, dass Lía zu ihm gekommen war. Es fühlt sich auch jetzt absolut richtig an, sie zu halten, obwohl ihre Tränen längst versiegt sind und sie beinahe schläft. Hör auf damit. Das muss aufhören. Sie ist ein halbes Kind und sie hat nicht die leiseste Ahnung... und es hat ohnehin wohl kaum etwas mit dir zu tun. Sie schenkt jedem ihr Vertrauen. Irgendetwas an dem Gedanken will ihm überhaupt nicht schmecken, aber so sehr er es auch dreht und wendet, er kann beim besten Willen nicht sagen, was genau ihm daran auf einmal zu schaffen macht. Doch, du weißt es. Du willst es nur nicht wahrhaben. Calaits heiseres Husten aufgrund von zu viel Feuerkehl auf einmal reißt ihn aus seinen Gedanken und seine Mundwinkel kräuseln sich amüsiert, bis ihr leises, aber knochentrockenes >Schwachsinn!< ihn überrascht aufblicken lässt. "Was?"
>Was du eben gesagt hast, von wegen Lía wäre glücklicher, du würdest auf der Stelle wieder verschwinden. Das ist absoluter Schwachsinn. Sieh... sieh sie dir doch an.<

"Das tue ich, glaub mir", erwidert er leise und klingt zu seiner eigenen Bestürzung elender, als es seine Absicht gewesen war. Götter im Himmel, seit sie mir im Wald vor die Füße gestolpert ist, tue ich nichts anderes mehr!
>Ihre Wangen sind rot und geschwollen von den Tränen und sie lächelt nicht, aber sie ist entspannt, atmet ruhig und tief, und ihr Herz schlägt kräftig. Sie ist traurig, aufgewühlt, verwirrt, verängstigt und am Ende ihrer Belastbarkeit angelangt... aber sie ist glücklich Colevar. Weil du da bist. So glücklich wie sie ohne unsere Rammsnasen eben sein kann.< "Glücklich?" Schnaubt er ungläubig und selbst in seinen eigenen Ohren klingt seine Stimme zu rau. "Wohl kaum. Sie hat kein Dutzend Worte mit mir gesprochen, seit ich sie gezwungen habe, ihre Schafe zurückzulassen. Es ist einfach absurd - es sind Schafe! Noch dazu welche, die aussehen, als könnten sie ganz gut auf sich selbst aufpassen. Noch viel absurder ist, dass ich sie vollkommen verstehe. Sie wäre nicht Lía, wenn... verdammter Scheißdreck, Calait, ich habe mir das nicht ausgesucht." Einen Moment schließt er die Augen und über seinen Wangenknochen spannt sich die Haut. "Sie hat keine Ahnung wer und was ich bin." Er ahnt nichts von ihren ganz ähnlichen Gedanken, aber er wäre ein Narr, hätte er sich nicht schon dasselbe gesagt. Du weißt auch nicht mehr von ihnen, mahnt eine leise Stimme in seinem Kopf, die beinahe amüsiert klingt, aber das ändert auch nichts an den Tatsachen, dass es da gewaltige Unterschiede gibt. "Ich werde ihr nichts vormachen, Calait. Und dir auch nicht." Eine Weile schweigt er, doch sie fragt nicht nach, nicht jetzt und vielleicht würde sie es nie tun. Als er fortfährt, klingt er fast ein wenig erheitert. "Ich habe bisher nur drei Arten von Frauen kennengelernt und ich kenne eine Menge. Die einen, und die sind entweder ehrbar oder klug - oder beides - machen für gewöhnlich einen großen Bogen um einen Mann wie mich, aye?" Ein eindeutig selbstironisches Lächeln erscheint in seinen Mundwinkeln. "Die weniger anständigen lieben die Gefahr, aber sie haben sie nur gern in ihrem Bett, nicht in ihrem Leben. Sie lassen sie bereitwillig zwischen ihre Schenkel, aber nie in ihr Herz und schon gar nicht in die Nähe von Kindern. Und dann," ihm fällt seufzend das letzte Mädchen ein, das sein Vater und der restliche Lorcain-Clan ihm beinahe ins Bett gelegt hätten, "gibt es noch die, die einfach nicht genug Verstand besitzen, um eine Gefahr überhaupt zu erkennen, selbst wenn sie sie direkt vor der Nase haben. Und..." jetzt klingt er wirklich sarkastisch, "... man kann wunderbar damit leben, wenn einem die weniger anständigen oder die dummen genügen. Lía ist... ist... anders." Er kann unmöglich in Worte fassen, wie sie ist. Sie ist mit Sicherheit das unschuldigste Wesen, das ihm je begegnet ist und sie ist ganz und gar nicht dumm. Nein, nur leichtgläubig und viel zu vertrauensselig.

Er erinnert sich daran, wie sie auf ihn zugekommen war, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte - wachsam und vorsichtig, aber alles andere als ängstlich. Wirklich? Oder hat sie einfach nur beschlossen, es zu ignorieren? Calaits Worte, sie hätte auch den Ärger, der hinter ihm her war, in ihr Lager schleppen können, geistern durch seinen Kopf. Götter im Himmel, hör' auf. Sie ist nun einmal so. Sie schenkt ihr Mitgefühl und ihre Freundlichkeit der ganzen Welt, und ihr Herz obendrein. Einen Moment hält er den Atem an und der Bissen Fleisch, auf dem er gerade kaut, bleibt ihm fast im Hals stecken. Jedem? und im gleichen Atemzug wird ihm klar: Sie kennt den Unterschied überhaupt nicht. Er starrt ins Feuer und fragt sich, wie er nur so blind sein konnte. Wirst du wohl aufhören damit? Es spielt überhaupt keine Rolle, ob sie ihn kennt oder nicht. Sie ist jung, wie viel Erfahrung kann sie schon haben? Und wenn sie ihr Herz partout jedem schenken will, der ihr über den Weg läuft, was geht es dich an?
>Himmel, Colevar, du musst wirklich ein mieser Koch sein, wenn dir das hier schmeckt.< Wirft Calait belustigt ein und er lächelt pflichtschuldig, auch wenn ihm gerade überhaupt nicht nach Scherzen zumute ist. "Ich bin der schlechteste Koch, den du dir nur vorstellen kannst. Aber dein Essen ist trotzdem gut. Ernsthaft, wenn ich euch nicht getroffen hätte, wäre ich längst verhungert." In Gedanken ist er überall aber nicht bei dem Flechteneintopf, auch wenn er seinen Teller mechanisch leert. "Calait... wie alt seid ihr?" Sie nennt ihm belustigt das Jahr ihrer Geburt und er hebt vielsagend eine Braue - ihr muss er kaum erklären, dass er sie beide angesichts Lías Art eher noch für  zwei oder drei Jahre jünger gehalten hatte. Nein, kein Kind mehr, soviel steht fest. Calait steht auf, doch als er sich nach einem bedauernden Atemzug ebenfalls erheben will, um die kleine Schläferin auf seinem Schoß  widerwillig zu ihren eigenen Pelzdecken zu bringen, hält sie ihn auf. >Bitte. Bleib bei ihr. Ich schaff das schon allein.<
Mit dem Gefühl ein unerwartetes Geschenk erhalten zu haben bleibt er wo er ist, lehnt sich wieder zurück und sieht hinauf zu den kalten Sternen. Es ist so klar, dass sie nahe genug scheinen, um sie zu berühren. Über ihnen breitet der Kranich seine Schwingen aus und selbst sein Schweif ist zu sehen, aber er kann auch die Waagschale und den Hasen erkennen - und schwach sogar den Karren. Ein paar Wölfe heulen in der Ferne, weit genug fort, um weder die Pferde noch die übrigen Tiere aufzuschrecken, nur die Hunde am Feuer spitzen die Ohren. Dann gerät der Himmel am nördlichen Horizont mit einmal in Bewegung und das Nordlicht stattet ihnen einen verfrühten Kurzbesuch ab. Helle Strahlen und Lichtbänder erscheinen, steigen auf und spannen sich wie bunte Regenbögen über das Firmament, ehe sie wieder herabfallen und von neuem heraufziehen, leuchtend grün, goldgelb und blau wie Türkise. "Sieh dir das an, Sommersprosse." Er weiß, dass sie nicht  schläft, er kann es an ihrem Atem hören und in der Spannung ihrer Muskeln fühlen. "Es ist wunderschön."  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 08. Okt. 2009, 21:17 Uhr
Obwohl sie seine Worte hört geht sie nicht darauf ein. Lía sieht ihn weder an, noch reagiert sie auf sonst irgendeine Art und Weise auf das Gesagte. Immer noch seinen Blick meidend steht sie auf, schüttet das trübe Wasser aus und verlässt ihren Patienten um neues zu holen. Lía spürt seine Niedergeschlagenheit so deutlich als könnte sie direkt in sein Innerstes sehen; und sie weiß, dass er ihr Verhalten missversteht. Doch obschon ihr all das bewusst ist kann sie es nicht ändern. Es kostet sie ungeheure Willenskraft dem Gefühlorkan der seit Tagen in ihr tobt nicht nachzugeben. Als sie allerdings zurück zur Feuerstelle kommt und Colevar nun wieder direkt gegenübersteht spürt sie den harten Kloß im Hals immer weiter anschwellen. Verzweifelt klaubt sie das letzte Bisschen an Kraft was sie noch hat zusammen um den Ausbruch zurückzuhalten, aber jetzt, wo sie ihm direkt in die Augen sieht und darin lesen kann was in ihm vorgeht, spürt sie im gleichen Moment wo sich ihre Blicke treffen, dass es zu spät ist. Zuerst sind es nur kleine, nadelfeine Risse, doch sehr schnell klaffen tiefe Furchen in dem Damm – und dann bricht er und alles was sie so lange unter Verschluss gehalten hat kommt wieder ans Licht. Plötzlich sieht die Jüngere sich mit so vielem auf einmal konfrontiert, dass es ihr schier den Atem raubt. Ohne nachzudenken flüchtet sie sich in Colevars Arme auf der Suche nach Schutz, Halt und Trost. Er gewährt es ihr, ohne auch nur einmal nachzufragen. Sie spürt wie er sie fest in die Arme schließt und ihr beruhigende, wenn auch völlig unverständliche Worte, ins Ohr flüstert. Die Heftigkeit des Ausbruchs erschreckt sie und führt ihr vor Augen, dass sie viel zu lange schon geschwiegen hat. Je länger sie einfach nur so dasteht, überwältigt von ihren Gefühlen, geschüttelt von ihrem Weinkrampf umso mehr Bilder und Erinnerungen keimen in ihr auf.

Bisher dachte sie immer das Leben sei schön. Sie dachte immer wie toll es doch ist auf der Welt zu sein und wie schön die Welt doch trotz allem ist. Sie dachte immer sie wüsste wo sie steht, was sie will, wer sie ist und was die Leute in ihr sehen; aber im Grunde weiß sie gar nichts. Fakt ist, dass sie hier ist. Das ist sie. Das ist ihr Leben und das ist wer sie ist. Und im Moment fragt sie sich was die Menschen an denen ihr soviel liegt wirklich in ihr sehen. Lía war Calait gefolgt um ihr zu helfen, um bei ihr zu sein. Sie hatte nicht eine Sekunde gezögert und seither niemals zurück geschaut. Doch erneut steckt ihre Schwester jetzt ihretwegen bis zum Hals in Schwierigkeiten. Wenn ihr etwas zustößt, dann durch mein Verschulden.. Und auch Colevar lässt sich von ihnen aufhalten obwohl er längst in Sicherheit sein könnte. Sie ist eine grässliche Schwester und obwohl sie sich so bemüht andere vor Schaden zu bewahren erreicht sie immer nur das Gegenteil – Colevar ist ein Musterbeispiel dafür. Sie weiß, dass Calait und wahrscheinlich auch Colevar die Dinge anders sehen, allerdings kann das sie nicht darüber hinwegtrösten, dass mehr Wahrheit in diesem Gedanken steckt als ihr lieb ist. Es kommt ihr im Moment so unglaublich wichtig vor. Jetzt, wo die Mauer eingerissen wurde sieht sie sich mit Gefühlen konfrontiert die sie so tief in ihrem Herzen verschlossen hatte und eigentlich nie nach außen tragen wollte. Zu sehr schämt sie sich dafür und dennoch kann Lía nicht leugnen, dass sie im Augenblick einige wenige Menschen über alle Maßen vermisst. Es ist grauenhaft, als würde tief in ihr drin plötzlich ein schwarzes Loch klaffen das sich mit nichts füllen lässt. Lía liebt ihre Familie, aber alles ist so vermurkst und kompliziert. Nicht zum ersten Mal fragt sie sich wie viel von dem was passiert ist ihre Schuld ist und ob sie es nicht vielleicht doch hätte verhindern können.
„Alle begegnen irgendwann ihrem Schicksal“Immer noch sah sie den Ernst auf dem Gesicht der alten Frau vor sich. Aber da war noch etwas anderes gewesen: Angst. Angst sie zu verlieren. „Und alle begegnen irgendwann dem Tod“, hatte sie ruhig entgegnet, doch es war sinnlos gewesen. Sie  erinnerte sich gut an diesen Satz. Damals hatte sie versucht Calait, aber auch der Schamanin selbst, mit diesen Worten zu helfen. Doch sie hatte versagt und ihre Schwester musste für den Rest ihres Lebens die Konsequenzen dafür tragen.

Nach einer schieren Ewigkeit hat sie sich schließlich leer geweint, es sind einfach keine Tränen mehr da. Sie fühlt sich elend und eine matte Taubheit beginnt sich über ihre Gedanken zu legen, so dass sie nur noch langsam und zähflüssig fließen. Es fällt ihr schwer den Worten der beiden Anderen zu folgen, nur ab und an dringen einige Wortfetzen wirklich bis zu ihr durch. Lías Gesicht glüht und ihr Atem beruhigt sich nur langsam wieder und passt sich dem Rhythmus von Colevars tiefen, kräftigen Atemzügen an. Sie fühlt sich fiebrig und kraftlos und genießt die Sicherheit die Colevars Nähe ihr verspricht. Wäre sie unter normalen Umständen vor Verlegenheit gestorben, so kuschelt sie sich jetzt so eng sie nur kann an ihn. Schon immer ein Mensch, dem Einsamkeit Albträume verschafft, so versucht sie nun ihre innere Leere mit seiner Nähe zu kompensieren – und es funktioniert. Langsam aber sicher wird sie ruhig und beginnt sich zu entspannen.
Was du eben gesagt hast, von wegen Lía wäre glücklicher, du würdest auf der Stelle wieder verschwinden. Das ist absoluter Schwachsinn. Sieh... sieh sie dir doch an, dringen Calaits Worte durch den Nebelschleier in ihr Bewusstsein und Lía spürt wie ein Druck sich auf ihren Brustkorb legt, sich auf dem Weg zur Kehle allerdings zu verlieren beginnt. In Gedanken erlebt sie den Moment wo sie hatte einsehen müssen, dass er verschwunden war, ohne ein Wort des Abschieds, noch einmal. Als er ging…es war grauenhaft gewesen. Sie hatte nicht erwartet, dass es so schlimm sein würde. Aber in dem Moment hatte sie einen Menschen aus ihrem Leben verschwinden gesehen an dem ihr soviel lag, und das obwohl er ein Fremder für sie war. Es hatte so unglaublich weh getan. Sie hatte dagestanden und ihm nachgestarrt, als könnte sie ihn damit zurückholen. Lías Sanftmütigkeit und ihr Einfühlungsvermögen sind für die Jüngere sowohl Segen als auch Fluch.  Es macht sie so verletzlich. Es öffnet ihre Brust, es legt ihr Innerstes frei. Es bedeutet, dass jeder in sie dringen und ihre gesamte Gefühlswelt auf den Kopf stellen kann. Es bedarf nicht mehr als einem Menschen (vielleicht sogar nur einem Tier). Plötzlich tritt diese Person in ihr Leben, nicht anders als jeder andere Mensch. Und Lía gibt ihr ein Stück von sich selbst. Diese Person  hat niemals danach gefragt, vielleicht wollte sie es nicht einmal. Aber irgendetwas hat sie getan; vielleicht war es nur ein Lächeln was sie Lía geschenkt hat – und plötzlich gehört dieser Person ein Stück von ihrem Herzen und ihrem Leben. Sie dringt in Lía ein. Manchmal  frisst die Liebe die sie so einfach schenkt die Jüngere  von innen heraus auf und lässt sie einsam und verlassen mit Ihren Tränen in der Dunkelheit zurück. So leicht kann ein Satz, ein Blick oder ein Abschied  zu einem Glassplitter werden und in ihr sowieso schon blutendes Herz eindringen. Es tut weh. Nicht nur in der Erinnerung. Es ist ein seelischer Schmerz. Es ist ein dringt-in-sie-ein-und-zerreißt-sie Schmerz. Und dennoch bereut sie niemals es zugelassen zu haben.

Vom weiteren Verlauf des Gesprächs bekommt Lía nur  wenig mit, zu sehr ist sie immer noch damit beschäftigt ihr Gefühlschaos zu ordnen, erschwerend hinzu kommt, dass sie wirklich müde ist. Die Müdigkeit lähmt ihre Glieder und lässt ihre Aufnahmefähigkeit sinken, aber es gelingt ihr nicht sie vom Denken abzuhalten. Wild wirbeln alle möglichen Gedanken herum; einer verwirrender und unverständlicher als der andere. Das nächste was sie wieder wirklich bewusst wahrnimmt ist die kühle Hand ihrer Schwester auf ihrer Stirn. Gern hätte sie die Augen aufgeschlagen und sie angesehen, aber immer noch scheinen ihre Lider tonnenschwer zu sein. Und dann ist sie mit Colevar allein. Erneut kommen ihr die Wortfetzen in den Sinn die sie aufgeschnappt hat. Es ist zwar nicht viel, aber seinem Ton und den Worten nach zu schließen hat sie sich nicht getäuscht, als sie so etwas wie tiefe Einsamkeit in seinen Augen lesen glaubte. Du leidest an tiefer Einsamkeit und kämpfst dagegen an…du schützt dich vor Fremden, zwischenmenschliche Beziehungen fallen dir schwer, es bedeutet ein Risiko…Deshalb lässt du dich auf niemanden wirklich ein. Das ist dein trostloses Schicksal…Oh, Colevar! Du irrst dich, wenn du das glaubst..
„Sieh dir das an, Sommersprosse. Es ist wunderschön."
Anfangs ist es nur das Flackern ihre Augenlider das darauf hinweist, dass sie ihn gehört hat, doch nach einer Weile und großer Anstrengung gelingt es ihr tatsächlich endlich die Augen zu öffnen. Doch anders als Colevar blickt Lía nicht in das bunte Schauspiel am Firmament, sondern ruht der Blick ihrer sanften Augen auf seinem Gesicht. „Du warst so schnell verschwunden. Und so endgültig wie mir schien“, durchbricht ihre ruhige Stimme schließlich die Stille der Nacht. Es tut ihr Leid wie es gelaufen ist. Allerdings hat sie immer noch nicht begriffen warum Colevar an jenem Abend ohne ein Wort zu verlieren in die Schatten getreten ist und danach nicht wieder aufgetaucht war. Bis jetzt. Erst jetzt hebt sie den Blick und schenkte ihm ein erschöpftes – und sehr kurzes – aber durchaus ehrliches Lächeln, das voller Wärme und Güte ist. Ob er diesmal wohl auch nur für diesen Abend in ihr Leben treten würde nur um dann wieder zu verschwinden und sie erneut mit nichts als der Erinnerung und so vielen offenen Fragen zurücklassen würde?
„Colevar?“, vorsichtig richtet sie sich ein Stückchen weiter auf, weicht jedoch keinen Millimeter von ihm zurück. Das wagt sie nicht, zu groß ist die Angst auf sich allein zurückgeworfen wieder einzubrechen. „Bitte entschuldige. Ich wollte euch doch nicht in Gefahr bringen…und..und…und…geh nicht wieder weg. Nicht ohne ein Wort zu sagen..“
Ihre sonst so glänzenden Augen wirken selbst bei fahlem Mondschein erschreckend trüb und ein leichter Schweißflaum bedeckt ihr erhitztes Gesicht. Kurz öffnen sich die spröden Lippen erneut, so als wolle sie noch etwas sagen, doch dann scheint Lía es sich wieder anders zu überlegen, denn sie schließt wortlos den Mund und blickt nun doch in den Nachthimmel. „Danke“, mit keinem Wort erklärt sie wofür sie sich bedankt. Doch als sie schließlich den Blick senkt und auf die Brandnarben auf ihren zierlichen Händen blickt verändert sich der Ausdruck in ihren Augen. Der Schatten eines alten Dämons leuchtet kurz auf, doch diesmal gelingt es ihr ihn zu verbannen. „Du hattest Recht. Aber…weißt du, diese Schafe sind nicht einfach Schafe“, sie sieht in nicht an während sie spricht, sondern blickt immer noch auf ihre Hände. „Sie sind Freunde, mehr noch, Familie – und die sollte man nicht im Stich lassen..“, zum Ende hin wird ihre Stimme immer leiser bis sie sich schließlich völlig in den Geräuschen der Nacht verliert.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 08. Okt. 2009, 23:38 Uhr
Es kostet Lía einige Anstrengung, die Augen zu öffnen, doch als sie es schließlich tut, sieht sie nicht in den erleuchteten Nachthimmel, sie sieht ihn an und er spürt ihren Blick auf sich als hätte sie ihn berührt. >Du warst so schnell verschwunden. Und so endgültig wie mir schien.<
"Ich konnte nicht bleiben und riskieren, euch in Gefahr zu bringen, Sommersprosse. Ich musste gehen und... sehen wo mein Ärger abgeblieben ist." Und wer weiß, ob du gegangen wärst, wenn du sie noch einmal gesehen hättest. Der Gedanke geistert durch seinen Kopf, bevor er ihn aufhalten kann, aber er weiß im selben Augenblick, dass es die reine Wahrheit ist. Sie lächelt, er kann es aus den Augenwinkeln sehen und spüren, obwohl sein Nacken schon schmerzt vor lauter Anstrengung, ihren Blick nicht zu erwidern - wissen die Götter allein, was er dann angestellt hätte.  
>Colevar?< Sie bewegt sich, schiebt sich ein Stück nach oben, bis ihre Gesichter nahezu auf gleicher Höhe sind, rückt aber kein Stück von ihm ab und er lässt sie auch nicht los. "Hm?"
>Bitte entschuldige. Ich wollte euch doch nicht in Gefahr bringen... und... und... und... geh nicht wieder weg. Nicht ohne ein Wort zu sagen...<

Götter! "Lía..." Er spricht leise, so wie man von einer lebenswichtigen Angelegenheit spricht. "Ich gehe nicht weg, nicht morgen und nicht in den nächsten Tagen. Aber wenn wir in Falkenwacht sind und ihr in Sicherheit seid, dann muss ich fort. Ich habe einem Freund, einem Waffenbruder, mein Wort gegeben und ich muss dafür sorgen, dass der... Ärger mir folgt. Deswegen bin ich hier in Immerfrost. Ich habe einen Mann gesucht, ihn gefunden und auf meine Fährte gelockt, ich muss ihn nach Süden schaffen. Ich muss erst zu Ende bringen, was ich angefangen habe... verstehst du?"
Er schluckt hart und hält den Blick eisern auf die Kette pechschwarzer Baumwipfel auf der anderen Seite des Tals gerichtet bis er es einfach nicht mehr erträgt, sie nicht anzusehen. Ihre Wangen sind immer noch gerötet, ihre Augen riesengroß und pechschwarz im Halbdunkel der Nacht - das tanzende Licht der Flammen glitzert nur auf ihrem Haar und lässt kupferne, goldene und kastanienrote Funken darin aufleuchten. Der Geruch ihrer Haut steigt ihm in die Nase, Frau und Erde, Nacht und wilde Rosen. Ihr Gesicht ist seinem so nahe, dass er auf dem samtigen Schwung ihrer Oberlippe die winzigen Schweißperlen glänzen sieht. Nicht gut. Gar nicht gut. Böser Fehler. "Aber ich werde nicht gehen ohne Lebewohl zusagen." Seine Zunge klebt derart an seinem Gaumen, dass es das reinste Wunder ist, dass er überhaupt seine Stimme findet und dabei nicht krächzt wie ein bronchitischer Rabe. Kaum hat er die Worte ausgesprochen begeht er seinen zweiten Fehler, nämlich den auf ihren Mund zu blicken, der sich halb öffnet und erst unverrichteter Dinge wieder schließt, bis sie doch in den Himmel sieht und ein leises "Danke" ausspricht. Sie sagt nicht, wofür, aber er weiß, was sie meint oder glaubt zumindest, es zu wissen.

Allen Göttern sei Dank senkt sie Kopf und Blick, bevor er etwas wirklich, wirklich Dummes tun kann und starrt auf ihre Hände - diese schmalen, zarten Finger mit ihren dicken weißen Narbensträngen. Colevar zählt in Gedanken lautlos bis zehn und als das nicht hilft, zählt er die Steine um ihren Lagerplatz unter dem alten Baum. Es sind dreiundzwanzig. >Du hattest Recht.< Fährt sie leise fort und einen verwirrten Herzschlag lang fragt er sich womit, bis sie weiter spricht. Natürlich, ihre Tiere, ihre Familie.
>Aber... weißt du, diese Schafe sind nicht einfach Schafe. Sie sind Freunde, mehr noch, Familie - und die sollte man nicht im Stich lassen...<
"Aye, ich weiß. Ich habe sie nicht gern zurückgelassen, Lía, aber wie hätten wir sie transportieren sollen? Sie sind gut aufgehoben, wo sie jetzt sind. Vielleicht finden wir in Falkenwacht einen Weg, euren Wagen und die Schafe für euch holen zu lassen." Er hat zwar keine Ahnung, wie um alles in der Welt er das anstellen soll, aber auch Waldläufer und Späher, Holzfäller oder Waldbauern müssen von irgendetwas leben und wenn es ihn einen Beutel hartes Silber kosten soll, ihr ihre vermaledeiten Schafe wieder zu beschaffen, an denen sie so hängt, dann ist das eben so.  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 10. Okt. 2009, 06:30 Uhr
“… verdammter Scheißdreck, Calait, ich habe mir das nicht ausgesucht." Sie hält mitten im Kauen inne, überlegt kurz und schluckt die Antwort, die ihr auf der Zunge liegt, dann unverrichteter Dinge hinunter. Seine Stimme, rau und kratzig, als sässe ihm Rost in der Kehle, gibt ihr für den Bruchteil eines Herzschlags Einblick in sein Innerstes und ihre Finger beginnen so fest zu zittern, dass sie beinahe den Teller hätte fallen lassen. Hastig stellt sie ihn auf den Boden, tastet nach dem Ast, an dem das Fleisch hing, und stochert damit ziellos in der dunkelroten Glut herum. Kupferfunken zerstäuben in alle vier Himmelsrichtungen und funkeln in der samtblauen Dunkelheit wie blanke Goldmünzen. Calait sieht es nicht, aber sie erinnert sich und sie erinnert sich gerne. "Sie hat keine Ahnung wer und was ich bin." Calait hätte gerne widersprochen, aber es ist leider wahr. Lìa ahnt mit Sicherheit längst, dass sich hinter seinem sanften Lächeln Raubzähne befinden, - sie ist schliesslich naiv, aber nicht dumm - aber sie hat sie bisher weder gesehen, noch selbst zu spüren bekommen und das macht sie blinder als Calait für die Schatten, die Colevar begleiten. "Ich werde ihr nichts vormachen, Calait. Und dir auch nicht." Ihre Zähne blitzen weiss und scharf zwischen ihren Lippen auf, als ein sehr untypisches, absolut berechnendes Lächeln über ihre Züge huscht. Richtig. Das wirst du nicht.Es verschwindet so schnell, wie es gekommen ist, nicht mehr als der Schemen eines Raubtiers, das seine Fänge bleckt. Und doch war es da und sie weiss, dass er es gesehen haben muss. Gut so. Dann weißt du jetzt immerhin, dass Lìa nicht die Einzige ist, die keine Ahnung hat, mit wem oder was sie es zu tun hat. Colevar mag in den letzten zwei Tagen bei weitem mehr über Calait erfahren haben, als andere in ihrem ganzen Leben und es ist ihr alles andere als unangenehm, aber ebenso wenig wie sie einschätzen kann, wie tief die Dunkelheit in seine Seele reicht, kann er genau bestimmen, zu was sie fähig wäre. Wäre auch nur einer von uns eine Spur misstrauischer oder weniger erfahren im Umgang mit Menschen, wir hätten uns längst aus reiner Vorsicht heraus zerfleischt. Aber so ist es nicht, Ealara sei Dank. Ich vertraue dir. Ganz offensichtlich, sonst läge meine Schwester nicht in deinen Armen. Und Lia… Fast schon erleichtert horcht sie auf, als er ihre Überlegungen kurzerhand unterbricht, indem er plötzlich ausschweifend wird. Erstaunt folgt Calait Colevars sarkastischer Ausführung über die möglichen Frauenrassen der Immerlande, mit der er soviel mehr von sich preis gibt, als mit seiner ganzen direkten Ehrlichkeit von Anfang an. "... man kann wunderbar damit leben, wenn einem die weniger anständigen oder die dummen genügen. Lía ist... ist... anders." Hätte sie auch nur ansatzweise seine Gedankengänge mitverfolgen können, sie hätte ihm spontan die Schüssel um den Kopf geschlagen und ihn mit einer ganzen Salve an tamartuarachschen Beleidigungen und Schimpfwörtern eingedeckt. So aber sitzt sie nur da, schweigt und lässt sich seine Worte wieder und wieder durch den Kopf gehen, bis sie zu dem Schluss kommt, dass sie selbst wohl eher zur zweiten Sorte Frau tendiert, derweil Lìa über all dem steht. Er braucht es nicht auszusprechen, damit sie versteht, was er meint. Sie ist klug und ehrbar, und gleichzeitig naiv, blauäugig, absolut unvoreingenommen und fürchterlich lieb. Lìa ist etwas Besonderes.
Ihr Einwurf im Bezug auf das Essen wird mit einem müden Lächeln und der Versicherung abgetan, er sei der schlechteste Koch, dem sie je begegnet wäre – sie nimmt sich, zu ihrem eigenen Wohl, vor, niemals auch nur einen Krümel von etwas anzufassen, was Colevar gekocht haben könnte. Die Frage nach ihrem Alter amüsiert Calait, sehr und sie ist geneigt ihn mit einem: „Rate“, abzuspeisen. Aber das wäre schon fast grausam, denn sie weiss ganz genau, dass es beinahe ein Akt der Unmöglichkeit ist sie beide, aufgrund ihrer so unterschiedlichen Denk- und Verhaltensweisen, richtig einzuschätzen. So gut wie jedermann gibt ihnen – nachdem er Lìa erlebt hat – höchstens sechzehn Sommer und reisst dann vor Überraschung weit die Augen auf, wenn Calait ihn nüchtern darüber aufklärt, dass sie schon ganze neunzehn Lenzen zählen. Keine halben Kinder mehr, sondern erwachsene Frauen. Nein, beleibe keine Kinder mehr. Für einen Augenblick werden ihr die Narben, die ihre Hände, Handgelenke und einen Teil ihrer Arme überziehen,  schmerzhaft deutlich bewusst und sie rückt ein wenig vom Feuer ab. „Wir wurden im Jahre 490 geboren.“ Calait beherrscht das Zählen nur mässig und kann daher mit dem Wort Vierhundertneunzig auch wenig anfangen. Fürs auswendig aufsagen reicht es aber gerade noch aus. Daraus schliessen, wie alt sie ist, wäre aber zuviel verlangt, denn sie kennt die Zahlen nicht, die nach Vierhundertneunzig folgen, und könnte daher nicht einmal sagen, welches Jahr der sûrmerische Kalender nennt.

Hörbar erleichtert sinkt Colevar mit Lìa zurück, als Calait ihn bittet sitzen zu bleiben. Dummer Mann. Halte sie fest, solange du noch kannst. Wer weiss, wie schnell sich unsere Wege wieder scheiden werden. Calait hegt die leise Befürchtung, dass der Abschied schneller kommen und heftiger ausfallen wird, als sie alle zu Beginn vielleicht angenommen haben. Hmpf. Da wusste ich auch noch nicht, dass Lìa ihm in der zweiten Nacht schon in den Armen liegt. Meint ihr das wirklich ernst? Kann es wirklich, wirklich, w.i.r.k.l.i.c.h. so einfach sein? Hier? Einfach so? Mitten aus dem Nichts? Ein heruntergekommener Krieger, von dem ich nicht weiss, ob wir besser ihn, oder seine Verfolger fürchten sollten? Die Geister, mit denen sie redet, bleiben ihr eine Antwort schuldig, auch wenn sie schwören könnte, dass das Rascheln der Blätter hoch über ihr irgendwie erheitert klingt. Na wunderbar. Jetzt tanzen mir auch noch die Baumgeister auf der Nase rum. Mit einem missbilligenden Schnauben wendet sie dem Feuer den Rücken zu und ruft leise die Hunde zu sich. Die Tiere sind spürbar verwirrt und angespannt, weil sie nicht verstehen, was mit ihrer jungen Herrin los ist. Shirin schiebt winselnd ihren schlanken Kopf zwischen Calaits Beine, derweil Breur ihr seine dicken Pfoten ins Kreuz pflanzt und Traõn versucht sich in ihren Kniekehlen zu vergraben. Es dauert seine Zeit, bis sie die Hunde davon überzeugt hat, dass alles in Ordnung ist. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass wir von einer Meute blutrünstiger Männer verfolgt werden, die uns vergewaltigen und umbringen, sobald sie uns eingeholt haben.
Gerade dabei das Kleingetier einzusammeln, erstarrt sie mitten im Schritt, als ein schwaches Flirren die immerwährende Dunkelheit um sie herum ganz sanft erzittern lässt, gleich einer Vogelschwinge, die die ruhige Oberfläche eines Gewässers zerteilt. Langsam richtet sie sich auf, richtet das Gesicht gen Norden… und lauscht. Nach und nach verblassen die Geräusche rundherum zu einem gedämpften, weichen Flüstern und aus den Tiefen von Ealaras warmem Schoss dringt ein leises Klopfen an Calaits Ohr. Es erinnert an den erhabenen Klang schwerer, alter Bronzeglocken und ist so sanft wie der Kuss einer liebenden Mutter und so stark wie die Umarmung eines wachsamen Vaters. Es hallt überall wieder, schlägt mit zarter Hand gegen die Saiten der Elemente und lässt sie erklingen, bis das Rauschen des Baches, das Schmatzen des Feuers, das Säuseln des Windes und das Rumoren der Erde sich zu einer einzigen Melodie vereinen, die alles und nichts in sich vereint. Es ist das Weltenlied. Das Lied von Anfang und Ende. Das Lied, das Leben spendet. Ealara singt und die Seelen all derer, die durch sie und mit ihr entstanden sind, steigen ihr zu Ehren zum Himmel empor und tanzen in farbigem Gewand. Im Volksmund nennt sich diese Erscheinung Nordlicht.
Calait verhaart an Ort und Stelle bis das Pulsieren der Dunkelheit nachlässt und Ealaras Stimme zu einem undeutlichen Wispern im Sud aller anderen Geräusche verblasst. Ihr Herz schlägt schnell und hart gegen ihre Rippen und noch immer hallt das Klopfen in ihrem Inneren ganz leise nach. Calait kostet die Ruhe, die Roha in diesem Moment ausstrahlt, bis zum letzten Schlag aus, bevor sie ganz bewusst tief Luft holt, um sich dann erst wieder an die Arbeit zu machen. Nicht zum ersten Mal hört sie die grosse Mutter singen, aber es ist unmöglich sich daran zu gewöhnen. Wenn der erste Ton fällt, fühlt sich Calait wieder wie das Kind, das sie vor vielen Jahren war, und das mit dem Gefühl vollkommenen Glücks im Bauch über dem Gute-Nacht-Lied seiner Mutter einschlief. Und wenn Ealara verstummt, bleibt ein Hauch von Wehmut und Sehnsucht in der Luft zurück.
Gerade noch bekommt Calait Lìas letzten Satz mit. „Sie sind Freunde, mehr noch, Familie – und die sollte man nicht im Stich lassen..“ Calait versteht sofort, worüber ihre Schwester redet, mischt sich aber nicht ein, obwohl sie ahnt, dass Colevar nicht ganz begreift, was Lìa meint. Das tut sie selbst nicht einmal, auch wenn sie ebenfalls an den Schafen hängt und die Tiere für ihre Treue und ihre Gaben schätzt. Es sind auf keinen Fall Besitztümer, sondern Wesen mit einem freien Willen, aber für Calait zählen die zwei Schneeschafpaare noch lange nicht zur Familie.

Colevars "Aber ich werde nicht gehen ohne Lebewohl zusagen" lässt sie kurz innehalten, dann schimpft sie sich eine dumme Gans und das sie das schliesslich hätte voraussehen müssen. Er hat eine Aufgabe. Und er wird diese Aufgabe erfüllen, das ist so sicher, wie der Himmel blau und das Gras grün sind… aber er wird nicht zurückblicken. Wenn er wirklich ‚Lebewohl’ sagt, wird er nicht zurückblicken. Und das ist noch viel sicherer als das der Himmel blau und Gras grün sind. Mit diesem Gedanken taucht sie ein in die grün und silber durchwirkte Dunkelheit zwischen den Bäumen und huscht leichtfüssig durch hohes, nasses Gras und über weiche Erde bis zu den Pferden, um zu kontrollieren, dass es ihnen auch an nichts fehlt. Vertrauensvoll sucht das kleine Hengstfohlen ihre Nähe und kitzelt sie mit seinem warmen Atem in ihrem Nacken. Leise lachend schüttelt sie sich und krault ihan am Ansatz seiner Mähne, die bisher nicht mehr ist als ein stacheliges Wirrwarr von milchhellen Borsten. Ein langgezogenes und durch und durch zufriedenes Schnauben verrät ihr, dass Hirii die Streicheleinheit gefällt und wieder einmal stellt sie mit kindlicher Faszination fest, dass Lìa Recht behalten hat. Aus dem kümmerlichen Krüppel eines viel zu früh geborenen Hengstfohlens ist mit nervenaufreibender Hingabe und unendlich viel Liebe ein Prachtkerl von einem jungen Hunajahengst geworden, auch wenn er noch immer ein wenig krumm steht. Sein Fell ist seidig weich und glänzt, wenn man Lìas romantischen Ausschweifungen Glauben schenken kann, in der Sonne wie flüssiges Gold, seine Muskeln sind fest und hart, sein Hals schön geschwungen und sein Kopf von etwas zarter, aber hübscher Form. Ob jemals jemand auf ihm wird reiten können, steht jedoch in den Sternen geschrieben. Damit Hirii auch wirklich fit ist für den nächsten Tag, der nicht mindert anstrengend werden wird, wie der Letzte, führt Calait es bis zum Ufers des Flusses und streicht dort seine Beine dick mit kühlem Schlamm ein.
Als sie endlich wieder zum Lager zurückkommt, ist es ruhig geworden, obwohl sowohl Lìa, als auch Colevar noch immer nicht schlafen. Calait sieht den Zeitpunkt gekommen den Abend zu beenden und derweil sie die Felle und Decken entrollt und auf diese Weise die Schlafplätze herrichtet meint sie: „Wir sollten jetzt schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag…. Auch du, Colevar. Leg dich hin. Ich wecke dich wenn der Mond zwei Schritte getan hat.“ Es ist kein Befehl, aber auch kein Vorschlag. Es ist reine Vernunft und in der Nacht ist Calait eine ebenso gute Wächterin, wie Colevar, denn die Dunkelheit lässt alle Menschen erblinden.
Mit der Sorgfalt, mit der alle grossen Schwestern ihre kleinen Schwestern ins Bett stecken, deckt Calait Lìa zu und vergewissert sich mindestens dreimal, dass sie von Kopf bis Fuss warm eingepackt ist. „Und du hast auch wirklich nicht kalt?“, fragt sie zum vierten Mal und gibt sich erst zufrieden, als Louan sich neben seinem Schützling hinlegt und ihn mit seinem eigenen Körper wärmt. „Schlaf gut, ma kalon. Und träum schön. Möge die grosse Mutter über dich wachen.“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 10. Okt. 2009, 10:23 Uhr
“Ich konnte nicht bleiben und riskieren, euch in Gefahr zu bringen, Sommersprosse. Ich musste gehen und... sehen wo mein Ärger abgeblieben ist."
Einen langen Moment ruht ihr Blick auf ihm, so als erwarte sie, dass er dem noch etwas hinzufügt, aber er schweigt. Er sieht sie nicht einmal an, sondern starrt angestrengt in den Himmel. Lía spürt seine Anspannung sehr deutlich und fragt sich einen Moment warum er ihrem Blick so verbissen auszuweichen versucht. Aber sie sagt nichts dazu sondern sieht ihn einfach nur weiterhin wortlos unverwandt an. Langsam gleiten ihre Augen über Colevars klare Züge, über das ausgeprägte Kinn zu den hohen, breiten Wangenknochen bis hin zu diesen blauen Augen, die Lía schier den Atem rauben. Etwas zu lange verharrt ihr Blick auf seinen wachen Augen, die ohne jeden Zweifel dieses schöne und stolze Gesicht beherrschen. „Warum hast du es mir nicht erklärt?“, in ihrer Stimme schwingt keinerlei Vorwurf oder Anklage mit. Aber der Blick mit dem sie ihn ansieht macht deutlich, dass sein plötzliches Verschwinden sie tief getroffen hat. „Dein Ärger hat sich gewaschen, ich weiß das durchaus“, kurz huscht ein trauriges Lächeln über ihre Züge „du hättest nichts sagen müssen, du hättest nichts erklären müssen – aber, bei allen Ahnen Colevar! Zurückreiten?!“ Mit jedem Wort sprudeln die Worte schneller aus ihr hervor und in ihren Augen blitzt es kurz verräterisch auf. Sie ist nicht wütend – sie war krank vor Sorge gewesen.

Vorsichtig schiebt sie sich hoch und ist nun fast auf Augenhöhe mit ihm. Immer noch weigert er sich vehement sie anzusehen, was ihr ein betrübtes Lächeln entlockt, das sich jedoch sehr schnell wieder verliert. Colevar hält sie nach wie vor in seinen Armen und lockert seinen Griff um keinen Deut. Lía spürt seinen Atem auf ihrer Haut, die kräftigen und regelmäßigen Herzschläge seines gesunden Herzens, die Wärme die sein Körper ausstrahlt dringt in sie ein und sie zieht die Decke etwas fester um die schmalen Schultern, so als wolle sie seine Wärme für immer festhalten. Plötzlich wird sie sich seiner Nähe mit einem Schlag gewahr und für einen kurzen Moment droht sie diese Erkenntnis völlig aus der Bahn zu werfen. Für einen schmerzlich langen Moment setzt ihr Herz aus, nur um dann mit doppelter Geschwindigkeit die verlorenen Schläge wieder wettmachen zu wollen. Ihre Gedanken überschlagen sich ebenso wie ihre Gefühle – Verwirrung, Unsicherheit, Zuneigung, Angst – all diese Emotionen veranstalten ein Wettrennen ohne dass jedoch eine davon tatsächlich in Führung geht. Es sind Colevars Worte, die ihr helfen sich wieder einigermaßen zu fangen, auch wenn ihre Brust sich immer noch in leicht unregelmäßigen Atemzügen hebt und senkt.
"Lía..." Er spricht leise und eindringlich und der Klang seiner Stimme dringt tief in jede Faser ihres Körpers ein. Das kurze Schweigen das darauf folgt ist unerträglich. Was?, wimmert sie in Gedanken, weiß jedoch im gleichen Augenblick, dass sie es wahrscheinlich nicht wirklich wissen will. Doch Colevar spricht dennoch weiter. "Ich gehe nicht weg, nicht morgen und nicht in den nächsten Tagen. Aber wenn wir in Falkenwacht sind und ihr in Sicherheit seid, dann muss ich fort. Ich habe einem Freund, einem Waffenbruder, mein Wort gegeben und ich muss dafür sorgen, dass der... Ärger mir folgt. Deswegen bin ich hier in Immerfrost. Ich habe einen Mann gesucht, ihn gefunden und auf meine Fährte gelockt, ich muss ihn nach Süden schaffen. Ich muss erst zu Ende bringen, was ich angefangen habe... verstehst du?" Lía antwortet nicht sofort, sondern denkt eingehend über das eben Gehörte nach und wägt ab was dies für sie bedeutet. Schließlich nickt sie kaum merklich. Natürlich versteht sie, aber es gefällt ihr nicht. Weder der Gedanke daran, dass er sich in vollem Bewusstsein hetzen lässt, noch dass er erneut gehen wird. Diesmal vielleicht für immer. Der Gedanke versetzt ihr einen Stich und sie schließt die Augen. Eine ganze Weile hüllt sie sich in Schweigen und sieht ihn auch nicht mehr an, doch dann trifft der Blick aus großen braunen Augen auf Colevars blaue Augen und für einen Moment droht sie sich darin zu verlieren, reißt sich dann jedoch zusammen und lächelt scheu zu ihm hoch. „Und dann?“, entschlüpft es ihr bevor sie sich selbst daran hindern kann. Die Frage ist so leise, so ängstlich voller Sanftmütigkeit und Wehmut dahingehaucht, dass es ihr selbst die Sprache verschlägt. Was um alles in der Welt ist nur los mit ihr? Leise Verzweiflung darüber, dass sie ihre Gefühle nicht länger versteht breitet sich in ihr aus, doch außer einem flüchtigen Schatten der über ihre Züge huscht deutet nichts daraufhin, was ihr gerade durch den Kopf geht. "Aber ich werde nicht gehen ohne Lebewohl zusagen." Verwunderung wandelt sich in Schrecken und Schrecken macht sehr schnell Verletztheit Platz. Ein Lebewohl also.. Doch so sehr sie auch versucht seinen Wunsch zu akzeptieren, es gelingt ihr nicht. In ihrer Hilflosigkeit lehnt sie sich zu ihm hoch, schlingt ihre Arme um seinen Nacken und drückt sich fest an ihn. „Das ist so…endgültig“, murmelt sie leise an seinem Ohr. Plötzlich – von einer Sekunde auf die andere – geht eine Veränderung mit ihr vor. Ein erschrockener Laut kommt über ihre Lippen, als sich Colevars Anstrengungen zum Trotz nicht länger verschleiern lässt was gerade in (oder besser mit) ihm vorgeht,  und sie versteift sich in seinen Armen. Ihr erster Impuls ist vor ihm zurückzuprallen, doch anstatt dem nachzukommen drängt sie sich aus einem Reflex heraus noch enger an ihn – wodurch sie alles nur noch schlimmer macht, doch in dem Moment ist sie für derlei rationale Überlegungen nicht empfänglich. Schließlich siegt dann doch ihr Verstand und sie weicht – etwas übereilt – vor ihm zurück und wäre womöglich hintenüber von seinem Schoß gefallen, wenn er sie nicht weiterhin festgehalten hätte.
Lías Atem geht schnell und ungleichmäßig und die leise Panik die eben einen gehörigen Hüpfer auf sie zugemacht hat sitzt ihr immer noch in den Knochen. Verbissen weicht sie seinem Blick aus und versucht wieder etwas zu sich zu kommen. Mittlerweile glüht ihr Gesicht nicht länger nur von ihrem Weinen und dem leichten Fieber, sondern auch vor Verlegenheit und Scham. Colevar, scheinbar ehrlich darum bemüht die Situation zu retten, versucht das Gespräch wieder in alte Bahnen zu lenken. "Aye, ich weiß. Ich habe sie nicht gern zurückgelassen, Lía, aber wie hätten wir sie transportieren sollen? Sie sind gut aufgehoben, wo sie jetzt sind. Vielleicht finden wir in Falkenwacht einen Weg, euren Wagen und die Schafe für euch holen zu lassen." Doch Lía ist zu durch den Wind, als dass sie wirklich darauf achten könnte was er ihr da gerade sagt. Ein pflichtschuldiges, knappes Nicken ist alles was sie zu Stande bringt während ihr Blick hilfesuchend in Louans Richtung wandert, der sich vor einer geraumen Weile unweit der Beiden niedergelassen hatte.

Doch Loaun regt sich keinen Sehkel von der Stelle, er zuckt nur kurz mit den Ohren und richtet dann seine Konzentration auf einen Punkt hinter Lía. Dann hört sie es auch. Die leichtfüßigen Schritte ihrer Schwester die zielsicher ihren Weg in der ewigen Dunkelheit ihrer Welt finden. Noch bevor Calait auch nur den vom Feuerschein erhellten Kreis erreicht hat, entschlüpft Lía fast schon ein wenig erleichtert Colevars Händen. Immer noch gelingt es ihr nicht ihn anzusehen oder auch nur ein Wort zu sagen.
„Wir sollten jetzt schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag…. Auch du, Colevar. Leg dich hin. Ich wecke dich wenn der Mond zwei Schritte getan hat.“ Etwas wackelig auf den Beinen und immer noch in Colevars Decke eingemummt schlurft Lía so schnell sie nur kann auf ihre Schwester zu. Obwohl ihr Verhalten etwas von Flucht hat, so liegt ihre Reaktion einzig und allein in dem Schreck den sie bekommen hat begründet.
Erschöpft und nun endgültig am Ende ihrer Reserven angelangt lässt sie sich auf ihrem Lager nieder und genießt Calaits Nähe und die beruhigende Wirkung die diese auf sie hat. Calait häuft mit besorgtem Gesichtsausdruck immer mehr Decken und Felle auf ihr an und gibt sich erst zufrieden, als Louan sich Lías annimmt – vermutlich mit aus dem Grund, weil er Angst hat, dass die Ältere seinen Schützling mit all den Decken vermutlich erdrücken könnte. „Schlaf gut, ma kalon. Und träum schön. Möge die grosse Mutter über dich wachen.“ So wie immer spürt Calait scheinbar auch diesmal sehr deutlich, dass ihre kleine Schwester sie braucht und sich nach ihrer Nähe sehnt, denn kurze Zeit später liegen die Schwestern eng aneinandergekuschelt nebeneinander, Lías glühende Stirn an der ihrer Schwester. Zärtlich gleiten die Finger der Jüngeren über die Schramm in Calaits Gesicht, aber sie sagt nichts mehr. Jedes weitere Wort wäre überflüssig und einfach eine zu große Anstrengung in dieser denkwürdigen Nacht gewesen.

Als Lía nur einige Stunden später wieder erwacht ist das Lager bereits von Leben erfüllt. Obwohl sie unter all den Fellen und Pelzen fürchterlich schwitzt ist ihr dennoch kalt. Es dauert einen Moment bis sie ihre wirren Träume vollständig aus ihren Gedanken verscheucht hat und die Augen öffnet. Tiefe Schatten liegen unter ihren braunen Augen und ihre Haut wirt seltsam blass und wächsern. Die Anstrengungen und der nicht enden wollende Regen der ihnen nicht einmal die Gelegenheit gegeben hatte ihre Kleider zu trocknen forderten nun scheinbar ihren Tribut, in dem sich das leichte Fieber der vergangenen Nacht nicht verschwunden, sondern sich im Gegenteil nun in ihren Knochen festgesetzt hatte. Der Geruch von Essen dringt ihr in die Nase und sie spürt augenblicklich wie die Übelkeit in ihr aufsteigt. Vorsichtig richtet sie sich auf und stellt erstaunt fest, dass Calait an ihrer Seite ist – bewaffnet mit einem Teller und obwohl Lía überhaupt keinen Appetit hat, so kennt weder ihre Schwester noch Colevar Erbarmen und geben sich erst zufrieden, nachdem sie einige Bissen herunterwürgt hat.


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 10. Okt. 2009, 19:57 Uhr
Als er ihr verspricht, sie nicht zu verlassen ohne sich zu verabschieden, gerät etwas in ihr in Bewegung, wie Wellen auf einem Teich. Er kann es spüren, noch bevor sie plötzlich beginnt sich zu winden, zappelnd mit der Decke kämpft, als sie sich halb umdreht und ihn dann so heftig umarmt, als wolle sie auf der Stelle mit ihm verschmelzen. Colevar will sie aufhalten, sie warnen und ihr mit den allerbesten Absichten versichern, dass das gar nicht klug ist, aber als ihr schlanker weicher Körper praktisch der Länge nach an seinem liegt, ihr Geruch seine Lungen füllt, und ihr Herz gegen seine Brust schlägt, ist es viel zu spät. Er kann die Wärme ihrer Haut selbst durch die Schichten ihrer Kleider und seiner eigenen spüren und atmet plötzlich reines Feuer. Er will sie weg schieben, sie von sich stoßen und anschreien, dass sie das lassen soll, will sie sich nicht im nächsten Moment auf dem Rücken wiederfinden und ihre Unschuld auf den kalten Felsen irgendwo in der Wildnis Savos verlieren, aber seine Arme schließen sich wie von selbst um sie und halten sie so fest wie sie sich an ihn klammert. Götter im Himmel... Der Wunsch sie zu beschützen, um jeden Preis und auch vor sich selbst, wenn es nötig ist, und das Verlangen, sie auf der Stelle zu nehmen, zerreißen ihn schier und er seine Hände in ballen sich in ihrem Rücken und in diesen langen, weichen dunklen Locken zu Fäusten um nicht mehr zu tun, als sie nur zu halten. Doch unter dem Verlangen liegt noch etwas anderes als bloßes Begehren, etwas das er nicht zu kennen glaubt, das ihm fremd ist und erschreckend in seiner Intensität. Was immer es auch ist, es ist stark genug, um ihn aufzuhalten, auch wenn ihm sein Herz bis zum Hals schlägt und er um Selbstbeherrschung ringend mit den Zähnen knirscht.
>Das ist so... endgültig,< wispert ihre Stimme an seinem Ohr, so nahe, dass er ihren Atem auf seiner Haut spüren kann. Ihr weiteres zittriges Atemholen presst ihre runden, weichen Brüste noch fester an ihn und er schnappt nach Luft, im selben Augenblick, in dem sie erstarrt, als würde ihr erst jetzt und ziemlich jäh bewusst, was sie da gerade in ihm anrichtet. "Lía..." schnurrt er in ihr Haar, so sanft wie gefährlich. Offenbar ist es Warnung und Sirenengesang zu gleich, denn ein Zucken läuft durch ihren Körper, als sie alle Muskeln anspannt, um eigentlich von ihm fort zu gelangen und sich keinen Wimpernschlag später doch nur noch enger an ihn schmiegt. Sie mag die Unschuld in Person sein und überhaupt nicht wissen, was gerade mit ihr geschieht, aber ihr Körper weiß es, und er reagiert und verrät sie. Ihr Herz flattert wie ein Vogel in ihrer Brust und ihr Pulsschlag pocht ein Stakkato gegen ihre Haut, aber sicher nicht nur vor Angst, er kann es fühlen, er kann es sehen und riechen, die Hitze der Erwartung, die von ihrer Haut aufsteigt, bis die ganze Nacht um sie her schwer vom Duft wilder Rosen ist. Dann reißt sie sich los und wäre hintüber gekippt, hätte er sie nicht an den Handgelenken festgehalten.

Sie will fort von ihm, was entschieden klug wäre, doch irgendetwas hält sie auch zurück, denn sie bleibt wie angewurzelt wo sie ist und unternimmt keinen Versuch, sich zu befreien, obwohl sie das leicht gekonnt hätte. Trotzdem überzieht flammende Röte ihre erhitzten Wangen und sie sieht überall hin, aber nicht mehr in sein Gesicht. Ihre Verlegenheit ist bezaubernd, aber es ist ihre vollkommen hilflose Verwirrung, die ihn schließlich halbwegs wieder zur Besinnung bringt. Erschreck. Keine. Rehkitze. Schon vergessen? Sein Blick klebt noch einen Moment an ihrem Mund, doch allen Göttern sei Dank fallen ihm die Schafe gerade noch rechtzeitig wieder ein und er bemüht sich redlich, wenn auch mit einem leicht gequälten Lächeln, ihr irgendwie aus ihrer prekären Lage zu helfen. Sie bringt jedoch nur ein schwaches Nicken zustande und er hat nicht wirklich das Gefühl, dass sie auch nur eines seiner Worte verstanden hat, stattdessen starrt sie auf der Suche nach Beistand ihren Luchs an, so fest, wolle sie ihm irgendwie Löcher in den Pelz sengen. Louan lässt sich jedoch überhaupt nicht beeindrucken - er wirft ihnen nur einen denkbar kurzen Blick zu, offenbar der Meinung, sie sei bestens aufgehoben dort, wo sie jetzt ist, und zieht eine so hochmütige Miene, als wolle er sagen: wird auch Zeit, dass du dir endlich einen Kater suchst und ein paar Welpen in die Welt setzt, ich werde schließlich nicht jünger. Trotz des Verlangens, das immer noch unter seiner Haut simmert, trotz seines Wunsches, sie vor Schaden zu bewahren, trotz der seltsamen Zärtlichkeit, die er so unerwartet für dieses wildfremde und doch so vertraute Mädchen empfindet, unterdrückt Colevar in diesem Moment nur mit größter Anstrengung ein Lachen über das besserwisserische Luchsgesicht.  Dann schiebt er sie sanft, aber bedauernd ein wenig von sich, gerade als Calait sich ihnen nähert. "Du bist müde und du solltest vielleicht noch etwas essen. Hunger, Sommersprosse? Dann hoch mit dir, gönn den Beinen eines alten Mannes eine kurze Pause, aye?" Von einem gewissen anderen Körperteil ganz zu schweigen. Er weiß, dass er es bereuen wird, aber sie braucht ein wenig Abstand, um sich wieder zu fangen und er erst recht, sonst kann er nicht mehr dafür garantieren, sie nicht zu küssen und wer weiß, was dann geschehen würde. Entschlossen sie gehen zu lassen öffnen sich seine Hände dennoch so langsam, als koste es ihn eine gewaltige Anstrengung, sie von ihrer Haut zu nehmen und ein Zittern durchläuft ihn von Kopf bis Fuß. Kaum ist sie frei, zieht sie sich hastig zurück, flüchtet vor ihm und seiner Nähe und dem, was sie so durcheinander bringt gleichermaßen und obwohl er sie verstehen kann, versetzt es ihm auch einen nadelfeinen Stich in seinem Inneren. Sie soll ihn nicht fürchten, nie.

Einen Herzschlag, bevor Calait sie erreicht, steht er ebenfalls auf und sieht auf sie hinunter. Sie ist so nahe, dass er nur die Hand auszustrecken bräuchte, aber er tut es nicht, obwohl sein ganzer Körper schmerzt vom Scheitel bis zur Sohle und sein Herz dumpf und schwer gegen seine Rippen hämmert. Sie ist ihm so nahe gewesen. Alles von ihr, nicht nur ihr Körper, obwohl der ihm wissen die Götter nahe gewesen war, aber jetzt scheint sie ihm wieder vollkommen unerreichbar. "Ich will nicht gehen, Sommersprosse", flüstert er kaum hörbar. "Ich muss." Das ist ein himmelweiter Unterschied und sie soll es wissen.
>Wir sollten jetzt schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag... Auch du, Colevar. Leg dich hin. Ich wecke dich wenn der Mond zwei Schritte getan hat.< Calaits rauchige Stimme bricht das Schweigen nach seinen Worten und die Welt besteht nicht mehr länger nur aus einem zierlichen Mädchen mit goldbraunen Augen und einem zu großen Mund. "Aye", hört er sich selbst sagen, auch wenn er kaum glaubt, dass er viel Schlaf finden würde. Er beobachtet die beiden, als sie sich am Feuer in ihren Schlafpelzen niederlassen und fühlt sich so hilflos, als hätte ihn eine Strömung erfasst, gegen die er ankämpft und ankämpft obwohl er genau weiß, dass er früher oder später in ihr ertrinken wird. Calait weckt ihn, wie sie es versprochen hat, als der abnehmende Mond sich langsam anschickt unterzugehen und das Schimmern und Tanzen des Nordlichts am Himmel allmählich verblasst.

Sein erster Blick gilt dem Deckenberg, von dem er weiß, dass irgendwo darunter Lía verborgen liegt, doch alles, was er von ihr erkennen kann, sind ein paar schimmernde Haarsträhnen und die Spitze ihres Näschens. Calait mustert ihn scharf, murmelt etwas Unverständliches und rollt sich dann in ihre eigenen Schlafpelze dicht neben ihrer Schwester ein, und er selbst steht auf und geht zum Fluss. Im kalten Licht der Sterne fängt er sechs fette Forellen zum Frühstück, obwohl seine Beine bis zu den Knien taub vom eisigen Wasser werden und versucht dabei, seine wild in alle Richtungen wirbelnden Gedanken zu klären - es gelingt ihm nur nicht sonderlich gut. Betörung ist eine gefährliche Sache, noch dazu wenn sie von einem solchen Mädchen ausgeht. Noch schlimmer, wenn sie von einem solchen Mädchen ausgeht und einem darüber hinaus etwas an ihr liegt. Und am schlimmsten, wenn sie von einem solchen Mädchen ausgeht, an dem einem darüber hinaus noch etwas liegt und das den ebenso starken Wunsch in einem weckt, es zu beschützen. Beschützen, ha! Der einzige, vor dem sie Schutz braucht, bist du!<  >Und dann?< hatte sie bebend geflüstert, als er ihr gesagt hatte, er müsse fort, er müsse erst eine Aufgabe zu Ende bringen und die Sehnsucht in ihrer Stimme war ihm warm und schwer mitten ins Herz gedrungen. Ja. Was dann?

Sei kein Narr! Du kannst sie nicht mitnehmen, du kannst und darfst sie auf gar keinen Fall so in Gefahr bringen. Ganz abgesehen davon kannst du das kaum von ihr verlangen. Das ist wahr, er hat schließlich keinerlei Anrecht auf sie und schon gleich gar nicht darauf, ihr Leben so durcheinander zu bringen. Wer weiß, wohin sie wollen, was sie vorhaben und wohin ihr Weg sie führt. Du weißt ohnehin viel zu wenig von ihr, du kennst sie überhaupt nicht! Aye, das ist ebenfalls wahr. Aber genauso wahr ist, dass er diesen Mund küssen will. Er will ihren lachenden Mund so lange küssen, bis sie um Gnade fleht und noch viel mehr. Das ist nur nicht alles, wispert eine leise Stimme in seinem Kopf und er starrt fast wütend  über die gurgelnden, rauschenden Wasser des Baches in die schwarze, schwarze Nacht hinaus. Am nächsten Morgen ist Lía blass, fiebrig und elend, und Calait muss sie zwingen, wenigstens ein paar Bissen zu sich zu nehmen - aber ihre Augen haben dennoch das Lager nach ihm abgesucht, als wolle sie sich vergewissern, dass er in der Nacht nicht doch verschwunden ist, wie schon einmal und er glaubt zumindest so etwas wie Erleichterung in ihnen gesehen zu haben, als sie ihn entdeckt hatte. "Versuch etwas zu essen, Sommersprosse", ist jedoch alles, was er einwirft, als Calait sie zu ein wenig Fisch und Mehlküchlein zu überreden versucht. Als sie aufbrechen, reitet Lía, schwach und angeschlagen wie sie ist, wieder mit ihm und Louan, für einen Luchs ein inzwischen recht geschickter Reiter, macht es sich weitgehend in seinem Rücken auf den Schlafpelzen und den ausladenden Packtaschen bequem, die hinter dem breiten Sattel angebracht sind. Allerdings nimmt er Calaits Reittier diesmal als Handpferd, damit die blinde junge Frau nicht mehr Opfer der tiefhängenden Äste und kratzigen Dornsträucher am Wegesrand wird. Sie treiben die frei laufenden Pferde, den Onager und das Fohlen vor sich her, kräftig unterstützt von den Hunden, vor allem von der kleinen Resanderhündin, die sofort begriffen hat, worauf es ankommt, und setzen ihren Weg nach Süden fort, diesmal bei Tageslicht und in einer weit weniger mörderischen Geschwindigkeit. Gegen Mittag wird es so warm, dass Colevar die Hemdsärmel hochkrempelt und das Haar im Nacken zusammenbindet, und selbst Lía wird ein bisschen lebendiger in der Wärme der Sonne, die grün und weich durch den dicht verwobenen Baldachin der Baumkronen über ihnen scheint. Je weiter sie nach Süden kommen, desto besser werden die Wege und Pfade. Hin und wieder kommen sie nun sogar an einsam gelegenen Waldbauernhöfen oder an moosgedeckten, verschlafenen Waldläuferhütten vorüber, auch wenn sie bisher keiner Menschenseele begegnen. Wenn sie Glück haben und weiter gut vorankommen, würden sie morgen den Frostweg erreichen und ihre Nächte bis Falkenwacht damit in Gasthäusern mit richtigen Betten verbringen. Die Sonne sinkt, als sie ihr Lager aufschlagen, diesmal an einem Steilhang oberhalb des Weges, wo eine überhängende Felsnase eine natürliche Höhlung schafft und der Regen der letzten Tage sich in flachen Becken und steinernen Mulden zu klaren Teichen gesammelt hat.

Die Hunde hatten auf dem letzten Wegstück bis hierher in einem breiten Tal ein paar fette Moorhühner aus dem hohen Gras aufgescheucht und er hatte zwei Vögel mit der kleinen Schleuder vom Himmel geholt, die er sich in der gestrigen Nacht aus einem Ast mit passender Gabelung und einem weichen Lederriemen gemacht hatte, so dass sie nun ein wahres Festmahl zum Abendessen erwartet, anstatt der bisher eher kargen Kost aus den wenigen Vorräten, die sie bei ihrer überstürzten Flucht hatten mitnehmen können. Er hebt Lía aus dem Sattel, händigt die Vögel Calait aus und macht sich dann daran, am Hang unterhalb ihres Lagers Holz für ein Feuer zu sammeln. Als das erledigt ist, kümmert er sich um die Pferde, tränkt und füttert sie, kontrolliert ihre Beine, beschmiert sie alle mit kühler feuchter Erde und reibt sie trocken. Die Hunde, die schlanke, elegante Otterdame, der possierliche Marder, der Luchs und Mistress Grau und die Vögel erhalten ihren Anteil Dörrfleisch aus seinem Gepäck und für den Rest würden Calait und Lía sicher noch etwas fressbares finden. Alles in allem war er den ganzen Tag lang ein Musterbeispiel an Zurückhaltung, unverbindlicher Freundlichkeit und ritterlicher Fürsorge gewesen. Er hatte seine Finger ganz artig bei sich behalten, er hatte sie nicht geneckt und mit nichts aufgezogen, obwohl die Versuchung groß gewesen war, und er hatte kein Wort über den gestrigen Abend verloren. Genau genommen hatte er sich derart edelmütig benommen, dass man ihn von Rechts wegen eigentlich gleich noch einmal zum Ritter schlagen sollte. Das alles hatte nur nicht das Geringste geändert, und wenn er sich hundertmal einredet, dass es nichts zu bedeuten hat. Was für ein Heuchler du doch bist.


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 12. Okt. 2009, 17:02 Uhr
Calait weckt Colevar wie versprochen, bevor sie sich neben Lìa in die Decke einrollt und die Augen schliesst. Es dauert nicht lange, bis sie in Schlaf gefallen ist, doch Sheilair ruft sie zu sich, noch ehe sie wirklich zur Ruhe kommen konnte und als sie, nach Luft jappsend und schweissgebadet, aus dem Traum aufschreckt ist der Morgen noch weit fort. Sofort tastet sie mit zitternden Fingern nach ihrer Schwester und vergewissert sich voller Entsetzen, dass sich der Deckenberg unter deren tiefen, festen Atemzügen regelmässig hebt und senkt. Gleich darauf fällt ihr ein Stein, so gross wie der Wolkenthron, vom Herzen und Erleichterung vertreibt das klamme Panikgefühl, mit dem sie erwacht ist. Mit einer fahrigen Geste vergräbt sie das Gesicht in ihren Händen, strampelt die Decke weg, zieht die Beine an und lehnt ihre Stirn an ihre Knie. Sie lebt. Es geht ihr gut. Sie ist da. Es ist alles in Ordnung. Sie wird auch nicht weggehen. Nicht so... Es war ein Traum! Einfach nur ein Traum. Himmelhilf, es muss ein Traum gewesen sein. Bitte, lass es ein Traum gewesen sein. Bitte, bitte, bitte. Und doch liegt ihr der schale Geschmack nach Blut noch immer auf der Zunge und die Enge in ihrer Brust will nur langsam weichen. Selbst als die Sterne am Himmel längst zu einem fahlen Schimmer verblasst sind und sich am Horizont ein schmaler Streifen von Rosa und Gold abzeichnet, bleibt das hässliche Gefühl, das der Träumer ihr diese Nacht nicht ihre unterdrückten Ängste vor Augen geführt, sondern einen Blick in eine mögliche Zukunft gewährt hat. In eine ganz fürchterliche und absolut inakzeptable Zukunft, die nichts ausser Leere und Trostlosigkeit für sie bereit hält. Ein Leben im Grau der Farben, wo weder Licht noch Schatten herrschen, wo es kein vor und kein zurück gibt, wo jede Entscheidung aufs Gleiche hinaus läuft; ein Leben ohne Lìa. Hölzern kämpft sich Calait in die Höhe, streckt die steifen Glieder und begrüsst Colevar mit einem knappen: „Morgen.“ Sie weiss, dass er ihr unruhiges Erwachen mitbekommen hat, es war schliesslich nur schwer zu übersehen, und ist ihm dankbar, dass er keine Fragen stellt. Es wäre ihr mehr als unangenehm gewesen ihm gestehen zu müssen, dass er es nicht nur mit einer verrückten, blinden Frau, sondern mit einer verrückten, blinden und mit dem zweiten Gesicht gesegneten Frau zu tun hat. Zumindest mit einem halben zweiten Gesicht, aber das reicht schon um die Menschen zu verwirren. Ach ja?, zischt eine fiese Stimme in ihrem Hinterkopf: Ist das der wirkliche Grund? Oder redest du dir das nur ein, weil deine Schwester zum ersten Mal jemanden anderes dir vorgezogen hat? Und dann auch noch einen Mann. Der Seitenhieb sitzt und Calait muss ernsthaft darüber nachdenken, bis sie es ohne ein schlechtes Gewissen verneinen kann. Nein. Ich bin nicht eifersüchtig. Ich bin nur verunsichert. Glücklich und traurig zugleich, wie eine Mutter die zum ersten Mal ihr Kind in Armen hält. Obwohl sie froh ist, es geboren zu haben, erfüllt ein Gefühl von Leere ihren Leib. Eine süsse Wehmut, leicht zu ertragen, weil man eigentlich nichts verliert, obwohl es eine Art von Trennung bedeutet. Trennung, aber kein Verlust. Lìa würde sie nie verlassen. Nicht in diesem Leben und nicht in denen, die noch folgen würden. Es ist eine Tatsache, die Calait in diesem Augenblick so schmerzhaft heftig bewusst wird, dass ihr Herz vor Glück zerspringen möchte und es ihr leichter macht die zu Fäusten geballten Hände zu öffnen, um einfach loszulassen.
Das Lìa Fieber bekommt hatte Calait schon am Abend zuvor geahnt, als sie neben ihrer Schwester gelegen und der Hitze, die deren Körper heimgesucht hat, selbst durch die ganzen Decke und Felle gewahr worden war. Sie braucht die Stirn ihrer Schwester gar nicht zu berühren. Ihre Fingerkuppen brennen, noch ehe sie der Jüngeren das wirre Haar, das ihr an Schläfen und Wangen klebt, aus dem Gesicht streicht und obwohl ihre schwesterliche Fürsorglichkeit augenblicklich Alarm schlägt und alles in ihr dazu drängt, auf der Stelle ein Drama zu veranstalten, behält ihre Erfahrung als Heilerin – zumindest Heilerlehrling dritten Grades – die Oberhand und zwingt sie zur Ruhe. Heisses Wasser. Trockene Kleidung. Etwas Grünglanzholz und Falsche Kamille. Wir haben alles. Gut.
Derweil Colevar also den Fisch zu Tode brät zwingt Calait Lìa aufzustehen und ihr zum Fluss zu folgen, wo sie ihre Schwester erst von den schweissgetränkten  Kleidungsstücken befreit, um sie dann in eine mit Kaninchenfell gefütterte Hose, ein langes, weiches Hemd, ihre _neuen_ Stiefel – Vi-Vi musste in die alten umziehen – und eine dicke Fellweste zu stecken und sie, wie eine Raupe, in einen Umhang aus Eiselchfell zu wickeln. Lìa lässt alles willenlos mit sich geschehen. Blass um die Nase und mit rotglühenden Wangen tappt sie an der Seite ihrer Schwester zum Lager zurück, lässt sich dort am Feuer nieder und schluckt, nach ewig langem gutem Zureden, doch noch etwas weiches, weisses Fleisch und warme Mehlkuchenhäppchen. Dazu verabreicht Calait ihr einen bitteren Sud aus Weidenrinde und Kamilleblütenblätter, der dem Fieber entgegen wirken und den Appetit anregen soll. Lìa nimmt brav drei Schlucke, bevor sie angewidert das Gesicht verzieht und die Lippen aufeinander presst. Calait belässt es dabei, isst selbst genug und hilft ihrer Schwester kurz darauf in den Sattel, denn obwohl Lìa nichts dringender bräuchte, als ein warmes Lager und viel Schlaf, können sie ihre Flucht nicht unterbrechen. Flucht…Hmpf. Den nächsten Verletzten, den Lìa mitbringt, jage ich einfach gleich zum Dunklen!

Während sie reiten, bemüht sich Calait redlich das Gesehene aus ihrem Kopf zu verbannen, um Lìa, die trotz ihres kränklichen Zustandes gefühlt hatte, dass ihre Schwester nicht sie selbst gewesen war, nicht noch mehr zu beunruhigen. Leider weiss Calait genau, dass sie mit ihrer Verschwiegenheit nur das Gegenteil bewirkt, da sie Lìa unter normalen Umständen sofort über ihre Träume in Kenntnis gesetzt hätte. Ja, aber da wurde sie auch nicht… ist sie auch nicht… ging es nicht um sie! Und es wird auch nicht passieren! Tief in ihrem Inneren beginnt etwas zu beben. Eine Erinnerung, alt und kalt, bahnt sich ihren Weg durch Alltagssorgen, Automatik und instinktives Handeln, hinauf an die Oberfläche und krallt sich tief und blutig in wundes Fleisch. Das hast du schon einmal gedacht. Sie verkrampft sich von Kopf bis Fuss, woraufhin Adnan abrupt die Hufe in den weichen Waldboden stemmt und sich keinen Sekhel mehr von der Stelle rührt.
Ganz Recht. Das hast du schon einmal gedacht. Erinnerst du dich? Oh ja, das tust du. Wie könntest du es auch jemals vergessen. Du würdest es nicht wagen es zu vergessen. Wo es… Nur dumpf dringt Colevars Stimme bis zu ihrem Bewusstsein durch und erst, als Adnan einen ganzen Satz nach vorne macht und sie sich gerade noch rechtzeitig an dessen Mähne festhalten kann, schreckt sie aus der Dunkelheit auf, in die ihre Überlegungen sie gerissen haben. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals und sie bringt keinen Ton über die Lippen, weswegen sie einfach nur unwirsch abwinkt und ihr Gesicht am schlanken, kräftigen Hals des Reninkers birgt. Der Duft nach Pferd steigt ihr warm und durchdringend in die Nase und lässt sie tief durchatmen, bis sie spürt, wie der Aufruhr in ihrem Inneren sich nach und nach legt. Zurück bleibt nur die Entschlossenheit, es niemals so weit kommen zu lassen. Nicht noch einmal. Damit schiebt Calait die Schatten der Vergangenheit entschieden beiseite und widmet sich wieder dem Hier und Jetzt, das sich im Augenblick aus einer kranken, völlig verwirrten und schwer verunsicherten Lìa, einem verletzten, ebenso verwirrten und wahrscheinlich nicht minder verunsicherten Colevar und einer ganzen Horde von Problemen zusammensetzt. Angefangen bei: Die Schafe sind auf sich gestellt, über: Wie kommen wir je wieder an unseren Wagen, bis hin zu: Wenn diese Männer uns in die Finger kriegen, dann… geistert Calait alles durch den Kopf und sie ist froh, als sie anhand ihres Gleichgewichtssinns spürt, wie das Land langsam abfällt und stetig flacher wird, derweil der Wald um sie herum sich lichtet und immer mehr blassgoldene Sonnenstrahlen durch das Blätterdach brechen. Schon bald hat Calait ihre Stiefel ausgezogen, die Fellweste abgestreift und die Ärmel ihres Lederhemdes hochgekrempelt, so warm wird es. Es scheint, als wolle der Sommer noch ein letztes Mal in seinem glänzenden Gewand über Roha ziehen, bevor der launische Herbst mit seinen wilden, bunten Tänzen den Thron der Gezeiten einfordert.
Später am Tag sorgt Calait dafür, dass Lìa noch einmal etwas Tee zu sich nimmt und erlaubt ihr nach einigem Hin und Her immerhin das Eiselchfell abzulegen, wenn auch nur bis zur Hüfte – sowohl zu ihrem, als auch Colevars Bestem. Die geballte Ladung an Sehnsucht, unterdrücktem Verlangen und heldenhafter Sittlichkeit hätte einen Empathen wahrscheinlich erschlagen, bei Calait löst es immerhin ein vages Schmunzeln aus und sie nimmt sich fest vor, Lìa, wenn nötig mit einem eindeutigen Hinweis, davon abzuhalten, sich noch einmal in diese ihr völlig unbekannte Gefahr zu bringen. Sonst bleibt mir nichts anderes übrig als Colevar umzubringen, weil er wie ein liebestoller Hund über meine Schwester herfällt. Was natürlich sehr schade wäre. Beiläufig beginnt sie mit Colevar ein Gespräch über seinen Aufenthalt in Immerfrost. In welchen Städten er gewesen sei, wo er untergekommen sei, wie ihm das wilde, raue Antlitz der Immerfroster Berge und Wälder gefalle und so weiter. Sie stellt keine persönlichen Fragen, geht mit keinem Wort auf den Grund seines Hierseins ein und macht einen grossen Bogen um den Ort seiner Bestimmung. Trotz all dieser unsichtbaren Hindernisse bleibt ihre Unterhaltung ungezwungen und entspannt und mehr als einmal lässt ihr erheitertes Gelächter die Natur ringsum schlagartig verstummen. Calait, die sich schon wieder mit getrockneten Flechten herumhantieren sieht, strahlt vor Freude, als Colevar mit Unterstützung der Hunde ein paar Moorhühner erlegt und ihr diese, kaum sind sie abgestiegen, wortlos in die Hände drückt. Zuerst aber kümmert sie sich um ein Feuer, an dem Lìa sich hinlegen und ausruhen kann, dann erst widmet sie sich dem Abendessen und derweil sie den Hühnern das graubraune Federkleid ausrupft und in einem wilden Durcheinander an weissen und braunen Flocken untergeht, spricht sie ihre Schwester endlich – nachdem sie sich noch einmal versichert hat, dass Colevar bei den Pferden zu Gange ist – darauf an, was ihnen beiden schon eine Weile auf der Seele liegt. Und weil es dabei auch um Colevar geht, wechselt sie automatisch in ihre Muttersprache.

„Wir können vorerst nicht bei ihm bleiben, ma kalon. Das weißt du. Aber es hält uns auch nichts davon ab ihm zu folgen. Also frag ihn doch einfach wo er hingeht und wenn er kein völliger Narr ist, verrät er es dir in der Hoffnung, dich dort wiederzusehen.“ Und das wird er mit Sicherheit. Sie sagt nicht „Du magst ihn!“, sie sagt nicht: „Er mag dich!“ und sie sagt schon gar nicht: „Ihr zwei gehört zusammen!“ Das ist gar nicht nötig, denn sogar eine Blinde wie sie kann das Band, zart wie immerfroster Spinnenseide und doch reissfest wie Segeltuch, zwischen ihnen sehen, nur ist keiner von beiden bereit danach zu greifen und es festzuhalten. Wer weiss, vielleicht zögert Colevar aus gutem Grund. Vielleicht täuschen mich meine Menschenkenntnisse und meine feinen Sinne und er ist gar nicht der Mann, für den ich ihn ohne zu fragen halte. Vielleicht sind seine Häscher die Guten und er der Böse. Das sind berechtigte Unschlüssigkeiten. Gerne hätte Calait sie einfach mit einem nichtigen „Papperlapap“ beiseite geschoben und auf ihr Herz gehört – das schon seit dem letzten Abend irgendetwas Absurdes von „Romantik“, „Liebe“ und sogar „Hochzeit“ labert -, doch ihr Verstand schwenkt die rote Fahne mit solcher Intensität, dass es einfach unmöglich zu ignorieren ist. Sie hört, wie Lìa leise Atem holt, ihn aber unverrichteter Dinge wieder ausstösst und hält damit inne, das Abendessen zu entkleiden. „Ma kalon.“ Calaits Stimme ist zu einem schwachen Flüstern verblasst, kaum mehr als ein Hauch von Luft, der über ihre Lippen huscht, und es kostet sie einiges an Anstrengung ihre Schwester nicht auf der Stelle in ihre Arme zu ziehen und ihr zu versichern, dass alles gut werden würde. Sperrig wie ein Balken liegt ihr die Lüge im Hals und endlose Sekunden tut sie nichts, ausser mit leerem Gesicht in die winzigen Flammen zu starren.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 13. Okt. 2009, 15:25 Uhr
"Ich will nicht gehen, Sommersprosse. Ich muss."
Colevars Worte geistern ihr immer wieder durch den Kopf und Lía versucht verzweifelt dahinterzukommen was er ihr tatsächlich damit sagen wollte. Mag sein, dass es nicht seine freie Entscheidung ist wenn er sie im Endeffekt doch wieder verlässt, aber im Grunde macht es auch nicht wirklich einen Unterschied. Es bleibt also beim Lebwohl… Dass er nicht unbedingt gehen will ist nur ein sehr schwacher Trost, da er scheinbar auch nicht wirklich Interesse daran hat sie irgendwann wiederzusehen. Sie weiß durchaus, dass auch ein Aufwiedersehen nur sehr vage ist, da es Jahre dauern kann bis man sich tatsächlich wiedersieht. Aber immerhin ist es eine Chance; eine Art Versprechen, dass der Tag irgendwann kommen wird. Ein Lebewohl hingegen…Es ist das unruhige Hin – und Herwälzen ihrer Schwester das sie schließlich aus ihren Gedanken reißt. Vorsichtig versucht sie sich unter ihrem Berg aus Decken und Fellen hoch zukämpfen um nach Calait zu tasten und sie zu beruhigen. Allerdings hat die Ältere ganze Arbeit geleistet, denn Lía schafft es kaum den Kopf zu heben von sich ganz aufzurichten ganz zu schweigen. Erst als Louan missbilligend neben ihr zu Grollen anfängt lässt sie sich wieder brav zurück in die Pelze sinken, jedoch nicht ohne den Valkoinen Ilves an die Seite ihrer Schwester geschickt zu haben. Wenn sie es schon nicht selbst tun kann, so soll wenigstens ihr persönliches Schutztier über Calaits Schlaf wachen.

Es dauert lange bis Lía schließlich in einen unruhigen Schlaf abdriftet geplagt von wirren Fieberträumen, aber sie liegt völlig regungslos und stumm da. Das einzige was auf ihren unruhigen Schlaf hindeutet sind ihre zuckenden Augenlider und vereinzelt besorgte Blicke Louans, der sich brav an Calaits Seite begeben hat wie Lía es ihm aufgetragen hat, auch wenn ihm sichtlich unwohl dabei ist seinen kleinen Schützling allein zulassen. Als der Schlaf sie schließlich zurück in die reale Welt entlässt blinzelt sie einige Male verwirrt. Was für sein seltsamer Traum. Obwohl sie sich schwach und elend fühlt lächelt sie, als sie Calaits Gesicht über sich erblickt nachdem sie die Augen aufgeschlagen hat. Es ist trotz ihrer momentanen Situation und den Geschehnissen der vergangenen Nacht ein Anblick der ihr Sicherheit und Geborgenheit verspricht. Zärtlich berühren die von Brandnarben übersäten Fingerspitzen ihrer Schwester ihr glühendes Gesicht und streichen ihr die verschwitzten Haare aus der Stirn. Obwohl Calait sich alle erdenkliche Mühe gibt, so spürt Lía dennoch, dass etwas mit ihr ganz und gar nicht stimmt. Schon immer sehr empfänglich für die Gefühlswelt ihrer Umwelt, so ist diese Gabe hinsichtlich ihrer Schwester noch viel stärker ausgeprägt – Lía spürt selbst den leisesten Hauch von Angst, Sorge oder was auch immer als sei es ihr eigener. Aber sie schweigt. Sie kennt Calait gut genug um zu wissen, dass diese schon reden wird wenn sie soweit ist, allerdings lässt sich auch nicht leugnen, dass das Schweigen ihrer Schwester sie nur noch mehr beunruhigt. Aber Calait lässt ihr gar nicht weiter Zeit um darüber nachzugrübeln, sondern bringt sie auf die Füße und stützt sie auf dem Weg zum Fluss hinunter. Doch bevor Lía sich von ihrer Schwester wegführen lässt wandert ihr Blick durchs Lager auf der Suche nach Colevar. Obwohl er ihr versichert hat nicht einfach wieder heimlich still und leise zu verschwinden und sie seinen Worten im Grunde auch glaubt, kann sie dennoch nicht leugnen, dass dennoch dumpfe Angst von ihr Besitz ergriffen hat und erst weicht, als sie ihn schließlich unweit der Feuerstelle erblickt. In ihrem Blick liegt Erleichterung und Dankbarkeit…aber auch eine stumme Entschuldigung. Lía spürt, dass sie ihn mit ihrem Fluchtverhalten getroffen hat und das ist wirklich das Letzte was sie will; leider kommt sie gegen dieses Gefühl nicht wirklich an. Colevar löst etwas in ihr aus was sie zutiefst verwirrt und verstört. Er übt diese seltsame Faszination auf sie auf und sie hängt wirklich sehr an ihm – und trotzdem schüchtert er sie ein. Vergangene Nacht war aus der leisen Unsicherheit fast so etwas wie Angst geworden…Der Gedanke schmerzt sie, schon allein deswegen, weil sie überzeugt davon ist, dass sie ihm Unrecht tut. Lía, die sonst jedem so völlig offen und bedenkenlos begegnet spürt zum ersten Mal so etwas wie…wie…ja, fast schon…nun, sie weiß nicht wirklich was es ist, aber es hält sie davon ab Colevar weiterhin so völlig unbedacht zu begegnen, dazu hat sie die vergangene Nacht zu sehr verschreckt. Es tut weh. Dieses Gefühl schmerzt sie so dermaßen, dass sie nicht verstehen kann, wie andere es als völlig normal empfinden können.
Ohne zu murren lässt sie Calait ihr helfen sich aus den verschwitzten Kleidern zu schälen nur um sie anschließend so dick einzupacken, dass jeder andere vermutlich augenblicklich geschmolzen wäre. Doch Lía empfindet die wärmende Kleidung als angenehm, denn obwohl sie fiebrig ist und nur so glüht ist ihr eiskalt und sie muss sich wirklich zusammenreißen um nicht mit den Zähnen zu klappern.
Zurück am Feuer braucht Calait all ihre Überredungskunst um ihre kleine Schwester schließlich doch noch dazu zu überreden doch wenigstens ein paar Bissen zu sich zu nehmen. Selbst Heilerin, ist Lía natürlich klar, dass ihre Schwester Recht hat, doch sie fühlt sich weder im Stande etwas zu sich zu nehmen und noch viel weniger es auch bei sich zu halten – aber es klappt. Als der beißende Geruch von dem Kräuterpunsch steigt ihr in die Nase und sie starrt missmutig auf den dampfenden Becher wohl wissend, dass sie nicht daran vorbeikommt das Gebräu zu sich zu nehmen. Also fügt sie sich unter den wachsamen Ohren ihrer Schwester in ihr Schicksal und nippt kurz an der Flüssigkeit, schüttelt sich und nimmt schlussendlich drei große Schlucke bevor sie den Becher wieder zurückreicht. Calait scheint zwar alles andere als wirklich zufrieden, aber sie belässt es dabei. Es dauert nicht lange bis auch Colevar und Calait ihr Frühstück beendet haben und alles zum Aufbruch bereit ist und auch wenn Lía alles lieber getan hätte als in ihrem momentanen Zustand weiterzuhetzen, weiß sie dass sie keine andere Wahl und  auch nicht das Recht dazu hat so egoistisch zu sein. Also lässt sie sich ohne auch nur einmal zu Jammern von Calait in den Sattel helfen. Die Tatsache, dass sie sich erneut so nah bei Colevar befindet empfindet sie als beunruhigend und ein mulmiges Gefühl macht sich in ihr breit, aber sie lässt sich nichts anmerken und versucht den Ritt so gut es geht zu überstehen ohne den beiden anderen zu sehr zur Last zu fallen. Sowohl Colevars als auch ihre eigene Unruhe gestaltet für keinen von ihnen ihre Reise als angenehmer, aber Calait bereitet Lía viel zu große Sorgen, als dass sie den unterdrückten Gefühle ihres Hintermanns – die sie dennoch deutlich wahrnimmt – weiter große Beachtung schenken würde. Immer wieder blickt sie über die Schulter zurück und am liebsten wäre sie einfach vom Pferd gesprungen nur um mit Calait reiten zu können, aber sie weiß, dass das im Moment einfach nicht geht, also begnügt sie sich damit vor Sorge um ihre Schwester zu vergehen. Immer wieder döst sie ein nur um kurze Zeit später wieder hochzuschrecken. Obwohl das Tempo weit angenehmer ist als am Tag zuvor empfindet Lía den Ritt in ihrem angeschlagenen Zustand als sehr viel kräftezehrender und anstrengender, aber kein einziges Mal beschwert sie sich, sondern schlägt Colevars Angebot ein paar Minuten zu rasten, nachdem sie ihm fast aus dem Sattel gefallen wäre stur aus und drängt selbst zum Aufbruch. Eine Rast können sie sich einfach nicht leisten und sie würde sicher nicht erlauben, dass die anderen Beiden noch mehr in Gefahr gerieten nur wegen ihr.

Der erleichterte Laut der über ihre Lippen kommt als sie endlich anhalten und Colevar ihr aus dem Sattel hilft ist alles was darauf schließen lässt wie anstrengend der Ritt tatsächlich für sie war. Etwas zu lange bleibt ihr Blick an seiner Gestalt hängen, bevor sie dann Calaits Aufforderung sich am Feuer auszuruhen Folge leistet.
„Wir können vorerst nicht bei ihm bleiben, ma kalon. Das weißt du. Aber es hält uns auch nichts davon ab ihm zu folgen. Also frag ihn doch einfach wo er hingeht und wenn er kein völliger Narr ist, verrät er es dir in der Hoffnung, dich dort wiederzusehen.“
Lía spürt wie eine Woge unendlicher Dankbarkeit über sie hereinbricht, als Calait schließlich das Gespräch, das die Jünge so nötig braucht, von sich aus beginnt. Es vergeht eine geraume Weile in der sie einfach nur schweigt und darüber nachdenkt wie sie ihre Gefühle am besten in Worte fassen kann.
„Ich weiß“, ist schließlich alles was sie sagt während sie zu Calait rutscht und sich eng an sie kuschelt. Plötzlich scheint die Kälte die sie den ganzen Tag schon geplagt hatte noch um einiges intensiver zu werden obwohl ihre Haut nur so glüht. „Ich weiß“, wiederholt sie leise und starrt in die tanzenden Flammen. Ein Kopfschütteln und ein tiefes Seufzen später greift sie nach den zierlichen Fingern der Älteren und nimmt sie in ihre. „Sieh es dir an, sieh dir die Flammen an“, erklingt ihre ruhige Stimme nach einer schieren Ewigkeit. „Feuer ist ein großes Mysterium. Es strahlt so eine unglaubliche Ruhe aus und dennoch birgt es soviel Macht und Zerstörung in sich -“, wer wusste das besser als ihre Schwester? „- es verbirgt etwas. Genau wie manche Menschen. Man muss sich nähern wenn man erkennen will womit man es wirklich zu tun hat. Und manchmal muss man sich die Finger verbrennen um die Wahrheit zu sehen“ Erst jetzt wendet sie sich Calait direkt zu und schließt sie in die Arme. Lía wäre auf der Stelle bereit sich die Finger zu verbrenne, ja sie wäre sogar durch ein schieres Inferno gelaufen nur um einen Menschen besser kennenzulernen, aber ihre Schwester sollte sich niemals, niemals wieder verbrennen. Das wird sie nie wieder zulassen, ganz egal was das für sie selbst bedeutet. Das Lebewohl würde ihr vermutlich das Herz brechen, aber es war Colevars Entscheidung und das Beste für Calait. Lía seufzt innerlich und beobachtet die Ältere eingehend. „Willst du es mir erzählen?“, ist schließlich alles was sie in die dunklen Locken ihrer Schwester flüstert.

Es dauert verdächtig lange bis Colevar sich endlich zu ihnen gesellt und irgendetwas sagt ihr, dass er sie nicht stören wollte bei ihrem Gespräch. Immer noch legt er zwar ein durchaus freundliches Verhalten an den Tag bleibt dabei aber dennoch distanziert und obwohl Lía es ihm nicht verdenken kann (immerhin tut sie dasselbe) fühlt sie sich…es ist ein seltsames Gefühl, so als hätte sie etwas wichtiges verloren…Ohne es zu merken wandert ihr Blick immer wieder zu Colevar und in ihren dunklen Augen liegt immer der gleiche Ausdruck: Angst. Angst ihn verletzt zu haben, Angst sich falsch verhalten zu haben, Angst ihn vor den Kopf gestoßen zu haben….Angst…ihn…irgendwie…verloren zu haben…

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 13. Okt. 2009, 21:48 Uhr
Als die Moorhühner erst gerupft, dann gewürzt werden und schließlich mit halbtrockenem Gras umwickelt in einer Gargrube neben dem Feuer und bedeckt von heißer Glut vor sich hin schmoren, und die beiden Mädchen sich leise in ihrer Muttersprache unterhalten, hat Colevar gerade die Pferde versorgt und füttert nun die bunt zusammengewürfelte Tierschar mit den Dörrfleischstreifen aus seinem Gepäck. Die Hunde bilden einen hechelnden, andächtigen Halbkreis, die Katzen streichen schnurrend und grollend um seine Beine, der Falke rupft ihm aus den Fingern, was nicht schnell genug in einem anderen hungrigen Maul verschwindet und die Otterdame und der Marder veranstalten einen Wettstreit, der da heißt: wer klettert schneller die langen Beine von dem Kerl hoch und erreicht das Futter in seiner Hand zuerst? Nur die Hörnchen lassen sich nicht bei ihm blicken, aber vielleicht ist ihnen der vierbeinige Auflauf um ihn her dann doch eine Spur zu sehr auf Fleisch ausgerichtet.  Er sieht Lía und Calait noch immer in ihr Gespräch vertieft am Feuer sitzen und wendet sich seufzend wieder der allmählich satten Vierbeinerschar zu. Vielleicht würde er noch ein paar andere Arbeiten im Lager finden, die ihn von der Feuerstelle fernhalten würden. Er könnte auch noch ein paar Armvoll Holz sammeln. Oder den Brombeerstrauch am Fuß des Hanges leeren, falls der nimmer satte Troll welche übrig gelassen hatte. Er könnte auch die Hufe der Pferde zum zehnten Mal auf Steinchen und Druckstellen untersuchen oder Filidh noch einmal die Mähne ausbürsten. Er wirft den Falken zurück in die Luft, wo er mit einem schrillen Ruf auf den nächsten Baum flattert, dort empört sein Gefieder aufplustert und sich eifrig zu putzen beginnt, dann schüttelt er den Kopf und lehnt sich mit dem Rücken an die kalte Steinwand hinter ihm. Die Sonne sinkt endgültig im fernen Westen und die Dunkelheit steigt wie Dunst aus dem feuchten Waldboden auf. Als sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, hatte Calait behutsam, aber keineswegs undurchschaubar damit begonnen, ihn ein wenig auszuhorchen, war dabei jedoch stets an der sicheren Oberfläche mit ihren Fragen geblieben, und er hatte  ihr aufrichtig und nicht einmal ohne Humor beantwortet, was sie hatte wissen wollen. Lía dagegen hatte den ganzen Tag über nur das nötigste mit ihm gesprochen und es war ihr sichtlich unangenehm gewesen, schon wieder vor ihm im Sattel zu sitzen, auch wenn ihre Schwester sie - vorgeblich in der Absicht, sie warm zu halten, aber sehr wahrscheinlich aus einem viel profaneren Grund - von Kopf bis Fuß in ein dickes, schweres Elchfell gesteckt hatte, in dem sie sich kaum hatte rühren können. Beim Anblick Lías, beinahe so verhüllt, als trage sie eine azurianische Burka, hatte er einen Moment ernsthaft nicht gewusst, ob er jetzt lachen oder besser beleidigt sein soll - wenn Calait immer noch nicht weiß, dass er Lía niemals etwas antun würde, das sie nicht selbst will, dann kennt sie ihn schlecht.

Irrtum. Sie kennt dich überhaupt nicht, also lass es dabei bewenden, hatte ihn der Teil seines Verstandes, in dem die Logik noch halbwegs vorhanden war, streng erinnert und er hatte kein Wort über Lías Aufzug verloren, auch wenn er sie einmal mit erhobener Braue vom Scheitel bis zur Sohle mit einem langen Blick gemustert hatte. "Vielleicht war es wirklich besser so", informiert er Mistress Grau neben ihm auf einer Felsnase. Die Rotatkissa war als einziges der Tiere bei ihm geblieben, auch nachdem er das  Dörrfleisch wieder weggepackt hatte. Ein Ohrenzucken ist die einzige lapidare Antwort die er erhält. "Hmpf. Ich weiß nicht, was dieses Mädchen an sich hat, aber eines kann ich dir sagen, Katze: sie macht mir mehr Angst als ein achteinhalb Fuß großer Sandnarg mit Streitaxt und Morgenstern." Er fährt sich mit beiden Händen über die Augen und durchs Haar und schüttelt dann unwillig den Kopf. Kannst du eigentlich auch noch an etwas anderes denken, als an sie? Sein eigener, verräterischer Blick wandert schon wieder zurück zu Lía am Feuer. Sie umarmt Calait, gerade in dem Moment, als er sie ansieht und in ihrem Gesicht ist eine solche Zärtlichkeit für  ihre blinde Schwester, dass ihm die Kehle eng wird. "Nein", seufzt er schwer, beantwortet damit seinen eigenen Gedanken und spürt sein Herz schwer und fast schmerzhaft gegen seine Rippen schlagen.  Was hatte dieses lächerlich kleine Ding mit den tausend Sommersprossen, diesen verwundbaren Rehkitzaugen, diesem unerhörten, zu großen Mund (und mit dem ganzen Rest) nur mit ihm angestellt, dass es ihm so mühelos gelingt, seine Gedanken zu beherrschen? In sein Innerstes zu spazieren, als wäre es dort zu Hause? Wie konnte sie einfach in sein Herz marschieren und dort alles durcheinander bringen? Ist es das? Ist das der Kern der Sache, ist das die Antwort? Der kalte Nachtwind prickelt plötzlich mit tausend Nadelstichen auf seiner Haut. Ist es wirklich so einfach? Colevar wendet den Blick langsam vom nächtlichen Wald ab und sieht zum Feuer. Sie halten einander noch immer umfangen, doch die Ältere hat ihren Kopf auf eine der schmalen Schultern ihrer Schwester gelegt und beide haben ihre Gesichter dem Feuer zugewandt. Goldener Flammenschein tanzt über Lías feingeschnittene Züge und lässt in ihren warmen, braunen Augen kleine goldene Sprenkel leuchten. Ihre Wangen glühen von der Hitze der Flammen und ihr Haar, glänzend wie poliertes Ebenholz und schimmerndes Mahagoni, bewegt sich sacht im leichten Wind… und so lange er sie ansieht, spürt Colevar  in seinem Herzen eine seltsame Stille, als habe der Rest der Welt aufgehört, sich zu bewegen.  

Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, während er einfach im Dunkel der Nacht steht und sie ansieht, aber irgendwann, als es so aussieht, als würden nicht mehr viele Worte zwischen den Schwestern fallen, holt er eine seiner Packtaschen, die Schlafpelze, die Armbrust und den Köcher mit Bolzen, und geht ans Feuer. Allerdings wäre er nach ein paar Augenblicken und einem halben Dutzend aufgefangener Blicke von Lía am liebsten wieder gegangen. Sie hält den Blick zwar die meiste Zeit krampfhaft auf etwas anderes gerichtet, aber wann immer sie glaubt, er sehe es nicht, wandern ihre Augen doch zu ihm - und was er in ihnen lesen kann gefällt ihm ganz und gar nicht, denn es ist eindeutig Angst. Auf den Gedanken, dass die Furcht an ihr nagt, etwas falsch gemacht und ihn irgendwie… nun ja gekränkt zu haben, wäre er jedoch im Traum nicht gekommen, und so bleibt ihm natürlich nur der Schluss, dass sie  Angst vor ihm hat. Da bitte, da hast du es. Sie will überhaupt nichts von dir wissen. Wahrscheinlich schämt sich zu Tode, weil sie sich dir gestern praktisch… ahm… an den Hals geworfen hat. Außerdem zählt das nicht, schließlich war sie wirklich nicht ganz bei sich. Sechs weitere völlig verschreckte Blicke später hat er genug davon. Mit einem Lächeln das eigentlich unbeschwert sein soll, vermutlich aber ziemlich melancholisch gerät, stupst er ihren zierlichen Fuß in dem noch höllisch unbequem aussehenden, neuen Stiefel leicht mit seinem eigenen an. "Was ist los, Sommersprosse? Hast du mir vielleicht irgendetwas zu sagen? Oder warum starrst du mich sonst an als wäre ich der Leibhaftige, wenn du glaubst ich sehe nicht hin, hm?"    

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 14. Okt. 2009, 21:09 Uhr
„Also folgen wir ihm“, stellt Calait, kaum hat ihre Schwester mit ihrer poetischen Ausführung geendet nüchtern, aber mit einem katzenhaften Grinsen in den Mundwinkeln fest und vergräbt ihre narbenbedeckten Finger noch etwas tiefer in Lìas grossen, seidigweichen Locken. Sie fühlt sich noch immer warm an und ihr Herz flattert in ihrer Brust, wie ein eingesperrter Vogel in einem Käfig, aber ihre Umarmung ist kräftig und herzlich und ihre Stimme sanft und weich als sie an Calaits Ohre leise flüstert:“Willst du es mir erzählen?“ Leise beginnt Calait zu lachen, vergräbt ihre Gesicht noch tiefer in dem dunklen Gespinst und atmet den Geruch nach schwarzer Erde, frischem Tau und wilden Rosen, der Lìa eigen ist. Er ist stark und intensiv, gleichzeitig zart und wohltuend und hat im Falle der Männer eine berauschende Wirkung. Calait empfindet ihn als äusserst beruhigend und geniesst ihn stillschweigend so lange, bis sie sich zu einer Antwort aufraffen kann. Langsam löst sie sich von ihrer Schwester, schiebt diese an den Schultern ein Stück von sich und schüttelt den Kopf. „Nein, ma kalon. Ich will es nicht erzählen. Ich kann es dir nicht erzählen. Noch nicht. Ganz abgesehen davon lenkst du vom Thema ab und das Problem Colevar ist im Augenblick von grösserer Bedeutung, als Sheilars Neckereien.“ Ganz so sicher, wie sie sich gibt, ist sie nicht, aber den letzten Punkt meint sie durchaus ernst. Behutsam legt sie ihren Zeigefinger und ihren Daumen an Lìas Kinn und zwingt ihre Schwester sanft, aber bestimmt sie anzusehen. Auch kann sie nicht wirklich kontrollieren, ob Lìa ihrem Gesicht nicht doch ausweicht, es reicht, dass ihre Fluchtwege geschmälert sind. „Hör mir zu, ma kalon, und hör mir gut zu: Colevar ist kein Mann des Feuers. Er verlangt nicht, er besitzt. Wenn wir uns auf ihn einlassen, dann auf Gedeih und Verderb, und wenn es schief läuft, dann sind verbrannte Finger noch unser kleinstes Problem, verstehst du? Ma kalon, sieh mich an, bitte.“ Ein Kribbeln im Nacken verrät Calait, dass Lìa tut wie ihr geheissen und aufmunternd nickt sie ihr zu. Ihre folgenden Worte sind mit Bedacht gewählt, aber nicht von ihrem Verstand, sondern von ihrem Herzen, und es tut gut dem drängenden Gefühl in ihrer Brust endlich nachgeben zu können: „Ich vertraue Colevar, ma kalon.“ Dieses Mal ist sie vorbereitet, als Lìa ihr mit einem leisen Schluchzen, das aber nur wenig Traurigkeit birgt, um den Hals fällt und mit einem liebevollen Lächeln streicht sie ihrer Schwester solange über den Rücken, bis diese damit aufgehört hat, sich am Wörtchen „Danke“ zu verschlucken und wieder halbwegs vernünftige Sätze formulieren kann. Sorgsam tupft Calait Lìa mit ihrem Ärmel die Augen und Wangen trocken, ordnet das durcheinander geratene Haar ein Stück und drückt ihr dann einen unendlich sanften Kuss auf die weiche Haut zwischen den Augenbrauen: „Wo du hingehst, will auch ich hingehen, erinnerst du dich noch? Lass uns jetzt gemeinsam darauf hören, was dein Herz dir sagt. Dazu musst du ihn nur endlich fragen, woher er k…“ In diesem Moment kehrt Colevar, der sich entschieden zu lange, als dass es noch Zufall sein könnte, bei den Pferden und dem ganzen Kleinvieh herumgetrieben hat, ans Feuer zurück und erntet von der einen Schwester ängstliche Blicke und von der anderen ein unverschämt breites Grinsen. Irgendwie ist Calait, seit diese Geschichte angefangen hat, aller widrigen Umstände zum Trotz, fast immer zu Lachen zumute und hin und wieder wünscht sie sich ganz ernsthaft die Gesichter der beiden sehen zu können. Ein Bild für die Ahnen. Aber sie beherrscht sich heroisch, fischt stattdessen die Fleischpakete mit einem gegabelten Ast aus der Gargrube und zupft dann mit spitzen Fingern und gelegentlichen Flüchen das zum Teil verbrannte Gras auseinander. Mit einem Dolch zerteilt sie das Essen so, dass Colevar sicher genug haben würde, und schiebt Lìa einen Teller zu, auf dem nebst goldgebratenem Fleisch auch ein paar Kräuter liegen.
Drei Bisse später ist die alte Anspannung wieder da, als wäre sie nie verflogen und Calait lauert auf den richtigen Moment, den beiden endlich die Sicht zu lichten.
Wenn man vom Dunklen spricht, spielt Colevar ihr einen Herzschlag später direkt in die Hände. "Was ist los, Sommersprosse? Hast du mir vielleicht irgendetwas zu sagen? Oder warum starrst du mich sonst an als wäre ich der Leibhaftige, wenn du glaubst ich sehe nicht hin, hm?"
Mit einem geräuschvollen Schnauben macht Calait Kund, dass sie die Nase jetzt endgültig voll hat von diesen melodramatischen Momenten, die einem innerlich fast zerreissen – und das nicht nur, weil von ihrer Schwester nach so einem Gespräch nur ein Häufchen Elend übrig bleibt. „Was los ist?“, echot sie, verwirft die Arme zum sternenübersähten Abendhimmel und sendet ein inbrünstiges Stossgebet zu all ihren Ahnen, den ihr bekannten Geistern und sogar zu den Göttern, auf dass sie den beiden bitte, bitte, bitte endlich so etwas wie Erleuchtung schenken mögen – und wenn es nur eine Kerzenflamme ist! Dann erhebt sie sich ruckartig, taumelt kurz, weil ihr Gleichgewicht nicht ganz so schnell ist wie sie und gebietet Lìa, die natürlich aufstehen und ihr zu Hilfe eilen wollte, mit einem strengen „Sitzen bleiben!“ sich jetzt gefälligst ihren Dämonen zu stellen. Einem verdammt gut aussehenden, humorvollen, so liebevollem wie grausamen Dämon nebenbei gesagt. „Bei allen guten Geistern, Kinder, jetzt redet doch endlich miteinander.“ Sie redet mit Händen und Füssen, gestikuliert wild und kann dem Gesagten ihrer Meinung nach doch nicht genug Nachdruck verleihen.  „Hör auf es als unmöglich abzustempeln, Colevar, und du, Lìa, hör auf es zu ignorieren. Ich will ja nicht verkennen,  das es absolut absurd, völlig lächerlich und obendrein jenseits von Gut und Böse erscheint, aber… vielleicht ist es so einfach. Denkt mal darüber nach, anstatt in eurer erzwungenen Einsamkeit zu ertrinken, das ist ja nicht mitanzusehen.“ Damit lässt sie die beiden stehen, beziehungsweise sitzen, pflückt Lìa die schnatternde Otterdame von den Schultern, klemmt sich Ériu unter den einen Arm und die Rotatkissa unter den anderen Arm, ordert Louan und die Hunde an ihre Seite und stampft mit dem ganzen lebenden Gepäck in Richtung der Pferde.

Louan, der so gar nichts daran findet, seinen Schützling alleine zu lassen, bleibt alle zwei Schritt stehen, um Colevar doch noch mit einem letzten goldglühenden Blick zu bedenken und sorgt in diesem Sinne für Stau auf der Laufstrecke. Dreimal fällt Calait beinahe über ihn, dann geht sie in die Hocke, zieht den Luchs so nahe, dass ihre Nasen sich berühren und knurrt: „Persönlicher Bereich, schon mal was davon gehört, du neugieriger Kater? Lìa will ihn vielleicht gerade nicht, hat ihn aber dringend nötig, und da gehören wir nicht hin, also hopp jetzt, bring mich zu den Pferden.“ Dort angekommen lässt sie sich mit Sack und Pack nahe der Felswand nieder  - klaubt die Krallen der Rotatkissa aus ihrem Oberarm - und setzt sich im Schneidersitz auf einen durch Wasser und Wind weich geschliffenen Findling. Die Kühle des Steins im Nacken lehnt sie den Kopf zurück und versucht unschuldig auszusehen. Gleichzeitig aber hält sie, wie alles, was rundherum sitzt, liegt… frisst…, die Ohren gespitzt, um auch ja nichts zu verpassen, was dort am Lagerfeuer geredet wird. Vorerst wird sie aber enttäuscht. Anhaltendes Schweigen lässt sie unruhig auf ihrem Hintern herumrutschen und bereits beginnt sie an ihrer Entscheidung, die beiden einfach vor den Punkt ohne Wiederkehr gestellt zu haben, zu zweifeln, als Lìa sich endlich ihrer Stimme entsinnt. Überraschend gefasst, ohne Unterbrüche und zitternder Stimme, wie noch wenige Stunden zuvor, beginnt sie zu erzählen… Calait klappt die Kinnlade auf die Brust, als ihre Schwester in einem Tonfall, mit dem man normalerweise einem Mann erklärt, dass er zwar ganz nett sei, aber kein weiteres Interesse bestehe, Colevar ihre Verzweiflung auslegt, die leider auf diesem Weg so gar nichts eindringliches oder gar wildes, leidenschaftliches, nicht mal herzzereissendes an sich hat – und das obwohl Lìa letzteres perfektioniert hat. „Du irrst dich, Colevar. Die Angst gilt nicht dir. Wie könnte sie auch? Weißt du denn nicht, dass du mir wichtig bist?“ Ja. Gut so. Lass ihn dein Herz hö… „Siehst du denn nicht, dass ich dich mag?“ Ma…was?! Himmel, nein, Lìa, gar nicht gut, gar nicht gu… „Spürst du denn nicht, dass alles in mir danach schreit dich nicht einfach wieder aus meinem Leben verschwinden zu lassen?“ Ah, das klingt schon besser. „Natürlich verstehe ich dich, deine Gründe, deine Entscheidung….“ Neinneinein! „…aber ich will es doch nicht. Als du weg warst...als du einfach so verschwunden bist…ich will dich einfach nicht noch einmal verlieren.“ Stopp! Halt! Gefühl! Gefühl! Argh, Lìa, was tu… „Und am allerwenigsten will ich dir wehtun, dich kränken oder dich vor den Kopf stoßen...Es tut mir so unglaublich leid. Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, dass ich dich meide, dass du nicht willkommen bist. Nicht du warst es der mir Angst gemacht hat, das musst du mir glauben. Es war die Situation. Ich würde dir doch niemals willentlich weh tun…“ Ach wirklich? Dreimal verflucht, ich brauch ihn noch nicht einmal zu sehen, um zu wissen, wie sehr ihn das jetzt verletzt hat. Gute Geister, Colevar, tu etwas! Halte sie auf, verbiete ihr zu sprechen, küss sie einfach! Ja, genau, küss sie einfach, damit sie nicht noch mehr Unsinn anstellen kann. Jetzt mach schon, bevor es zu spä… Gna! Lìa hat – leider - ihre Sprache wieder gefunden. “Wovor hast du Angst, Colevar?“ Hä? „Denkst du ich weiß es nicht? Glaubst du mir wäre nicht bewusst, dass dies nur eine Seite der Medaille ist?“ Falscher Text! Falscher Text! „Aber…das ist mir egal…Ich..“ „Jaaaa? Jaaaaaaa? Sag es! Sag es ihm endlich. Was brauchst du denn noch? Eine Anleitung? Muss ich es buchstabieren? Ja, jaaa, jaaaa… hmpf…“ Und zum dritten Mal ist s Lìa, die ihren Hoffnungen einen Strich durch die Rechnung macht. Seufzend lehnt sie sich mit dem Rücken gegen den Fels und zuckt mit den Schultern, als Shirin winselnd ihre Nase in ihrer Handinnenfläche vergräbt. „Ich weiss doch auch nicht, Süsse. Soll ich mir nen Zaunpfahl besorgen? Was meint ihr?“ Louan antwortet mit einem gedehnten, gelangweilten Gähnen, Shirin fiepst, die Karjakoiras wuffen synchron – es ist ein beängstigend zustimmender Laut -, die Rotatkissa schreckt von ihrem Zungenbad auf und faucht empört und Eriu und Noraya kabeln sich drum, wer den Zaunpfahl besorgen darf.  „Irgendwie klingt das wie ein ‚Ja’. Ich befürchte nur, das es vergebens ist. Ja, ich glaube ich lass es lieber Sprichwörter zu verbildlichen, dann wird das ja nie was. Vielleicht haben sie es ja auch eher mit, 'Was lange währt, wird irgendwann sicher gut?' Oder ‚Beinahe ist noch lange nicht halb’, oder ‚Besser spät als nie’, oder ‚Eile mit Weile’, oder…Gute Geister! Wir brauchen keinen Zaunpfahl, sondern eine Menge, Menge, Menge Feuerkehl!“ Hätte sie in diesem Moment, wie auch immer, Lìas Blick sehen können, hätte Calait ihre Schwester wenn nötig höchst persönlich im Branntwein ertränkt.
„Du musst nicht einsam sein – es ist nicht dein Schicksal Colevar, es ist deine Wahl.“ Mit einer gesalzenen Mischung aus Resignation und verdienter Verzweiflung schlägt Calait sich die Hände vors Gesicht.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 15. Okt. 2009, 13:05 Uhr
„Also folgen wir ihm“
Es wäre eine Lüge würde sie behaupten, dass sie etwas anderes von Calait erwartet hat. Dennoch versetzt es ihr tief im Innern einen Stich. Lía weiß, dass die Ältere sich schuldig fühlt und alles dafür tun würde um das Glück ihrer kleinen Schwester zu gewährleisten, allerdings ist ein Glücklichsein völlig undenkbar für Lía wenn es Calait dabei nicht ebenfalls gut geht, alles Glück dieser Welt wäre hinfällig und absolut wertlos, wenn es ihrer Schwester nicht mit einbeziehen würde. Es hätte ihr sogar gereicht wenn nur die Ältere glücklich gewesen wäre, dafür würde sie ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern alles opfern. Unwillkürlich wird ihre Umarmung etwas fester und sie streicht der anderen sanft über den Rücken. All die Liebe und Zuneigung die sie für ihre Schwester empfindet liegt so offen und für jeden sichtbar in ihrem Gesicht als sie ihr sanft einen Kuss auf die Schläfe haucht und über Calaits Worte nachdenkt. Was ist richtig und was ist falsch? Ich will ihn nicht aus meinem Leben treten sehen. Aber kann ich diese Entscheidung wirklich einfach für sie mit fällen? Als Calait auf ihre Frage hin anfängt leise zu lachen spürt Lía ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen – eine Ahnung…Diese Lachen macht ihr Angst, es birgt keine Freude in sich, sondern etwas sehr viel dunkleres. Ohne es zu merken krallen sich ihre Finger in die schmalen Schultern der Älteren und sie hält sie so fest, als befürchte sie jemand könnte versuchen sie ihr wegzunehmen. „Nein, ma kalon. Ich will es nicht erzählen. Ich kann es dir nicht erzählen. Noch nicht. Ganz abgesehen davon lenkst du vom Thema ab und das Problem Colevar ist im Augenblick von grösserer Bedeutung, als Sheilars Neckereien.“ Lía weiß, dass es keinen Sinn hat weiter nachzubohren und sie will auch gar nicht weiter in sie dringen. Clalait hat stets gute Gründe sowohl für das was sie tut, als auch für das was sie unterlässt und Lía hat vollstes Vertrauen zu ihr. Wenn die Zeit reif ist wird sie zu mir kommen. Dennoch kann sie nicht verhindern, dass ihr ein sanftes und so sorgenvolles „Calait..“, entwischt.
Ihre Schwester ignoriert es und lenkt das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zurück. Es wäre ein leichtes gewesen einfach einen Punkt neben oder über Calait zu fixieren, doch Lía weiß, dass es ihrer Schwester in diesem Moment wichtig ist, dass sie sie ansieht. „Hör mir zu, ma kalon, und hör mir gut zu: Colevar ist kein Mann des Feuers. Er verlangt nicht, er besitzt. Wenn wir uns auf ihn einlassen, dann auf Gedeih und Verderb, und wenn es schief läuft, dann sind verbrannte Finger noch unser kleinstes Problem, verstehst du? Ma kalon, sieh mich an, bitte.“ Lía hat sich ihr entzogen und den Blick abgewendet. Sie will das nicht hören, all diese Dinge will sie nicht hören, doch Calait zeigt kein Erbarmen und als sie sie auffordert sie wieder anzusehen tut die Jüngere der beiden Schwester auch diesmal wieder wie geheißen. „Ich vertraue Colevar, ma kalon.“ Ihre Augen werden groß und plötzlich hat sie das Gefühl, dass die Last der ganzen Welt die sie seit Tagen geschleppt zu haben scheint von ihr abfällt und heiße Tränen schießen ihr in die Augen. So überwältigt von Glück, Freude und unermesslicher Dankbarkeit bringt sie außer immer wieder dem kleinen Wörtchen „danke“, nichts heraus. Immer noch kann sie kaum fassen was sie soeben von ihrer sonst so misstrauischen Schwester gehört hat, als diese ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht streicht, sanft die Augen und Wangen von den Tränen trocknet und ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn haucht. „Wo du hingehst, will auch ich hingehen, erinnerst du dich noch? Lass uns jetzt gemeinsam darauf hören, was dein Herz dir sagt. Dazu musst du ihn nur endlich fragen, woher er k…“ Weiter kommt sie nicht, da Colevar in diesem Augenblick den Lichtkreis der Feuerstelle betritt und sich nicht unweit der beiden Schwester niederlässt. Er sagt kein Wort, doch Lía spürt seine Verwirrung und die dumpfe Niedergeschlagenheit und augenblicklich spürt sie wie sich ihre Brust zusammenzieht und ihr den Atem abschnürt. Beschämt senkt sie den Blick und starrt in die tanzenden Flammen. Ja, das Feuer war wirklich ein guter Vergleich.

Erstaunt hebt sie den Blick und sieht Colevar an, als er sie sachte anstupst. "Was ist los, Sommersprosse? Hast du mir vielleicht irgendetwas zu sagen? Oder warum starrst du mich sonst an als wäre ich der Leibhaftige, wenn du glaubst ich sehe nicht hin, hm?"
Es vergeht eine geraume Weile in der sie sich nicht regt, sondern lediglich seine Züge studiert. Er sieht so traurig aus Langsam, unendlich langsamer als nötig gewesen wäre stellt sie schließlich ihren Teller beiseite, doch noch bevor sie auch nur den Mund öffnen kann macht Calait ihren Standpunkt mit einem entnervten Schnauben ziemlich klar. „Was los ist?“ Verwirrt über den leicht ärgerlichen Ton der Älteren starrt Lía sie an als würde sie sie zum ersten Mal sehen. Allerdings kommt Leben in sie, als sie sieht wie Calait einen Moment taumelt, als sie in der Dunkelheit ihrer Welt und ihrem abrupten Aufstehen einen falschen Schritt macht – hält jedoch in der Bewegung inne, als ihr ein mehr oder weniger barsches „Sitzen bleiben!“ um die Ohren fliegt. „Bei allen guten Geistern, Kinder, jetzt redet doch endlich miteinander. Hör auf es als unmöglich abzustempeln, Colevar, und du, Lìa, hör auf es zu ignorieren. Ich will ja nicht verkennen,  das es absolut absurd, völlig lächerlich und obendrein jenseits von Gut und Böse erscheint, aber… vielleicht ist es so einfach. Denkt mal darüber nach, anstatt in eurer erzwungenen Einsamkeit zu ertrinken, das ist ja nicht mitanzusehen.“ Bevor Lía auch nur weiß wie ihr geschieht hat Calait sich sämtliche Tiere angeeignet und schreitet hoheitsvoll von dannen – selbst Louan trottet willentlich hinter ihr her. Doch er scheint den Blick seines Schützlings sowie dessen Gefühl des Verlassenseins zu spüren, denn er bleibt immer mal wieder stehen und wirft einen zweifelnden Blick zurück. Lía weiß, dass sie den Luchs dazu bringen konnte zu ihr zu kommen – ebenso wie die anderen Tiere, aber Louan wich quasi nie von ihrer Seite – doch sie lässt zu, dass ihre Schwester ihren treuen Gefährten mehr oder weniger freiwillig mit sich zieht. Eine kleine Ewigkeit herrscht Stille, bis Lía sich schließlich wieder Colevar zuwendet, auch wenn ihre Gedanken immer noch bei ihrer Schwester sind. Was meint sie? Ich versteh sie nicht…Calait…was bei allen Ahnen willst du mir sagen? Erneut gleitet ihr Blick über Colevars Züge und bleibt schließlich an seinen Augen hängen. Kurz huscht ein trauriges Lächeln über ihre Züge, doch es ist ebenso schnell wieder verschwunden wie es aufgetaucht ist. „Du irrst dich, Colevar. Die Angst gilt nicht dir. Wie könnte sie auch? Weißt du denn nicht, dass du mir wichtig bist? Siehst du denn nicht, dass ich dich mag? Spürst du denn nicht, dass alles in mir danach schreit dich nicht einfach wieder aus meinem Leben verschwinden zu lassen? Natürlich verstehe ich dich, deine Gründe, deine Entscheidung….aber ich will es doch nicht. Als du weg warst...als du einfach so verschwunden bist…ich will dich einfach nicht noch einmal verlieren. Und am allerwenigsten will ich dir wehtun, dich kränken oder dich vor den Kopf stoßen...Es tut mir so unglaublich leid. Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, dass ich dich meide, dass du nicht willkommen bist. Nicht du warst es der mir Angst gemacht hat, das musst du mir glauben. Es war die Situation. Ich würde dir doch niemals willentlich weh tun…", ihr Stimme klingt ruhig und sehr eindringlich. Es ist von so unglaublicher Wichtigkeit, dass er versteht, dass er begreift. Für einen Moment schließt sie die Augen und sucht nach den richtigen Worten. „Wovor hast du Angst, Colevar? Denkst du ich weiß es nicht? Glaubst du mir wäre nicht bewusst, dass dies nur eine Seite der Medaille ist? Aber…das ist mir egal…Ich..“, sie verhaspelt sich und bricht ab. Erneut streichen endlos lange Minuten ins Land bis sie schließlich den Blick hebt und ihn direkt ansieht. In ihren Augen liegt nichts anderes als Wärme, Ruhe und eine unglaubliche Sanftmütigkeit gepaart mit Zuneigung. „Du musst nicht einsam sein – es ist nicht dein Schicksal Colevar, es ist deine Wahl.“ Anschließend wendet sie sich ab, zieht die Knie an den Körper und bettet den Kopf darauf, während sie dem Tanz der Flammen zusieht. Immer noch schweigt Colevar. Für Lía ist es ein leichtes ihm all das zu sagen, sie trägt ihr Herz für jeden offen herum und daraus macht sie kein Geheimnis. Und nie zuvor hat sie jemals jemanden getroffen, der es nötiger hatte all das zu hören als dieser Mann der hier mit ihr am Feuer saß. „Ich möchte doch nicht Lebewohl sagen…“, ihre Stimme klingt leise, so als würde sie viel eher mit sich selbst als mit Colevar sprechen. Erneut wandern ihre Gedanken zu Calait und ihren letzten Worten was meinte sie nur? Ignorieren? Calait. Mein Herz. Meine Seele. Meine Schwester...was ist, das ich nicht sehe? Was entschlüpft mir? Was ist es..?

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 15. Okt. 2009, 21:46 Uhr
Es ist nicht Lía, die ihn nur ziemlich verdutzt ansieht, sondern Calait, die ihm antwortet - und das auf eine so unerwartete und erstaunliche Art und Weise, dass er sie einen langen Moment nur vollkommen verblüfft anstarren kann, ebenso wie Lía, die ihre Schwester zusehends mustert, als wüchsen ihr mit jedem ihrer Worte Hörner und ein Pferdefuß. >Was los ist?< Wiederholt Calait und klingt so rechtschaffen empört, dass er beinahe gelacht hätte, vor allem, weil sie ihre Arme dabei in so komischer Verzweiflung zum Himmel reckt, als rufe sie irgendwelche unsichtbaren kosmischen Mächte oder ihre allgegenwärtigen Ahnen um Beistand an. Dann steht sie auf, faucht ein gebieterisches >Sitzen bleiben!< in Richtung der armen, völlig verdatterten Lía und redet sich vollends in Fahrt. >Hör auf, es als unmöglich abzustempeln, Colevar...< Seltsamerweise weiß er sofort, worauf Calait hinaus will und schüttelt sacht den Kopf.
"Aber es ist..." beginnt er, wird jedoch mitleidlos unterbrochen. Und auch in den nächsten Augenblicken gehört Ausreden nicht unbedingt zu einem seiner Vorrechte.
>Und du Lía, hör auf, es zu ignorieren.<
"Was ignoriert sie denn? Calait, sie..." hat ja nicht die leiseste Ahnung!
>Ich will ja nicht verkennen, dass es absolut absurd...<
"Absurd? Na, besten Dank auch. Glaubst du im Ernst..."
>...völlig lächerlich...<
"Lächerlich?!"
>...und obendrein jenseits von Gut und Böse erscheint, aber...<
"Verdammt, Calait! Wenn du mich nur einmal ausreden..."
>...vielleicht ist es so einfach.<
"Hmpf! An mir liegt das ni..."
>Denkt mal darüber nach, anstatt in eurer erzwungenen Einsamkeit zu ertrinken, das ist ja nicht mit anzusehen.< Damit rauscht sie in die Dunkelheit davon, mitsamt allem Viehzeug, was eben noch bei ihnen am Feuer oder auf Lías Schoß herumgeturnt war und Colevar kann ihr nur hilflos hinterher starren, während seine Miene die erstaunlichsten Wandlungen durchläuft - von Fassungslosigkeit über Verärgerung zum Unglauben und schließlich zu verwunderter Belustigung.  Das halbe, amüsierte Lächeln liegt immer noch in seinen Mundwinkeln, als er den Kopf dreht und Lía ansieht, die ihn über das Feuer hinweg mustert. Doch beim Anblick ihrer plötzlichen Ruhe erstarrt es. Sie sieht ihn eingehend an und sie weicht seinem Blick auch nicht aus, aber irgendwie wirkt sie seltsam unbeteiligt. Ihre Augen sind ruhig, viel zu ruhig und irgendwie leer. Ihr Atem geht kein bisschen schneller und nicht der allerkleinste Hauch von Rosa liegt diesmal auf ihren Wangen. Und das Lächeln, das sich so geisterhaft kurz auf ihrem Gesicht zeigt, dass es kaum mehr als eine Ahnung bleibt, ist eindeutig bekümmert. Wer immer dieses Mädchen ihm gegenüber auf der anderen Seite des Feuer ist, es ist nicht die Lía, die ihm hüpfend vor Freude und mit strahlenden Augen entgegengelaufen war, als er vor zwei Tagen in ihr Lager geritten war und es ist erst recht nicht die Lía, die zwar schüchtern und verwirrt, aber atemlos und herzklopfend auf seine Nähe und sein Verlangen reagiert hatte. Nein...

Sowohl die Hitze des Feuers vor ihm, als auch die Kälte der Nacht in seinem Rücken drücken plötzlich unangenehm gegen seine Haut. Er ahnt, was kommt, was sie ihm sagen wird, noch bevor sie es ausspricht und er will es nicht hören. Nicht das. Nicht so. Das hier ist falsch. Es ist falsch, verdreht und widersinnig, und bitter, ja - das vor allem. Es ist dabei gründlich schief und ganz böse daneben zu gehen. Er will ihr Einhalt gebieten, noch bevor sie beginnt, will die Hand heben, ihr den Mund verbieten, ihr sagen, dass sie still sein soll, aber er kann nicht einen Muskel rühren, sondern sieht sie nur an und lauscht ihrer schrecklich ruhigen Stimme, während der Frost in sein Inneres fällt und fällt.
>Du irrst dich, Colevar. Die Angst gilt nicht dir. Wie könnte sie auch? Weißt du denn nicht, dass du mir wichtig bist? Siehst du denn nicht, dass ich dich mag? Spürst du denn nicht, dass alles in mir danach schreit dich nicht einfach wieder aus meinem Leben verschwinden zu lassen? Natürlich verstehe ich dich, deine Gründe, deine Entscheidung... aber ich will es doch nicht. Als du weg warst... als du einfach so verschwunden bist... ich will dich einfach nicht noch einmal verlieren. Und am allerwenigsten will ich dir wehtun, dich kränken oder dich vor den Kopf stoßen... Es tut mir so unglaublich leid. Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, dass ich dich meide, dass du nicht willkommen bist. Nicht du warst es der mir Angst gemacht hat, das musst du mir glauben. Es war die Situation. Ich würde dir doch niemals willentlich weh tun... <
Ihre Worte schmerzen wie ein solider Faustschlag in die Magengrube und für einen Moment hat er ernsthaft Mühe zu atmen, doch sie kennt kein Erbarmen. > Wovor hast du Angst, Colevar? Denkst du ich weiß es nicht? Glaubst du mir wäre nicht bewusst, dass dies nur eine Seite der Medaille ist? Aber... das ist mir egal... Ich...< Selbst wenn er ihre Worte noch auf ihre Jugend und ihre Unerfahrenheit in solchen Dingen hätte schieben können, ihr Blick ist der Dolch in seinem Herzen. Sie sieht ihn an wie man einen liebenswerten Bruder anblicken mag, einen väterlichen Freund, einen gutmütigen Onkel... irgendjemanden, aber nicht einen Mann, für den man außer Zuneigung noch etwas empfindet und wenn es nur die Schwärmerei eines Backfisches wäre. >Du musst nicht einsam sein - es ist nicht dein Schicksal Colevar, es ist deine Wahl. Ich möchte doch nicht Lebewohl sagen...< Als er endlich seine Sprache wiederfindet, hat Lía die Knie angezogen, ihren Kopf darauf gelegt und sieht in die Flammen, als wäre sie in Gedanken schon gar nicht mehr bei ihm, sondern bei Calait oder sonstwo.

"Sieh mich an." Etwas in seiner Stimme schreckt sie auf, denn sie blinzelt und hebt den Kopf. "Wichtig?" Er hält ihren ruhigen, ruhigen Blick mühelos fest, aber seine Augen sind dunkel wie ein Sturmhimmel geworden und er tut nichts, um den Schmerz und den Stolz und die Bitterkeit darin zu verbergen. Sein Stolz ist auch alles, was ihm im Augenblick geblieben ist.  "Wichtig, aye. Wichtig. Wie die Schafe... Oh, bilde dir nichts auf dich ein, Colevar. Vermutlich nicht ganz so wie die Schafe. Die gehören ja zur Familie. Mögen? Mögen, Lía? Einen Bruder mag man. Den Mann, dem man erklärt, er sei ein wirklich großartiger Kerl, aber man empfinde darüber hinaus nichts für ihn, den mag man auch. Aber verlieren will man ihn auch nicht, man kann ihn ja gut leiden. Nicht willkommen? Einen Gast heißt man willkommen. Du verstehst gar nichts, Lía... nichts! Götter im Himmel und ich dachte, du... oh, schon gut. Launisches Schicksal, launische Götter, launische Ahnen." Er lacht, ein kurzer, harter Laut und alles andere als glücklich. "Die einzige Frau, die mir je etwas bedeutet hat, erklärt mir ganz ernsthaft und sehr gefasst und natürlich mit angemessenem Bedauern, dass sie mich mag. Mag...!" Er schüttelt den Kopf, immer noch vollkommen fassungslos. Mir nie willentlich weh tun? Gerade eben hast du's getan. "Aye, dann soll es so sein. Man kann nichts erzwingen, das nicht da ist, nicht wahr?" Er steht auf, eine einzige, lautlose fließende Bewegung. In ihm brodelt es gewaltig, aber er hält sich eisern im Zaum und sein Gesicht ist so unbewegt wie kalter Fels, auch wenn eine leise, penetrante Stimme in seinem Hinterkopf beständig flüstert: Was war es denn, dass du gestern in ihren Augen lesen konntest, in ihrem Pulsschlag fühlen, an ihr riechen, wenn sie dich nur mag? Er ist viel zu verwirrt und zu aufgebracht, um jetzt darauf zu hören. "Nicht einsam sein... tja, wo man keine Wahl hat, Somm... Lía, kann man auch nicht wählen. Falls ich dir gestern irgendwie zu ahm... nahe getreten sein sollte, tut es mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen." Damit dreht er sich um und stapft davon. Eine alte, verkrüppelte Bergkiefer auf seinem Weg hat weniger Glück - er holt im Vorbeilaufen aus und versetzt dem borkigen Stamm einen Schlag mit der Faust, der den ganzen Baum dumpf erschüttert und ein großes Stück herausbricht. Rinde und Splitter, Staub, Käferlarven und Harzklumpen fliegen in alle Richtungen davon und regnen auf ihn herab, doch er achtet weder darauf, noch auf den brüllenden Schmerz in seiner Rechten, der nichts ist im Vergleich zu dem kalten, beißenden Riss in seinem Inneren. Er geht einfach weiter, schnell und wütend genug, um vor sich selbst und diesen ruhigen, beherrschten leeren Rehkitzaugen davon zu laufen.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 15. Okt. 2009, 23:11 Uhr
Etwas in seiner Stimme lässt sie leicht zusammenzucken bevor sie ihn dann wieder ansieht. Noch bevor er auch nur ein Wort sagen kann krampft sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, als sie den Ausdruck in seinen Augen sieht. "Wichtig?" Beim Anblick seiner dunklen Augen bleibt Lía vor Schreck das Herz stehen, dennoch bewahrt sie äußerlich Ruhe. Im gleichen Moment wo er anfängt zu reden und sie hinter die Fassade blicken kann, sehen kann wie tief sie ihm soeben das Messer ins Herz gestoßen hat, wird ihr klar, dass ihre Reaktion die denkbar falscheste wahr. Aber sie tut nichts um sich zu erklären oder zu verteidigen, sie begnügt sich lediglich damit seinem Ausbruch zu lauschen. Auf seinen Zügen spiegelt sich bodenlose Fassungslosigkeit, Wut aber auch – und das ist das Schlimmste unglaublich großer Schmerz. Doch obwohl sie all das durchaus registriert ist es Lía unmöglich ihm zu widersprechen oder auch nur in irgendeiner anderen Art und Weise zu reagieren. Benommen starrt sie ihn an und lässt ihn einfach immer weiterreden. Irgendetwas sagt ihr, dass es wichtig ist, dass er es endlich ausspricht. Was auch immer es ist. "Wichtig, aye. Wichtig. Wie die Schafe... Oh, bilde dir nichts auf dich ein, Colevar. Vermutlich nicht ganz so wie die Schafe. Die gehören ja zur Familie. Mögen? Mögen, Lía? Einen Bruder mag man. Den Mann, dem man erklärt, er sei ein wirklich großartiger Kerl, aber man empfinde darüber hinaus nichts für ihn, den mag man auch. Aber verlieren will man ihn auch nicht, man kann ihn ja gut leiden. Nicht willkommen? Einen Gast heißt man willkommen. Du verstehst gar nichts, Lía... nichts! Götter im Himmel und ich dachte, du... oh, schon gut. Launisches Schicksal, launische Götter, launische Ahnen." Je länger er spricht, je länger er seinen Gefühlen freien Lauf lässt umso ruhiger und in sich gekehrter wird Lía. Colevar hatte Recht, sie hat keine Ahnung. Doch langsam aber sicher dämmert ihr, dass nicht nur ihr Verhalten sondern auch ihre Wortwahl die fasche war. Aber immer noch tut sie nichts um Colevar vom Gegenteil zu überzeugen. Lía sitzt nur da, sehr ruhig wie es scheint und sieht ihn an. Erst sein bitteres Lachen bringt sie dazu kurz den Blick zu senken und tief Luft zu holen. Es kostet sie ungeheure Mühe ihre Ruhe beizubehalten, aber sie hat Angst davor was passieren könnte wenn sie es nicht tut…Je länger sie den Schmerz in seinen Augen sieht umso grausamer kommt sie sich vor. Himmel hilf! Warum lasst ihr das zu? Warum lasst ihr zu, dass so ein törichter Mensch wie ich sein Herz in winzigkleine Splitter zerlegt…warum? Warum lasst ihr etwas Derartiges zu?! Dazu habt ihr nicht das Recht!!

"Die einzige Frau, die mir je etwas bedeutet hat, erklärt mir ganz ernsthaft und sehr gefasst und natürlich mit angemessenem Bedauern, dass sie mich mag. Mag...!" Wie vom Donner gerührt sitzt sie da und starrt ihn an. Unfähig wirklich zu begreifen was sie da eben gehört hat hüllt sie sich selbst jetzt noch in beharrliches Schweigen und tut nichts anderes als ihn anzustieren, als hätte er den Verstand verloren. "Aye, dann soll es so sein. Man kann nichts erzwingen, das nicht da ist, nicht wahr?" Erst als er aufsteht erwacht sie aus ihrer Trance und zum ersten Mal seit er begonnen hat zu sprechen tritt etwas anderes an Stelle der Ruhe, nämlich Verblüffung und schließlich, doch noch bevor sie auch nur völlig begreifen kann was hier gerade passiert dreht er sich auch schon um und überlässt sie mit den Worten "Nicht einsam sein... tja, wo man keine Wahl hat, Somm... Lía, kann man auch nicht wählen. Falls ich dir gestern irgendwie zu ahm... nahe getreten sein sollte, tut es mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen." wieder sich selbst. Einen Herzschlag lang starrt sie ihm einfach nur nach wie er sich immer weiter in der Dunkelheit entfernt. Dann kommt Leben in sie und ohne auf Calait, die plötzlich auf der anderen Seite aus der Dunkelheit auf sie zueilt zu achten, setzt sie übers Feuer hinweg und rennt Colevar hinterher. „Neineinneineineinein“, murmelt sie und hetzt weiter, stolpert über einen spitzen Stein den sie in ihrem aufgebrachten Zustand nicht gesehen hat, schlägt der Länge nach auf den harten, kalten Boden, rappelt sich wieder auf ohne die blutigen Hände oder das aufgeschlagene Knie auch nur zu beachten und läuft blindlings weiter. Selbst als ihr das ganze Ausmaß seines Ärgers bewusst wird, als er voller Wucht gegen den Stamm einer krummen Kiefer schlägt, so dass diese dermaßen erzittert, dass Lía für einen kurzen Moment befürchtet sie würde umstürzen, bleibt sie nicht stehen sondern rennt weiter auf ihn zu. Völlig aufgelöst und schweißgebadet holt sie ihn schließlich doch noch ein, und fällt ihm keuchend in den Rücken. „Geh nicht!!“, stößt sie atemlos hervor und hält ihn dabei so fest, als befürchte sie, dass er sie von sich stoßen könnte. „Du darfst nicht gehen. Niemals.“, sprudelt es nun weiter aus Lía hervor und sie krallt sich noch etwas fester an ihn. „Ich…es…du…bitte…“, stottert sie bei dem Versuch ihm klar zu machen was sie ihm eigentlich längst hätte sagen sollen. Ihr Herz rast in ihrer Brust und sie hört das laute Rauschen ihres Blutes in den Ohren. „Du darfst nicht gehen“, wiederholt sie immer wieder mit einer Mischung aus Flehen und Verzweiflung. „Lass mich nicht allein….geh nicht wieder weg…nie mehr…“, und obwohl sie es um jeden Preis vermeiden wollte spürt sie jetzt doch wie ihr Tränen über die bleichen Wangen laufen. „Ich war so blind…so unglaublich blind…und dumm…du hast so Recht…ich versteh es nicht…es….es…ist…so…erschreckend….und…so…so schön“, ein zittriges Atmen entweicht ihrem kleinen Körper und sie schweigt für einige Sekunden um sich etwas zu sammeln. „Was soll ich denn ohne dich machen?“, die Angst ihn vertrieben zu haben wächst mit jedem Wort und plötzlich kann sie ein Schluchzen einfach nicht länger unterdrücken. „Wenn du gehst…dann…..du darfst nicht gehen, Colevar….ihr Ahnen….bitte geh nicht….nicht ohne mich….“, es fällt ihr mit jedem Wort schwerer einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen oder auch nur annähernd das zu sagen was sie ihm eigentlich wirklich sagen will. Irgendwann lässt sie ihn los und sinkt lautlos zu Boden. Lía sieht ihn nicht länger an, sondern starrt auf ihre zu Fäusten geballten Hände während ihre schmalen Schultern beben, geschüttelt von den Tränen um den vermutlichen Verlust des Mannes dem es gelungen ist ihr Herz für sich allein zu beanspruchen. „Ich wusste es doch nicht….ich…..ich….“, mit Tränen überströmten Gesicht sieht sie auf und sieht ihn an. „Ich hab’s doch nicht gewusst….ich wusste nicht was es bedeutet….es…war…so…anders….und…erschreckend und verwirrend….und…..oh bitte, bitte Colevar ich bitte dich geh nicht weg – geh nicht ohne mich…“, sie bricht ab als sie seinen Blick auffängt und schlägt die Augen nieder. Nach einer Weile atmet sie hörbar ein und versucht sich soweit es ihr eben möglich ist zu beruhigen, dann steht sie auf und sieht ihn schmerzerfüllt an. „Es tut mir so leid…“, ihre Worte sind nicht mehr als ein Flüstern und kurz streckt sie die Hand aus, so als wolle sie ihn berühren wagt es dann aber doch nicht und zieht sie unverrichteter Dinge wieder zurück. „Es tut mir leid…ich habe kein Recht dazu…verzeih…aber….selbst wenn du gehst und nicht zurückblicken wirst, ich werd dich nicht vergessen….und…und…mein..mei….mein Herz wird mit dir gehen, Colevar….“
Mit einer fahrigen Geste streicht sie sich die Haare hinters Ohr und blinzelt die neuen Tränen weg. „Ich…ich wollte nur…es….dass…es ging darum….ich…“, sie scheitert kläglich an dem Versucht ihm erklären zu wollen warum sie sich einige Minuten zuvor noch so dermaßen um Ruhe bemüht hatte – dabei scheint es ihr in diesem Augenblick so wichtig…so wichtig….“Niemand kann Calait ersetzen….und niemand kann dich ersetzen….ich liebe meine Tiere…a-aber….sie….ich….“, erneut bricht sie ab und blickt zu Boden. Es ist sinnlos. Kannst du dummes Gör dich nicht zusammenreißen? Bist du ihm etwas nur hinterher gelaufen um alles noch schlimmer zu machen?!

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 16. Okt. 2009, 14:19 Uhr
Er stampft durch den nächtlichen Wald und den Berghang hinunter, blind und taub, siedend vor ohnmächtigem Zorn, noch viel ohnmächtigerem Schmerz, grausamer Verwirrung und mit einem kalten, zersplitterten, scharfkantigen Etwas irgendwo in seiner Brust sehr nahe der Stelle, wo vor ein paar Augenblicken noch sein Herz war. Dann krachen etwa hundert Pfund mit solcher Wucht in seinen Rücken, dass er um ein Haar gestrauchelt wäre und sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmen muss. Zappelnde, keuchende und völlig aufgelöste hundert Pfund, die sich obendrein an ihn klammern, als gelte es das liebe Leben. >Geh nicht!!< Japst es einen halben Herzschlag später dicht an seinem Ohr und die Scherben in seinem Inneren verändern schmerzhaft ihre Lage. >Du darfst nicht gehen. Niemals.< Ihr Herz schlägt wie eine Trommel in ihrer Brust, klopft bebend gegen die gespannten Muskeln in seinem Rücken und ihre Arme schlingen sich um seinen Nacken, was sie einen guten halben Schritt über dem Boden baumeln lässt. Colevar hätte sich gern zu ihr umgewandt und in ihr Gesicht, in ihre Augen gesehen, aber er kann nicht - und wenn sein Leben davon abhängen würde, er könnte jetzt nicht einmal einen Finger bewegen. Alles, was er tun kann, ist wie vom Donner gerührt und zur Salzsäule erstarrt hier auf diesem Berghang zu stehen, als hätte ihre flehende Stimme ihn auf der Stelle fest gehext, sich halb von ihr erwürgen zu lassen und verblüfft, fast erschrocken in die Dunkelheit zu blinzeln. Kein Staunen, kein Begreifen und kein Schmerz waren je so süß wie dieser.
"Sommersprosse..." beginnt er ein wenig zittrig, doch sie hört ihn überhaupt nicht, jedenfalls unterbricht sie ihren hervorsprudelnden Wortschwall nur, wenn sie einfach nach Luft schnappen muss um nicht zu ersticken. >Ich... es... du... bitte... Du darfst nicht gehen. Lass mich nicht allein... geh nicht wieder weg... nie mehr...< Colevar spürt etwas Nasses, Warmes an seiner Haut, als sie ihre Wange an seinen Hals presst und weiß, dass es ihre Tränen sind, noch bevor er ihre Verzweiflung in ihrer Stimme hören kann. "Nein, Lía, nicht weinen, nicht..."
>Ich war so blind... so unglaublich blind... und dumm...  du hast so Recht... ich versteh es nicht... es... es... ist... so... erschreckend... und... so... so schön. Was soll ich denn ohne dich machen? Wenn du gehst... dann... du darfst nicht gehen, Colevar... ihr Ahnen... bitte geh nicht... nicht ohne mich...<
"Lia, ich..."
Ein Jammerlaut, leise wie das Maunzen eines Kätzchens kommt aus ihrem Mund, der direkt in sein Herz dringt und es beinahe noch einmal bricht - und mit diesem leisen, endgültigen Laut verschiebt sich die ganze Welt. Das Echo davon hallt immer noch in seinem Inneren nach, als sie ihn los lässt und  zu Boden rutscht, als hätten ihre Beine nicht mehr die Kraft, sie zu tragen. Colevar dreht sich um und starrt auf sie hinunter, ihr Scheitel blass und verletzlich unter dieser wilden, ebenholzdunklen Masse weich geringelter Locken, doch sie sieht ihn nicht an, sondern auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß so fest zu Fäusten ballt, dass die Knöchel weiß durch ihre Haut schimmern. "Lía..." wiederholt er zum dritten Mal, so leise, als denke er ihren Namen nur.

>Ich wusste es doch nicht... ich... ich... < Nun hebt sie doch den Blick, und ihre Augen sind riesengroß in ihrem blassen Gesicht und schwimmen in Tränen. >Ich hab's doch nicht gewusst... ich wusste nicht was es bedeutet... es... war... so... anders... und... erschreckend und verwirrend... und... oh bitte, bitte Colevar ich bitte dich geh nicht weg - geh nicht ohne mich...< Einen Herzschlag lang treffen sich ihre Blicke jäh und ungeschützt, offen wie der endlose dunkle Himmel über ihnen, ehe sie wieder auf ihre Hände starrt, hickst und schnieft und verzweifelt versucht, wieder zu Atem zu kommen. Nicht ohne mich. Nicht nicht ohne uns. Nicht ohne mich. Die volle Tragweite ihrer Worte trifft ihn wie ein Keulenschlag. Dann steht sie auf, rappelt sich hoch und er registriert mit Schrecken die Schramme auf ihrem Näschen, ihre blutigen Hände und den Riss in ihrem Rock. >Es tut mir so leid...< wispert sie, hebt die Hand und er glaubt schon, sie würde ihn berühren, doch dann tut sie es doch nicht. "Lía..." auch jetzt klingt ihr Name aus seinem Mund mehr wie ein Seufzen, wie das Ausstoßen des Atems, den er angehalten hat, nicht wie ein gesprochenes Wort. >Es tut mir leid... ich habe kein Recht dazu... verzeih... aber... selbst wenn du gehst und nicht zurückblicken wirst, ich werd dich nicht vergessen... und... und... mein... mei... mein Herz wird mit dir gehen, Colevar...<
"Lía..." Was sie eben nicht gewagt hat, tut jetzt er, er hält es auch keine Sekunde länger aus, sie nicht zu berühren. Er streckt die Hände aus ohne nachzudenken, berührt mit den Fingerspitzen ihr Gesicht, fängt ihre Tränen auf, streicht sie behutsam von ihrer weichen Haut, zieht sie an sich und hält sie, fest, so fest wie er es nur wagen kann ohne ihr dabei weh zu tun. Er drückt einen Kuss auf ihr weiches, weiches Haar, auf ihre Schläfe, küsst ihre Stirn, schmeckt Salz und Frau und weiß, dass er rettungslos und für immer verloren ist. Sie so klein und zerbrechlich in seinen Armen, dass er sie mühelos zerdrücken könnte, trotzdem ist sie stark, viel stärker als sie selbst ahnt. Stark genug, um ihn mit einem einzigen Lächeln oder einem Blick in die Knie zu zwingen, wenn sie es darauf anlegt - und auch davon hat sie keine Ahnung. Ihr Körper ist weich und warm und lebendig, ihr Wesen scheu und leicht verletzlich, und ihr Herz mag gerade jetzt so zerbrechlich wie Glas sein, aber ihr Totem ist der weiße Luchs, nicht das Rehkitz und er weiß, dass sie irgendwo verborgen in ihrem Inneren auch einen feinen, eisenharten Kern trägt. "Nicht weinen, Lía. Du sollst nicht um mich weinen." Sie achtet immer noch nicht auf seine Worte, und ihre Tränen rinnen unablässig zwischen seinen Fingern hindurch und an seinem Handgelenk entlang. "Sommersprosse... Sommer..."
>Ich... ich wollte nur... es... dass... es ging darum... ich...<  
"Lía. Lía..."  
>Niemand kann Calait ersetzen... und niemand kann dich ersetzen... ich liebe meine Tiere... a-aber... sie... ich...<

Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände, wischt mit den Daumen die Nässe von ihren Wangen und zwingt sie mit sanfter Gewalt, ihn anzusehen. In diesem Moment liegt ihr ganzes Herz und die stumme Verzweiflung ihrer Furcht, er könne sie zurückweisen in ihren Augen - und obwohl sie es eigentlich gar nicht ausgesprochen hat, weiß er, was sie empfindet und dass wohl kaum je ein Mann auf Rohas weitem Rund eine denkwürdigere Liebeserklärung erhalten hat als er auf diesem nachtkalten, schlammigen Berghang. Und wenn er hundert Jahre alt werden würde, er würde nicht ein Wort davon vergessen. "Du hattest mich schon nach dem ersten 'Geh nicht'", flüstert er, neigt den Kopf und küsst sie. Sie erstarrt zu Stein unter seiner Berührung, aber diesmal nicht vor Angst. Niemand hat diesen Mund je geküsst, nicht so. Sie mag die Küsse einer Schwester kennen, vielleicht auch die eines Bruders oder Vaters und die einer Mutter, aber nicht die eines Geliebten. Der Geruch ihrer Haut füllt seine Lungen, dringt direkt in sein Blut und steigt ihm zu Kopf wie Wein, aber er beherrscht sich eisern. Er will sie nicht erschrecken oder zu etwas drängen, für das sie noch gar nicht bereit ist, also küsst er sie auf die unschuldigste Art, zu der er fähig ist und trotzdem ist es berauschend in seiner Sanftheit. Die Zeit scheint langsamer und langsamer zu vergehen - und bleibt stehen, als sie sich an ihn schmiegt, ihre Arme um seine Mitte schlingt und ihre Finger in seinen Rücken gräbt. Was so behutsam und weich begonnen hat, wird gefährlich süß und hungrig und er ertrinkt in ihrem Geschmack, einer Mischung aus Nektar und salzigem Meer, weil sie alles ist, was er will... bis es ihm irgendwie gelingt, damit aufzuhören. Sein Mund wandert hungrig über die Rundungen ihres Gesichts, ihr Kinn, ihre gesenkten Wimpern und ihre geschwungenen Brauen, er küsst ihre zerkratzte Wange und die kleine Schramme auf ihrer Nasenspitze, um sich daran zu hindern, sie vollkommen zu verschlingen. Er hört einen kleinen, gebrochenen Seufzer über ihre Lippen kommen, hebt sie ein Stück vom Boden, hält sie fest und lehnt seine Stirn an ihre. "Ich werde nicht gehen, Lía." Das Wissen, sie vielleicht, nein wahrscheinlich, damit in Gefahr zu bringen, zerreißt ihn, aber er weiß, dass es die Wahrheit ist. Er kann sie nicht zurücklassen, jetzt nicht mehr. Er könnte genauso gut versuchen sich einen Arm abzureißen oder aufzuhören zu atmen. Vielleicht hat er es nie gekonnt.

"Ich will dich überhaupt nicht mehr verlassen. Mögen die Götter mir beistehen, Lía, es ist wahr." Sie ist sein. Sein, und er würde sie nicht wieder hergeben. Er hatte immer geglaubt, wenn er irgendwann in seinem Leben doch noch Liebe fände, wäre sie eine Zuflucht oder ein sicherer Hafen - nichts hat ihn darauf vorbereitet, dass ihn ein winziges, sommersprossiges Mädchen in das Nichts zwischen den Sternen schleudern oder ihn kopfüber von einer Klippe stürzen würde. Hätte ihm das jemand noch vor zwei Tagen gesagt, hätte er geschnaubt und erwidert, da könne er sein Herz gleich von den obersten Zinnen des Branturms werfen, es würde genauso sicher landen wie er. "Wir werden irgendeinen Weg finden müssen."  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 18. Okt. 2009, 19:55 Uhr
Erst als sie Colevars sanfte Berührung auf ihrer Haut spürt gelingt es ihr sich langsam etwas zu beruhigen. Wortlos lässt sie zu, dass er sie vorsichtig dazu bringt ihn anzusehen und in dem Moment wo sie dem Blick aus blauen Augen begegnet spürt sie wir ihr Herz wie wild zu rasen beginnt. Das Glänzen ihrer Augen und der Hauch von Rosa der sich augenblicklich auf ihre Wangen legt verraten, dass Lía begriffen hat, dass er sie nicht allein lassen wird. Nicht jetzt und auch nicht später. Das Strahlen ihrer Augen breitet sich aus und scheint nahezu ihr ganzes, blasses Gesicht zu erhellen, als sie zärtlich ihre Hand auf seine legt, welche immer noch ihr Gesicht umfasst.
„Du hattest mich schon nach dem ersten 'Geh nicht'"
Im ersten Moment sieht sie ihn einfach nur an, so als wüsste sie nicht was sie darauf reagieren sollte, doch dann lässt sie ein glockenklares und überglückliches Lachen hören, bevor sie dann wieder ernst wird und ihn mitfühlend ansieht. Gern hätte sie ihm gesagt wie unendlich leid ihr alles tut, dass sie das alles nicht gewollt hatte, aber das alles ist jetzt und hier in diesem Moment bedeutungslos. Alles was zählte war Colevar. Und dieser Augenblick. Hier. Mit ihm. Lía verfolgt jede noch so kleine Veränderung in seiner Miene mit größter Wachsamkeit und als er schließlich den Kopf neigt und ihr immer näher kommt tut sie nichts. Alles wozu sie fähig ist, ist ihm entgegenzustarren und auf den Moment zu warten wo seine Lippen auf ihre treffen. Hin – und hergerissen zwischen Anspannung, leichter Panik und einem unbeschreiblichen Glücksgefühl erstarrt sie unter der Berührung seiner Lippen. Kurz blinzelt sie verwirrt und erschrocken zugleich bevor sie es dann zulässt und sich in seinen Armen entspannt. Nicht wirklich wissend, was sie tun soll geschweige denn davon was er von ihr erwartet steht sie eine geraume Weile einfach nur da und genießt das Gefühl seiner weichen, vollen Lippen auf ihren. Es ist so ganz anders als erwartet und so völlig neu, dass sie froh ist, dass Colevar sie festhält, damit ihre Beine nicht unter ihrem Gewicht nachgeben können. Colevar schmeckt nach Stolz, Gefahr und Freiheit – wie der Geruch nach einem Sturm. Dann – ganz plötzlich – reagiert ihr Körper wie von selbst, so als hätte er nur auf diesen Tag, diesen Moment und diesen Mann gewartet um den versteckten Mechanismus in Gang zu setzen. Ohne darüber nachzudenken drückt sie sich fest an ihn, schlingt ihre Arme um seine Mitte und krallt ihre Finger in seine langen Haare und seinen breiten, muskulösen Rücken.

Unendlich vorsichtig und etwas unsicher, beugt sie ihren Kopf leicht zur Seite und stellt sie auf die Zehenspitzen um Colevar noch näher zu kommen. Alles in ihr schreit nach ihm, seiner Nähe und diesem Kuss. Lía spürt sein Verlangen und seinen eisernen Willen sich zu beherrschen und ist ihm dankbar dafür. Sie genießt diesen Kuss und allein der Gedanken sich je wieder von ihm lösen zu müssen ist ihr zuwider, dennoch ist ihr klar, dass sie noch längst nicht bereit ist. Kurz drohen Selbstzweifel und Angst in ihr aufzukeimen, doch sein Kuss und seine Berührung lassen den Rest der Welt unwirklich und nebensächlich werden. Die Zeit scheint zäh wie Honig zu fließen und außer ihrer schnellen Atmung und dem kräftigen Schlagen seines Herzens nimmt sie keine weiteren Geräusche um sich herum wahr. Als er sich schließlich von ihren Lippen löst spürt sie für den Bruchteil einer Sekunde Bedauern in sich aufsteigen, doch dann reagieren all ihre Sinne auf seine sanftes Küsse mit denen er nun ihr Gesicht bedeckt und ein leises, genießerisches Seufzen entweicht ihren Lippen. Erst als Colevar sich gänzlich von ihr löst, sie fest in seine Arme schließt und sie hochhebt, so dass ihre Füße ein gutes Stück über dem Boden baumeln beginnen sich ihre Gedanken und Sinne zu klären und der Zauber, zwar immer noch präsent, gibt sie nun immerhin soweit frei, dass sie auch wieder wirklich wahrnimmt was um sie rum vor sich geht. Seine Stirn fühlt sich kalt an, als er sie gegen ihre fiebrige, verschwitzten Haare die ihr in der Stirn kleben lehnt und sie schließt die Augen. Der Klang seiner Stimme dringt in sie ein und sie nimmt sie mit jeder Faser ihres Körpers auf und verschließt sie fest in ihrem Herzen. Immer noch völlig atemlos lauscht sie seinen Worten. Unfähig etwas zu sagen blickt sie nur auf und sieht ihn strahlend an, als Colevar ihr verspricht nicht zu gehen. Wortlos wandert ihre Hand an seine Wange bevor es diesmal Lía ist, die Colevar küsst. Es ist ein unsicherer, zaghaftes Kuss und dennoch so gefühlvoll und ehrlich, dass es ihr selbst für einen Moment die Sprache verschlägt. Dann löst sie ihre Lippen von den seinen, schlingt ihre Arme um seinen Nacken und umarmt ihn so fest sie nur kann ohne befürchten zu müssen, dass sie ihm weh tut.

"Ich will dich überhaupt nicht mehr verlassen. Mögen die Götter mir beistehen, Lía, es ist wahr."
So sehr sie seine Worte auch freuen so sehr erschrecken sie sie auch, ist ihr doch durchaus bewusst, dass sie beide diese Entscheidung nicht leichtfertig treffen können. Noch gut erinnert sie sich an seine Worte, als er ihr erklärt hatte, dass er gehen müsste. So sehr Lía es sich auch wünschte, die Dinge hatten sich nicht geändert – nicht was sein Versprechen oder seine Situation anging.
“Colevar…“, ihre Stimme zittert immer noch leicht vor Aufregung und kurz hält sie inne, damit sich ihre Atmung wieder normalisieren kann, bevor sie dann ihren Kopf auf seine gesunde Schulter bettet und ihn bedrückt von der Seite her ansieht. „Wir haben doch im Grunde gar keine Wahl. Du kannst dein Wort nicht brechen nur um bei mir zu bleiben und ich kann nicht einfach fort.“ Sie erklärt nicht weiter was sie damit meint, aber das ist auch gar nicht nötig. Niemand der Lía auch nur andeutungsweise kennt würde je auf den Gedanken kommen sie könnte – völlig egal unter welchen Umständen – Calait allein lassen. Ohne ihre Schwester war sie nicht komplett. Sie braucht die Ältere. Der Gedanke ohne sie zu sein ist zu furchtbar und zu absurd, als dass Lía auch nur eine Sekunde darüber nachdenken würde.
"Wir werden irgendeinen Weg finden müssen."
Wohl wissend, dass es vermutlich keine wirklich gute Lösung gibt und ebenso wohl wissend, dass sie ihn mit ihrem Verhalten nicht nur ihn einen Interessenkonflikt sondern auch in Gefahr gebracht hatte presst sie sich ihm noch einmal so fest entgegen, als wolle sie auf der Stelle eins mit ihm werden, bevor sie sich dann ein Stück zurücklehnt und seinen Blick sucht. „Lass mich bitte wieder runter“, ihre Stimme klingt nicht halb so gefasst wie sie sich das gewünscht hätte, aber es ist ihr einfach unmöglich zu verheimlichen, dass der bloße Gedanke daran ihn gehen zu sehen ihr das Herz bricht. „Bitte“, fügt sie diesmal etwas eindringlicher hinzu, als Colevar keine Anstalten macht sie wieder herzugeben. Doch als ihr Blick zu seiner verletzten Schulter wandert und er die Angst und Sorge um ihn in ihren Augen lesen kann setzt er sie schließlich doch seufzend wieder ab. Allerdings ist Lía nicht gewollt seine Nähe so schnell wieder aufzugeben, weshalb sie sich sobald ihre Füße wieder festen Boden berühren in an seine Brust schmieg und die Augen schließt. Während sie dem beruhigenden Geräusch seines Herzschlags lauscht.
„Du kannst nicht bleiben“, spricht sie nach einer Weile des Schweigens das laut aus was sie beide im Grunde schon längst wissen. „Und ich kann dich nicht begleiten“, bei diesen Worten krallen sich ihre Finger ohne das sie es hätte verhindern können in einem Anflug von Verzweiflung sein Hemd. „Aber…wenn…wenn du mir sagst wohin du reitest dann werde ich dir folgen.“ Sie würde ihm sogar bis in die tiefsten Tiefen der Hölle und zurück folgen, es war ihr gleich wie weit oder wie lange es dauern würde – wenn sie nur wüsste wo sie ihn finden könnte. Natürlich will sie nicht dass er geht, aber noch viel weniger will sie, dass er sich um ihret Willen in Teufelsküche bringt. „Ich war egoistisch. Du kannst nicht all deine Pläne nur meinetwegen über den Haufen werfen. Beende was du begonnen hast, Colevar. Du hast es selbst gesagt: du hast deinem Freund dein Wort gegeben.“ Und obwohl ich weiß, dass es richtig ist zerreißt es mir das Herz…

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 19. Okt. 2009, 00:00 Uhr
Ihr Kuss ist scheu und zart, fast fragend, aber sie schmeckt überwältigend, süßer als alles, das Colevar je gekostet hat und das Gefühl ihres weichen, warmen Mundes auf seinem ist der Himmel auf Erden. Ihr unerträglich berauschender Duft hüllt ihn von Kopf bis Fuß ein, lässt sein Blut singen und sein Herz bestimmt drei Schläge aussetzen, als sie sich viel zu früh wieder von ihm löst, nur um ihn heftig zu umarmen. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, während sie sich einfach festhalten, irgendwo im Süden Savos auf einem mitternächtlichen Berghang, so weit vom Lager entfernt, dass der Feuerschein nur noch ein schwaches Glühen zwischen dunklen Baumstämmen ist. >Colevar...< wispert sie irgendwann, während ihr Kopf sich an seine rechte Schulter schmiegt und er weiß, dass er nicht hören will, was sie sagen wird, auch wenn er mit einem Lächeln das schwache Beben in ihrer Stimme wahr nimmt. >Wir haben doch im Grunde gar keine Wahl. Du kannst dein Wort nicht brechen nur um bei mir zu bleiben und ich kann nicht einfach fort.<  
"Wir werden irgendeinen Weg finden müssen." Er hält sie nur noch fester und vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar, das so schwer und warm ist wie eine Sommernacht. Ein paar kostbare Herzschläge lang erwidert sie seine Umarmung so ungestüm wie er sie an sich drückt, doch dann nimmt sie den Kopf zurück, um in seine Augen sehen zu können. Ihr Blick ist gefasst, aber er sieht die Schatten des Kummers und der Angst darin. >Lass mich bitte wieder runter.< Er holt vernehmlich Luft und zögert merklich, wie ein Mann, der sich darauf vorbereitet, etwas sehr schweres zu tun, das ihm obendrein gehörig gegen den Strich geht und das er ganz und gar nicht will.
Oh, nun stell sie schon wieder auf ihre eigenen Füße, sie wird sich nicht gleich in Luft auflösen wenn du die Hände von ihr nimmst!

>Bitte,< flüstert es leise unter seinem Kinn und ihr Blick ruht vielsagend auf seiner verletzten Schulter. Er setzt sie behutsam ab ohne sie dabei wirklich loszulassen, und kaum steht sie wieder auf ihren eigenen Beinen, schmiegt sie sich an ihn wie ein Kätzchen und legt ihren Kopf an seine Brust. >Du kannst nicht bleiben.<
Diesmal klingt sein Atemholen so rau, als zerreiße Segeltuch und seine Stimme ist es ebenfalls. "Lía... ihr seid in solcher Gefahr, wenn ich bei euch bleibe." Allein bei dem Gedanken daran dreht sich ihm der Magen um. Sie würde ihren Wagen und ihre Schafe wiederbekommen - er mag nicht viel von ihr wissen, aber er weiß, dass es das einzige Zuhause ist, das sie noch hat und sie soll es nicht verlieren. Aber damit sind sie langsam... viel zu langsam. Und der Weg ist so weit. Sie soll überhaupt nichts wegen ihm verlieren oder aufgeben müssen, weder ihr schreiend buntes Gefährt, noch irgendetwas oder jemanden, an dem ihr Herz hängt, schon gar nicht ihre blinde Schwester oder irgendeines ihrer Tiere. Vor allem aber nicht ihr Leben. >Und ich kann dich nicht begleiten.< Fährt sie so verzweifelt wie unbarmherzig fort und ihre kleinen Hände ballen sich im Stoff seines Hemdes zu Fäusten. Er weiß, dass sie recht hat, er weiß es. Und er weiß auch, dass einer von ihnen die bitteren Wahrheiten aussprechen muss, die zwischen ihnen stehen - heute ist es sie. Trotzdem kann er einen entsetzlichen Moment lang nicht einmal atmen. "Ich kann dich nicht verlassen", seine Stimme ist so dunkel wie die Nacht um sie her. "Ich kann nicht."

>Aber... wenn... wenn du mir sagst wohin du reitest dann werde ich dir folgen.< Hoffnung flammt so unvermittelt in ihm auf, dass es fast schmerzt, aber er kann ihr nicht nachgeben. "Du wirst mir folgen." Das ist weder eine Frage noch ein Befehl, es ist einfach eine Feststellung. Sie muss ihm folgen, denn sie ist sein so wie er ihr gehört, auch wenn ein Teil von ihm immer noch damit beschäftigt ist, zu begreifen wie ein so umwälzendes Ereignis in so kurzer Zeit hatte stattfinden können und sein ganzes Leben völlig auf den Kopf zu stellen vermochte. "Talyra. Eine große Stadt am Ildorel in den Herzlanden", erwidert er trotzdem. "Aber der Weg ist weit, Lía... ungeheuer weit. Selbst von Falkenwacht aus sind es über den Frostweg noch eintausendachthundert Tausendschritt oder mehr. Ihr müsstet die Rhaínlande durchqueren, Draingarad und das Verdland." Wahrscheinlich müssen sie den Winter über irgendwo bleiben, wenn das Wetter zu schlecht zum Reisen wird... Sie wären Monde getrennt, Monde, in denen nur wissen die Götter allein was alles geschehen kann. Verlorene Monde. Er hatte sich nie als einsam empfunden, ganz gleich, wie allein er auch gewesen war, bis er sie getroffen hatte. >Ich war egoistisch. Du kannst nicht all deine Pläne nur meinetwegen über den Haufen werfen. Beende was du begonnen hast, Colevar. Du hast es selbst gesagt: du hast deinem Freund dein Wort gegeben<

"Selbstsüchtig, du?" Er hält sie ein Stück von sich weg, um in ihr Gesicht sehen zu können und lächelt, wenn auch wehmütig. "Nein. Aber... du hast... Recht." Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder, dann schüttelt er um Fassung ringend den Kopf. "Ich habe mein Wort gegeben." Er hatte sein Wort gegeben und er würde seine Ehre nicht verraten. Wenn er es brechen würde, könnte er vor sich selbst nicht bestehen - und wenn er vor sich nicht bestehen kann, wie soll er es vor ihr können? "Es sind noch vier Tage bis Falkenwacht, vielleicht fünf. Wenn wir bis dahin keine andere Möglichkeit gefunden haben, wenn... dann... dann..." werde ich gehen. Er bringt die Worte nicht über die Lippen, sie sitzen wie Eisensplitter in seinem Hals. "Bleibt auf dem Frostweg. Schließt euch einer Handelskarawane an, so dass ihr Schutz habt. Wenn ich den Mann nach Talyra gebracht habe, komme ich zurück. Wenn ihr auf der Straße bleibt, finde ich dich. Ganz gleich wie lange es dauert oder wie weit der Weg ist, ich finde dich."  
Sie sagt nichts, sie sieht ihn nur an und nickt sacht, die Augen von dem gleichen wortlosen Versprechen erfüllt, das in seinen liegt. Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, während sie sich einfach anblicken, als würden sie sich zum ersten Mal sehen, wortlos und schweigend, die Gesichter einander zugewandt - und in seinem Herzen vermischen sich das fast schon vertraute Begehren, die brennende Zärtlichkeit und sein tiefes, tiefes Staunen mit bitterem Schmerz.

"Ich weiß nicht, wie oft mein Vater mich in den letzten Jahren gefragt hat, ob ich mir nicht endlich eine Frau nehmen will", beginnt er irgendwann leise, "und er bekam immer die gleiche Antwort: nein. Weil ich die Richtige nie gefunden hatte. Er hat gefragt, woher ich denn wissen will, wann es die richtige ist und ich sagte ihm, das würde ich dann schon erkennen. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, nachts im Wald, und du mit strampelnden Beinen bis zu den Hüften unter diesem Baumstamm gesteckt hast", fährt er fort und ein Hauch warmer Amüsiertheit schleicht sich in seine Stimme. "Da sagte ich mir: Colevar, du hast zwar keine Ahnung, wie sie aussieht und ob sie nicht vielleicht den Verstand verloren hat, aber das ist sie." Er zieht sie wieder an sich und sie kehren wie auf ein stummes Zeichen hin dem nächtlichen Wald den Rücken und kehren Arm in Arm ins Lager zurück. Calait würde sich sonst auch bald vermutlich entweder zu Tode sorgen oder an ihrer Neugier sterben, das wissen sie beide ohne dass es einer von ihnen aussprechen muss. "Und dann, als du dich an meiner Schulter ausgeweint hast, da sagte ich mir: sie hat dich jetzt schon zweimal wieder zusammengeflickt, und so wie dein Leben aussieht, kann es sicher nichts schaden, dir eine auszusuchen, die Wunden versorgen und Knochen einrichten kann. Und wenn die Berührung ihrer Hand an der Schulter schon so angenehm ist..." jetzt wird sie tatsächlich rot, das kann er selbst im Dunkeln sehen und er drückt leise lachend einen Kuss auf ihre Schläfe. "Komm, Sommersprosse. Calait bringt uns sonst um und ich will mir deine Hände ansehen." Lías Handflächen sind aufgeschrammt und sie humpelt ein wenig, also würde er diesmal ihre Wunden versorgen. Außerdem knurrt sein Magen ganz vernehmlich. Sie setzt schon zu einem Protest an, doch er schüttelt sacht den Kopf. "Erst du. Dann darfst du dich um meine Schulter kümmern."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 19. Okt. 2009, 21:24 Uhr
Sie hat Lìa ein Leben lang begleitet, so wie Lìa ihren Spuren immer und sofort ohne zu zögern gefolgt war. Sie hatten sich gegenseitig Schutz und Sicherheit geboten, hatten einander gewärmt in der schlimmsten Kälte und den jeweils anderen mit Licht versorgt, wenn er nur noch Schatten sah. Sie hatten in ihrem Leben viel durchgemacht und sich dabei immer aufeinander verlassen können… und gerade deshalb fühlt sich Calait in diesem Moment, als Colevar dem beissenden Schmerz in seinem Inneren freien Lauf lässt, nicht weniger hilflos, verwirrt und besorgt als ihre Zwillingsschwester. Alles in ihr drängt Lìa zu stützen und zu beschützen, ihr bei der Wahl der richtigen Worte zu helfen, ihr die Angst zu nehmen und das folgenschwere Unwissen, mit dem sie Colevar nun entgegen getreten ist, und schwer atmend, die Brust viel zu klein für ihr wild schlagendes Herz, krallt sich Calait an den Stein unter sich, um genau das eben nicht zu tun. Sie kann, soll, darf ihrer Schwester jetzt unter keinen Umständen die Hand reichen, das kann Calait spüren, obwohl sich alles in ihr gegen diese Erkenntnis sträubt, weil es all ihren Prinzipien, ihrem Verantwortungsgefühl und insbesondere ihrer Schwesterliebe widerspricht.
„Wen du wirklich liebst, Calait, den lässt du gehen.“ Das hatte ihr Vater ihr auf die Frage, warum er Nazastra hätte ziehen lassen, geantwortet und sie weiss, dass es ihm nicht weniger schwer gefallen war, als ihr jetzt. Louan, der ihre Unruhe wachsen fühlt, lässt sich neben ihr auf die Hinterpfoten nieder und legt ihr eine seiner grossen, runden Pfoten auf die Knie, wie ein Grossvater, der seiner Enkelin beruhigend das Bein tätschelt und sagt: „Keine Angst, sie macht das schon.“
„Ich weiss, Louan. Ich weiss. Das Problem ist nur, SIE weiss es noch nicht und ich…“ In diesem Moment hört sie, wie Colevar sich erhebt und angespannt hält sie die Luft an. Seine Stimme zittert vor Unterdrückter Wut, Enttäuschung, aber vor allem… Bitterkeit. Dunkler, schwerer, vor Sarkasmus triefender Bitterkeit, die ganz eindeutig zeigt, wie sehr er sich von den Göttern verarscht fühlt. „Gute Ahnen, nein, Colevar, so ist das nicht! Himmel, bleib jetzt… Colevar!“ Sie möchte seinen Namen rufen, ihm befehlen gefälligst sitzen zu bleiben und sich der ganzen Wahrheit zu stellen, die nun einmal nicht ganz so einfach ist, wie er sich das vielleicht vorgestellt hat. Natürlich hatte auch Calait etwas anderes von Lìa erwartet, etwas mit einer Priese mehr Verstand und Feingefühl, aber was man nicht wusste, konnte man auch nicht benennen. Mein Fehler! Verflucht, ich hätte sie nicht die Richtung weisen, sondern sie mit der Nase draufstossen sollen. Was bist du doch für eine dumme, dumme, dumme Kuh, Calait Skorn Du! Aber dafür ist es jetzt zu spät. Eilig schiebt sie Louans quadratischen Dickschädel von ihren Knien, erhebt sich und eilt, schlingernd und leise fluchend auf die Feuerstelle zu. Gerade ist sie in den Lichtkreis getreten, die Arme schon nach ihrer Schwester ausgestreckt, Worte der Aufmunterung und der Beruhigung auf der Zunge, da stürzt Lìa Hals über Kopf davon. Was bleibt ist das Geräusch raschelnder Röcke und das feine Knacken von Geäst unter eiligen Schritten. „Lìa…“ Beinahe wäre Calait gestrauchelt, als sie sich so plötzlich ihrem Ziel beraubt sieht und darüber hinausschiesst. Ihre Füsse verfangen sich in der Decke, die ihre Schwester einfach hat fallen lassen und mit wild rudernden Armen kämpft sie ganze vier Herzschläge lang um ihr Gleichgewicht. Schwer atmend kommt sie schliesslich zum Stehen und zuckt nur einen Moment zusammen, als ein dumpfes, hässliches Knacken durch den Wald schallt. Ganz kurz nur, weniger als den Bruchteil einer Sekunde, wird Calait kalkweiss. Nein…, dann durchdringt Lìas Stimme den Schock und Erlösung bricht so heftig über Calait herein, dass ihre Beine, weich wie Brotpudding, unter ihr nachgeben. Erst als ihre Lungen rebellieren, nimmt sie bewusst wahr, dass sie die Luft angehalten hat und mit einem erstickten Keuchen atmet sie tief ein. Bei allen Ahnen, habe ich gerade wirklich gedacht… Nein. Himmel, nein, egal was er wirklich sein mag, das würde er niemals tun. So sehr habe ich mich nicht getäuscht. So sehr würde ich mich niemals täuschen. Niemals! Und trotzdem horcht sie alarmiert und presst eine Faust auf die Stelle, wo ihre Rippen unter den heftigen Schlägen ihres Herzens zu brechen drohen, aber alles bleibt friedlich. Aufgewühlt, angespannt, unruhig, aber friedlich und nach und nach fühlt Calait, wie der Sturm in ihrem Inneren, der so plötzlich losgebrochen ist, sich wieder legt und tief vergräbt sie ihre Finger in weicher, warmer Erde und feuchtem, kühlem Gras.
Wo du hingestehst, will auch ich hingehen, erinnerst du dich? Das Lächeln auf Calaits Lippen spiegelt Glück, Freude und Erheiterung ebenso wieder, wie Trauer, Verärgerung und Angst und obwohl sie kein Wort von dem Gewisper versteht, dass der Wind ihr entgegen trägt, kann sie einen Teil des Bandes zwischen sich und Lìa reissen hören. Ganz leise nur, wie der Faden eines Spinnennetzes, aber deswegen nicht minder unwiderruflich. Wieder ist es Louan, der sie stützt, indem er sie fein mit seiner Nase anstubbst und, kaum hat sie sich ein wenig aufgerichtet, sich neben ihr lang macht und den Kopf gegen ihre Hüfte lehnt. Auch der Rest der Gesellschaft scheint ihren Mut wiedergefunden zu haben und einer nach dem anderen kommen erst Noraya, dann Ériu und schlussendlich auch die drei Waldhörnchen aus ihren sicheren Verstecken, irgendwo in den Baumwipfeln, gekrochen und gesellen sich zu Calait, die so ganz allein am Feuer doch etwas verlassen wirkt. Doch auch wenn viele Gefühle in ihr vorherrschen, Einsamkeit ist nicht darunter, denn… es ist gut so, wie es ist.

Als Lìa und Colevar zurückkommen, hebt Calait mit einem unergründlichen Lächeln den Kopf und meint mit dem Tonfall einer Mutter, die ihre zwei Sprösslinge schon vor Stunden wieder zurückerwartet hat: „Na endlich.“ Es bedarf keiner weiteren Worte. Nicht jetzt zumindest, auch wenn Calait sich auf die Zunge beissen muss, um nicht zu fragen: „Und, wie liefs?“, „Alles geklärt?“, „Wo geht’s hin?“, „Woher kommst du, mit wem haben wir es zu tun und hast du auch ganz sicher keine Frau und drei Kinder Zuhause?“. Und was die Probleme angeht, die müssen warten, bis sie in Falkenwacht sind – und da würde Colevar keine Zeit bleiben, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Behutsam stellt Calait den Stiefel mit Vi-Vi, den sie eben mit einem Brei aus in Wasser aufgeweichtem Brot und klein gekautem Fleisch gefüttert hat, zur Seite, erhebt sich mit der Decke in der Hand und wickelt Lìa darin ein, ohne ihr Zeit für Protest, oder Colevar die Chance für Einwände zu lassen. Sanft, aber bestimmt schiebt sie die beiden zum wärmenden Feuer, winkt Louan mit einer winzigkleinen Geste ihrer Rechten heran und will sich dann selbst gegenüber den Beiden bei den Hunden wieder auf den Umhang fallen, den sie allein zu diesem Zweck ausgebreitet hat, als Colevar sie um sauberes Wasser und etwas Verbandslinnen bittet. Stimmt… Das Knirschen. Bin ich froh, dass ich nicht sehen kann, wie seine Hand aussieht. Stillschweigend bringt sie ihm das Gewünschte, wobei sie etwas Branntwein ins Wasser mischt, um einer Verunreinigung der Wunde entgegen wirken zu können. Umso sorgenvoller wird ihre Miene, als nicht Colevar, sondern Lìa plötzlich schmerzerfüllt aufwimmert, nur um ihr gleich darauf schniefend zu versichern, dass alles in Ordnung, sie nur hingefallen und Colevar auch ganz bestimmt vorsichtig sei. Das sie ihre Tränen dabei herunterschlucken und sich zwingen muss nicht noch lauter zu jammern, kann Calait ganz eindeutig hören und sicherheitshalber fragt sie nach, ob sie nicht vielleicht doch helfen könne. Drei Dutzend „Nein, das geht schon, wirklich!“, später, zieht Calait sich seufzend zurück und widmet sich wieder dem Eulenjungen, dass hungrig und empört obendrein nach Futter kräht. Eine ganze Weile sagt keiner von ihnen etwas und Calait für ihren Teil versucht sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Lìa jetzt wohl öfters nicht an ihrer Seite sitzen würde – auch wenn es bestimmt noch sehr lange dauern wird, bis sie diese Tatsache auch verinnerlicht hat. Ein kleines bisschen Stolz kann Calait allerdings nur schwer unterdrücken. Wo so manch andere Frau den Kopf eingezogen und sich weinend in ihrer eigenen Dummheit gesuhlt hätte, hat Lìa ihren folgenschweren Fehler erkannt und hat ihn auch ganz allein wieder ausgebadet. Sie ist aufgestanden, Colevar todesmutig nachgestürmt und muss ihm wohl das Blau vom Himmel herunter geredet haben. Genau kann Calait das natürlich nicht sagen, aber von all den verbissenen Gefühlen, die eben noch vorgeherrscht hatten, ist nichts mehr zu spüren. Nur das Schlagen zweier Herzen im Einklang vermischt sich mit dem Summen des Waldes, dem Knistern des Feuers und ihrer aller Atem… und einem gelegentlichen Schmerzenslaut, wenn wunde Finger, aufgerissene Knöchel, oder aufgeschlagene Knie mit dem mit Branntwein versehenen Wasser in Berührung kommen. Ganz wie von selbst kümmert sich Calait darum, dass die Unordnung verschwindet.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 20. Okt. 2009, 23:48 Uhr
Einen Weg finden? Leider war die Sache nicht so leicht wie es sich anhören mochte. Das weiß auch Colevar, weshalb Lía sich jeden weiteren Kommentar dazu erspart. Sie versteht ihn gut; auch sie will der bitteren Wahrheit nicht ins Auge sehen, doch wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, dann weiß sie, dass es keine andere Lösung gibt. Colevar muss sie verlassen. Als er sie nur noch fester an sich drückt und sein Gesicht in ihren dunklen, wirren Locken vergräbt schließt sie die Augen und genießt seinen Duft, seine Nähe, seine Berührung und den Klang seiner Stimme. Schon sehr bald würde sie auf all das verzichten müssen. Der bloße Gedanke daran ihn ziehen zu lassen raubt ihr den Atem und sie hat das Gefühl, dass ihr Herz in hunderttausend klitzekleine Teilchen zersplittert, aber sie gibt sich alle erdenkliche Mühe sich ihren Kummer nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Colevar bereitet es auch so schon genug Probleme das Unausweichliche zu akzeptieren auch ohne dass Lía es ihm noch unnötig schwerer macht.

"Lía... ihr seid in solcher Gefahr, wenn ich bei euch bleibe."
Auch ohne ihn anzusehen weiß sie um den Schmerz den ihm diese Erkenntnis bereitet. Die ganze Tragweite dieses Selbstvorwurfs wird ihr in dem Moment bewusst, wo sie seine Worte hört. Lía hebt den Kopf und sucht seinen Blick. Eine geraume Weile sieht sie ihn einfach nur stumm an, bevor sie dann lächelt und sacht den Kopf schüttelt. „Es ist wie es ist. Und es ist gut so wie es ist. Du bist hier. Bei mir. Wir alle sind am Leben und es geht uns gut. Du hast bisher nichts anderes getan als uns vor Schaden zu bewahren, Colevar. Obwohl wir eine Last sind und dich aufhalten hast du dich entschieden uns zu helfen. Also bitte mach dir keine Vorwürfe. Niemals. Nicht dafür, dass du hier bist.“ Mit diesen Worten legt sie den Kopf erneut gegen seine Brust und lässt ihre Hand zärtlich über seinen Rücken wandern. Sie wären so oder so in Gefahr –Colevar hatte selbst gesagt, dass seine Verfolger es sich nicht hätten nehmen lassen zu überprüfen wer sich noch hier im Wald aufhielt, demnach war es nicht seine Schuld, sondern sein Verdient, dass sie bisher verschont geblieben waren. Außerdem waren sie auch schon früher in Gefahr gewesen…vor allem Calait. Es mag sich diesmal um eine andere Art von Gefahr handeln, aber für Lía macht das keinen Unterschied. Solange die Sicherheit ihrer Schwester gewährleistet ist und Colevar nichts passiert ist es ihr gleich wie groß die Gefahr ist, wenn sie nur bei ihm sein kann.
"Ich kann dich nicht verlassen. Ich kann nicht."
Ein trauriges Lächeln umspielt ihre Lippen als sie diese Worte hört, doch sie antwortet nicht sofort, sondern lässt das eben gehörte erst einen Moment sacken und versucht zu begreifen was genau er alles direkt und indirekt damit preis gibt.
„Natürlich kannst du“, flüstert sie in den groben Stoff seines Hemdes und ist nicht halb so gefasst wie es den Anschein hat. Auch sie hat das Gefühl, dass ihn ziehen zu lassen sie mit nichts als dem Gefühl eines enormen Verlustes und einer unglaublichen Leere zurücklassen wird. Doch sie hat keine Wahl. Er muss gehen. Und sie muss stark sein. Für ihn. Für Calait. Für sich.
„Natürlich kannst du“, wiederholt sie leise, so als müsse sie es sich selbst nur lange genug einreden, damit es ihm leichter fällt. „Es ist ja nicht für immer.“ Aber jeder Tag, jede Stunde ist zu viel…oh, Colevar…ich will doch nicht, dass du gehst…du sollst nicht gehen….niemals! „Du kannst gehen. Ich folge dir wohin du auch gehst. Noch ist es nicht soweit, doch wenn der Augenblick gekommen ist, dann musst du gehen. Allein. Ich werde deinen Spuren folgen und dich finden. So schnell wie nur irgend möglich. Aber du musst tun, wofür die eigentlich gekommen bist. Ich will nicht, dass du meinetwegen deine Pläne über den Haufen wirfst, hörst du? Das sollst und darfst du nicht.“ Lía weiß, dass er all das eigentlich bereits alles schon weiß, doch vielleicht muss er es einfach nur aus ihrem Mund hören. Jetzt wo sie es laut ausgesprochen hat scheint es erst wirklich real zu werden und sie spürt wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenkrampft, aber sie sagt nichts mehr und sieht ihn auch nicht an. Alles was sie tut ist ihn zu umarmen in der Hoffnung ihm damit irgendwie helfen zu können, ihm Kraft und Stärke zu schenken – und den nötigen Glauben, dass er es durchaus schaffen kann.

"Talyra. Eine große Stadt am Ildorel in den Herzlanden. Aber der Weg ist weit, Lía... ungeheuer weit. Selbst von Falkenwacht aus sind es über den Frostweg noch eintausendachthundert Tausendschritt oder mehr. Ihr müsstet die Rhaínlande durchqueren, Draingarad und das Verdland."
Sie spürt seine leise Verzweiflung und in seinen Augen sieht sie Mutlosigkeit und Angst. Angst vor dem Moment wo er gehen muss. Gern hätte sie gesagt, dass sie nicht von seiner Seite weichen würde, ihm erklärt, dass sie immer da sein würde, doch dem war nicht so. Sie kann ihn nicht begleiten. Süßlicher Blumenduft umfängt die beiden als der Wind plötzlich dreht und sie sich aufrichtet und ein Stück von ihm zurückweicht. Colevars Umarmung spricht von Schutz und Geborgenheit und es fällt ihr unsagbar schwer sich von ihm zu lösen, doch irgendwie gelingt es ihr. Ihre Hand legt sich sanft auf seine Brust während die andere zärtlich seine Wange berührt. „Colevar…“, erklingt traurig sein Name in der Nacht. Lías Gedanken wirbeln wild herum und drehen sich nur um diesen einen Gedanken: Colevar helfen. Schließlich legt sich ein warmes Lächeln auf ihre Züge und sie sieht ihn durchdringend an. „Das ist mir gleich.“, ihre Stimme spiegelt dieselbe Entschlossenheit wider die auch in ihren Augen liegt. „Es ist mir gleich wie weit es ist. Ich werde dir folgen.“ Der Weg konnte gar nicht weit genug sein um sie davon abzuhalten und sie würde alles daran setzen ihn so schnell wie möglich wiederzusehen.

"Selbstsüchtig, du?"
Sie erwidert sein Lächeln nicht und weicht auch seinem Blick aus. Er mag es für Unsinn halten, doch Lía weiß, dass sie ihm den Abschied durch ihre Worte nur unnötig erschwert hat und es tut ihr leid. Aber jetzt ist es zu spät und alles was ihr bleibt ist ihn zu stützen und ihm seine Entscheidung so gut es geht zu erleichtern. Auch wenn sie ahnt, dass sie bei diesem Vorhaben kläglich scheitert. "Nein. Aber... du hast... Recht." Unfähig etwas zu sagen nickt sie nur kaum merklich und weicht immer noch seinem Blick aus. Gerade eben erst hatte sie ihn wieder da verlor sie ihn erneut. Was für ein grausames Spielt spielten die Ahnen eigentlich mit ihr?
"Es sind noch vier Tage bis Falkenwacht, vielleicht fünf. Wenn wir bis dahin keine andere Möglichkeit gefunden haben, wenn... dann... dann..." Lía ist dankbar dafür, dass er das Unvermeidliche nicht noch mal erwähnt, auch wenn es für die beide vermutlich wichtig wäre es sich nochmals vor Augen zu führen. Aber sie spürt, dass eine weitere Benennung einfach zuviel wäre. Sie hätte viel drum gegeben seinen Kummer zu lindern, aber alles was sie hervorbringt ist ein tonloses „Ja.“ Was in ihren Ohren so furchtbar falsch und grausam klingt, dass sie schon im selben Augenblick bereut überhaupt etwas gesagt zu haben. "Bleibt auf dem Frostweg. Schließt euch einer Handelskarawane an, so dass ihr Schutz habt. Wenn ich den Mann nach Talyra gebracht habe, komme ich zurück. Wenn ihr auf der Straße bleibt, finde ich dich. Ganz gleich wie lange es dauert oder wie weit der Weg ist, ich finde dich." Sie sagt nichts dazu, sondern erwidert nur seinen Blick mit der gleichen stummen Entschlossenheit und nickt zum Zeichen, dass sie verstanden hat.

"Ich weiß nicht, wie oft mein Vater mich in den letzten Jahren gefragt hat, ob ich mir nicht endlich eine Frau nehmen will und er bekam immer die gleiche Antwort: nein. Weil ich die Richtige nie gefunden hatte. Er hat gefragt, woher ich denn wissen will, wann es die richtige ist und ich sagte ihm, das würde ich dann schon erkennen. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, nachts im Wald, und du mit strampelnden Beinen bis zu den Hüften unter diesem Baumstamm gesteckt hast… Da sagte ich mir: Colevar, du hast zwar keine Ahnung, wie sie aussieht und ob sie nicht vielleicht den Verstand verloren hat, aber das ist sie“ Plötzlich hat sie das Gefühl als hätte er ihr den Boden unter den Füßen weggerissen und sie schnappt lautlos nach Luft. Nicht nur legt er ein rasantes Tempo vor, so dass ihr schwindelig wird und ihr die Geschwindigkeit alles andere als geheuer ist, nein, auch der bloße Gedanke an Hochzeit ruft alte Erinnerungen wieder in ihr Gedächtnis. Und mit ihnen Wunden die niemals ganz verheilen würden. Aber sie schweigt und versucht die Bilder die augenblicklich vor ihrem inneren Auge auftauchen zu verscheuchen – sie hat auch so schon genug sorgen. Irgendwie gelingt es ihr sich zu einem Lächeln durchzuringen während sie schweigend neben Colevar zurück zum Lager geht. Als er sich gewahr wird, dass sie fröstelt zieht er Lía etwas enger zu sich und legt ihr einen Arm um die Schulter und sie genießt die Wärme seines Körpers.
"Und dann, als du dich an meiner Schulter ausgeweint hast, da sagte ich mir: sie hat dich jetzt schon zweimal wieder zusammengeflickt, und so wie dein Leben aussieht, kann es sicher nichts schaden, dir eine auszusuchen, die Wunden versorgen und Knochen einrichten kann. Und wenn die Berührung ihrer Hand an der Schulter schon so angenehm ist..." Lía spürt wie ihr die Röte ins Gesicht schießt und noch bevor sie auch nur den Versuch starten kann den Blick zu senken hört sie auch schon Colevars belustigtes Lachen und spürt die Wärme seiner Lippen auf ihrer Schläfe was sie augenblicklich ihre Verlegenheit vergessen lässt und sie mit nichts als einem enormen Glücksgefühl zurücklässt. "Komm, Sommersprosse. Calait bringt uns sonst um und ich will mir deine Hände ansehen." „Aber deine Ha-„, setzt sie an wird jedoch entschieden von Colevar unterbrochen, der keinen Zweifel daran lässt, dass er nicht mit ihr darüber diskutieren wird. Also fügt sie sich etwas niedergeschlagen in ihr Schicksal und wirft ihm einen besorgten Seitenblick zu. Lía hat lediglich mit ein paar Schrammen zu kämpfen (neben ihrem Fieber), er hingegen mit einer lädierten Hand sowie einem Loch von der Größe eines Bolzens in der Schulter. Aber sie ahnt, dass jegliche Widerworte zwecklos sind, also lässt sie sich bereitwillig von Calait zum Feuer schieben während Colevar nach sauberem Linnen und Wasser verlangt. Aus einem Reflex heraus setzt sie bei dieser Aufforderung schon dazu an selbst aufzustehen und die gewünschten Utensilien zu holen, doch ein Blick Colevars lässt sie in der Bewegung erstarren und sie lässt sich seufzend zurücksinken und wartet. Obwohl er unendlich behutsam zu Werke geht kann sie ein leises Aufwimmern nicht ganz unterdrücken was nicht nur dafür sorgt, dass er erschrocken seine Hand zurückzieht, sondern auch Calait augenblicklich neben Lía erscheinen lässt. „Es ist nichts“, stößt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und greift mit der freien Hand nach den Fingern ihrer Schwester. „Ich bin gestolpert. Sei unbesorgt. Es ist nur eine Schram“, sie zieht geräuschvoll die Luft durch die Zähne, als Colevar erneut beginnt die Wunde zu säubern „-me.“ Irgendwie gelingt es ihr die Schmerzenstränen wegzublinzeln und als sie die Augen öffnet und seinem Blick begegnet schenkt sie ihm ein aufmunterndes Lächeln. Der Ausdruck seiner Augen und die Betroffenheit auf seinen Zügen sind Grund genug um sich jeden weiteren Schmerzenslaut zu verkneifen. Erst als Colevar endlich fertig ist damit ihre Wunden zu säubern und notdürftig zu verbinden lässt sie hörbar die Luft entweichen und schließt einen Moment lang die Augen, bevor sie ihm dann bedeutet sie hinzusetzen, damit sie sich zuerst seine Schulter und anschließend seine Hand ansehen kann. Die Wundversorgung dauert ungewöhnlich lang und immer wieder hält sie inne und wartet bis das leichte Zittern ihrer Hände nachlässt. Die Anstrengungen des Tages, die Aufregung der letzten Stunden und das Fieber fordern ihren Tribut und es kostet Lía immer mehr Kraft sich gegen all diese Faktoren zu wehren. Doch irgendwann ist sie dann doch fertig ohne Colevar unnötige Schmerzen bereitet zu haben, schenkt ihm ein müdes Lächeln, drückt seine Hand und erhebt sich.

Worte sind nicht ausreichend für das was sie Calait zu sagen hat, weshalb sie schweigend die Hände der Älteren ergreift und sie fest drück. „Mein Herz…“, ist alles was sie sagt, doch in diesen wenigen Worten liegt all die Liebe, all die Zuneigung und die ganze Wärme der Jüngeren. Lía will, dass Calait weiß, dass sie sie liebt. Mehr als alles andere. Mehr als ihr eigenes Leben. Ohne sie könnte sie niemals sein. Es ist ihre Zwillingsschwester die ihrem Leben Freude, Farbe und die Lust am Leben verleiht. Bisher war sie nie von ihr getrennt gewesen und der bloße Gedanke daran, lässt die Geräusche der Welt dumpfer werden, die Farben verblassen und die Welt leer und kalt erscheinen. Es vergeht eine kleine Ewigkeit in der Lía einfach nur dasitzt und die Hände ihrer Schwester fest in ihren hält bevor sie schließlich aus ihrer Starre erwacht und einen Blick zu Colevar wirft. Obwohl sie sich nach seiner Nähe sehnt spürt sie, dass sie jetzt Ruhe braucht. Ruhe und Zeit, damit sie alles verarbeiten kann. Wie auf einen stummen Ruf reagierend erscheint Louan plötzlich an ihrer Seite und ihre Hand wandert wie von selbst in das seidige Fell des Luchses, bevor sie sich erhebt und sich etwas von der Feuerstelle entfernt. Zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt nimmt sie nur am Rande wahr wie Calait und Colvar sich leise unterhalten.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 22. Okt. 2009, 22:42 Uhr
Als er nach einem Stück reinen Linnens und etwas Wasser verlangt, ist es natürlich Lía, die aufstehen will, doch er stupst sie nur sacht mit dem Finger auf ihren Sitz auf einem Felsbrocken zurück und hält sie mit einem strengen Blick an ihrem Platz fest. Calait bringt ihm das gewünschte prompt, was er jedoch nicht weiß ist, dass sie das Wasser in der flachen Holzschale mit einem großzügigen Schuss Feuerkehl versehen hat. >Na endlich.< War alles, was sie gesagt hatte, als er mit Lía ans Feuer zurückgekehrt war, und sie hatte nicht nur erleichtert, sondern auch entschieden selbstzufrieden geklungen, ganz so, als wäre sie nicht im mindesten überrascht, weil sie das alles längst geahnt und eigentlich schon viel früher erwartet hat. Und angesichts der Tatsache, dass Calait nun einmal blind ist, hatte er sich in stiller Belustigung gefragt, wie offensichtlich genau es um Himmels Willen eigentlich sein muss. Nun sieht er sich Lías Hände an, deren Wunden zwar weder tief, noch schlimm sind, aber schmerzhaft und voller Schmutz und Erde. An beiden Handballen ist die Haut aufgeschürft und großflächig mit einem Miniaturmuster des Waldbodens verziert, sie hat einen Kratzer im Gesicht und als er ihre Röcke hochhebt, um ihr Knie zu inspizieren, findet er es aufgeschlagen und verunstaltet von einem ordentlichen Bluterguss vor. "Was hast du angestellt?" Will er wissen und kann nicht verhindern, dass seine Stimme ein wenig belegt klingt, trotz des leichten Tonfalls. Ihre nackten Beine und diese jähe Menge glatter, samtweicher honigfarbener Haut direkt vor seiner Nase sind wenig hilfreich, was seine Konzentration auf die Versorgung ihrer Wunden angeht, aber er ruft sich energisch zur Ordnung und beginnt behutsam, ihre Hände auszuwaschen. "Einen Ringkampf mit einem Branbären?" Trotz seiner Vorsicht zischt Lía jedoch vor Schmerz und er hält erschrocken inne. "Was? Hast du dir irgendwo einen Spreißel einge... oh." Noch während er spricht, steigt Colevar der scharfe Alkoholgeruch des Wassers in die Nase und er lächelt bekümmert. "Tut mir leid, Sommersprosse. Wirst du's aushalten?" Sie nickt hastig und versichert auch Calait, die - Blindheit hin oder her - wie der Blitz an ihrer Seite erschienen ist, vermutlich um sicher zu stellen, dass er sie nicht gerade umbringt, dass nichts wäre, dass sie nur gestolpert sei und sie solle sich keine Sorgen machen, es wären nur ein paar Schrammen. Colevar weiß aus eigener Erfahrung, dass Alkohol in Wunden mehr brennt als Feuer, Kautereisen oder glühende Dolchklingen - aber ihr solche Schmerzen zuzufügen ist schlimmer. Lía sieht ihn an, blinzelt die Tränen fort, presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, lächelt tapfer und lässt keinen Laut mehr hören... und er weiß, sie tut es für ihn.

"Sei doch nicht albern, Sommersprosse", meint er leise, "ich bin ein großer Junge, ich halte das schon aus." Sie verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse und er beeilt sich, ihre Wunden zu reinigen und den Bluterguss auf ihrem Knie mit einer Salbe einzureiben, die Calait ihm praktisch im Vorbeigehen, denn Lías Schwester ist schon wieder das Lager in Ordnung zu bringen, aus einer ihrer zahllosen Rocktaschen oder einem ihrer Gürtelbeutel in die Hand drückt. Anschließend ist er an der Reihe und seine Schulter wird versorgt, ebenso wie seine Hand, obwohl es der eindeutig besser geht als dem Baum, und auch der würde es überleben. Sicher, sie tut weh und morgen würden seine Knöchel grün und blau sein, aber sie sind nicht aufgeschürft und er kann die Finger ohne Schwierigkeiten bewegen. Lía reinigt seine Wunde trotz ihrer sichtlichen Erschöpfung und ihren schmerzenden Händen, verkündet leise, alle Maden seien brav wieder ausgezogen und die Entzündung klinge langsam ab - er müsse seinen Arm aber eigentlich viel mehr schonen -, und verbindet dann seine Schulter neu. Als er in sein Hemd zurückschlüpft, wendet sie sich mit einem matten Lächeln und einem sachten Druck ihrer Finger von ihm ab und dreht sich zu Calait um. Colevar beobachtet schweigend, wie sie zu ihrer Schwester tritt, wie sie Calaits schlanke Finger in ihre eigenen, kleinen Hände nimmt und sie ansieht. Er hört ihre Stimme, so schwer und warm vor Zärtlichkeit, er hört ihre Worte und sieht ihren Blick, und das versetzt ihm auf einmal einen Stich, dünn und kalt wie das Eindringen einer Nadel, bittersüß und scharf zugleich. Er hätte alles dafür getan, würde all das ihm gelten... aber das tut es nicht. Es gilt Calait und nur Calait, und zum ersten Mal überhaupt, seit er Lía getroffen hat und ihrer beider Leben so unvermittelt übereinander gestolpert waren und sich dann irgendwie - wie war ihnen das nur passiert? - verheddert hatten, fühlt Colevar sich auch wie der Eindringling in ihrer kleinen Welt, der er nun einmal ist. Mistress Grau erscheint miauend auf der Bildfläche und er erhebt sich mit einem leisen Schnauben von seinem kalten Steinsitz und lässt sich auf seinen Schlafpelzen am Feuer nieder. Sein Magen erinnert ihn knurrend daran, dass er noch keinen Bissen von den Moorhühnern abbekommen hatte, doch ein Blick auf die traurigen Überreste seines Tellers und einen selig vollgefressenen Trold dahinter, macht deutlich, dass sich daran auch nichts mehr ändern wird. Schön. Großartig. Dann eben hungern.

Die Katze rollt sich mit einem Schnurren, das klingt als kratze eine rostige Säge durch Holz auf seinem Schoß zusammen und irgendwann findet er auch Calait an seiner Seite wieder, während Lía und der Valkoinen Ilves sich in die Dunkelheit jenseits des Feuerscheins zurückziehen. Er blickt ihr nach, als sie geht, ziellos und in Gedanken versunken, und obwohl er ihren Wunsch nach ein wenig Alleinsein durchaus verstehen kann, würde er lügen wenn er behauptete, dass ihm das jetzt gerade in diesem Moment nichts ausmache. Sie wandert am Rand des Lagers umher und er kann ihr Gesicht nie sehen, nur ab und an ihren Schattenriss, eine schmale Silhouette vor dem nächtlichen Himmel neben der gedrungenen, pinselohrigen Gestalt des Luchses - aber er weiß, dass sie hin und wieder herübersieht, nachdenklich und... nun ja, vielleicht nicht misstrauisch, aber sicher prüfend. Als wolle sie ihn und alles, was geschehen ist, umkreisen wie ein großes und geheimnisvolles Bauwerk, das man erst von jedem Blickwinkel aus betrachten und über das man nachgrübeln muss, bevor man sich daran wagt, auch das Innere zu erkunden. Wären sie in einer anderen Lage, hätte er es vielleicht ebenso gehalten, aber sie sind es nicht. Ganz abgesehen davon, dass sich seine Arme schrecklich leer ohne sie anfühlen - da gibt es so vieles, das er gern wissen würde, das er fragen will, das er aus ihrem Mund hören möchte und ebenso vieles, das er ihr sagen will und muss, denn sie wissen so wenig voneinander und die Zeit rinnt ihnen unaufhaltsam durch die Finger. Ihnen bleiben nur vier oder vielleicht auch fünf lächerliche Tage - mehr nicht. >Natürlich kannst du.< hatte sie ganz ruhig und sehr eindringlich erwidert, als er ihr gesagt hatte, er könne sie einfach nicht verlassen. Oh, er weiß ganz genau, dass er überhaupt keine andere Wahl hat, doch er ist sich keineswegs sicher, ob er es fertig bringen würde, wenn es soweit wäre. >Es ist ja nicht für immer. Du kannst gehen. Ich folge dir wohin du auch gehst. Noch ist es nicht soweit, doch wenn der Augenblick gekommen ist, dann musst du gehen. Allein. Ich werde deinen Spuren folgen und dich finden. So schnell wie nur irgend möglich. Aber du musst tun, wofür die eigentlich gekommen bist. Ich will nicht, dass du meinetwegen deine Pläne über den Haufen wirfst, hörst du? Das sollst und darfst du nicht. "Musst du so schrecklich vernünftig sein?" Hatte er wissen wollen und trotz ihres Kummers hatten sie beide lächeln müssen. Heute war sie eindeutig die Vernünftigere von ihnen. Sie hat auch gesagt, es ist ihr gleich, wie weit der Weg ist, sie wird dir folgen, erinnert er sich. 'Ich folge dir wohin du auch gehst. Ich werde deinen Spuren folgen und dich finden. So schnell wie nur irgend möglich.' Das waren ihre Worte gewesen und er glaubt ihr. Als sie das gesagt hatte, war er nur ein Atemholen davon entfernt gewesen, sie wider alle Vernunft und Logik zu bitten, mit ihm zu gehen.

Er weiß, dass sie Calait gar nicht zurücklassen kann, blind und allein mit einem Wagen voller Tiere, und das würde er auch niemals von ihr erwarten. Natürlich weiß er es. Himmelgötter, ihm selbst ist der Gedanke zutiefst zuwider. Außerdem ist Lía verdammt nochmal sehr viel sicherer weit, weit hinter ihm und Riku auf dem Frostweg. Aber bei allen Göttern, sie soll wenigstens... wenigstens bei ihm bleiben wollen. Er holt vernehmlich Luft und starrt in die Flammen, auf das dunkle Holz, weiß und rotglühend gerändert und in das gelbe Herz des Feuers. Er weiß, dass Calait darauf wartet, ein Gespräch zu beginnen, denn er kann ihre blinden Augen auf sich spüren. Was immer ihr auf der Zunge liegt, ob Fragen, Worte oder Antworten, flattert stumm und unausgesprochen zwischen ihnen herum wie ein Vogel im Käfig, doch sie drängt ihn nicht und dafür ist er dankbar. Schließlich ist er es, der das Schweigen bricht. "Wenn wir Falkenwacht erreichen, werde ich euch verlassen und allein weiter nach Süden reiten. Lía will mir folgen. Wenn ich... meine Aufgabe erfüllt habe und getan ist, was getan werden muss, dann komme ich zurück und suche euch. Bleibt auf der großen Handelsstraße, dem Frostweg, dann finde ich euch. Aber es wird Monde dauern, vielleicht den ganzen Winter über. Du wirst gut auf sie achten, aye? Das tust du immer, ich weiß, aber..." Seine Stimme ist so rau, als sitze ihm Rost im Hals und die Worte schmerzen in seiner Kehle als hätte er einen scharfkantigen Gegenstand verschluckt. "Nein." Erwidert er, obwohl sie überhaupt nichts gesagt hat, aber er kann ihr die Frage, die ihr auf der Zunge liegt, an der Nasenspitze ablesen. "Nein, habe ich nicht. Sie hätte Nein gesagt. Sie wird dich nie verlassen oder ohne dich sein wollen, das weißt du genau." 'Mein Herz...' Die ganze Tragweite dieser Erkenntnis legt sich wie ein tonnenschwerer Mühlstein in seinen Nacken. Mein Herz... sie hätte Nein gesagt und zwar nicht, weil sie nicht kann, sondern weil sie nicht will. "Aber du bringst sie mir, aye? Bring sie sicher zu mir."
>Und wohin?< ist alles, was sie leise erwidert. Sie sieht ihn nicht mehr an, als spüre sie genau, was in ihm vorgeht und auch diese Erkenntnis ist bitter. Schon wieder. Allmählich reicht es mit der Bitterkeit. In den letzten Tagen hatte er so oft aus diesem Kelch getrunken, dass es für ein ganzes Leben reicht. Wenn mir noch einmal irgendjemand erzählt, wie schön Liebe doch sei, drehe ich ihm den Hals um!
"Talyra," erwidert er ebenso leise und eine Weile herrscht Schweigen am Feuer, während jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nachhängt und Lía noch immer ihre Kreise um das Lager zieht, mal hier, mal dort, wie ein kleiner verirrter Geist der durch die Nacht wandert. Er krault die Rotatkissa auf seinen Beinen sacht unter dem pelzigen Kinn und streicht über ihr seidenglattes Fell. "Erzähl mir etwas über euch, Calait. Irgendetwas. Was immer du willst."      

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 24. Okt. 2009, 14:03 Uhr
Sie gibt sich die allergroesste Muehe die beiden nicht zu stoeren, ohne sich zu weit von Lìa entfernen zu muessen, was verraeterisch an eine Katze erinnert, die um einen Sahnetopf herumschleicht. Natuerlich nur der
sicherheit halber, sollte Colevar vielleicht doch Hilfe benoetigen. Ach, Schwachsinn. du bist nur neugierig, was sie denn jetzt beschlossen haben. Und wohin’s gehen soll. Und wem du dein Schwesterherz jetzt eigentlich eben so dir nichts mir nichts in die Arme gedrueckt hast. Da bekommt ,blindes Vertrauen’ doch gleich eine ganz andere Bedeutung. Ob er auch wirklich keine Kinder hat? Oh, gut, Kinder waeren wohl eher nicht das Problem. Die Mutter koennte Schwierigkeiten bedeuten. Ich muesste beiden das Herz brechen. Lìas symbolisch und Colevars wortwoertlich. Bitte, bitte, bitte, Grossmutter Melaine, Grossvater Riwal, Onkel Erun, Tante Ewen, Tante Nevenou, Onkel Derien, Drel, Meen, Privel, Ninnog und der ganze Recht: Macht, dass Colevar so anstaendig und ehrbar ist, wie ein einsamer, verletzter Krieger, der von umbarmherzigen und grausamen Maennern verfolgt wird - das es moegerlichweise aus gutem Grund passiert, solltet ihr einfach uebersehen - eben sein kann. Nachdenklich haelt sie damit inne, die Schlafstaette herzurichten und lauscht auf den leisen Wortwechsel zwischen Colevar und Lìa, der sich hauptsaechlich darauf beschraenkt, dass ihre Schwester dem grossen Jungen mal wieder ans Herz legt, seine Schulter mehr zu schonen. Es ist ein ungewohntes Gefuehl Lìa so vertraut mit einem anderen Menschen, und dann auch noch einem Mann, zu hoeren. Marka war ein ganz anderes Kapitel gewesen. Ein schweres und langes Kapitel, voller Entbehrungen, Streitigkeiten und Schuldgefuehlen und doch fuer Lìa eines der schoensten. Calait weiss ganz genau, was Lìa fuer die Schamanin, die zugleich ihre Grossmutter ist, empfindet und sie ahnt, wie tief der Verlust der alten Frau wirklich sitzt. Lìa hatte zwar keinen Herzschlag lang gezoegert, als man sie vor die Wahl gestellt hatte und seither auch nie mehr ein wort darueber verloren, aber die blosse Erwaehnung des Namens reicht aus, um sie zum Weinen zu bringen. Anders als bei Colevar, schaffte es Marka aber ohne Muehe, Calait nur mit einer kleinen Geste rasend eifersuechtig zu machen. Wenn sie Lìas Haar gestreichelt, sie “mein Stern” genannt, oder ihr mit einem liebevollen Schimmern in den sonst immer kalten Augen die Bedeutung vom Fluss der Zeiten ausgelegt hatte, war Calait mehr als einmal nahe daran gewesen ihrer Grossmutter die Augen auszukratzen. Natuerlich hatte sie Lìa diese Liebe gegoennt, darum war es nicht gegangen. Calait hatte ihrer Schwester noch nie etwas aus reinem Egoismus vorenthalten, aber Marka - und selbst mit zehn war Calait alt genug gewesen, um das hinterhaeltige Spiel der Alten zu durchschauen - hatte alles daran gesetzt einen Keil zwischen die Schwestern zu treiben. Alles zu Lìas Wohl, doch in diesem Fall hatte Calait nicht klein beigegeben. Und werde ich auch nie. Colevars Anwesenheit und seine Bedeutung fuer Lìa loesen in Calait hingegen nur einen zarten Hauch von Sorge und Wehmut aus, von Eifersuch keine Spur. Colevar gibt ihr auch gar keinen Grund dazu, denn… Er kann sie halten, bei ihr sein, durch sie und mit ihr leben, aber ich werde immer ein Teil von ihr sein. Unsere Seelen sind unzer… Sie hat Lìa nicht kommen hoeren und zuckt erschrocken zusammen, als schmale, kalte Finger die ihren umschliessen. Seidenglatte Haus zwischen rissigen Narbengeflechten, trockenes Verbandslinnen und feuchte Kraeuterpaste und all das umhuellt von einer Duftwolke aus Kamille und Feuerkehl. Calait fuehlt das innerliche Zittern ihrer Schwester, verstaerkt den Druck auf deren schmale Haende, zieht sie ein wenig naeher und lehnt ihre Stirn gegen Lìas. Ihre Schwester hat noch immer Fieber und gerade als Calait sie mit sich nehmen und sie unter die Felle stecken moechte, haucht Lìa leise: ”Mein Herz…” Tief holt Calait Luft, trinkt Lìas Atem und Waerme und lauscht dem Nachhall der Worte, tief in sich, weich wie Samt und berauschend wie voller Sommerwein. Obwohl sie es weiss, tut es so unendlich gut es zu hoeren. Besonders hier und jetzt, wo ihr Leben eine dermassen unerwartete Wendung erfaehrt und so viel Neues ueber sie hereinbricht, dass es schwer ist die Uebersicht zu behalten. Zaerlich nimmt Calait Lìas feingezeichnetes Gesicht zwischen ihre Haende und kuesst deren suesse Nasenspitze so behutsam und vorsichtig, als halte sie papierduennes Rauchglas. Dann laesst sie sie gehen. Wortlos, ohne sich umzudrehen, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Laengst hat sie den Gedanken, Lìa ins ‘Bett’ zu bringen, ueber den Haufen geworfen. Lìa muss erst ein wenig Abstand gewinnen, um Ordnung in ihren Kopf und ihre Gefuehle zu bringen. Keine leichte Aufgabe, wie Calait aus Erfahrung weiss. Vielleicht habe ich mich nicht mit der gleichen Hingabe in Kal Lanar verliebt, wie Lìa in Colevar, aber es war nicht weniger verwirrend und ueberwaeltigend. Insgeheim kommt es ihr auch ganz recht, dass Lìa sich ein wenig zurueckzieht. Jetzt kann sie Colevar ein wenig auf den Zahn fuehlen, was seine Reise und insbesondere sein Ziel angeht. Schliesslich muss ich wissen, wo ich Lìa abzuliefern habe. Vielleicht sollte ich einen Eilboten anheuern. Die Vorstellung, wie Colevar Lìa als Paket verschnuert entgegen nimmt, ist amuesant und bringt Calait zum Grinsen.

Zwischenzeitlich hat sie sich im Schneidersitz am Feuer niedergelassen und etwas Holz nachgelegt. Es ist feucht, brennt schlecht und raucht mehr, als es Waerme spendet. Aber es ist besser als nichts. Kurz darauf suchen die Hunde ihre Naehe. Shirin macht es sich umstaendlich halb neben, halb auf ihren Beinen bequem, die lange, schmale Schnauze gegen ihren Baum gedrueckt. Breur streckt sich unter ihrem rechten Arm zu seiner vollen Laenge und Trõn legt sich in ihren Ruecken. Calait wartet geduldig. Zwar erscheint ihr ein Gespraech fuer dringend noetig, aber sie moechte Colevar auch nicht draengen. Seine Unruhe kribbelt bereits jetzt unangenehm auf ihrer Haut und das Dilemma, das ihn plagt, ist sogar fuer Calait offensichtlich. Jetzt lass ihn ersteinmal verdauen. Gib ihm Zeit darueber nachzudenken. Der letzte Siebentag muss mehr als stressig fuer ihn gewesen sein… und das ist wahrscheinlich die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie hoert ihn geraeuschvoll Luft holen und sichtet sich ein wenig auf, gespannt, was jetzt kommt. ”Wenn wir Falkenwacht erreichen, werde ich euch verlassen und allein weiter nach Sueden reiten. Lìa will mir folgen. wenn ich… meine Aufgabe erfuellt habe und getan ist, was getan werden muss,” Was das wohl sein mag. Ich befuerchte ja, dass das Ende deiner Aufgabe mit dem Tod deiner Haescher inherent, “dann komme ich zurueck und suche euch. Bleibt auf der grossen Handelsstrasse, dem Frostweg, dann finde ich euch. Aber es wird Monde dauern, vielleicht den ganzen Winter ueber. Du wirst gut auf sie achten, aye? Das tust du immer, ich weiss, aber…” ,Aber was?’, haette sie beinahe scharf erwidert und kann es sich gerade noch rechtzeitig verkneifen. Sie kennt die Antwort und will sie nicht hoeren. Als Wachhund bin ich so unnuetz wie ein Stummer als Barde. Und seit langer, langer Zeit zum ersten Mal wuenscht sie sich ihre Sehkraft zurueck, und sei es nur um Colevar ernsthaft versichern zu koennen, dass sie Lìa beschuetzen wird, ohne dass sie dabei wie eine Naerrin klingt. Besser waere es, er wuerde sie mit sich nehmen, er koennte fuer ihre Sicherheit die sorgen. Ob er sie gefragt hat? Vielleicht hat… “Nein.” Verflixt, ertappt. Beschaemt senkt sie den Kopf. ”Nein, habe ich nicht. sie haette Nein gesagt. Sie wird dich nie verlassen oder ohne dich sein wollen, das weisst du genau.” Mein Herz… Ja, Calait weiss es. Besser als Colevar ahnt - und dieses Wissen lastet schwer auf ihren Schultern. Und die Tatsache, dass er augenscheinlich nicht minder daran zu knabbern hat, macht es nicht besser.
”Aber du bringst sie mir, aye? Bring sie sicher zu mir.” “Und wohin?” Es ist nicht nur eine Frage. Es ist auch ein Versprechen und ein weitaus groesseres, als es scheinen mag. Ich werde sie zu dir bringen. Ich werde dafuer sorgen, dass sie gluecklich ist. Ich werde keine Last mehr sein, die sie behindert. Nur den Schatten der Vergangenheit kann ich nicht abstreifen und ich werde wohl auf ewig dazu verdammt sein, Schuldgefuehle in ihr wach zu rufen. Wenn ich daran was aendern koennte, ich wuerde alles dafuer geben.
“Talyra”
, sagt er irgendwann in die entstandene Stille hinein und erntet ein kaum merkliches Nicken. Talyra. Da wollten wir vielleicht hin. In Ordnung, in Ordnung, ich habs verstanden. So ein deutliches Zeichen erkennt sogar eine Shentagsseherin wie ich! Die Finger im Fell der Hunde vergraben und das Gesicht zum Feuer gewandt, geht Calait die Geschehnisse der letzten Tage noch einmal gruendlich durch, auf der Suche nach all den kleinen Hinweisen, die sie bis jetzt uebersehen hat. Als er sie ploetzlich bittet, etwas zu erzaehlen, irgendetwas, voellig egal was, muss sie leise lachen. Oh, vielleicht sollte ich ihm sagen, dass er es mit Pferdedieben und Rufmoerdern zu tun hat, von halbgaren Seherinnen und Streichespielerinnen ganz zu schweigen. Allerdings ist ihr nicht wirklich nach Scherzen zumute und das nicht nur, weil es in ihrer beider Leben eigentlich nichts gibt, was als ,irgendetwas’ bezeichnet werden koennte. Das eine fuehrte stets zum anderen und auf eine Entscheidung folgten fast immer augenblicklich die Konsequenzen. Erst will ihr auch gar nichts einfallen, was sie ihm erzaehlen koennte - obwohl es wissen die Geister genug gibt, aber nichts davon scheint ihr angebracht.
“Colevar…” Unsicher ringt sie die Haende und sucht nach den richtingen Worten, aber sie findet sie nicht. Es dauert noch einen Moment, dann hat sie einen Entschluss und sich ein Herz gefasst. “Du moechtest etwas ueber uns wissen? Dann fange ich am besten ganz vorne an, in der Hoffnung, dass du ihren Entschluss bei mir bleiben zu wollen, besser verstehst.” Sanft, aber nachdruecklich schiebt sie die warmen Hundeleibe zur Seite, ruscht auf Knien zu ihm und tastet nach seinen Haenden. Sie sind gross, warm und rau und die Knoechel seiner Rechten sind dick und geschwollen. Ganz die Heilerin huschen ihre Fingerspitzen fuer einen Moment lang fachkundig darueber hinweg, aber es scheint nichts gebrochen zu sein. “Colevar, Lìa und ich, wir sind nicht einfach Schwestern. Wir sind… eins. Schon sehr viel laenger, als unser Leben bis jetzt andauert. Schau. Unser Volk glaubt, dass zwei Seelen, die sich im Leben so sehr liebten, dass nicht einmal der Tod sie trennen konnte, nicht als Geister in Ealaras warmen Schoss zurueckkehren. Weil dort wuerde alles, was ihre Persoenlichkeit und damit auch ihre Liebe, ausgemacht hat, verschwinden. Stattdessen suchen sie sich gegenseitig in den ewigen Landen hinter den Bergen. Es kann Jahrzehnte, Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende dauern, aber wenn das Band stark genug ist, finden sie in einem Funken Leben wieder zueinander. Und weil sie zwar eins sind, aber doch verschieden, bricht der eine Funke. Auf diese Weise, so glauben wir, entstehen Zwillinge. Seelengebundene. Wahrscheinlich ist es schwer zu verstehen und noch schwerer zu glauben, aber wir…”Mit dem Kinn nickt sie in die Richtung, wo Lìa wie ein einsamer, verlorener Schatten durch das Laub wandelt. Es faellt Calait schwer sitzen zu bleiben, waehrend ihre Schwester sich mit Fragen ueber Fragen plagt, doch da sie keine Antworten hat, unterlaesst sie es zu ihr zu gehen. Stattdessen faehrt sie fort. “Ich bin ein Teil von ihr und sie ist ein Teil von mr. Ein ueberlebenswichtiger Teil, Colevar. Sie ist mein Atem und mein Herzschlag und nur mit ihr bin ich ganz. Deswegen koennen… und wollen wir uns nicht trennen - und ich bin dir dankbar, dass du sie nicht gefragt hast.” Sie hat die Stimme gesenkt, ohne Lìa etwas verheimlichen zu wollen. Aber wenn Colevar sie fragen wuerde, bekaeme er, davon ist Calait ueberzeugt, die genau gleiche Antwort.

Und warum fuehlst du dich dann jetzt so schaebig? Weil du genau weisst, dass er das nicht hoeren wollte. Er ist kein Mann von halben Sachen. Er will sie ganz. Mit Haut und Haar. Es gibt schoenere Methoden Selbstmord zu pflegen, anstatt einem Mann wie ihm zu sagen, dass du die Frau seines Lebens nicht hergeben willst! Nun ist es an ihr, einen tiefen Schluck aus dem Kelch der Bitterkeit zu nehmen, doch so entschieden und direkt wie sie allen Schwierigekeiten und Hinternissen auf dem Weg zu Leibe rueckt, tut sie es auch hier. Leicht neigt sie den Kopf und haelt ihm ihre Haende vors Gesicht, die vernarbten Oberflaechen demonstrativ zu Colevar gewandt. Sie fuehlt seinen Blick darueber gleiten, hinueber zu Lìa, deren Haende und Arme im flackernden Feuerschein nicht minder rot leuchten, als die ihren. “Es gab einmal eine Zeit, wo es genau andersherum und doch gleich war, Colevar”, faehrt Calait fort und schliesst mit einer ausschweifenden Geste das ganze Lager ein: “Ich meine das hier, zwischen dir, Lìa und auch mir. Damals sass Lìa bei einem Mann und versuchte ihm sanft zu erklaeren, dass er mich niemals so ganz und gar haben koennte, wie sie. Das war noch in den Ostlanden. Du musst wissen, unsere… sie Mutter zu nennen faellt mir schwer, aber immerhin schenkte sie uns das Leben. Ihr Name war Nazastra. Sie war eine Resande. Unser Vater, R’un, ist ein Mann vom Wolkenvolk. Frag jetzt bitte nicht, wie sich die beiden kennen gelernt haben… aehm… du hast uns schliesslich auch hier im Nirgendwo angetroffen. Das haben wir ganz eindeutig von Nazastra. Doch zurueck zu den Jahren, als wir in den Ostlanden mit unserer Sippe umherzogen.” Jetzt loest sie sich wieder von ihm und zieht sich ein Stueck ans Feuer zurueck, da ihr trotzt der dicken Kleidung froestelt. Es ist schon tiefste Nacht und der erste Frost glitzert wie feiner Diamantenstaub auf den Blaettern und Nadeln der Baeume. “Dort gab es einen Mann, Kal Lanar, der um meine Hand angehalten hat. Er war ein gewitzter Haendler, ein grossartiger Reiter und mit seiner Zunge so gefaehrlich wie mit seinem Dolch. Ich mochte ihn, auch wenn es am Anfang nicht unbedingt Liebe war. Oh, versteh mich nicht falsch. Kal Lanar war ein guter Mann und ich bin mir sicher, ich haette an seiner Seite sehr gluecklich werden koennen. Er brachte mich zum Lachen und in seinen Armen fand ich Geborgenheit und Waerme. Wir behandelten einander mit Respekt, vertrauten uns und wird haetten bis zu unserem Ende, aehm, sehr viel Spass miteinander haben koennen. Konnten wir.” Das katzenhafte Grinsen in ihren Mundwinkeln spricht seine eigene Sprache und lachend schuettelt sie den Kopf, um sich auf die Erzaehlung zu besinnen. “Aber egal wie nahe er mir kam, Lìa stand mir immer naeher und wissen die Ahnen, das sorgte am Anfang sehr oft fuer Streitigkeiten. Es war nicht so, dass er Lìa nicht mochte, ganz im Gegenteil. Er war nur schrecklich eifersuechtig, weil ich niemals ganz und gar ihm gehoerte und es auch nie tun wuerde. Es ging nicht, geht nicht und wird nie gehen. Irgendwann hat Lìa die Sache in die Hand genommen, und es ihm mit ihren Worten erklaert und meine Schwester kann in ihrer Unschuld sehr ueberzeugend sein. Von diesem Moment an schien er es akzeptiert zu haben, auch wenn ich sicher bin, wir haetten nach der Hochzeit noch mehrere Diskussionen gehabt.” Kurz haelt sie inne. Um Luft zu schnappen, aber auch um sich im Wirrwarr dessen, was nun folgt, zurecht zu finden. Alles liegt viele Jahre zurueck, aber leider reichen die Folgen bis ins Hier und Jetzt. Sie klingt gefasst, als sie weiter spricht, ohne dass sie sich grossartig darum bemueht die Trauer, die in ihrer Stimme mitschwingt, zu unterdruecken. “Aber das habe ich nie herausgefunden, denn er starb in der Nacht vor unserer Hochzeit. Ein Sturm war ueber das Land hinweggefegt und ein Blitz muss ins Gras eingeschlagen haben. Der Sommer war sehr trocken gewesen, der Herbst wenig regenreich und die Steppe daher ausgedoerrt und trocken. Dazu stand der Wind unguenstig. Das Feuer kam so schnell, dass es uns im Schlaf ueberraschte. Lìa hat mich damals gerettet. Kal Lanar hingegen… ist verbrannt, bei dem Versuch mir zu Hilfe zu eilen. Uns blieben nur diese Narben.” Das ist eine Luege und er weisses! Unbewusst ballt sie die Haende zu Faeusten, so fest, dass ihre Knoechen weiss hervortreten. “Da sein Tod meine Schuld gewesen ist, wurde ich ausgestossen und verbannt, aber Lìa… Sie ist mir gefolgt, Colevar, obwohl sie dort gluecklich gewesen ist. Sehr gluecklich. Aber alles Glueck der Welt nuetzt uns beiden nichts, wenn wir nicht zusammen sind.”

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 24. Okt. 2009, 16:16 Uhr
Es ist ein seltsames Gefühl sich plötzlich mit einem besorgten Gesicht konfrontiert zu sehen, das nicht Calaits ist. Es ist nicht etwa so, dass sich nie jemand Sorgen um Lía gemacht hätte. Im Gegenteil, es grenzt an ein Wunder, dass ihr Vater ruhig schlafen kann und auch Savvas und ihre Großmutter hätten sie wohl am Liebsten in eine Decke gepackt und immer und überallhin mitgenommen um auch ja sicher zu gehen, dass ihr nichts passiert. Sie kann sich gar nicht mehr daran erinnern wie oft ihre Familie sie gescholten hat für ihre Gutgläubigkeit und ihre Vertrauensseligkeit, oder dafür, dass sie das Wohl anderer immer vor ihr eigenes stellt. Louan ist wohl mit einer der Gründe, dass ihr Vater und auch Calait ihr nicht auf Schritt und Tritt folgen. Ein Lächeln huscht über ihre Züge bei dem Gedanken an ihre Familie, verschwindet jedoch recht schnell wieder als der Luchs seinen mächtigen Kopf unter ihre Hand drückt und genießerisch grollt als sie ihn hinter den Ohren zu kraulen beginnt. Er ist alt. Sehr alt für einen Vertreter seiner Art und er wird leider nicht jünger. Lía ist durchaus bewusst, dass ihr Schutztier nicht ewig leben wird, doch sie denkt nicht darüber nach was danach sein wird. Einmal nur hatte ihre Schwester versucht das Gespräch darauf zu bringen, Lía darauf vorzubereiten, doch es hatte im Desaster geendet. Für die Jüngere ist es einfach undenkbar, dass der Luchs plötzlich nicht mehr an ihrer Seite sein soll. Der Tag würde kommen, irgendwann und sie weiß wirklich nicht was danach werden soll. Als spüre er ihre Gedanken blicken goldgelbe Augen sie plötzlich eindringlich an, so als wolle er sagen: „Hier bin ich. Noch erfreue ich mich bester Gesundheit – also zerbrich dir nicht den Kopf“ Leise lachend greift sie mit beiden Händen in sein Fell und vergräbt ihr Gesicht darin. „Du hast Recht“, stimmt sie leise zu und atmet tief ein.

Als Calait schließlich das Gewünschte bringt richtet Louan sich zu seiner vollen Größe auf und beobachtet jede noch so kleine Bewegung Colevars und als Lía schmerzerfüllt aufwimmert lässt der weiße Luchs ein kehliges Grollen vernehmen belässt es jedoch vorerst bei der Warnung. "Einen Ringkampf mit einem Branbären?" Bei diesen Worten blitzt es belustigt in ihren Augen auf und sie schüttelt den Kopf. „Nicht ganz. Ich habe mich todesmutig mit einem Stein angelegt“, erklärt sie und muss über ihre eigene Unachtsamkeit lachen. Sie sieht ihn an, lange und eingehend, ohne ein Wort zu sagen und plötzlich verändert sich ihre Miene. Das war es wert. Ihr Ahnen, ich hätte selbst den Bären in kauf genommen.
"Tut mir leid, Sommersprosse. Wirst du's aushalten?" Lía beeilt sich zu nicken und lächelt tapfer. „Ja. Gleiches Recht für alle. Jetzt bist du mal dran“, meint sie etwas gepresst und sieh ihm fest in die Augen. Sie kann nicht leugnen, dass der Alkohol in der Wunde brennt wie Feuer, aber da es eben sein muss würde sie sich auch nicht beschweren. Mal abgesehen davon, dass sie mehr aushalten konnte als Colevar zu glauben schien; nicht dass sie es unbedingt darauf anlegte…

"Sei doch nicht albern, Sommersprosse ich bin ein großer Junge, ich halte das schon aus."
Ihr aufmunterndes Lächeln misslingt ihr gehörig, da er gerade in dem Moment wieder dazu ansetzt ihre Wunde zu reinigen, aber immer noch verkneift sie sich verbissen jeden Schmerzenslaut. Dafür hat Louan sich mittlerweile auf dem feuchten Boden zusammen gekauert, den großen Schädel zwischen die Pfoten gelegt, so als könne er sich das nicht länger mit ansehen, und winselt leise. „Ich auch“, erklärt sie amüsiert, wenn auch mit belegter Stimme.
Als Colevar schließlich fertig damit ist sich um ihre zahlreichen Schrammen zu kümmern ist es nun an Lía sich seine Wunden anzusehen und obwohl seine Schulter eigentlich gut verheilt, kann sie dennoch ein Seufzen nicht ganz unterdrücken. „Du solltest die Schulter wirklich schonen.“, meint sie sanft obwohl sie weiß, dass es sinnlos ist. Zärtlich tasten ihre Finger über seine Haut, wandern über seinen Arm, befühlen seine Schulter. „Die Entzündung klingt langsam ab und sie scheint gut zu verheilen“, als sie Colevars breites Grinsen sieht beeilt sie sich allerdings hinzuzufügen „- aber das bedeutet nicht, dass sie gesund ist. Wenn du sie schon nicht ruhig halten kannst dann schon sie doch wenigstens.“ Lías Ton erinnert an den Ton in dem man für gewöhnlich einem kleinen Kind nun schon zum hundertsten Mal erklärt warum es denn nicht vom Scheunendach springen darf: streng aber geduldig mit einem Hauch von Ärger aber auch Verständnis.

Calait erwidert ihre Geste und in stummem Verständnis sitzen die Schwestern sich eine kleine Ewigkeit einfach gegenüber bis die Ältere Lía schließlich zu sich zieht und ihr einen Kuss aufdrückt. Obwohl sie es weder sehen noch hören kann weiß Lía, dass sie weint weshalb sie Calait die dunklen Locken aus dem Gesicht streicht und ihre Stirn an die ihrer Schwester lehnt. „Nicht…“, ist alles was sie sagt. Es vergeht noch eine ganze Weile bis Lía sich endlich erhebt und der Feuerstelle und somit auch sowohl Calait als auch Colevar den Rücken kehrt. Sie braucht einfach Zeit um ihre Gedanken und Gefühle ordnen. Und sie weiß, dass ihre Schwester ebenfalls noch einiges mit Colevar zu besprechen hat und das wird sie nicht in ihrer Gegenwart tun. Während sie, Louan, ihr stetiger Begleiter, an ihrer Seite, ziellos durchs Lager schlendert wandert ihr Blick immer wieder zurück zur Feuerstelle. Vier Tage. Vielleicht fünf. Ihnen bleibt so wenig Zeit. So wenig Zeit gemeinsam aber dafür erwartet sie eine Ewigkeit in der sie getrennt sein würden. Lías Augen sind dunkel vor Schmerz und Kummer. Die Schwestern hatten schon so einiges einstecken müssen und viel verloren. Auch Lía. Aber sie hatte sich nie, nicht ein einziges Mal beschwert, nicht ein Wort war über ihre Lippen gekommen. Sie hatte ihr Päckchen immer stillschweigend getragen, doch jetzt wo sie sich erneut damit konfrontiert sieht von jemandem getrennt zu werden an dem ihr ganzes Herz hing…zweifelt sie daran, ob sie wirklich weiterhin ihr Herz auf diese Art und Weise prüfen kann? Warum ist es ihr nicht gegönnt bei den Menschen zu bleiben die sie liebt? Aber das stimmt so nicht. Im Gegensatz zu vielen einsamen Menschen hat Lía etwas sehr wertvolles: Calait. Calait ist ihr Leben, sie braucht die Ältere ebenso wie die Luft zum Atmen. Doch…Colevar ist immer noch in Sichtweite und doch erscheint es ihr als würden sie Welten trennen und sie spürt wie sich eine erdrückende Last auf ihre kleine Brust legt und ihr den Atem raubt. Sie würde alles drum geben gäbe es eine andere Möglichkeit. Aber sie weiß, dass er gehen und sie bleiben muss. Sie kann ihn nicht begleiten. Es geht einfach nicht. Und sie ist froh, dass er sie nicht darum gebeten hat, denn sie weiß nicht wie sie einem Außenstehenden das so erklären konnte, dass er auch wirklich verstand. Als sie sich mit einer fahrigen Geste über die Augen fährt, hält sie einen Moment inne und betrachtet zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder bewusst ihre Narben. Wenigstens geht er nicht für immer… Allein bei dem Gedanken ihm könne etwas zustoßen beginnen ihre Hände zu zittern und ihr Herz setzt ein paar schmerzhafte Schläge einfach aus. Doch dann gelingt es ihr irgendwie diesen Gedanken von sich zu schieben. Das durfte und würde nicht passieren! Erneut wandert ihr Blick zu dem großen Mann am Feuer. Es fällt Lía so unsagbar schwer ihn ziehen zu lassen, nicht zu versuchen ihn mit aller Macht davon abzuhalten sie allein zu lassen. Aber sie besitzt so etwas wie Integrität. Sie baut nicht zuerst Mist und versucht es dann wieder geradezubiegen, sondern sie versucht von vornherein das Richtige zu tun. Und obwohl sich alles in ihr gegen den Gedanken sträubt, so ist ihre Entscheidung doch richtig. Sie hat nicht das Recht dazu sein ganzes Leben durcheinanderzubringen….auch wenn es dafür vermutlich längst zu spät ist…Colevar scheint ihren Blick zu spüren, denn er dreht sich plötzlich um und sieht in ihre Richtung. Lía weiß nicht ob er ihren traurigen Blick in der Dunkelheit erkennen kann aber sie lächelt trotzdem. Als er mit einer geschmeidigen Bewegung aufsteht und auf sie zu kommt hält sie den Blick fest auf ihn gerichtet und streckt ihm wortlos die Hand entgegen als er sie erreicht. Auch er hüllt sich in Schweigen, als er sich neben ihr niederlässt und sie wie selbstverständlich näher zu ihm rutscht und sich an ihn kuschelt. Obwohl es sich so richtig anfühlt irritiert es sie doch zutiefst. Keiner, weder bei ihrem Vater noch bei den Resande hatte jemals jemand mit ihr über einen Mann oder gar Heirat gesprochen. So als wäre es selbstverständlich, dass sie sich nicht dafür interessiert. Denn am Interesse von Seiten der Männer aus hatte es beileibe nicht gemangelt. Leider war ihr das nie aufgefallen. Wie so vieles andere verstand sie auch das nicht. Lía erinnert sich noch gut daran, wie ihr Vater Ran grün und blau geschlagen hatte als dieser seine jüngste Tochter unter dem fadenscheinigen Vorwand ein verletztes Tier gefunden zu haben gelockt hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass sie mit nichts als einem gehörigen Schrecken davon gekommen war. Leider nicht das letzte Mal und sie hatte es sich auch nicht nehmen lassen Rans Wunden zu versorgen wofür Calait ihr gehörig den Kopf gewaschen hatte, aber Lía war ihm nicht böse. Ran war ein guter Kerl und daran hatte auch dieser kleine Zwischenfalls nichts ändern können. Und nun war sie hier. Mit ihm und all diesen Gefühlen die plötzlich aus dem Nichts gekommen sind und sie so zu überwältigen drohen. Niemand hatte sie darauf vorbereitet. Lía war nicht darauf vorbereitet gewesen, doch da war sie vermutlich nicht die Einzige. Colevar macht auch nicht den Eindruck als hätte er wirklich damit gerechnet. Insgeheim fragt sie sich ob er es bereut. Es wäre alles soviel leichter für ihn, wenn er…aber es ist nun mal wie es ist

Gedankenverloren spielt sie mit den Fingern seiner gesunden Hand während Louan die beiden umtigert, so als wolle er sich davon überzeugen, dass sie das diesmal auch ja ohne Drama auf die Reihe kriegen. Schließlich lässt sie seine Hand los, greift unter den rauen Stoff ihres Hemdes und befördert ein kleines silbernes Amulett in welches ein kleiner blauer Stein eingearbeitet ist ans Licht. Sie hängt sehr an dem Amulett. Dieses Geschenk ihrer Großmutter ist das einzige was sie noch mit ihrem Leben bei den Resande verbindet. Und es ist das einzige was ihr von der Schamanin noch bleibt. Obwohl sie das Schmuckstück niemals ablegt trägt sie es meistens unter ihrer Kleidung verborgen, denn trotz der Blindheit ihrer Schwester schämt sie sich dafür so an dem Amulett zu hängen, grenzt es für Lía doch an Verrat. Dennoch löst sie jetzt vorsichtig den Verschluss und legt das Amulett vorsichtig in Colevars Hand und schließt seine Finger darum. „Das ist alles was mir von meiner Großmutter geblieben ist.“, ist alles was sie sagt. Wenn sie ihn schon nicht selbst begleiten kann, dann wenigstens etwas, das ihn niemals vergessen lässt, dass ihr Herz bei ihm ist. „Ich möchte, dass du es behältst und…erwähn es bitte nicht in Calaits Gegenwart. Sie weiß nichts davon und das soll auch so bleiben. Eigentlich sollte ich den Anhänger gar nicht tragen…“, ihre Stimme wird zum Ende hin immer leiser und stirbt schließlich ganz ab.
„Colevar, pass auf dich auf, ja? Dir darf nichts passieren. Ich kann dich nicht verlieren, hörst du?“ Zu oft schon hatte sie sich für immer von geliebten Menschen verabschieden müssen. Er sollte kein weiterer sein.

Louan schiebt seinen Kopf auf ihre Knie während Lía gegen Colevar gelehnt da sitzt und in den Nachthimmel blickt. Calaits Worte gehen ihr durch den Kopf und obwohl sie selbst längst weiß, dass er gefährlich ist kommt erst jetzt zum ersten Mal in ihr die Frage auf ob sie dem gewachsen ist. Lía weiß, dass er ein guter Mensch ist und nichts was er sagt oder tut kann daran etwas ändern, aber ist sie tatsächlich stark genug die ganze Wahrheit zu verkraften? In diesem Moment trifft sie eine Entscheidung. Eine wichtige Entscheidung die sie alles kosten könnte, aber das ist ihr gleich. Sie würde es wagen und nichts und niemand könnte sie daran hindern.



Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 25. Okt. 2009, 00:40 Uhr
Als er sie bittet, ihm irgendetwas über Lía und sie zu erzählen, lacht Calait und ein paar Herzschläge lang ist es ein fröhlicher Laut, ehe es verstummt und wieder ihrer Unruhe von eben Platz macht. >Colevar...< ihr drängender Tonfall lässt ihn aufblicken und er kann sehen, wie es in ihrer Miene arbeitet und sie nach Worten sucht. >Du möchtest etwas über uns wissen? Dann fange ich am besten ganz vorne an, in der Hoffnung, dass du ihren Entschluss, bei mir bleiben zu wollen, besser verstehst.< Sie schiebt die Hunde zur Seite, die sich um sie geschart hatten, krabbelt über Schlafpelze und Tiere hinweg bis sie dicht vor ihm kniet und sucht seine Hände auf dem warmen Katzenleib mit ihren. Einen kurzen Augenblick tasten ihre Finger prüfend über seine geschwollene Rechte, doch dann lässt sie einfach ihre narbigen Hände auf seinen ruhen. Mistress Graus Schnurren wird einen Moment fragend, aber dann legt die Rotatkissa nur den pelzigen Schädel zurück auf die Pfoten und schließt wieder die Augen. >Colevar, Lía und ich, wir sind nicht einfach Schwestern. Wir sind... eins,< beginnt sie inständig zu erklären und er hört ihr sehr genau zu. >Schon sehr viel länger, als unser Leben bis jetzt andauert. Schau. Unser Volk glaubt, dass zwei Seelen, die sich im Leben so sehr liebten, dass nicht einmal der Tod sie trennen konnte, nicht als Geister in Ealaras warmen Schoss zurückkehren. Weil dort alles, was ihre Persönlichkeit und damit auch ihre Liebe, ausgemacht hat, verschwinden würde. Stattdessen suchen sie sich gegenseitig in den ewigen Landen hinter den Bergen. Es kann Jahrzehnte, Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende dauern, aber wenn das Band stark genug ist, finden sie in einem Funken Leben wieder zueinander. Und weil sie zwar eins sind, aber doch verschieden, bricht der eine Funke. Auf diese Weise, so glauben wir, entstehen Zwillinge. Seelengebundene. Wahrscheinlich ist es schwer zu verstehen und noch schwerer zu glauben, aber wir...< Sie nickt in Richtung ihrer Schwester und sein Blick wandert wie von selbst zu Lías Schattengestalt am Rand des Lagers, ihr Gesicht im Dunkeln verborgen, denn der Mond ist hinter ihr. Der Nachtwind weht durch die Bäume auf dem Hügelkamm über den Felsvorsprüngen und murmelt in den Kiefern auf dem Hang. Irgendwo weit entfernt in den schwarzen Hügeln schreit ein Berglöwe. Es klingt wie eine Frau. >Ich bin ein Teil von ihr und sie ist ein Teil von mir. Ein überlebenswichtiger Teil, Colevar. Sie ist mein Atem und mein Herzschlag und nur mit ihr bin ich ganz. Deswegen können... und wollen wir uns nicht trennen - und ich bin dir dankbar, dass du sie nicht gefragt hast.< Einer seiner Mundwinkel zuckt und er hätte beinahe erwidert, dass er Lía nicht um ihretwillen nicht gefragt hatte, schluckt die Worte jedoch ungesagt wieder hinunter. Es spielt keine Rolle, warum, für sie alle läuft es auf dasselbe hinaus: Lía und er werden sich trennen müssen, obwohl sie sich gerade erst gefunden haben, und wenn sie auch nur ansatzweise das gleiche für ihn empfindet, wie er für sie, bedeutet dass, dass sie sich das Herz aus der Brust reißen und ohne es auskommen muss. Zumindest für eine Weile. Möglicherweise eine lange Weile. Die Trennung ist ein Abgrund der Verzweiflung der vor ihnen gähnt und es würde seine Spuren hinterlassen, sich hineinzustürzen, bei ihm wie bei ihr. Außerdem versteht er vollkommen, was Calait ihm sagen will, das heißt aber nicht, dass er dasselbe glaubt oder jedes ihrer Worte als gegeben hinnimmt.

Er schüttelt sacht den Kopf, was sie zwar nicht sehen kann, aber vielleicht spürt sie die Bewegung, so nahe, wie sie vor ihm sitzt. "Ihr seid beide ein Teil der anderen, das weiß ich längst." Ihre Worte haben ihn sehr, sehr nachdenklich werden lassen, aber sie schrecken ihn nicht im Mindesten, weil er weiß, dass sie, ganz gleich, was ihr Volk glauben mag, nicht wahr sind. Und selbst wenn - na und? Was spricht dagegen, dass sie ihr Leben Seite an Seite verbringen? Er kennt zahllose Brüder, Schwestern, Mütter, Töchter, Väter und Söhne, die das auch tun und noch nicht einmal Sorisgesegnete sind. "Es ist eine schöne Legende, Calait", fährt er sehr leise und ernst fort. "In meinen Augen hat sie nur einen Haken. Ealara oder die Götter, wie immer du willst, haben Frauen und Männer erschaffen. Was für ein armseliges Dasein muss es für zwei Seelen sein, die sich so lieben, wenn sie nicht in den passenden Körpern und dazu noch als Geschwister wieder geboren werden? Wenn du mich fragst", jetzt lächelt er wirklich, aber es ist ein melancholisches Lächeln, "dann ist das eine Strafe und keine Belohnung." Das bringt sie nun doch zum Nachdenken, jedenfalls glaubt er in ihrer Miene so etwas wie... nun ja, vielleicht nicht unbedingt Betroffenheit, aber doch etwas sehr ähnliches zu entdecken. "Calait..." fährt er leise fort und neigt sich ein wenig zu ihr, berührt ihr Gesicht, fährt die Konturen ihrer Wangenknochen nach, nimmt ihr Kinn zwischen seine Finger und hebt ihren Kopf leicht an. Es ist eine sehr, sehr sanfte Geste, aber rein brüderlich. Sie sieht haargenau so aus wie Lía: die gleichen eleganten Formen der leichten Knochen, derselbe Mund, die geschwungene Linie der Kiefer, sie haben sogar die gleiche Anzahl von Sommersprossen auf Kinn, Nase, Wangen und Stirn in derselben goldbraunen Farbe mit den selben, winzigen unregelmäßigen Umrissen - trotzdem fühlt sie sich vollkommen anders an und er empfindet nichts außer Freundlichkeit. Wenn er noch irgendeinen Beweis gebraucht hätte, dass ihre Legende, ganz gleich was ihr Volk glauben mag, nicht wahr sein kann, dann diesen. "Ihr seid Schwestern, mehr noch, Sorisgesegnete. Ihr habt euch schon den Mutterschoss geteilt und euer ganzes Leben Seite an Seite verbracht, natürlich seid ihr miteinander verbunden. Ihr gleicht euch wie ein Ei dem anderen und in euren Adern fließt dasselbe Blut... aber eins seid ihr nicht. Wenn es so wäre, wie du sagst, dann müsste ich dich ebenso lieben, wie Lía und ich müsste dich genauso begehren - und das tue ich nicht. Und du müsstest ebenso für mich empfinden wie sie, und auch das tust du nicht."

Colevar nimmt seine Hand von ihrem Gesicht und lehnt sich zurück, Mistress Grau noch immer auf seinen Beinen und die Katze streckt sich, völlig unberührt von der ganzen Dramatik um sie her, der Länge nach aus. Calait lässt den Kopf sinken, hebt ihre Hände, die Narben betont nach oben gewandt und er sieht sie an. Sie trägt die gleichen Brandmale wie Lía. >Es gab einmal eine Zeit, wo es genau andersherum und doch gleich war, Colevar,< spricht sie weiter. >Ich meine das hier, zwischen dir, Lía und auch mir. Damals saß Lía bei einem Mann und versuchte ihm sanft zu erklären, dass er mich niemals so ganz und gar haben könnte, wie sie...< Er unterbricht sie kein einziges Mal, während sie von ihrer abenteuerlichen Herkunft, ihrer Mutter, ihrem Vater und schließlich, fröstelnd und so nahe am Feuer wie nur irgend möglich, von jenem Mann erzählt, dem sie sich versprochen hatte. >Ich mochte ihn, auch wenn es am Anfang nicht unbedingt Liebe war. Oh, versteh mich nicht falsch. Kal Lanar war ein guter Mann und ich bin mir sicher, ich hätte an seiner Seite sehr glücklich werden können. Er brachte mich zum Lachen und in seinen Armen fand ich Geborgenheit und Wärme. Wir behandelten einander mit Respekt, vertrauten uns und wird hätten bis zu unserem Ende... ähm, sehr viel Spaß miteinander haben können. Konnten wir.< Sie schmunzelt leicht, aber alles, was er bei diesen Worten denken kann, ist, dass hier gerade alles mögliche aus ihr spricht, aber nicht Leidenschaft. Jedenfalls nicht so, wie sie sein sollte und was immer dieser Kal Lanar für Calait gewesen ist, die Liebe ihres Lebens war er nicht. >Aber egal wie nahe er mir kam, Lía stand mir immer näher und wissen die Ahnen, das sorgte am Anfang sehr oft für Streitigkeiten. Es war nicht so, dass er Lía nicht mochte, ganz im Gegenteil. Er war nur schrecklich eifersüchtig, weil ich niemals ganz und gar ihm gehörte und es auch nie tun würde. Es ging nicht, geht nicht und wird nie gehen...< Colevar wartet geduldig, bis sie zu Ende gesprochen hat, obwohl seine linke Braue sich bei jedem ihrer Worte ein winziges Bisschen weiter hebt. Oh, er weiß genau, dass er ein besitzergreifender Mann ist, und wenn er etwas von Calaits Meinung über ihn und die halben Sachen geahnt hätte, hätte er ihr vermutlich vorbehaltlos zugestimmt. Aber er ist nicht Kal Lanar und nach allem, was er bisher gehört hat, war  zwischen diesem Mann und Calait auch nicht unbedingt das, worauf er eine Ehe gegründet hätte. Noch nicht einmal Liebe. Er will nicht behaupten, dass Calait und dieser Mann sich nicht geliebt hätten und für viele mag Zuneigung, Wärme, Respekt und Spaß zwischen den Fellen vollkommen genug sein, aber nicht für ihn. Wäre es so, hätte er längst irgendeine Frau gefunden und ein paar Kinder in die Welt gesetzt. Vielleicht war der Kerl auch einfach nur ein Narr. Oder aber..., überlegt er  weiter und dieser Gedanke hat etwas an sich, das ihn irgendwo im Hinterkopf nicht mehr los lässt, ... er hat in Calaits Herz einfach nicht den Platz einnehmen können, den ein Mann dort einnehmen sollte. Und wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass es einfach nicht genug war... Nun, anderen die Schuld zu geben ist einfacher, als sich selbst bittere Wahrheiten einzugestehen, nicht wahr?

>Aber das habe ich nie herausgefunden,< ergreift Calait schließlich wieder das Wort, ruhig, aber hörbar bekümmert, >denn er starb in der Nacht vor unserer Hochzeit.< Sie erzählt in einfachen, schlichten und daher umso eindringlicheren Worten, wie sie den Mann verloren hat, dessen Frau sie werden wollte und was dann geschah. >Lía hat mich damals gerettet. Kal Lanar hingegen... ist verbrannt, bei dem Versuch mir zu Hilfe zu eilen. Uns blieben nur diese Narben. Da sein Tod meine Schuld gewesen ist, wurde ich ausgestoßen und verbannt, aber Lía... Sie ist mir gefolgt, Colevar, obwohl sie dort glücklich gewesen ist. Sehr glücklich. Aber alles Glück der Welt nützt uns beiden nichts, wenn wir nicht zusammen sind.< Einen Moment lang blinzelt er und glaubt ernsthaft, sich verhört zu haben. Ihre Schuld? Wie kann ein Steppenbrand nach einem Blitzschlag bei einer Dürre ihre Schuld gewesen sein? Er öffnet schon den Mund, um nachzufragen, doch dann schließt er ihn unverrichteter Dinge wieder. Vermutlich sind ihr die Worte einfach so entschlüpft, ohne dass ihr bewusst gewesen wäre, dass sie Fragen nach sich ziehen könnten, die vielleicht zu Dingen führen würden, die sie noch nicht bereit ist, preiszugeben. "Das tut mir leid", erwidert er also nur und meint damit alles zugleich - den Tod Kal Anars, ihre Verbannung und den Verlust geliebter Menschen. Eine Weile schweigen sie beide, doch die Stille dauert nicht lange. Colevar legt einen trockeneren Ast nach und das Feuer lodert nach einem Moment heftigen Qualms und Rauch wieder heller. "Du glaubst, ich bin eifersüchtig? Warum sollte ich? Du bist schließlich nicht ihre Geliebte." Diesmal liegt das Katzengrinsen auf seinem Gesicht, aber dann wird er ernst. "Ah, Calait, Calait... du weißt genau, was ich von ihr will und wenn du ein Mann wärst, würde ich dir den Hals brechen, mein Wort darauf. Aber du bist nun einmal ihre Schwester und ich kann dir versichern, ihr Bruder will ich nicht sein. Nein, hör mir zu..." Er holt tief Luft und sucht einen Moment nach Worten um ihr etwas, das er tief in seinem Inneren weiß, so sicher und unverbrüchlich, wie er weiß, dass die Sonne im Osten aufgeht, zu erklären und es ihr begreiflich zu machen, so dass sie es versteht. "Wenn Lía... wenn sie ein Kind hätte", beginnt er und der Vergleich ist vielleicht ein wenig wacklig, denn Lía ist unberührt und Calait nun einmal ihre Schwester, aber er trifft den Kern der Sache sehr gut, "dann wäre dieses Kind doch auch ein Teil von ihr und würde untrennbar zu ihr gehören, aye? Und wenn ich mich auf sie einließe und sie sich auf mich, dann müssten wir damit genauso leben. Du gehörst zu ihrem Leben, zu ihr und ja, du bist ein Teil von ihr - das ist auch vollkommen in Ordnung so. Ich werde mich nicht mit dir um den besten Platz in ihrem Herzen streiten, Calait. Entweder es ist groß genug für uns beide - oder eben nicht. Was ich... was ich ihr bedeuten will, worauf ich Anspruch erhebe, wenn du es so nennen möchtest, mag von der gleichen Stärke und demselben Gewicht sein, aber es hat eine absolut andere Essenz."

Er fährt sich mit der Hand über die Stirn und die Bewegung schreckt die Katze auf, die sich streckt, von seinen Beinen spaziert, noch einmal streckt und dann in der Dunkelheit verschwindet, um sich irgendwo ein fettes Hörnchen oder ein unvorsichtiges Kaninchen zu fangen - Ratten sind eher rar in den Wäldern Savos und von einer Maus würde sie kaum satt werden. "Du kannst sie nicht verlieren, Calait, ebenso wenig wie sie dich. Finnán", spricht er leise weiter und atmet hörbar aus. "Mein Bruder. Er ist tot, er starb als er gerade einen halben Tag alt war, zusammen mit meiner Mutter, die seine Geburt nicht überlebt hat. Ich war vier, nein - fünf. Ich habe ihn nie kennengelernt. Aber er ist mein Bruder und das wird er immer sein. Einen Bruder oder eine Schwester, eine Mutter oder einen Vater - oder ein Kind -, kann man nicht verlieren, Calait. Es ist unmöglich. Ganz gleich was auch geschieht oder wie weit man sich entfernt, es wird immer ein Bruder oder eine Schwester, ein Vater oder eine Mutter - oder ein Kind - bleiben. Blut verbindet, Familie ist Familie, Clan ist Clan. Und ich kann mir vorstellen, dass diese... unsichtbare Nabelschnur, wenn du so willst, bei Sorisgesegneten noch viel stärker ist. Einen Mann oder eine Frau dagegen kann man verlieren. Zwischen zwei Menschen kann ein starkes Band bestehen, aber es ist keines, das einem einfach so in die Wiege gelegt wird, sondern eines, um das man sich täglich neu bemühen muss, eines, an dem man immer weiter knüpft, bis es stark und fest ist oder eben nicht - dann geht es auseinander und löst sich auf wie ein schlecht gedrehtes Seil. Sie wird bei dir bleiben. Es hat viele naheliegende Gründe, nicht nur den, dass sie es nicht anders will. Aber ich habe sie weder um deinet- noch um meinetwillen nicht gebeten, mich zu begleiten, sondern um ihretwillen. Sie ist sicherer bei dir, auch wenn es ihr das Herz brechen wird." Und meines dazu. "Am liebsten würde ich..." er zuckt hilflos mit den Schultern und schluckt so hart, dass es in seinem Hals arbeitet, "doch das ist einfach nicht möglich. Ich habe mein Wort gegeben und ich werde euch nicht in Gefahr bringen. Ich würde sie entsetzlich gern mit mir nehmen, Calait, wenn es nur irgendwie machbar wäre, weil es einfach die Hölle sein wird, so lange von ihr getrennt zu sein. Es geht nicht. Es ist unmöglich. Aber für all diese Zeit verliere ich sie, verstehst du? Ich verliere sie so lange unsere Trennung dauert und niemand, nicht die Götter, nicht die Ahnen oder die Geister und auch nicht Lía können mir versprechen, dass ich sie wiederbekommen werde. Weil niemand sagen kann, was in dieser Zeit und auf dem Weg alles geschehen kann." Ich könnte sterben. Sie könnte krank werden und sterben. Sie könnte getötet werden. Ihr könnte Schreckliches zustoßen... "Was mir ein wenig zu schaffen macht, Calait, ist einfach die Tatsache, dass sie unbedingt bei jemandem bleiben will, den sie überhaupt nicht verlieren kann." Er lächelt traurig und holt noch einmal Luft, sehr langsam und sehr tief. "Aber ich bin ein großer Junge, aye. Ich halte das schon aus."

Er hat kaum den Mund geschlossen, als er Lías Blick auf sich spürt, als hätte sie ihn tatsächlich berührt oder stumm zu sich gerufen. Colevar wendet den Kopf und sieht nur ihren Schemen zwischen den Bäumen, aber das genügt und er weiß augenblicklich wie sich ein handliches Stück Eisen in der Nähe eines Magneten fühlt. Auch Calait blickt auf, aber ihre Miene ist nicht zu deuten. "Ich muss zu ihr." Ist alles, was er sagt, als er aufsteht, nach seinem pelzgefütterten Umhang greift und sich den Schatten am Waldrand zuwendet. Sie ist nicht weit entfernt zwischen ein paar hohen, moosigen Steinen und einem von Farnen überwucherten Baumstumpf, und er findet sie ebenso blind und zielsicher wie eine Fledermaus. Sie sagt kein Wort, aber ihre ausgestreckten Finger erwarten ihn und er nimmt ihre Hand ebenso schweigend. Ihre Augen glänzen so schwarz wie Onyx in diesem Licht, aber ihr Blick ist weit und offen. Colevar setzt sich auf den moosigen Baumstumpf und er kann nicht sagen, ob er es ist, der sie in seine Arme zieht, bis ihr Rücken an seiner Brust liegt, oder ob sie es ist, die seine Nähe sucht und sich an ihn drängt, vermutlich sind sie es beide gleichzeitig. Die Nacht ist kalt, so kalt, dass winzige Eiskristalle auf den Felsen glitzern, wenn das Sternenlicht sie trifft, also hüllt er sie beide in seinen Umhang und wärmt sie mit seinem Körper. Eine Weile sagt sie gar nichts, legt nur ihre kleine Hand an seine,  als wolle sie den Größenunterschied herausfinden und ballt sie gleich darauf zur Faust. Er schließt seine Finger darum und lächelt, weil ihre Hand völlig in seiner verschwindet. Irgendwann holt sie etwas Glänzendes unter ihrem Hemd hervor, nestelt den Verschluss einer dünnen Kette um ihren Hals auf und legt ihm ein Amulett in die Finger. Es ist geformt wie eine Lanzenspitze, etwa fünf Sekhel lang, aus gehämmertem Silber und besetzt mit einem seidig glatten, schimmernden blauen Stein. Colevar hat keine Ahnung, um welches Juwel es sich handelt, aber es ist mehr als nur ein hübsches Kleinod, denn er spürt augenblicklich ein sanftes, machtvolles Pulsieren darin. Lía gibt ihm einen Augenblick Zeit, es zu betrachten, dann schließt sie behutsam seine Hand darum. >Das ist alles was mir von meiner Großmutter geblieben ist.< Ihre Stimme ist kaum mehr als ein leiser Hauch, der sich mit den wispernden Geräuschen der Nacht vermischt. >Ich möchte, dass du es behältst und... erwähn es bitte nicht in Calaits Gegenwart. Sie weiß nichts davon und das soll auch so bleiben. Eigentlich sollte ich den Anhänger gar nicht tragen...< Calaits Worte, sie sei Schuld an Feuer und Tod gewesen und deshalb habe man sie verbannt geistern durch seine Gedanken. "Ich werde es in Ehren halten, Sommersprosse. Ich bringe es dir zurück."
>Colevar, pass auf dich auf, ja? Dir darf nichts passieren. Ich kann dich nicht verlieren, hörst du?<
"Psst! Mir wird überhaupt nichts geschehen und du wirst mich nicht verlieren." In Wahrheit hat er nicht die leiseste Ahnung, wie er die nächsten Monde ohne sie überstehen soll, aber er wird ihr auf gar keinen Fall auch nur den Hauch eines Schuldgefühls vermitteln. Louan gibt das Ziehen seiner unruhigen Kreise um sie beide und den Baumstumpf auf und setzt sich vor sie und Colevar drückt einen Kuss auf Lías weiches Haar. Sie fühlt sich noch immer warm an, aber nicht mehr so ungesund fiebrig. "Warum hast du das Amulett nicht offen getragen, Lía?" Sie muss es die ganze Zeit unter ihren Kleidern verborgen haben, denn er hatte es nie an ihr gesehen. "Calait hat erzählt, sie wurde verstoßen, weil man ihr die Schuld am Tod von... Kal Lanar gegeben hat und du bist mit ihr gegangen. Es war deine Resande-Großmutter, nicht wahr?" Das ist eigentlich keine Frage, sondern eine Feststellung. Er hat noch nicht wirklich Überblick über ihre verworrene Herkunft, aber er kann zwei und zwei zusammenzählen. "Willst du darüber reden?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 25. Okt. 2009, 05:36 Uhr
In dem Moment wo ihre ausgestreckten zarten Hände seine Fingerkuppen berühren spürt sie augenblicklich wie sich eine beruhigende Wärme in ihr ausbreitet. Das Gefühl ist so rein und warm und so mächtig, dass es alles andere in den Hintergrund drängt und Lía will auf der Stelle darin versinken. Was auch immer es ist was er tief in ihr berührt, sie will es nie mehr missen. Sie schmiegt sich in seine Umarmung und lässt sich von Colevar mit in dessen Umhang hüllen. Seine Nähe und Berührung und das damit einhergehende Gefühl führen ihr schmerzlich vor Augen wie tief der Abgrund ist an dem sie gerade balanciert. Und zum ersten Mal in ihrem Leben scheint Calait so unendlich weit entfernt, so unerreichbar und im gleichen Augenblick geht Lía auf, dass sie ihren Sturz in die bodenlose Tiefe nicht wird auffangen können. Die Lücke, das Loch in ihrem Inneren wird nichts füllen können als Colevar selbst – und wer wusste schon wie lange es dauern würde bis sie ihn endlich wiedersehen würde….oder ob überhaupt, und selbst wenn: was wenn dann alles anders sein würde? Es zerreißt sie innerlich und dennoch scheint all das bedeutungslos jetzt wo er hier bei ihr ist und sie einfach nur schweigend festhält. Mit einem Schlag hatte sich plötzlich alles verändert. Seit er in ihr Leben getreten ist,  ist nichts mehr wie es einmal war. Die Geräusche, die Luft – alles war anders und Lía verstand plötzlich die Welt nicht mehr. Alles was sie weiß, ist dass sie bei ihm sein will. Nicht nur jetzt. Nicht nur heute. Sie will mehr. Doch im Moment ist hier und jetzt alles was sie haben. Lía schluckt hart und starrt in die Dunkelheit vor sich. Sie ist fest entschlossen durchzuhalten auch wenn sie nicht weiß, wie sie auch nur mehr als einen Tag ohne ihn überleben soll – aber es würde ihr gelingen. Irgendwie. Sie hat gar keine andere Wahl wenn sie Colevar wiedersehen will, denn eine Wahl bedeutet, dass es zumindest eine weitere Option gibt. Und ihn nicht wiederzusehen war einfach keine Option. Nicht für sie.

Lange liegt ihr Blick mit einer Mischung aus Sehnsucht und stiller Trauer auf dem Amulett, bevor sie seine Hand darum schließt. Obwohl der Stein an sich eigentlich schon wertvoll ist, so besitzt der Anhänger für Lía jedoch einen viel größeren persönlichen Wert. Sie verbindet soviel damit und es gibt nicht viel was ihr aus ihrer Vergangenheit geblieben ist an dem ihr Herz so sehr hängt. Doch nun soll Colevar es haben. Es soll ihn nicht nur an sie erinnern, sondern ihn auch beschützen. "Ich werde es in Ehren halten, Sommersprosse. Ich bringe es dir zurück." Gern hätte sie etwas darauf erwidert, doch sie weiß beim besten Willen nicht was sie sagen soll und sie spürt, dass Worte in diesem Moment auch gar nicht nötig sind, also begnügt sie sich damit kaum merklich zu nicken und lehnt sich zurück, so dass ihr Kopf sein Schlüsselbein berührt. ‚Ich bin so froh, dass du da bist’ hätte sie gerne gesagt oder ‚ich wünschte du müsstest nicht gehen, denn ohne dich erscheint alles bedeutungslos und leer’, aber sie kann nicht. Und wenn ihr Leben davon abhängen würde sie bringt kein Wort hervor. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein drängt sie sich enger an ihn um ihm so nah wie möglich zu sein solange sie noch Zeit zusammen haben bevor…bevor…Lía schließt die Augen und versucht den Gedanken soweit wie möglich von sich zu schieben, zumindest für den Moment.

"Psst! Mir wird überhaupt nichts geschehen und du wirst mich nicht verlieren." Das ist nicht wahr und sie wissen es beide. Sie wird ihn verlieren und das sehr bald und für sehr lange. Aber sie widerspricht ihm nicht, sondern versucht aus dieser Lüge die Hoffnung zu schöpfen die sie ihr spenden soll. Aber es vermag Lía nicht zu trösten und das wird auch nichts anderes können. Mit dem Abschied von Colevar wird ein kleiner Teil von ihr sterben…und falls er je wieder zum Leben erweckt werden konnte, dann nur durch ihn. Als er ihr sanft das Haar küsst seufzt sie leise auf – ein sowohl schwermütiger wie auch seliger Laut und es ist unmöglich zu sagen was von beidem im Moment dominiert.

"Warum hast du das Amulett nicht offen getragen, Lía?" Eine durchaus berechtigte Frage. Doch gar nicht so leicht zu beantworten. "Calait hat erzählt, sie wurde verstoßen, weil man ihr die Schuld am Tod von... Kal Lanar gegeben hat und du bist mit ihr gegangen. Es war deine Resande-Großmutter, nicht wahr?" Verblüfft über die Frage dreht sie sich zu ihm um und sieht ihn nachdenklich an, sagt jedoch nichts und wendet sich schließlich auch wieder von ihm ab ohne ihr Schweigen gebrochen zu haben. "Willst du darüber reden?" Die nach seinen Worten eintretende Stille nutzt Lía um nach den richtigen Worten zu suchen. Bisher hat sie nie über das was damals vorgefallen ist gesprochen. Mit niemandem. Selbst Calait gegenüber übt sie Stillschweigen, auch wenn die Ältere vermutlich weiß was es für ihre kleine Schwester bedeutet oder es zumindest ahnt. Es ist schwer nach all der Zeit offen auszusprechen wie es in ihr aussieht. Lía, von Natur aus ein Mensch der anderen stets eine helfende Hand reicht und ihre eigenen Wunden darüber gerne einfach mal vergisst, braucht lange bis sie schließlich tief Luft holt und bereit ist sich Colevar anzuvertrauen. „Dann weißt du also, dass wir im Süden Immerfrosts im Ostwall geboren wurden. Unser Vater lebt dort. Unsere Mutter“, bei dem Wort ‚Mutter’ zögert sie kurz, entscheidet sich dann aber aus rein praktischen Gründen dafür „gehört den Resande an. Sie verließ uns kurz nach unserer Geburt. Das kalte Klima, der dunkle Himmel – all das war nicht ihre Welt und sie sehnte sich nach ihrer Sippe. Mein Vater hat uns großgezogen. Zusammen mit seiner neuen Frau, der einzigen Mutter die Calait und ich kennen. Sie hat uns unser Leben lang begleitet, uns Brüder geschenkt, uns getröstet wenn wir traurig waren, uns gepflegt wenn wir krank waren. Mag sein, dass uns das Blut nicht mit ihr verbindet, aber was bedeutet Blutsverwandtschaft, wenn man den Menschen im Grunde doch gar nicht kennt?“, will sie wissen und klingt ungewohnt bitter. „Jahre später tauchte unsere leibliche Mutter auf und nahm uns mit zu ihrem Volk. Wir sollten unsere Heimat, unsere Familie verlassen um mit einer Fremden zu gehen. Wir waren so jung…so unglaublich jung und verängstigt. Calait zuliebe war ich stark. Ich weiß nicht, was gewesen wäre wenn sie nicht da gewesen wäre, aber durch sie fand ich die Kraft dieser Frau zu folgen. Ich wollte ihr eine Chance geben. Colevar, ich wollte die Mutter die sie vorgab zu sein wirklich in ihr sehen; aber ich konnte nicht. Sie war mir fremd und sie blieb es all die Jahre über. Das Band das sich langsam zwischen ihr und meiner Schwester entwickelt hat kam so zwischen uns nie zustande. Diese Leute waren Fremde für uns und wir fühlten uns so furchtbar verlassen.“, sie bricht ab und lauscht einen Moment in sich hinein. „Hast du dich nie gefragt warum Calait die Augenbinde trägt?“, will sie dann plötzlich aus heiterem Himmel wissen. „Nicht weil sie blind ist. Selbst wenn sie das Tuch nicht trägt hält sie die Augen geschlossen. Ich hab ihre wunderschönen blauen Augen ewig nicht mehr gesehen…“, jetzt klingt sie eindeutig traurig und es dauert einen Moment bis sie soweit ist, dass sie weiter sprechen kann. „Die Resande halten blaue Augen für ein Unglückszeichen. Mit dem Neuanfang bei Nazastra begann ein Leben geprägt von Misstrauen und Skepsis. All das galt nicht mir, sondern ausschließlich Calait und das nur wegen ihrer Augenfarbe“, nun war auch die Traurigkeit gewichen und an ihre Stelle tritt enorme Hilflosigkeit. „Sie litt furchtbar darunter, aber sie ist stark. So viel stärker als ich es damals war…Ich hätte ihr helfen sollen, aber ich konnte nicht. Es…war grausam das mit ansehen zu müssen“ Lía kann nicht in Worte fassen wie sehr sie damals unter der Situation gelitten hatte und anders als ihrer Schwester hatte ihr die Fähigkeit gefehlt sich dadurch nicht unterkriegen zu lassen. „Meine Großmutter merkte schnell wie verletzlich  und wie einsam ich wirklich war. Sie war es die mir unter all diesen Fremden ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt hat. Es entwickelte sich ein starkes Band zwischen uns, das leider so nie zwischen mir unter meiner leiblichen Mutter zustande kam. Ich war glücklich. Glücklich darüber endlich Geborgenheit gefunden zu haben und glücklich zu sehen, dass Calait und Nazastra sich so gut verstanden. Als Kal Lanar in Calaits Leben trat dachte ich wirklich es würde sich doch noch alles für sie zum Guten wenden. Ich war so furchtbar naiv…Als das Feuer ausbrach und sein Leben forderte…Es war meine eigene Großmutter die dafür sorgte, dass Calait niemals mehr vergessen soll was Aberglaube wirklich bedeutet. Sie machten meine Schwester aufgrund ihrer Augenfarbe für das Unglück verantwortlich“, Lía bricht ab und streckt die Hand nach Louan an aus und der Luchs schmiegt sich augenblicklich an seinen Schützling. „Colevar…sie war nicht immer blind, verstehst du?“, flüstert sie leise und so sehr sie es auch versucht gelingt es ihr einfach nicht länger ihre Tränen zurückzuhalten. Stille senkt sich über die kleine Gruppe in der Colevar versucht das eben gehörte zu ordnen und Lía mit der Erinnerung kämpft. „Ich habe alles versucht. Aber ich…ich habe versagt. Egal was ich sagte, es war nicht gut genug. Ich konnte sie nicht aufhalten….Es war meine eigene Großmutter die ihr den Fluch der Blindheit auferlegt und sie mit Schimpf und Schande davon gejagt hat….Aber…das Schlimmste ist….Calait glaubt daran….Sie glaubt daran…Man hat es ihr solange eingeredet bis sie es selbst glaubte und ich kann sie nicht davon abbringen. Ich hab Angst…solche Angst….sie an diesen verdammten Aberglauben zu verlieren!“, immer noch rinnen Tränen über ihr Gesicht, doch mittlerweile blitzt es wütend in ihren Augen auf.
Als sie es nicht mehr aushält, dreht sie sich zu ihm um und flüchtet in seine Arme. „Ich kann ihr nicht böse sein. Ich kann einfach nicht. Es geht nicht. Sie…sie hat getan was sie für richtig hielt…und….Himmel….ich vermisse sie so…wie soll ich das Amulett offen tragen? Ich sollte es nicht einmal behalten…aber…“, schluchzt sie. Zum ersten Mal seit all das passiert ist spricht Lía laut aus was wirklich in ihr vorgeht und fühlt sich mehr denn je wie ein Verräter.

Nach einer schieren Ewigkeit löst sie sich von Colevar und blickt hinüber zum Feuer wo Calait immer noch sitzt und gedankenverloren in die Flammen starrt. „Alles was du hier siehst: Calait und die Tiere – sie sind das einzig Beständige in meinem Leben. Für andere mögen es nur Tiere sein, doch das waren sie für mich nie. Nimm zum Beispiel Louan; er begleitet mich bereits mein ganzes Leben lang und er weicht nie von meiner Seite. Diese Familie ist warm und echt und ehrlich.“



Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 25. Okt. 2009, 21:01 Uhr
Auf seine Frage schweigt sie eine ganze Weile und er hört sie tief Luft holen und langsam wieder ausatmen, ehe sie zögernd beginnt, ihm zu antworten. >Dann weißt du also, dass wir im Süden Immerfrosts im Ostwall geboren wurden.< "Aye," bestätigt er leise und fährt mit den Fingern die Linien ihrer Hände nach, das zarte Geflecht der Adern und Narben auf ihrem Handrücken, die Umrisse ihrer Knöchel. Ihre Hände sind feingliedrig und schmal, mit langen, schlanken Fingern und helleren Handinnenflächen, überzogen von einem verschlungenen Muster alter Brandmale. Wunderschöne Hände, Narben hin oder her. "Das hat Calait erzählt." 'Unser Vater, R'un, ist ein Mann vom Wolkenvolk', erinnert er sich an Calaits Worte und daran, wie er beim Klang dieses Namens gelächelt hatte. Wolkenvolk, wie passend. Als würden Lía nur noch ein Paar hauchdünne Flügel fehlen... Er hatte noch nie von einem Menschenstamm gehört, der so heißt, obwohl er sich in der Völkerkunde leidlich auskennt, schließlich hatten ihm das alles vor Jahren ein missmutiger Gueren und ein geduldiger Rhordri bis zur Verzweiflung (der beiden, nicht seiner) eingebläut, aber er weiß oder glaubt zu ahnen, dass es ein kleines und fast vergessenes Volk sein muss. >Unser Vater lebt dort. Unsere Mutter...<, in Lías Stimme liegen bei dem Wort "Mutter" oder eher noch in der Sekunde des Zögerns davor die ganze Traurigkeit und die Zweifel eines verlassenen Kindes, >...gehört den Resande an. Sie verließ uns kurz nach unserer Geburt. Das kalte Klima, der dunkle Himmel - all das war nicht ihre Welt und sie sehnte sich nach ihrer Sippe.< Sie spricht weiter, einfach und sehr schnörkellos, doch ihre Worte lassen seine Gedanken zu Bildern werden und er kann ihre Heimat sehen, ebenso wie die Menschen ihrer Vergangenheit - die schroffen Hänge und schneebedeckten Gipfel des Ostwalls, die Firnisfelder der dunklen Felsengrate, die tiefen Täler voller Bergkiefern und Rotzedern. Er hat keine Ahnung, wie die Menschen des Wolkenvolks aussehen mögen, aber in seiner Vorstellung ähneln sie den Waldkindern des Nachtwaldes und irgendwie gleicht Lías tiefes, ruhiges Wesen mehr ihrem Vater, während Calaits Art eher nach der Frau mit dem unaussprechlichen Namen schlagen dürfte, jeder Zoll ein lebenshungriges, quecksilbriges Resandemädchen.

>Mein Vater hat uns großgezogen. Zusammen mit seiner neuen Frau, der einzigen Mutter die Calait und ich kennen. Sie hat uns unser Leben lang begleitet, uns Brüder geschenkt, uns getröstet wenn wir traurig waren, uns gepflegt wenn wir krank waren. Mag sein, dass uns das Blut nicht mit ihr verbindet, aber was bedeutet Blutsverwandtschaft, wenn man den Menschen im Grunde doch gar nicht kennt?< "Nicht viel am Ende...," erwidert er sehr sanft und seine Hände schließen sich unter dem Umhang einen Moment um ihre Arme, ehe er ihre Taille umfasst und seine Finger vor ihrem Bauch verschränkt. Selbst unter den dicken Lagen ihres Hemdes und dem Stoff ihrer Röcke kann er den Schwung ihrer Hüften an seinen Unterarmen spüren, weich und elegant geschwungen, in ihren Linien das Versprechen von Überfluss. Ihre Worte jedoch erinnern ihn an Olyvar, Kizumu und Diantha und er empfindet spontan Mitgefühl für ihren unbekannten Vater. "Die Frau eures Vaters war eure Mutter in allem, worauf es ankommt, Lía, ich denke das schafft ein ebenso starkes Band, aye?" Sie nickt ein bisschen fahrig und fährt leise fort: >Jahre später tauchte unsere leibliche Mutter auf und nahm uns mit zu ihrem Volk. Wir sollten unsere Heimat, unsere Familie verlassen um mit einer Fremden zu gehen. Wir waren so jung... so unglaublich jung und verängstigt. Calait zuliebe war ich stark. Ich weiß nicht, was gewesen wäre wenn sie nicht da gewesen wäre, aber durch sie fand ich die Kraft dieser Frau zu folgen. Ich wollte ihr eine Chance geben. Colevar, ich wollte die Mutter die sie vorgab zu sein wirklich in ihr sehen; aber ich konnte nicht. Sie war mir fremd und sie blieb es all die Jahre über. Das Band das sich langsam zwischen ihr und meiner Schwester entwickelt hat kam so zwischen uns nie zustande. Diese Leute waren Fremde für uns und wir fühlten uns so furchtbar verlassen.< Colevar schluckt hart und hat keine Worte für das, was er bei ihrer leisen, manchmal stockenden, manchmal fast hervorsprudelnden Erzählung fühlt. Er hat nicht gewusst, bestenfalls vage geahnt, welches Leid Lía und Calait mit sich herum tragen, und das Wissen, was ihnen geschehen ist, schmerzt wie ein frischer Bluterguss in seinem Inneren. Aber er kann es nicht ungeschehen machen, nichts davon, so sehr er sich das auch wünschen mag, also hält er sie nur fest an sich gedrückt und hätte ihren ganzen Kummer am liebsten fortgeküsst. Das Mitgefühl ist längst verschwunden. Zorn steigt in ihm hoch auf die Menschen, die ihr das angetan haben, wo es doch ihre Aufgabe gewesen wäre, sie zu beschützen, und tausend Fragen drängen sich mit einem Mal auf seiner Zunge.

Warum haben ihr Vater und ihre Ziehmutter das zugelassen? Warum hat ihre Mutter sie wenigstens nicht genug geliebt, um sie dort zu lassen, wo sie glücklich waren? Er muss an Olyvar denken und an seine Zwillinge, und daran, welch seltsame Parallelen die Götter und das launische Schicksal manchmal schreiben - aber Olyvar hätte seine Kinder niemals hergegeben und Diantha auch nicht. Er kennt weder die Feuerelbin sonderlich gut noch die zweite Frau seines Freundes und Lord Commanders, aber zwei Dinge  weiß er genau - Kizumu würde so etwas niemals tun und falls doch würde Diantha ihr die Augen auskratzen und ihr den Hals umdrehen. Sie liebt Conn und Fianryn, als wären es ihre eigenen Kinder, doch nach allem, was Lía erzählt hat, hat auch ihre Ziehmutter sie geliebt. Es muss einen Grund geben... irgendetwas... Colevar wagt nicht, Lía zu drängen und will es auch nicht, also überlässt er es ihr, ob sie weitersprechen will und kann. Er kann sie nur halten, sie wärmen, ihr seine Nähe geben und ihr zuhören. >Hast du dich nie gefragt warum Calait die Augenbinde trägt?<
"Doch, ich dachte..." er zuckt sacht mit den Schultern, "nun, es wäre etwas mit ihren Augen, vielleicht Narben oder..."
>Nicht weil sie blind ist. Selbst wenn sie das Tuch nicht trägt hält sie die Augen geschlossen. Ich hab ihre wunderschönen blauen Augen ewig nicht mehr gesehen... < Die bittere Trauer in Lías Stimme lässt ihn schaudern, aber da ist noch etwas - ein Gedanke treibt aus den Tiefen seiner Erinnerung an die Oberfläche. Resande. Blaue Augen. Resande. Verdammt. Da war etwas. Da war... oh! Einen Wimpernschlag bevor sie es ausspricht, fällt es ihm wieder ein: die Resande, ganz gleich ob rot, schwarz oder blau, sind ein furchtbar abergläubisches Volk. >Die Resande halten blaue Augen für ein Unglückszeichen. Mit dem Neuanfang bei Nazastra begann ein Leben geprägt von Misstrauen und Skepsis. All das galt nicht mir, sondern ausschließlich Calait und das nur wegen ihrer Augenfarbe,< fährt Lía fort und er nickt bedächtig. Er kann sich vorstellen, wie das Leben ihrer Schwester bei diesem Volk ausgesehen haben muss - immer scheel angesehen zu werden, immer die Fremde, die Blauäugige, die Unglückskrähe zu sein und für alles verantwortlich gemacht zu werden, vom Sauerwerden der Milch bis hin zu Todesfällen im Kindbett, und Lía bestätigt seine Vermutungen mit ihren Worten.

>Meine Großmutter merkte schnell wie verletzlich und wie einsam ich wirklich war. Sie war es die mir unter all diesen Fremden ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt hat. Es entwickelte sich ein starkes Band zwischen uns, das leider so nie zwischen mir unter meiner leiblichen Mutter zustande kam. Ich war glücklich. Glücklich darüber endlich Geborgenheit gefunden zu haben und glücklich zu sehen, dass Calait und Nazastra sich so gut verstanden.< Er kann gar nicht anders, als bei der unerwarteten Wärme in ihrer Stimme zu lächeln, doch es erstirbt sehr rasch wieder. >Als Kal Lanar in Calaits Leben trat dachte ich wirklich es würde sich doch noch alles für sie zum Guten wenden. Ich war so furchtbar naiv... Als das Feuer ausbrach und sein Leben forderte... Es war meine eigene Großmutter die dafür sorgte, dass Calait niemals mehr vergessen soll was Aberglaube wirklich bedeutet. Sie machten meine Schwester aufgrund ihrer Augenfarbe für das Unglück verantwortlich.< Lía tastet nach ihrem Luchs, der auf ihrem Rocksaum und seinem linken Fuß gleichermaßen sitzt und sich schnurrend an sie drängt, noch bevor sie die Bewegung überhaupt zu Ende gebracht hat. >Colevar... sie war nicht immer blind, verstehst du?< Beginnt sie schließlich halberstickt von neuem und muss um ihre Stimme kämpfen, weil die Tränen schon so dicht unter der Oberfläche sind. >Ich habe alles versucht. Aber ich... ich habe versagt.<
"Schsch... nein, Lía, du hast nicht versagt. Du sagst selbst, dass du alles versucht hast, mehr kann man nicht tun. Niemand kann das."
>Egal was ich sagte, es war nicht gut genug. Ich konnte sie nicht aufhalten... Es war meine eigene Großmutter die ihr den Fluch der Blindheit auferlegt und sie mit Schimpf und Schande davon gejagt hat...<
"Ach, Sommersprosse", flüstert er nur, senkt den Kopf, drückt seine Wange gegen ihr Haar und wiegt sie so sacht als wolle er ein Kind trösten. Was für ein Verrat... ausgerechnet von den Menschen, die sie am meisten geliebt hat. Erst ihr Vater, der sie gehen ließ, dann die Mutter, die keine Mutter für sie war und nun ihre Großmutter, von der sie geglaubt hat, ihr vertrauen zu können.
>Aber... das Schlimmste ist... Calait glaubt daran... Sie glaubt daran... Man hat es ihr solange eingeredet bis sie es selbst glaubte und ich kann sie nicht davon abbringen. Ich hab Angst... solche Angst... sie an diesen verdammten Aberglauben zu verlieren!<

Zum allerersten Mal seit er sie kennt hört er so etwas wie Zorn in ihrer Stimme und das ist etwas, das er schon beinahe für völlig unmöglich gehalten hat. Trotz ihres Kummers und seiner Erschütterung, empfindet er paradoxerweise bei dieser Erkenntnis auch so etwas wie Genugtuung. Unter ihrer Sanftmut, ihrer Seharimgeduld und ihrer Selbstlosigkeit, ihrer Verletzlichkeit und ihrer Sanftheit steckt doch so etwas wie Temperament. Er hatte Recht - sie trägt tatsächlich etwas Zähes, Widerstandsfähiges in sich, fein und hart wie das Kernholz eines schönen schlanken Baumes. Hmpf. Natürlich. Niemand überlebt das, was sie durchgemacht hat ohne daran zu Grunde zu gehen, wenn er nicht im Inneren stark ist. Lía windet sich in seinen Armen, aber nur um sich umzudrehen, sich an ihn zu pressen und sich an seinem so viel größeren Körper zu vergraben als suche sie dort Schutz. Colevar hält sie fest, warm und sicher und spürt die Tränen auf ihren Wangen, die sich in der Nachtkälte sofort abkühlen. >Ich kann ihr nicht böse sein,< weint sie an seinem Hals, gedämpft von seiner Haut. >Ich kann einfach nicht. Es geht nicht. Sie... sie hat getan was sie für richtig hielt... und... Himmel... ich vermisse sie so... wie soll ich das Amulett offen tragen? Ich sollte es nicht einmal behalten... aber... <
"Hör auf, dich selbst zu quälen, Lía. Hör auf damit! Was du fühlst ist nur verständlich. Sie ist deine Großmutter und du hast sie geliebt, liebst sie noch. Dafür musst du dich nicht schämen und es ist kein Verrat an Calait, wenn du es tust. Ja, was sie getan hat war falsch und dieser Aberglaube ist... ist... einfach lächerlich. Das weißt du, das weiß ich und die allermeisten Menschen auf Rohas weitem Rund wissen es ebenso. Aber es ist nicht leicht, althergebrachte Vorstellungen und Ansichten über Bord zu werfen, erst recht nicht für einen alten Menschen, und wenn sie noch so dumm sind. Und Calait glaubt daran?" Er schnaubt leise und schüttelt den Kopf. "Wie gut, dass sie keine Ahnung hat, dass meine Augen blauer gar nicht mehr sein können. Götter im Himmel, jeder zweite Immerfroster hat blaue Augen, weiß sie das? Lía... du wirst sie nicht an diesen Aberglauben verlieren." Er spricht leise, aber mit großer Überzeugungskraft.

"Wenn das Band zwischen euch so stark ist, wie sie sagt, dann kannst du sie überhaupt nicht verlieren, aye? Sie wird lernen, dass sie kein Unglück bringt, ganz egal welche verdammte Farbe ihre Augen haben. In Talyra schert man sich weder um Blutelbenmischlinge, noch um Oger oder Halbnarge oder goldäugige Götterkinder - dort wird niemand nach seinem Aussehen beurteilt, es zählt nur wie du bist und was du tust. Und einen Fluch... einen Fluch kann man brechen, das weißt du." Sie antwortet nicht gleich und es wird still; er kann ihr Herz schlagen hören, lauter und leiser als der Wind in den Bäumen. Über ihnen spannt sich der samtschwarze Himmel und die Sterne glänzen wie Nadelspitzen in der harten, klaren Luft. Irgendwann, als ihre Tränen versiegt sind und sie ihre Stimme wiederfindet, löst sie sich ein wenig von ihm. Sie bleibt in seinen Armen, aber ihr Blick wandert zum Feuer und zu Calait, die, gewärmt von drei pelzigen Hundeleibern auf ihren Schlaffellen sitzt. >Alles was du hier siehst: Calait und die Tiere - sie sind das einzig Beständige in meinem Leben. Für andere mögen es nur Tiere sein, doch das waren sie für mich nie. Nimm zum Beispiel Louan; er begleitet mich bereits mein ganzes Leben lang und er weicht nie von meiner Seite. Diese Familie ist warm und echt und ehrlich.<
"Lía..." er hebt die Arme und nimmt ihr Gesicht in beide Hände, "ich weiß, wir müssen uns für eine Weile trennen, aber ich komme zurück. Und ganz gleich wie weit ich von dir entfernt sein werde, mein Herz wird bei dir bleiben. Pass gut darauf auf, Sommersprosse. Ich kann vielleicht eine Weile ohne es auskommen, aber nicht für immer und ich brauche es noch." Er legt seine Stirn an ihre und atmet den Duft ihres Haares, ihrer Haut, der sich mit den Gerüchen der Nacht vermischt. "Und", brummt er schließlich leise und so schicksalsergeben, dass er ihr damit doch ein Lächeln entlockt. "Du bekommst deine Schafe wieder. Dafür sorge ich."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 26. Okt. 2009, 23:41 Uhr
Colevar lässt sie reden und unterbricht sie kein einziges Mal. Alles was er tut ist einfach schweigend dazusitzen und ihr zuzuhören. Sie spürt wie ihr Kummer auf ihn übergreift und er sich schließlich anspannt durch die unterdrückte Wut. Er braucht nichts zu sagen und Lía muss ihn auch gar nicht ansehen um seinen Zorn zu fühlen. Nur einige wenige Male wenn sie ins Stocken gerät oder in ihrem Redeschwall abbricht um sich zu sammeln nutzt Colevar die Gelegenheit um sich zu Wort zu melden, ihr so zu zeigen, dass er da ist, ihr zuhört und sie mit der Erinnerung und ihrer Traurigkeit nicht alleinlassen wird. Und sie ist ihm dankbar dafür, sie weiß nämlich nicht ob sie in der Lage gewesen wäre ihm soviel preiszugeben, wenn er in sie gedrungen wäre, wenn er nachgefragt hätte. Zuviel ist passiert und hat Spuren hinterlassen, Lía braucht Zeit bis sie soweit ist ihm alles zu sagen, alles zu erklären, doch jetzt ist sie noch nicht soweit. Und Colevar scheint das zu spüren, denn er drückt sie nur schweigend an sich und flüstert sanft ihren Namen. Sie weiß, dass er meint was er sagt und dennoch kann sie ihm nicht glauben. Ich hätte es verhindern müssen. Es hätte einfach nicht geschehen dürfen! Es hätte nicht passieren dürfen! „Ich hätte es nicht zulassen dürfen“, spricht sie schließlich doch laut aus was ihr durch den Kopf geht. Calait war damals diejenige gewesen die am meisten verloren hatte, niemand hatte das Recht dazu gehabt sie noch mehr zu quälen! Es war einfach nicht richtig und Lía verstand bis heute nicht wie ein Mensch einem anderen Menschen etwas Derartiges antun konnte. „Sie hätte es nicht zugelassen wenn es andersrum gewesen wäre…“, murmelt sie bedrückt und weiß, dass es die Wahrheit ist. Calait wäre zu allem bereit gewesen nur um sie zu schützen.

Colevar schließt sie fest in seine Arme und spendet ihr Trost und Geborgenheit mit seinem soviel größeren Körper. Sie spürt wie ein Teil von seiner Kraft auf sie überfließt und sich als ein warmes Gefühl in ihrem Bauch sammelt, bevor seine Stärke sich dann in ihr ausbreitet , die zarten Fühler ausstreckt und sie von innen heraus zu wärmen beginnt.
"Hör auf, dich selbst zu quälen, Lía. Hör auf damit! Was du fühlst ist nur verständlich. Sie ist deine Großmutter und du hast sie geliebt, liebst sie noch. Dafür musst du dich nicht schämen und es ist kein Verrat an Calait, wenn du es tust. Ja, was sie getan hat war falsch und dieser Aberglaube ist... ist... einfach lächerlich. Das weißt du, das weiß ich und die allermeisten Menschen auf Rohas weitem Rund wissen es ebenso. Aber es ist nicht leicht, althergebrachte Vorstellungen und Ansichten über Bord zu werfen, erst recht nicht für einen alten Menschen, und wenn sie noch so dumm sind. Und Calait glaubt daran?" Lía zuckt leicht zusammen bei der Heftigkeit seiner Worte kann jedoch nicht umhin den Kopf zu schütteln. „Nein“, entgegnet sie leise. Doch sie kommt gar nicht dazu weiterzusprechen, denn Colevar, nun offensichtlich nicht mehr in der Lage sich zurückzuhalten, unterbricht sie. "Wie gut, dass sie keine Ahnung hat, dass meine Augen blauer gar nicht mehr sein können. Götter im Himmel, jeder zweite Immerfroster hat blaue Augen, weiß sie das? Lía... du wirst sie nicht an diesen Aberglauben verlieren." Lía legt ihm sanft eine Hand an die Wange und blickt ihm tief in die Augen. „Du irrst dich. Es mag lächerlich klingen für dich, aber das ist es nicht. Nicht für die Resande. Wenn du daran glaubst, dann ist es Realität.“, bei diesen Worten nickt sie zur Feuerstelle hin. „Es geht nicht ums Alter. Denkst du meine Großmutter wäre die Einzige gewesen? Warum hat wohl niemand eingegriffen?“, will sie wissen und ihr Blick wird traurig. Noch gut erinnert sie sich an Savvas Reaktion. Er war so wütend gewesen und doch machtlos. Genau wie Nazastra. Aufgewachsen mit diesem Glauben und der Angst vor den unglückbringenden Augen machte es ihnen am Ende genau diese anerzogene Skepsis es unmöglich für Calait einzustehen. Und die einzige die es hätte verhindern können war sie selbst gewesen. Schwach und klein wie sie gewesen war, damals wie heute. Lía seufzt schwer, senkt den Blick und starrt auf ihre Hände. „Wie könnte Calait nicht daran glauben? Wir waren gerade mal zehn Jahre alt, als wir zu den Resande kamen und fortan ließ man es sie spüren und erzählte es ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Wie soll ein Kind etwas Derartiges ignorieren? Jahrelang wurde es ihr eingeredet von den Menschen die sie liebte. Dabei wussten sie gar nichts. Aber irgendwann kam der Punkt wo ich sie nicht mehr erreichen konnte. Ich stand noch genau an der Stelle wo wir zusammen angekommen waren, doch sie war plötzlich weg und ging auf die Schatten zu, trat ein und verlor den Weg. Ich kann den Weg nicht für sie gehen, sie muss allein zurückfinden. Aber ich kann mit ihr gehen…nach ihr rufen….“, sie bricht ab und vergräbt ihr Gesicht im kratzigen Stoff seines Hemdes. Lía hätte alles darum gegen mehr tun zu können, aber das kann sie nun mal nicht. Alles was sie tun kann ist warten und hoffen, dass Calait den Weg aus der Dunkelheit dieses Irrglaubens heraus irgendwann findet.

"Wenn das Band zwischen euch so stark ist, wie sie sagt, dann kannst du sie überhaupt nicht verlieren, aye? Sie wird lernen, dass sie kein Unglück bringt, ganz egal welche verdammte Farbe ihre Augen haben. In Talyra schert man sich weder um Blutelbenmischlinge, noch um Oger oder Halbnarge oder goldäugige Götterkinder - dort wird niemand nach seinem Aussehen beurteilt, es zählt nur wie du bist und was du tust. Und einen Fluch... einen Fluch kann man brechen, das weißt du." Es dauert eine geraume Weile bis sie weitere Tränen niederkämpfen kann und einfach nur sachte nickt. „Ich weiß. Aber sie…sie will nie wieder jemanden ins Unglück stürzen. Sie ist durch und durch eine Resande was den Aberglauben angeht und trägt ihre Strafe deshalb auch mit Fassung, denn in ihren Augen…nun…sie wollte es nicht, aber sie nimmt es an.“ Es folgt ein kurzes Schweigen bevor sie dann den Kopf hebt und Colevar von unten her ansieht. „Warum hört sie nicht auf mich? Warum kann sie nicht meinem Urteil vertrauen? Warum schenkt sie ihnen mehr Glauben als mir? Warum?“ Lía weiß, dass er keine Antworten auf ihre Fragen hat aber sie wären so wichtig, so unglaublich wichtig für sie.

"Lía..." Sie spürt wie sich seine Muskeln spannen und er die Arme hebt und als er ihr Gesicht in seine warmen Hände nimmt kann sie gar nicht anders als zu lächeln. Plötzlich scheint all ihr Kummer nicht mehr so erdrückend, nur weil er da ist und sie berührt. Problemlos hält er ihren Blick mit seinen so intensiv blauen Augen fest und ein angenehmer Schauer läuft ihr über den Rücken "ich weiß, wir müssen uns für eine Weile trennen, aber ich komme zurück. Und ganz gleich wie weit ich von dir entfernt sein werde, mein Herz wird bei dir bleiben. Pass gut darauf auf, Sommersprosse. Ich kann vielleicht eine Weile ohne es auskommen, aber nicht für immer und ich brauche es noch." Der Duft nach Feuer und Kräutern sowie der herbe Geruch nach Gefahr, Stolz und Freiheit dringt ihr in die Nase und füllt ihre Lungen als er seine Stirn gegen ihre lehnt. Kurz blitzt es amüsiert in ihren Augen auf, als sie feststellt, dass auch der unverkennbare Katzenduft seiner Begleiterin an ihm haftet. "Und du bekommst deine Schafe wieder. Dafür sorge ich." Sein resignierter Tonfall lassen ihr Lächeln das sonst stets auf ihren Lippen liegt wieder aufhellen. Die letzten Tage war sie ungewohnt niedergeschlagen gewesen und auch jetzt ist sie alles andere als glücklich über die Situation, aber seine Worte geben ihr Hoffnung und den Glauben daran, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Nebel wabert durch die Nacht und setzt sich in ihren Kleidern und Gliedern fest bis sie klamm von Feuchtigkeit und Kälte sind. Mittlerweile bietet auch der Umhang nicht mehr wirklich Schutz vor der Kälte und Colevar beschließt schließlich mit sorgenvollem Blick, dass es an der Zeit ist zurückzukehren und sich am Feuer zu wärmen.

Als sie aufsteht hat sie plötzlich das Gefühl ihn zu verlieren, so als würde er ihr entrissen und eine alles überwältigende Angst breitet sich in ihr aus. Sie kann und will sich nicht vorstellen, wie ihre Tage in Zukunft aussehen werden wenn er sie verlassen hat. Die Traurigkeit wird unerträglich. Sie würde keinen Blick mehr auf ihn erhaschen können, wenn er abends am Feuer saß und sie zärtlich ansah, sie würde nicht mehr zusammen auf seinem Hengst mit ihm reiten können…seine Nähe nicht spüren, seine Stimme nicht hören und seine Berührungen nicht auf ihrer Haut fühlen. Ihre Augen sind dunkel als sie die Distanz zwischen ihnen überbrückt und ihre Hände sich fest in sein Hemd krallen während sie ihre Lippen auf seine presst. Sie will ihn zu sich ziehen und ihn nie mehr freigeben. Diesmal ist ihr Kuss nicht scheu oder fragend, sondern leidenschaftlich und entschlossen. Lía spürt eine unbekannte Begierde in sich aufsteigen und das so plötzlich und mit solcher Heftigkeit, dass sie einen Moment um Atem ringen muss. Sie will ihn Brandmarken, ihn für sich allein beanspruchen – all das sind gefährliche Gefühle und sie weiß es. Und obwohl sie eine leise Angst davor verspürt wo all das hinführen kann ist es ihr in diesem Moment egal. Er muss fort, fort von ihr. Aber ein Teil von ihr soll mit ihm gehen und ein Teil von ihm soll bei ihr bleiben.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 27. Okt. 2009, 23:35 Uhr
Sie widerspricht ihm, natürlich widerspricht sie ihm, weil sie sich selbst die Schuld dafür gibt, nicht mit bloßen Händen gegen den Aberglauben und die Überzeugung eines ganzen Volkes angetreten zu sein und er hätte sie am liebsten sacht geschüttelt. >Ich hätte es nicht zulassen dürfen.<
"Was hättest du denn tun wollen, sechzehn Jahre alt und ganz allein?" Erwidert er sanft. "Sag mir, welche Chancen du gehabt hättest gegen den ganzen Stamm? Wolltest du sie alle übers Knie legen? Gegen sie kämpfen? Lía, du hast dein Bestes versucht, sie zu überzeugen und sie wollten und konnten nicht hören."  
>Sie hätte es nicht zugelassen wenn es andersrum gewesen wäre…<
"Calait hätte auch nicht mehr tun können, Sommersprosse. Nicht gegen so viele. Du hast das einzige getan, was du tun konntest und bist mit ihr gegangen." Er weiß nicht, ob seine Worte wirklich zu ihr durchdringen, aber sie lässt zu, dass er sie festhält und schmiegt sich an ihn. Als er jedoch von ihr wissen will, ob Calait diesen Blaue-Augen-Unsinn tatsächlich glaube, widerspricht sie ihm schon wieder, wenn auch auf eine höchst angenehme Art, denn sie berührt ihn und legt ihre Hand an seine Wange. Einen Moment lang schmiegt er sein Gesicht an ihre weichen, warmen Finger. >Du irrst dich. Es mag lächerlich klingen für dich, aber das ist es nicht. Nicht für die Resande. Wenn du daran glaubst, dann ist es Realität. Es geht nicht ums Alter. Denkst du meine Großmutter wäre die Einzige gewesen? Warum hat wohl niemand eingegriffen? Wie könnte Calait nicht daran glauben? Wir waren gerade mal zehn Jahre alt, als wir zu den Resande kamen und fortan ließ man es sie spüren und erzählte es ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Wie soll ein Kind etwas Derartiges ignorieren?<
"Sie hat auch zehn Jahre lang bei einem anderen Volk gelebt, das nicht an solchen Unsinn glaubt. Du hast es doch auch nicht getan." Erwidert er leise. Dieser Aberglaube ist lächerlich - dass ein ganzes Volk ihm anhängt eher nicht. Nein, das ist eher traurig.
>Jahrelang wurde es ihr eingeredet von den Menschen, die sie liebte. Dabei wussten sie gar nichts. Aber irgendwann kam der Punkt wo ich sie nicht mehr erreichen konnte. Ich stand noch genau an der Stelle, wo wir zusammen angekommen waren, doch sie war plötzlich weg und ging auf die Schatten zu, trat ein und verlor den Weg. Ich kann den Weg nicht für sie gehen, sie muss allein zurückfinden. Aber ich kann mit ihr gehen…nach ihr rufen….< Sie birgt ihr Gesicht an seiner Schulter und er drückt sie an sich. "Schsch… wir bringen sie davon ab, Sommersprosse. Ich helfe dir, wenn ich kann. Wir rufen nach ihr so laut bis sie uns hört, aye? Irgendetwas oder irgendjemand muss sie irgendwann zum Nachdenken bringen."

Sie nickt und schweigt eine Weile, doch als der Nebel heraufzieht und sich auf dem Berghang niederlässt, drängt er sie irgendwann aufzustehen, um ins Lager und zu Calait zurückzukehren. "Hoch mit dir Sommersprosse, du erfrierst mir sonst noch." Auch wenn Colevar es mit dem seufzenden Bedauern tut, ihre kostbare  Zweisamkeit so rasch wieder aufgeben zu müssen, die Nacht ist eisig und Lía muss ans Feuer zurück, ehe sie beginnen würde, mit den Zähnen zu klappern - warme Kleidung, mehrere Lagen Röcke, seine Arme und ein pelzgefütterter Umhang hin oder her. Sie hat vielleicht drei oder vier Röcke an, aber sie trägt keine Strümpfe. Dieses Wissen weckt augenblicklich das Bedürfnis, sie sofort wieder in seinen Umhang zu hüllen und vor der Kälte zu schützen, gleichzeitig erwacht beim Gedanken an ihre nackten Beine und die reine Instabilität ihrer Kleidung in seinem Inneren etwas zum Leben, das sich hungrig und brennend in seinen Eingeweiden sammelt, ihm den Mund staubtrocken werden und sein Herz schwer und hart schlagen lässt. Er weiß, wie sie sich anfühlen würde, wenn er sie berührte, ihre Haut immer noch heiß vom abklingenden Fieber, kühl überall dort, wo sie der kalten Nachtluft ausgesetzt ist, ihr Körper zierlich und klein, aber geschmeidig und so verführerisch gerundet. Colevar lässt sie nur sehr widerstrebend los, kämpfend mit dem jähen Aufruhr in seinem Inneren, doch Lía hat noch keinen ganzen Schritt von ihm fort getan, als sie sich auch schon wieder zu ihm umdreht. Er sitzt immer noch auf dem moosigen Baumstrunk, so dass sich ihre Gesichter wenigstens annähernd auf gleicher Höhe befinden, und als ihr Blick ihn trifft, unergründlich und dunkel wie die Nacht um sie her, fühlt er sich einen Moment lang wie angewachsen. Vielleicht ist sie doch ein kleiner Kobold oder eine Waldnymphe, die ihn hier festgehext hat. Und jeder Mann, der eine solche Kreatur berührt, ist für immer verloren und an sie gebunden... Ein Herzschlag vergeht, vielleicht auch zwei, in denen sie gar nichts tut, außer ihn aus glänzend schwarzen Augen anzusehen, aber dann stürzt sie sich mit erstaunlicher Kraft auf ihn. Ihr Mund trifft hart und fordernd auf seinen, und ihre Hände graben sich in den Stoff seines Hemdes und in seine Brust gleichermaßen. Er spürt ihr blindes Bedürfnis, sich ihm einzubrennen, ihm näher und näher zu sein und ihn gleichzeitig fest und untrennbar an sich zu binden, als würde ihre Sehnsucht überall dort, wo sie ihn berührt, durch seine Haut und sein Fleisch direkt in sein Blut übergehen. Ihr Kuss ist nicht aus Lust geboren, sondern aus etwas sehr viel elementarerem, heftig, wild und kurz - viel zu kurz, ehe sie sich wieder losreißt, um hektisch nach Luft zu schnappen, und er rüttelt sie beide so gründlich durch wie ein Sturm.

Sie ist keinen Sekhel vor ihm zurückgewichen - er spürt ihren Atem noch immer schnell, so schnell auf seinem Mund, auf seiner Haut und ihr bebender Körper liegt warm und fest an seinem. Einen halben Herzschlag lang kann er sie nur mit einer Art verwundertem Erstaunen ansehen, während irgendwo in seinen (sich zugegebenermaßen gerade in kosmischer Auflösung befindlichen) Gedanken eine fast belustigte Stimme flüstert, er solle nicht albern sein, Roha werde nicht gleich aus der Bahn geworfen, nur weil ihn ein Mädchen küsst. Aber als er ihr Gesicht zwischen seine Hände nimmt, in ihre Augen sieht und mit dem Daumen über ihre Wangen und einmal über die ganze Breite ihres Mundes fährt, ist sein einziger - und für eine ganze Weile letzter - klarer Gedanke, der, dass die Luft, die er jetzt einatmet, Lía gerade ausgeatmet hat. Dann vergräbt er seine Finger in ihrem Haar und küsst sie noch einmal, sehr viel langsamer, aber auch sehr viel hungriger als eben, und mit einem fast unmerklichen, kaum spürbaren Zögern lässt sie sich gefangen nehmen. Ihr Geschmack überflutet ihn, eine warme, geheimnisvolle Erdigkeit vermischt mit einer Süße, die zu flüchtig ist, um sie zu benennen, aber so berauschend und unwiderstehlich, dass er nie wieder irgendetwas anderes kosten will und am liebsten darin ertrunken wäre. Ihr Körper erwacht für seinen, als sie ihre Arme um seinen Nacken schlingt und sich noch fester an ihn schmiegt, um ihm so nahe wie nur irgend möglich zu kommen, und als ihr Mund sich verheißungsvoll unter seinem öffnet und ihm zu antworten beginnt, bis er nicht mehr weiß, wo sie aufhört und er beginnt, ist er rettungslos verloren. Er hat keine Ahnung, wie lange dieser Kuss andauert, vielleicht ein paar lange Augenblicke, vielleicht eine halbe Stunde - oder möglicherweise auch ein paar sonnige Herbsttage und kalte Frostnächte lang - und es ist ihm auch völlig gleich. Ich bin dein, sagt ihr Mund, ich bin dein und wenn du mich willst… Bei allen Göttern, und wie er sie will, jeden Quadratzentimeter von ihr, den er bekommen kann, egal wie, so sehr, dass sein ganzer Körper schmerzt. Mit einer Anstrengung, von der ihm schwindlig wird, gelingt es ihm irgendwie aufzuhören. Er hält inne, hört sie atmen, schnell und schwer, und sein eigenes Herz, das hämmert und hämmert, während Roha sich schlingernd dreht und dreht und dreht, direkt unter seinen Füßen. Colevar schließt die Augen, holt Luft und ballt die Hände in ihrem Haar, in ihrem Rücken einen Moment lang zu Fäusten, um sie nicht erneut an sich zu reißen, ehe sich seine Finger langsam wieder öffnen.

Er fährt durch ihr Haar, geringelte Locken und schwere, sanfte Wellen, dicht und weich wie kühle Seide, und hat immer noch ihren Geschmack in seinem Mund, auf seinen Lippen, auf seiner Zunge. Sie wissen beide, dass er nur einen Atemzug davon entfernt ist, sich ihre Hitze zu nehmen und ihr seine dafür zu geben, gleich hier auf dem reifüberzogenen Waldboden mitten im Nirgendwo. Er nimmt sie an den Armen und schiebt sie ein Stück von sich weg ohne sie wirklich los zu lassen und sie protestiert tatsächlich mit einem halb fragenden, halb geseufzten kleinen Laut. "Nicht", hört er sich flüstern und versucht gar nicht erst, das Verlangen aus seiner Stimme fernzuhalten. Dann hebt er Kopf und Blick und sieht sie an, die halbe Armlänge Raum zwischen ihnen voll von Unausgesprochenem. "Götter im Himmel, Lía, du weißt, dass ich dich will, aber…" sein Verstand fischt im Trüben nach den richtigen Worten, "besser. Ich will, dass es besser ist… bei… deinem… du solltest das erste Mal wenigstens ein Bett haben."  Es ist wahr, er will sie. Er will sie ganz, mit Haut und Haaren, nicht nur ihren Körper, er will alles und für immer. Plötzlich weiß er, was die Priester meinen, wenn sie sagen 'Ein Fleisch sollt ihr werden…' Genau das wären sie fast gewesen, auf dem kalten Waldboden zwischen gefrorenem Moos und blanken Steinen, und aufzuhören gibt ihm ein ganz und gar merkwürdiges Gefühl der Verwundbarkeit. Er ist kein ganzer Mensch mehr, sondern nur noch die Hälfte von etwas, das es noch gar nicht gibt.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 28. Okt. 2009, 17:04 Uhr
"Was hättest du denn tun wollen, sechzehn Jahre alt und ganz allein?" Lía weicht seinem Blick aus und sieht zu Boden. Die Erkenntnis, dass er sie nicht versteht tut weh, aber sie kann es nachvollziehen. Wie soll er es auch verstehen können? Doch leider ändert das nichts daran, dass ihr Herz schwer von Traurigkeit wird bei seinen Worten. „Wir hätten nicht bleiben dürfen“, flüstert sie kaum hörbar. „Ich…hab geglaubt, dass…ich hab doch nicht geahnt…“
"Sie hat auch zehn Jahre lang bei einem anderen Volk gelebt, das nicht an solchen Unsinn glaubt. Du hast es doch auch nicht getan." Natürlich hatte sie nicht daran geglaubt, aber sie war damals ja auch nicht diejenige gewesen die man für alles verantwortlich gemacht hatte. Es ist nicht etwa so, dass Lía nicht eingesehen hätte warum Calait daran glaubt, sie begreift nur nicht warum ihre Schwester den Worten dieser Menschen mehr Gewicht beimisst als der ihrer kleinen Schwester. Die Resande hatten ihr nie ne Chance gegeben, doch Lía kannte sie in und auswendig. Wenn etwas an dem Aberglaube dran gewesen wäre, dann hätte sie die erste sein müssen die ein Unglück traf. "Schsch… wir bringen sie davon ab, Sommersprosse. Ich helfe dir, wenn ich kann. Wir rufen nach ihr so laut bis sie uns hört, aye? Irgendetwas oder irgendjemand muss sie irgendwann zum Nachdenken bringen." In diesem Moment empfindet sie nicht als reine, endlose Dankbarkeit die so überwältigend in ihrer Intensität ist, dass es ihr die Sprache verschlägt und sie nichts anderes tun kann als glücklich lächelnd zu nicken.

Ihre Gesichter sind sich so nah, dass nicht einmal ein Blatt Papier dazwischen gepasst hätte. Sie spürt die Wärme die sich in ihrem Körper ausbreitet und blickt ihm tief in die Augen. Keiner von beiden sagt ein Wort. Colevars Duft ist wundervoll, viel schöner als alles andere was Lía bisher je gerochen hat, und sie atmet ihn mit jedem weiteren ihrer schnellen, flachen Atemzüge tiefer ein. Sie hält seinen Blick fest und wünscht sich er würde sie küssen. Und er tut es. Als er ihr Gesicht sanft in seine Hände nimmt, schließt sie die Augen, seine bloße Berührung lässt sie schwach werden. Für einen Moment scheint die Welt still zu stehen als er sie küsst. Die Geräusche der Nacht, selbst das leise Rascheln des Windes verlöschen und alles was zu hören ist, ist die schwere Atmung, das Rascheln von Stoff, und das leise Seufzen unter Berührungen zweier Geliebter unter sternklarem Himmel mitten in der Wildnis. Lía spürt seine Finger, die über ihre Wangen streichen und ganz sacht hebt er ihr Kinn an. Lía schließt die Augen und gibt sich dem Kuss hin. Sie spürt seine warmen Lippen auf ihren und lässt bereitwillig zu, dass er ihre Lippen mit seiner Zunge öffnet. Seine Zunge ist so weich wie Samt und seine Haut so warm und angenehm wie die Nachmittagssonne. Seine Berührung und sein Duft vernebeln ihr die Sinne, längst hat ihr Verstand sich ausgeklinkt und ihr Körper reagiert wie von selbst. Bevor sie weiß was sie tut schlingt sie die Arme um seinen Nacken, erwidert seinen Kuss mit gleicher Hingabe und schmiegt sich an seinen Körper. Lía hat das Gefühl von seiner Berührung, seinem Kuss, seinem und ihrem eigenen Begehren zu vergehen. Sie spürt seine Wärme selbst durch seine und ihre Kleider hindurch und als sie seinen starken und dennoch so verletzlichen Herzschlag spürt ist sie völlig überwältigt. Sein Körper, sein Duft und sein Geschmack machen sie fast wahnsinnig und sie stöhnt leise auf. Plötzlich sind all ihre Ängste verschwunden. Sie hatte sich nach seinen Berührungen gesehnt, doch sich auch davor gefürchtet, doch jetzt in diesem Augenblick spürt sie nichts von dieser Unsicherheit. Sie weiß genau was sie will, ihr Körper scheint ohnehin seine eigenen Ziele zu verfolgen, wild und drängend. Das reine Feuer das nun durch ihre Adern schießt löscht alle warnenden Stimmen in ihrem Kopf aus. Wäre dem nicht so, hätte sie wahrscheinlich erkannt, dass Calait Colevar die Hölle heiß machen würde, wenn er ihrer beider Begehren jetzt und hier nachgeben würde. Ihre Lippen streichen über sein Gesicht, wandern zurück zu seinem Mund und schon wird sie erneut überflutet mit seinem Geschmack, der samtigen Zunge und ihren eigenen Gefühlen. Lía kann ihm gar nicht nahe genug sein. Seine Küsse, seine Berührungen vermögen nicht diese neue, ihr bisher völlig unbekannte Sehnsucht in ihr zu stillen, sondern schüren sie nur noch mehr. Schmerzende Hitze steigt in ihr auf, ihr Herz schlägt schnell und hart in ihrer Brust, sie bekommt kaum Luft und hat das Gefühl sie müsste sterben, wenn er diese schmerzende Sehnsucht nach ihm nicht füllt. Es ist als wollten ihre Sinne jedes noch so kleine Stückchen seines Körpers erkunden und sich alles an ihm genaustens einprägen, seinen Geruch, seinen Geschmack, das Gefühl seiner Haut auf ihren – und dennoch ist es immer noch nicht genug.

Als Colevar sich mit deutlicher Anstrengung von ihr löst vergräbt sie automatisch ihre Finger tiefer in seinen langen, seidigen Haaren und presst sich ihm entgegen. Lía ist froh, dass er sie auch weiterhin festhält, da sie so durch den Wind ist, dass sie fast vergisst zu atmen bis ihre Lungen rebellieren und ihr damit vor Augen führen, dass sie nach Sauerstoff verlangen. Japsend schnappt sie nach Luft und spürt wie ihr Herz ihr bis zum Hals schlägt. Ihr ist immer noch schwindelig und ihre Beine drohen einfach unter ihr nachzugeben, als sie die Augen schließt und versucht wenigstens wieder etwas zu sich zu kommen – doch sie scheitert kläglich. Sie blickt ihn an und sieht das Begehren in seinen Augen. Lía spürt wie er ihr sanft durch die langen, schweren Locken fährt und schließt für einen Moment die Augen und genießt die Berührung. Die tiefe Zärtlichkeit und das unverkennbare Verlangen in seinen Augen lassen sie erschaudern. Ihre glänzenden Augen weiten sich vor Erstaunen und so etwas wie leisem Entsetzen, als Colevar sie ein Stück von sich schieb ohne sie jedoch dabei loszulassen. Betroffenheit macht sich auf ihren Zügen breit und auch ohne es auszusprechen steht ihre stumme Frage nach dem „warum“ zwischen ihnen. Will er sie nicht? Der Gedanke geistert ihr durch den Kopf bevor sie etwas dagegen tun kann und obwohl sie weiß, dass sie ihm unrecht tut schmerzt die bloße Vorstellung unendlich.
"Götter im Himmel, Lía, du weißt, dass ich dich will, aber…" Warum denn? Sie will doch nicht, dass er aufhört, aber sie sagt nichts. Selbst wenn sie es gewollt hätte wäre sie gar nicht in der Lage dazu gewesen. Nur langsam klärt sich ihr Verstand und die Gedanken beginnen zähflüssig sich wieder in Gang zu setzen, doch ihre Gefühle überrollen sie und sie weiß beim besten Willen nicht wohin mit diesen ganzen Emotionen. Nach kurzem Zögern scheint Colevar die richtigen Worte gefunden zu haben, denn er fährt fort:"besser. Ich will, dass es besser ist… bei… deinem… du solltest das erste Mal wenigstens ein Bett haben." Lía beißt sich auf die Lippe, sie weiß, dass er Recht hat und ihr Verstand pflichtet ihm bei, ihr Körper allerdings nicht. Ihr ist immer noch heißt und sie spürt ihr in Wallung geratenes Blut in ihren Adern pulsieren. Die Distanz zwischen ihnen kommt ihr so enorm vor, dass es schon körperlich schmerzt. Unfähig etwas zu sagen streckt sie ihm ihre kleine, zierliche Hand entgegen immer noch erfüllt von brennender Sehnsucht. Colevar lässt sie los um nach ihrer Hand zu greifen und im selben Augenblick wird ihr bewusst, dass es nicht ihre eigenen zittrigen Beine waren die sie bisher aufrecht gehalten haben. Aus einem Reflex heraus will sie nach ihm greifen, sich an ihm festhalten, sich an ihn lehnen, doch etwas in seinem Blick hält sie davon ab und sie lässt sich wo sie gerade steht einfach auf den Boden sinken. Als Lía den Blick hebt leuchten ihre Augen geradezu und sie sieht ihn an mit einem Blick der von unendlicher Zärtlichkeit und warmer, aufrichtiger Liebe spricht. Ein seltsames Gefühl macht sich in ihr breit je länger sie ihn ansieht, das Gefühl etwas überaus Wichtiges gefunden zu haben ohne das sie nicht komplett ist, von dem sie jedoch bisher nicht einmal gewusst hatte, dass sie es suchte. Sie weiß nicht wie lange sie einfach auf dem kalten, feuchten Boden hockt und versucht zu begreifen was hier gerade vor sich geht, bevor sie dann einen zum scheitern verurteilten Versuch startet sich aufzurappeln, doch ihre Knie sind immer noch weich wie Pudding und knicken unter ihr weg, so dass sie sich seufzend wieder auf den Boden sinken lässt und zu Colevar blickt. „Wir sollten zurückgehen“, ihre Stimme ist rau und dunkel vor unterdrücktem Verlangen und tiefer Verwirrung über die plötzliche Zurückweisung.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 28. Okt. 2009, 22:15 Uhr
Sie sieht ihn an und die Bestürzung auf ihrem Gesicht - und zwar nicht, weil er sich beinahe auf sie gestürzt hätte, sondern weil er genau das nicht tut -, lässt ihn lautlos nach Luft schnappen und dann... allmächtige Götter im Himmel steht ihm bei!... kaut sie hinreißend verunsichert auf ihrer Unterlippe herum. "Bist du verrückt geworden? Hör auf damit!" Zischt er erschrocken und kann seine eigene Stimme kaum hören, weil sein Herz immer noch wie eine Trommel in seiner Brust schlägt und das Blut immer noch unter seiner Haut kocht. Und auch die Erde unter ihren Füßen schwankt immer noch ziemlich bedenklich. Lía sieht ihn nur an, verwundert, erschrocken, verwirrt, aber auch voller Sehnsucht, streckt ihm die Hand entgegen und verharrt, ihre Finger nur einen Sekhelrin vor seiner Brust. Colevar will ihre Hand nehmen, will sie aufhalten, denn wenn sie ihn jetzt berühren würde, könnte er für überhaupt nichts mehr garantieren, doch als er die Finger von ihren Armen nimmt und sie loslässt, sackt sie buchstäblich weg und er blinzelt vollkommen überrumpelt und mit einem Blick blanken Erstaunens auf sie hinunter. Im nächsten Moment ist er bei ihr und kniet voller Sorge vor ihr auf dem kalten Boden. "Lía?" Sie blinzelt immer noch ziemlich benommen, aber sie bringt so etwas wie ein ruckartiges Nicken zustande und als sie den Blick hebt und ihn wieder ansieht, setzt sein Herz für ein paar Schläge einfach aus, ehe es stolpernd wieder in Gang kommt. In den dunklen, unergründlichen Tiefen ihrer Augen regt sich etwas und steigt schimmernd an die Oberfläche. Ihr Blick ist ein Geschenk, ein furchtlos überreichtes Geschenk, denn in diesem Moment liegt die ganze Essenz ihrer Gefühle für ihn in ihren Augen, nackt und bloß, und dann kann er nichts mehr in ihnen sehen, außer sich selbst. Er kann gar nicht anders, als sie zu berühren, denn das Bedürfnis ist übermächtig und vielleicht hat er einen Moment lang wirklich Angst, sie könne sich sonst in Luft auflösen. Es ist vollkommen verrückt, aber sie sieht ihn tatsächlich an, als sei sie es, die das große Los gezogen hat und als wäre es nicht in Wahrheit umgekehrt. Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände und was seine Augen getan haben, seit er sie zum ersten Mal gesehen hat auf diesem nächtlichen Waldweg, tun nun seine Finger... sie nehmen jede Linie, jede Kontur und jeden Umriss ihrer zarten Knochen wahr. Er zeichnet ihre Züge nach, als wäre er blind und seine Hände erzählen ihr von seinem Verlangen und seinen Wünschen, von seiner Hoffnung, seinen Träumen und seiner Sehnsucht. Er streicht mit seinen Fingerspitzen über ihre Augen, zeichnet den Schwung ihrer Brauen nach und berührt ihren Mund, diesen wundervollen, breiten sinnlichen Mund.

"Das freut mich sehr, Sommersprosse", flüstert er irgendwann, als habe sie tatsächlich etwas gesagt, obwohl sie ihm nur diesen einen wortlosen Blick geschenkt hat. "Ich liebe dich auch." Sie gibt ein sehr niedliches, kleines Prusten von sich, halb ein Seufzen, halb ein Ächzen, versucht angestrengt auf die Beine zu kommen und purzelt dann beinahe kopfüber in seine Arme, weil ihre wackligen Knie sie einfach im Stich lassen.
"Was soll ich bloß mit dir anstellen?" Stöhnt er und sein Tonfall erwischt exakt den schmalen Grat zwischen Verzweiflung und Belustigung. "Entweder du stürzt dich auf mich, wenn ich dich küsse, oder du fällst mir beinahe in Ohnmacht."
Sie sieht ihn fast vorwurfsvoll an und ihre kleine Nase kräuselt sich, als wolle sie ihn gleich empört fragen, wessen Schuld das wohl sei, doch dann murmelt sie nur: >Wir sollten zurückgehen.< Was er in ihrer Stimme hören kann, sowohl ihr Verlangen, als auch ihre Enttäuschung, lässt ihn vernehmlich ausatmen. Enttäuschung? Bei allen Göttern... "Lía..." beginnt er leise und es klingt fast gequält, "du weißt, dass ich dich will. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts so sehr gewollt wie dich. Aber der Dunkle soll mich holen, wenn ich dich einfach so auf dem kalten Boden nehme wie irgendeine Hure, nur um nicht mehr allein schlafen zu müssen, aye?" Jetzt hätte er sie wirklich gern geschüttelt. Es ist eiskalt, sie ist immer noch krank, er ist fast zweimal so groß wie sie und sie ist himmelgötternochmal eine Jungfrau - und sie  reizt ihn noch, hat dieses kleine Frauenzimmer denn überhaupt keinen Verstand? "Hmpf. Wofür hältst du mich?" Er wartet ihre Antwort nicht ab, sondern steht auf, nimmt seinen Umhang ab, wickelt sie hinein und hebt sie einfach hoch, als wöge sie nichts, was sie genau genommen ja auch nicht tut, jedenfalls aus seiner Sicht. Ihr Kopf sinkt an seine Schulter und ihr Haar berührt seinen Hals, seine Wange und fällt als rabendunkler Vorhang über seinen Arm, eine Kaskade aus Ringellocken und sanften Flechten, seidig schwer und duftend. Er bringt sie ins Lager und ans Feuer zurück, das inzwischen nicht mehr qualmt und raucht wie ein Köhlerhaufen, sondern hell und lodernd brennt und die Nachtkälte vertreibt. Calait nimmt ihm Lía im wahrsten Sinne des Wortes ab, aber wenigstens bekommt er noch die Gelegenheit, ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken, ehe ihre besorgte Schwester sie abführt wie ein ungehorsames Kind, das zu lange nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen gespielt hat und eigentlich längst ins Bett gehört.

Hmpf. Das hast du nun davon, dass du einmal deine guten Manieren hervorgeholt hast. Sein Mund brennt immer noch, von anderen Körperteilen ganz zu schweigen, aber in seinem Inneren wärmt ihn auch etwas anderes, sehr viel machtvolleres als bloßes Begehren, glühend und beständig wie das Feuer, das vor ihm in der Dunkelheit brennt. Und der edle Ritter bringt die sittsame Jungfer unversehrt zurück zum Drachen... Er tauscht einen ein wenig hilflosen Blick mit Lía, die schon aus seinem Umhang geschält und in ihre Schlafpelze gesteckt wird. "Ich übernehme die erste Wache", hört er sich selbst sagen. Er würde ohnehin keinen Schlaf finden, nicht jetzt, nicht nach allem, was geschehen ist. Es würde eine lange Nacht werden. Eine lange, kalte und einsame Nacht vor allem. Auch Calait legt sich ohne Umschweife zum Schlafen nieder und die Tiere versammeln sich eines nach dem anderen um die beiden Mädchen, allen voran Louan, der sich quer über Lías Füße legt. Wärm sie gut, wenn ich es schon nicht darf... Er könnte schwören, der Luchs grinst ihn an, dann setzt er sich seufzend auf einen Felsbrocken direkt neben Lías Schlafplatz, legt einen Scheit Holz nach und starrt eine Weile in die Flammen. Die Nacht ist kalt, aber sein Umhang ist warm von ihrem Körper und ganz schwach haftet noch ihr Duft daran. Lía schläft bald so arglos wie ein Kind auf dem Rücken, die Hände neben sich, die Handflächen nach oben gewandt. Beinahe hätte er die Finger ausgestreckt und sie berührt, immer noch getrieben vom Bedürfnis, die rein körperliche Verbindung zu ihr nicht aufzugeben, aber dann tut er es doch nicht. Das Verlangen nach ihr simmert immer noch in seinem Blut, dicht unter der Haut, aber es schmeckt nach sehr viel mehr als nur Begehren und er ahnt zum ersten Mal vage, dass es ihn auch nie wieder ganz verlassen würde. Selbst wenn er sie nie wieder berühren, sie nie wieder küssen sollte, selbst wenn er ihren Körper nie haben würde, wenn sie nie sein werden würde - es würde nichts mehr daran ändern. Lía würde immer in seinem Herzen bleiben, eingebrannt von etwas, das er nicht begreift und das ihn mit grenzenlosem Staunen erfüllt, ihm gleichzeitig aber fast so etwas wie Unbehagen bereitet. In seinem Inneren ist etwas unwiderruflich aufgebrochen, etwas von dem er nicht einmal gewusst hat, dass es bisher verschlossen, unberührt und dunkel in ihm geruht hatte. Götter, wann? Wann ist das geschehen? Bin ich ein anderer als gestern? In seinem Inneren vielleicht. Er kann beim besten Willen nicht sagen, wann - irgendwann in den vergangenen neun Tagen. Neun Tage! Er hatte versucht, es zu ignorieren, es irgendwie zu verhindern und sich eingeredet, dass es absolut undenkbar war, aber das war ihm genauso unmöglich gewesen, wie nicht mehr zu atmen. Sie beherrscht seine Gedanken jede Stunde, jeden Augenblick, schon seit jener Nacht, als er in ihr schlafendes Gesicht geblickt und sich entschieden hatte, Riku entgegen zureiten, um ihn von ihrer Fährte abzubringen.

Er hat sein Leben mit Sicherheit nicht als Asket verbracht, ganz im Gegenteil, aber ein Mädchen wie sie ist ihm noch nicht begegnet, und geliebt hatte er nie. Bis du ihr begegnet bist. Er hat die Worte nie ausgesprochen, das Gefühl nie erwidert und keine Versprechungen gemacht, die er nicht halten konnte und wollte. Und ganz gleich, wie viele Frauen er gehabt haben mag, das hier ist für ihn ebenso neu und vollkommen fremd, wie für sie. Oh er kennt das Begehren, er kennt es gut, und er kann nicht behaupten, dass die kleinen, verruchten Spiele mit dem Feuer nicht angenehm gewesen wären, aber er war immer, immer Herr der Lage geblieben. Es war immer nur ein Spiel gewesen, bei dem es  nie um mehr oder auch nur irgendetwas anderes gegangen war, als um Lust und ihre Befriedigung. Sein Blick wandert wie von selbst zu ihrem schlafenden Gesicht zurück und seine Augen lassen sie nicht mehr los, während der Rest der Nacht damit vergeht, dass er zu begreifen versucht, was das nur für ein Dasein ist, das einen mit einem vollkommen fremden Menschen schockartig solche Hingabe, solche Ekstase und solche Verzweiflung erleben lässt. Er sitzt einfach nur da und sieht sie an, bis die Morgendämmerung perlgrau und fahl heraufzieht. Und als sie die Augen aufschlägt, blinzelnd wie ein Kätzchen im Nest, ist er immer noch an ihrer Seite, einen Schritt von ihrem Lager entfernt und lächelt sie an.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 30. Okt. 2009, 16:48 Uhr
"Du glaubst, ich bin eifersüchtig?“ Noch nicht. „Warum sollte ich?“ Oh, das wirst du schnell genug herausfinden. „Du bist schließlich nicht ihre Geliebte." Nein, ich bin ihr Herz und ihre Seele. "Ah, Calait, Calait... du weißt genau, was ich von ihr will und wenn du ein Mann wärst, würde ich dir den Hals brechen, mein Wort darauf.“ Flüchtig kämpft sie mit einem schelmischen Grinsen und zieht vielsagend eine Augenbraue in die Höhe: „Wie überaus freundlich.“ “Aber du bist nun einmal ihre Schwester und ich kann dir versichern, ihr Bruder will ich nicht sein. Nein, hör mir zu..." Neugierig, was jetzt noch kommen mag, strafft sie die Schultern und neigt leicht den Kopf, in Erwartung von etwas, dass ihr bestimmt nicht gefallen wird. "Wenn Lía... wenn sie ein Kind hätte“, setzt er zur Erklärung an und erwischt Calait prompt auf dem falschen Fuss. „Ein Kind?“, echot sie mit einem teils belustigten, teils erschrockenen Schnauben und verdreht hinter dem Tuch die Augen: „Wehe dir. Nicht hier und nicht jetzt, und auch nicht morgen, übermorgen oder in einem Siebentag, verstanden?“ In ihrer Stimme schwingt eindeutig Erheiterung mit und straft der bitterernsten Miene, die sie dabei zieht Lügen – zumindest ein bisschen, denn es ist keineswegs zur Gänze als Scherz gemeint. Colevar gibt sich unbeeindruckt von dem gut gemeinten, wenn auch etwas scharf gewürzten Ratschlag und fährt fort: "dann wäre dieses Kind doch auch ein Teil von ihr und würde untrennbar zu ihr gehören, aye? Und wenn ich mich auf sie einließe und sie sich auf mich, dann müssten wir damit genauso leben. Du gehörst zu ihrem Leben, zu ihr und ja, du bist ein Teil von ihr - das ist auch vollkommen in Ordnung so. Ich werde mich nicht mit dir um den besten Platz in ihrem Herzen streiten, Calait. Entweder es ist groß genug für uns beide - oder eben nicht. Was ich... was ich ihr bedeuten will, worauf ich Anspruch erhebe, wenn du es so nennen möchtest, mag von der gleichen Stärke und demselben Gewicht sein, aber es hat eine absolut andere Essenz." Das Lìas Herz gross genug für sie beide ist, steht für Calait ausser Frage. Lìas Herz ist gross genug für ganz Roha, Himmel und Hölle inbegriffen, und sie nimmt einen verwahrlosten Strassenbengel mit der gleichen Hingabe darin auf, wie einen ruchlosen Räuber. Ihr Herz ist für alle gleichermassen zugänglich. In dieser Hinsicht ist Lìa so sehr Pilviihmiset, wie Calait eine Resande, wenn es ums Gewissen und das Auslegen von Recht und Unrecht geht. Und das Herz einer Pilviihmiset ist nur soviel wert, wie die Menschen, die daraus Kraft, Hoffnung und Leben schöpfen dürfen. Wenn sie sich aber jemandem ganz hingeben wollen, wenn sie jemandem gehören wollen, dann schenken sie demjenigen nicht ihr Herz, sondern ihre Seele, da die Seele im Glauben des Wolkenvolks das ganze Sein, Wollen und Können eines Menschen widerspiegelt. Durch sie nimmt er an Ealaras Schöpfung teil, durch sie ist er aber auch an seinen Körper gebunden und unterliegt damit den Gesetzen der Natur. Erst nach dem Verfall der Hülle tritt seine Seele in die Weiten hinter dem Horizont ein, in das ewige Land, wo der Wind Tag und Nacht Ealaras Gesang mit sich trägt und man die Sterne vom Mitternachtshimmel pflücken kann.
Colevar ahnt wohl nicht einmal im Ansatz, was er von Lìa besitzen möchte – und was das für Konsequenzen hat. Andere Essenz? War für ein Unsinn. Du willst sie komplett. Alles von ihr. Körper, Herz, Geist und Seele, aber du hast keine Ahnung, was das in ihrem Falle bedeutet. Von der gleichen Stärke und demselben Gewicht? Das geht nicht und wird nie gehen und wenn du das erkennst, reden wir noch einmal über Eifersucht. Wahrscheinlich ist es dir dann egal, ob ich ein Mann bin oder nicht, du drehst mir so oder so den Hals um. Kein Wort davon kommt über ihre Lippen. Sie kann es nicht laut aussprechen, denn obwohl sie verbissen daran festhält, flüstert irgendeine fiese, kleine Stimme in ihrem Hinterkopf, dass sie göttererbärmlich falsch liegt und jedes einzelne Wort ist spitz wie eine Nadel. Ihre Nasenflügel beben leicht, als sie mit einem leisen Schnauben einatmet, gerade als Colevar seine Sprache wieder gefunden hat. Er erzählt von seinem Bruder, wie er ihn, kaum einen halben Tag alt, schon wieder verloren hatte, zusammen mit seiner Mutter, und dass er ihn trotzdem immer als seinen Bruder gesehen hatte, egal wie wenig Zeit ihnen vergönnt gewesen war. "Einen Bruder oder eine Schwester, eine Mutter oder einen Vater - oder ein Kind -, kann man nicht verlieren, Calait. Es ist unmöglich. Ganz gleich was auch geschieht oder wie weit man sich entfernt, es wird immer ein Bruder oder eine Schwester, ein Vater oder eine Mutter - oder ein Kind - bleiben. Blut verbindet, Familie ist Familie, Clan ist Clan. Und ich kann mir vorstellen, dass diese... unsichtbare Nabelschnur, wenn du so willst, bei Sorisgesegneten noch viel stärker ist. Einen Mann oder eine Frau dagegen kann man verlieren. Zwischen zwei Menschen kann ein starkes Band bestehen, aber es ist keines, das einem einfach so in die Wiege gelegt wird, sondern eines, um das man sich täglich neu bemühen muss, eines, an dem man immer weiter knüpft, bis es stark und fest ist oder eben nicht - dann geht es auseinander und löst sich auf wie ein schlecht gedrehtes Seil. Sie wird bei dir bleiben. Es hat viele naheliegende Gründe, nicht nur den, dass sie es nicht anders will. Aber ich habe sie weder um deinet- noch um meinetwillen nicht gebeten, mich zu begleiten, sondern um ihretwillen. Sie ist sicherer bei dir, auch wenn es ihr das Herz brechen wird." Ganz am Anfang seiner Worte hatte sie das Kinn recken und Einspruch erheben wollen, doch so wie sie ihn nur wenige Stunden zuvor zum Schweigen verdammt hatte, gibt er ihr dieses Mal nicht den Hauch einer Chance Einwände anzubringen. Leider bleibt es dabei, dass mindestens die Hälfte davon einfach nicht der Wahrheit und schon gar nicht der Realität entspricht. Ich habe Brüder und Schwester verloren, ich habe auch eine Mutter verloren und einen Vater. Mein Blut war wohl nicht dick genug, um als Familie durchzugehen, obwohl ich durch ihr eigen Fleisch auf die Welt gesetzt worden bin. Nein, Colevar, Familie ist nicht gleich Familie und Clan ist nicht gleich Clan und das Band zu Lìa mag vielleicht von Anfang an existiert haben, aber zu Beginn war es nicht mehr als ein seidendünner Faden  und, verdammt, es war schwer ihn zu halten. Und noch viel schwerer ihn weder unbeabsichtigt noch beabsichtigt loszulassen. Nur in einem Punkt stimme ich dir absolut zu: Ich kann sie – nicht mehr – verlieren, auch gab es zahlreiche Momente, in denen ich es befürchtete. Als er aber behauptet, Lìa sei bei ihr sicherer, als bei ihm, lacht sie kurz auf. Es ist ein kurzer, abgehackter und mitnichten fröhlicher Laut, der in einem ebenso abfälligen, wie wütenden und traurigen Schnauben endet. „Sicher? Bei mir? Ich wünschte, es wäre so, aber du und auch ich wissen ganz genau, dass dem nicht so ist. Ich werde sie nie so beschützen können, wie sie es verdient hatte, und wenn ich mich auf den Kopf stelle und den Geistern Tod und Dämonen an den Hals beschwöre, das ändert nichts, dass ich nicht länger auf sie, sondern sie auf mich aufpasst.“ Das Calait dieser Umstand so gar nicht in den Kram passt, kann man deutlich aus ihrer Stimme heraushören und mit einer unwirschen Geste wischt sie das Gesagte beiseite, wie ein lästiges Anhängsel, das ihr schon viel zu lange und viel zu schwer im Nacken sitzt. Aber sie weiss, dass die Bitterkeit zurückkehren wird, immer dann, wenn Lìa ihren Schutz bräuchte. Den Schutz, den sie ihr versprochen hatte, als sie mit zehn Jahren ihre Heimat verlassen hatten und in weit entfernte Lande gezogen waren.
“Aber ich habe Angst, Calait. Was ist, wenn… wenn… wenn es da Mupfen gibt?“
„Dann beschütze ich dich und verhau sie.“
„Versprochen?“
„Ganz fest versprochen! Wirklich. Du brauchst keine Angst haben. Ich werde immer auf dich aufpassen.“

Vor Mupfen, speziell kleine, ungehorsame Kinder plagende Geister, fürchtet Lìa sich inzwischen längst nicht mehr. Überhaupt ist sie zu einer ziemlich unerschrockenen Persönlichkeit herangewachsen, nur ihre Instinkte sind auf der Strecke geblieben. Leider ist Colevar das lebende Beispiel dafür, dass Calait ihre Schwester nicht einmal vor sich selbst beschützen könnte.

"Am liebsten würde ich..."… sie mitnehmen, beendet sie in Gedanken seinen Satz  und eine lange, schmale und absolut lächerliche Spitze Misstrauen bohrt sich direkt durch ihr Herz. Wenn du könntest, würdest du sie mitnehmen, egal ob ich zurückbleiben muss oder nicht. Sofort klinkt sich ihre Vernunft ein: Bin ich jetzt völlig übergeschnappt? Das würde er niemals tun und das nicht nur, um ihretwillen. Er weiss was Lìa mir bedeutet, er will sie mir nicht wegnehmen. Bei allen Geistern und Dämonen, ich sollte mich was schämen, hmpf. Das ist allerdings leichter gesagt als getan und seine darauffolgenden Worte erschweren es ein ganzes Stück. Plötzlich ist sie froh, dass die Hunde, kaum war sie wieder gesessen, sich aufs Neue um sie geschart hatten, denn so bleibt ihr im Augenblick nichts weiter übrig, als sitzen zu bleiben und Colevar zuzuhören bis zum bitteren Ende. "Was mir ein wenig zu schaffen macht, Calait, ist einfach die Tatsache, dass sie unbedingt bei jemandem bleiben will, den sie überhaupt nicht verlieren kann. Aber ich bin ein großer Junge, aye. Ich halte das schon aus." Der Kloss in ihrer Kehle wird zu einem sperrigen, eisennägel gespickten Balken, der noch nicht einmal genug Platz lässt, um in wilder Entrüstung und gerechter Verärgerung nach Luft zu schnappen. „Aber dich kann sie verlieren, ja?“, zischt sie irgendwann und klingt so wütend, wie sie ist, „Wenn ein paar Monde reichen, um deine Gefühle zu verändern, dann kann es dir nicht halb so ernst sein, wie du es mir grad weiszumachen versuchst. Weil Lìas Gefühle werden sich nicht ändern.“ Heftig beisst sie sich auf die Lippe, wendet den Kopf ab und fügt eine ganze Spur leiser, aber nicht minder zornig hinzu: „Und der Tod könnte ebenso gut Lìa und mich, wie Lìa und dich trennen.“ Ob er nun nicht weiss, was er darauf antworten soll, ob er sich gerade an der Verärgerung über ihr Verhalten verschluckt, oder ob er einsieht, dass das, was er gesagt hat, falsch war… Calait bekommt als Antwort nur ein leises: “Ich muss zu ihr.“
Ihre Zähne knirschen unter der Anstrengung ihm nicht ein: „Ja, besser du gehst jetzt“, hinterher zu werfen und eine geraume Weile ist sie damit beschäftigt sich zur Räson zu rufen, ohne sich dabei auch nur einen Sekhelrin von der Stelle zu bewegen. Geduld und Beherrschung gehören seit jeher nicht zu ihren herausragendsten Charakterzügen und nur die Wärme spendende Nähe der Hunde, die Schwere ihrer Leiber auf und neben sich und der gleichmässige, feste Rhythmus ihrer tiefen Atemzüge verhindern, dass sie Colevar hinterher stampft und diese Sache ein für allemal aus der Welt schafft. Das hast du eindeutig von Nazastra, tönt es da plötzlich mit eindeutigem Spott in ihrem Kopf und mit einem unwilligen Grummeln verschränkt Calait die Arme vor der Brust.‚Hoppla, da hab ich jemanden ja ganz auf dem falschen Fuss erwischt.’
„Lass mich in Ruhe, Drel, ich hab genug Probleme, ohne dass du dich...“, will Calait den unliebsamen Gast in Form ihres verstorbenen Freundes auch schon wieder verjagen, als sich die in ihrer Geisterruhe spürbar gestörte Grossmutter auch noch einmischt: ‚Streitet ihr euch etwa schon wieder?’
„Nein, ich…“
‚Calait wird mal wieder von ihrem hitzigen Blut übermannt.’
„Hör mal, du kleine Petze, wenn du…“
‚Himmel, Calait, es wird Zeit, dass du lernst an dich zu halten.’
„Ja, Grossmutter, aber ich…“
‚Du weißt doch noch, was ich dir damals, unter der alten Kiefer gesagt habe, mein Kind?’
„Ja, natürlich, aber ich…“
‚Ach, Mutter, du kannst es nicht lassen, nicht wahr?’
„Nevenou?“
‚Lassen? Was denn lassen? Ich versuche nur dem Kind etwas Sanftmut zu lehren.’
‚Calait und Sanftmut? Das ich nicht lache!’
„Drel, tot hin oder her, ich stopf dir gleich deinen vorlau…“
‚Calait!’
‚Jetzt lass die beiden das doch unter sich ausmachen, Mutter.’
‚… blinde Kröte!’
‚Aber Calaits Temperament wird sie noch in des Dunklen Küche bringen.’
„… glubschäugiger Hasenfuss, stinkender…“
‚Aber das muss sie…’
‚… hässliche, warzenversuchte alte E…’
‚… selbst herausfinden. Sie hat eben einen sturen Kopf.’
„… flohversuchter Has habt ihr gesagt? Stur? Hmpf, jetzt reicht’s mir hier aber langsam. Ich kann sehr wohl geduldig sein und ich kann die friedliebendste Person dies und jenseits der ewigen Lande sein, aber nicht wenn mir die halbe Verwandtschaft im Kopf herumspukt, also schert’s euch jetzt gefälligst dahin, wo ihr hingehört!“
‚Also das…’
„Raus!“
‚Ist ja gut, ist ja gut, siehst du, ganz Na…’
Ein einfaches, leises Knurren bringt die drei Geister zum Verstummen. Kurze Zeit herrscht reges Gedränge, als alle drei gleichzeitig das Tor zurück in die ihnen bestimmte Welt durchschreiten wollen, dann endlich herrscht wieder herrliche Ruhe hinter Calaits Stirn. Mit einem leisen Seufzen streicht sie sich mit gespreizten Fingern die Haare aus dem Gesicht und tätschelt Shirin, die verwundert den Kopf gehoben hatte, beruhigend den schmalen Kopf: „Schon gut, Süsse, nur ein kleines Stelldichein mit meiner Grossmutter.“
Schwere Schritte unterbrechen das Familiengeplänkel der dritten Art und rasch erhebt sich Calait, um Colevar und ihrer Schwester, die schon längst unter warmen Fellen und Decken stecken sollte, entgegen zu eilen. Sie bedenkt Colevar mit einem vorwurfsvollen Schnauben, das so gar nicht zu dem immerhin ansatzweise mitleidigem, wenn auch mehr belustigten Grinsen auf ihrem Gesicht passt. Und hätte sie seine Gedanken lesen können, wäre ein Ellbogen zwischen den Rippen noch dazu gekommen.

Es dauert nicht lange, bis sie neben Lìa auf dem Fell neben dem Feuer liegt, einen Arm um die schmale Taille ihrer Schwester geschlungen und das Gesicht in deren schweren, kühlen Locken geborgen. Der Schlaf aber lässt auf sich warten und ihre Gedanken fördern zwar die Müdigkeit, sind aber dermassen kompliziert und ineinander verstrickt, dass Calait schon nach kurzer Zeit mit Kopfschmerzen kämpft. Wie sollen Colevar und ich je auf einen grünen Zweig kommen, was Lìa angeht, wenn wir blind und taub aneinander vorbei reden? Oder… will ich ihn nicht verstehen? Ist es das? Noch etwas tiefer vergräbt sie ihre Nase in der weichen Masse und fragt sich, wie es wohl sein wird, wenn Lìa nicht mehr neben ihr, sondern neben Colevar liegt. Schon die Vorstellung von Leere und Kälte, dort wo eigentlich Lìas warmer Körper sein sollte, lässt Calait schauern. Gleichzeitig weiss sie, dass dieser Platz nicht ihr gehört. Oder zumindest bald nicht mehr. Und dann, nach einem schier endlos langen Augenblick, trifft sie die Erkenntnis aus dem Nichts:  Gütige Ahnen, ich bin eifersüchtig! Die Feststellung trifft sie hart und lässt sie schwer schlucken und fast hätte sie sich erhoben und sich prompt bei Colevar entschuldigt, kann sich aber gerade noch zurückhalten. Nein, besser nicht einfach so. Morgen, übermorgen, wird werden noch genug Zeit dafür haben. Zeit haben um loszulassen… Und mit dem Wissen, dass sie sich wirklich und ehrlich für die beiden freut, eine gewisse Trennung dadurch aber auch unvermeidlich wird, holt der Schläfer sie zu sich.
Der Morgen kommt und das viel zu früh. Gerade möchte Calait sich noch etwas näher an ihre Schwester schmiegen und ihre eigenen, eiskalten Füsse zwischen deren warmen Beinen vergraben, als sie spürt, wie Lìa sich umständlich aus Decken und Fellen zu schälen versucht. Völlig verschlafen hebt sie den Kopf und grinst gleich darauf breit, als sie hört, wie nur einen Schritt neben ihr Colevar Lìa begrüsst. „Guten Morgen ihr beiden“, nuschelt auch Calait halbwegs verständlich, wasas der Herr allerdings völlig überhört, weil er gleich darauf von einem Gewirr aus Fellen, Decken, Haar, Beinen und Armen in Beschlag genommen wird, das auf allen Vieren zu ihm krabbelt und sich auf seinem Schoss einkringelt, im Schlepptau eine ganze Schar nicht minder verwirrter Tiere, die es ihrem Vorbild sofort gleich tun. Calait indes bleibt noch einen Moment liegen und geniesst die wohlige Wärme, bevor sie sich murrend dazu aufrappelt ihr weiches Nest zu verlassen, um das Feuer wieder anzufachen und Frühstück vorzubereiten. Das verhilft Colevar immerhin zu ein wenig mehr Bewegungsfreiheit, denn kaum hängt der Duft von gebratenem Pökelfleisch und frischem Brot in der Luft, kommt Leben in das Kleingetier. Irgendwann geht Lìa ihr zur Hand, derweil Colevar sich der Pferde annimmt. Das Frühstück ist karg, aber ausreichend und verläuft bis auf ein gelegentliches Schmatzen und Calaits Drohung, den Trolden zu erwürgen, wenn er nicht sofort ihr Brotstück wieder ausspucke, schweigend. Schon bald darauf haben sie alles Gepäck wieder sicher verstaut, jedem Tier einen Unterschlupf besorgt, Lìa vor Colevar in den Sattel gesetzt und reiten weiter in Richtung Forstweg. Calait geniesst die kühle, nebelschwangere Morgenluft in ihren Lungen und auf ihrer Haut und atmet den Duft nach regenschwerer Erde und taufeuchtem Gras tief ein. Geraume Zeit reiten sie in mehr oder minder friedlicher Dreisamkeit durch die dichten, grünen Wälder, die sich, je weiter sie vorankommen, zu lichten beginnen und hie und da eine einsame Holzfällerhütte, einen kleinen Viehhof und sogar ein heruntergekommenes Gasthaus ausspucken. Es begegnet ihnen jedoch keine Menschenseele, nur das Trillern und Pfeifen der Waldvögel und das gelegentliche Röhren eines Elches durchdringen die nicht unangenehme, sonnenwarme Stille der umliegenden Bäume. Irgendwann, in Gedanken gerade dabei sich über die eigentlich wirklich schreckliche Situation – Man möchte, aber man kann nicht, weil man ja Anstand hat und eine Jungfrau ein Bett verdient – der beiden Turteltäubchen vor sich zu amüsieren, zumindest ein bisschen, hat Calait genug von der Ruhe und stimmt mit einem fast schon fies zu nennenden Grinsen auf den Lippen ein Lied an:

„Mein Vater war ein reicher Herr,
Der fragt mich, was mir wichtig wär´,
Wenn ich ein´ Mann mir nehmen wollt´,
Darauf ich ihm berichten sollt´,
Welch´ Männlein ich nicht fände schlecht,
Ich dachte an ein lang´ ...Gedicht,
Worauf man besser nicht verzicht.
Worauf man besser nicht verzicht!“

Irgendwo vor sich hört sie Colevar leise lachen und muss sich schon sehr anstrengen, um nicht den Faden zu verlieren, weil ihr selbst das Lachen im Hals sitzt.

„Ach Vater, sprach ich, mit Bedacht,
Die Mannen, die ich nicht veracht´,
Sind edle, stolze Recken,
Die voller Tugend stecken
Und nach den alten Sitten
Fest halten mir die ...Treue,
Damit ich nichts bereue.
Damit ich nichts bereue!

Hilfloses Gekicher gesellt sich dazu und sowohl Adnan, als auch Zhabiz und Colevars Grauer drehen verwirrt die Köpfe, doch Calait ist noch längst nicht fertig.

„Doch nicht nur Sitten, auch viel Mut
Das täte seinem Anseh´n gut
Und kämpft er mit erhob´nem Speer,
Gefallet er mir gleich noch mehr...
So würd´ ich in die Schlacht ihn schicken,
Zum Lohne lange mit ihm ... fechten,
Das macht ihn mir zum Rechten.
Das macht ihn mir zum Rechten!

Doch wär´ ein Ritter oft auch fort
Und ich allein an diesem Ort,
So wünscht´ ich mir ´nen Knecht wohl her,
Zu putzen meines Mannes Speer
Und manchmal auch die Lanze,
Nur ich allein schärft ihm sein ... Schwert,
Ein solcher Knecht wär´ Gold mir wert.
Ein solcher Knecht wär´ Gold mir wert.

Mein Kind, du sprichst so zart und rein,
Ich wüßte einen Mann sehr fein,
Der deiner sei, du kennst ihn gut,
Sein Ruf ist ehrbar, blau sein Blut.
Ich sehe schon, du bist entzückt,
Er ist auch wirklich gut ... betucht,
Ich hab´ ihn für dich ausgesucht.
Ich hab' ihn für dich ausgesucht!“

Noch während sie das „ausgesucht“ bewusst in die Länge zieht, bricht lautes Gelächter los und sowohl Lìa, als auch Colevar haben alle Mühe sich im Sattel zu halten, von Calait, die jappsend und mit Tränen in den Augen über Adnans schlankem Hals hängt, wie ein Schluck Wasser in der Kurve, ganz zu schweigen. Der Hengst tänzelt, eingeschüchtert von so viel guter Laune und Erheiterung auf einem Platz, nervös hin und her und im nächsten Moment ist von Calait nur noch ein einzelner, einsamer Fuss zu sehen, der prompt auch hinter Adnans Rücken verschwindet. Eine Sekunde lang herrscht entsetztes Schweigen, dann wird leises, atemloses Gekicher irgendwo hinter dem Pferd, zwischen Gras, Morast und Moos hörbar und Calaits völlig zersauster Schopf, gespickt mit Blättern, Erde und Spinnweben, taucht aus einem Busch wilden Farns auf.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 31. Okt. 2009, 23:20 Uhr
"Morgen, Sommersprosse. Gut geschlafen?" Statt einer Antwort richtet sie sich halb auf, blinzelt mit wirrem Haar und zusammengekniffenen Augen in die Morgenkälte und arbeitet sich dann hektisch unter dem Berg von Pelzen und Tieren hervor, unter dem sie geschlafen hat. Sie schlingt sich eine Wolldecke um die Schultern, stolpert zu ihm, verkriecht sich in seinen Armen und birgt ihr Gesicht an seinem Hals, als könne sie so der Kälte und dem neuen Tag noch eine Weile entkommen. Colevar wirft einen Blick auf Calaits dunklen Lockenschopf, doch der dreht sich nur demonstrativ auf die andere Seite und rührt sich keinen Sekhel unter den warmen Fellen hervor. "Oh, da hält heute aber jemand viel vom Aufstehen", meint er mit einem halben Lächeln. Lía nickt nur und kuschelt sich an ihn ohne auch nur ein Auge zu öffnen, während alle möglichen kleineren Tiere es ihr gleich tun und um den wärmsten Platz auf seinem Schoß und an ihrem Körper rangeln. "Umpf!" Ächzt er irgendwann, einen schnatternden Otter um den Hals, ein oder zwei Hörnchen auf seiner Schulter, Louan in seinem Rücken und Lía an seiner Brust. Er streicht ihr Haar zur Seite, eigentlich um ihren Hals zu küssen, weil er die einzige erreichbare Stelle ist, die nicht unter warmen Pelzdecken verborgen liegt und blickt prompt in das schnuppernde Gesicht der kleinen Fichtenmarderdame, die sich um Lías Nacken geringelt hat und die Gelegenheit nutzt, um ihn verliebt anzublinzeln und ihr feuchtes Näschen kurz unter sein Kinn zu drücken. "Huch!" Grinst er, Nase an Nase mit Eriú. "Sehr nett, Pelzgesicht, aber du bist das falsche Mädchen." Die Marderin scheint sich daran nicht zu stören, schlüpft kopfüber unter Lías Hemd und ringelt sich dort zusammen, was Colevar ein belustigtes Schniefen entlockt. "Angeberin", raunt er leise und drückt dann einen Kuss auf Lías Hals, direkt an die Stelle, wo ihr Puls dicht unter der Haut pocht. So lange er kann, atmet er einfach nur den Duft ihrer Haut ein. Es ist ein gefährlicher Genuss, den er sich da  gestattet, aber es ist viel zu schön, sie so zu halten, warm und geborgen und so nahe bei ihm, wie Kleidung und Pelze es zulassen, als dass er dem widerstehen könnte. Als Calait irgendwann leise vor sich hin schimpfend aufsteht und sich aus den Fellen schält, das Feuer neu schürt und so etwas wie ein Morgenmahl zusammensucht, bewegt sich auch Lía sacht und er lässt sie seufzend aufstehen. "Ich muss mich um die Pferde kümmern und die Sachen zusammenpacken. Wenn wir Glück haben, erreichen wir heute noch den Frostweg." Er weiß nicht, ob er sich darüber wirklich freuen soll, denn mit jedem Tag, der vergeht, rücken Falkenwacht und damit ihre unvermeidliche Trennung näher. Andererseits bedeutet der Frostweg auch Gasthäuser, Schmieden, Menschen, warme Mahlzeiten die nicht aus Pökelfleisch bestehen, Vorräte, Beschlag für die Pferde, Strümpfe für Lía. Ein heißes Bad und ein richtiges Bett und... oh. Hmmm...

Mit einem Grinsen, das man nur als wölfisch bezeichnen kann steht er auf, um das Lager abzubrechen, während Lía und Calait sich um das Füttern der Tiere und das Morgenmahl für sie selbst kümmern. Sie sind alle schon routiniert im Verstauen der ganzen kleineren Vierbeiner, so dass es wirklich nicht lange dauert, ehe ihr Lager aufgegeben ist und sie alle zum Aufbruch bereit sind. Sie wenden sich nach Süden und suchen sich Wege, die beständig breiter werden und aus den Wäldern herausführen. Lía reitet wieder mit ihm, wohl zum ersten Mal wirklich freiwillig und ohne eine Keuschheitsrüstung aus einem Elchpelz, während er Calaits Reittier als Handpferd hat. Sie kommen gut voran, auch wenn der Morgen mit seiner Nebelkälte ihnen einen eisigen Vorgeschmack auf den Winter in Immerfrost bietet. Irgendwann gegen Mittag nähern sie sich tatsächlich langsam dem Frostweg... oder wenigstens kehren sie in eine, wenn auch noch rar verstreute, Zivilisation zurück. Der Wald lichtet sich mehr und mehr, die Wege werden breiter und sie treffen immer wieder auf Wagenspuren. Hinter einem bewaldeten Hügelkamm steigt der Rauch eines kleinen Weilers oder Dorfes auf, zwischen den Bäumen liegen Viehweiden und kleine, abgeerntete Felder, und gelegentlich kommen sie an einsam gelegenen Höfen oder Hütten aus grob gezimmerten Baumstämmen vorüber. Sie begegnen keinen anderen Reisenden oder Menschen, aber einmal reiten sie an einem offenbar in aller Hast stehen gelassenen Karren voller Rüben und Wurzeln mit einem gelangweilt kauenden Ochsen im Geschirr vorüber. Als Lía mit sorgenvoller Miene fragt, wohin denn der Besitzer verschwunden sei, zuckt Colevar mit den Schultern. "Vielleicht hat er uns kommen sehen und sich davongestohlen. Wir geben ein seltsames Bild ab, Sommersprosse, all die Pferde, der Onager, die Hunde... Louan." Und ich. "Der Mann wusste wahrscheinlich einfach nicht, was er von uns halten soll und hat lieber das Weite gesucht, als vermeintlichen Räubern in die Hände zu fallen. Wir reiten weiter, dann wird er schon wieder aus seinem Versteck kommen." Irgendwann hat die Sonne auch die letzten Nebelschleier fortgeschmolzen und der Tag wird so warm wie der gestrige, nur dass die lichten kleinen Haine, die Ausläufer der mächtigen Wälder, die sie längst hinter sich gelassen haben, bei Weitem nicht mehr solche Kühle atmen und ihre Schatten bestenfalls schwache Ahnungen bleiben. Colevar bindet sein Haar im Nacken zusammen, und Lía krempelt die Ärmel ihres Hemdes zurück so weit sie kann und schürzt ihre Röcke, wenn sie dabei auch Mitleid mit ihm hat, und die Säume immerhin knapp über den Knien belässt. Sie hat auch Sommersprossen auf den Beinen, Zimt- und Bronzestaub auf weicher, goldbrauner Haut.

Irgendwann nimmt er die Zügel und die Leine des Handpferdes in eine Hand und legt die andere auf ihr Bein. Er ist sich der Vertraulichkeit durchaus bewusst, aber seine Berührung ist nicht fordernd oder drängend, er will einfach nur die Wärme ihrer Haut an seiner Handfläche fühlen... irgendwo anders, als an ihren Fingern oder Handgelenken. Ihre Hände kann jeder berühren, aber das hier ist nur für ihn. Nur ein paar Herzschläge später fragt er sich mit leiser Belustigung (und das nicht zum ersten Mal) ob Calait wirklich so blind ist, wie sie vorgibt zu sein, denn er spürt ihren Blick in seinem Rücken so deutlich, als könne sie ihn und das, was er tut ganz genau sehen, ganz gleich, wie unschuldig die Geste im Grunde sein mag. Halb erwartet er, gleich etwas möglichst scharfkantiges, hartes in den Rücken geworfen zu bekommen, doch was Lías Schwester dann tut, lässt ihn erst überrascht nach Luft schnappen und dann lachen, fast lautlos aber so amüsiert, dass sein ganzer Brustkorb bebt und damit selbst Lía, die vom hohen Vorderzwiesel des Sattels eng an ihn gedrückt wird, sacht durchrüttelt.

Mein Vater war ein reicher Herr,
Der fragt mich, was mir wichtig wär',
Wenn ich ein' Mann mir nehmen wollt',
Darauf ich ihm berichten sollt',
Welch' Männlein ich nicht fände schlecht,
Ich dachte an ein lang' ...Gedicht,
Worauf man besser nicht verzicht.
Worauf man besser nicht verzicht!


Calaits volle, dunkle Stimme gibt das zotiges Lied mit genau der richtigen Mischung aus Derbheit, sanftem Spott und einem Augenzwinkern zum Besten, doch Lía schüttelt nur verständnislos den Kopf und bemerkt vollkommen unschuldig, sie wisse wirklich nicht, was daran so lustig sein soll, Gedicht reime sich einfach nicht auf schlecht und Treue nicht auf Sitten. Colevar küsst prustend ihr Ohr. "Genau darum geht es ja, Sommersprosse", lacht er und hinter ihm kichert Calait schon die nächsten Strophen, eine frivoler als die andere, doch erst bei 'Das macht ihn mir zum Rechten!' schnappt auch Lía hörbar nach Luft. "Calait!" Japst sie hilflos und ihre Gesichtsfarbe wechselt schlagartig von Rosa zu tiefem Zinnober. Dann zischelt sie etwas von "unmöglich" und "ich kenn die nicht", und wird abrupt so klein vor ihm im Sattel, als wolle sie auf der Stelle in einem nicht vorhandenen Mauseloch verschwinden.

(Mein Kind, du sprichst so zart und rein, ich wüsste einen Mann sehr fein...) Das ist zu viel - Colevar spürt hemmungslose Erheiterung in sich aufsteigen. "Oh, Lía..." (Der deiner sei, du kennst ihn gut, sein Ruf ist ehrbar, blau sein Blut...) Er hält sie fest, beugt sich über sie und lehnt für einen Moment seine Stirn an ihr Haar. Einen Herzschlag oder zwei beißt er sich noch vergeblich auf die Zunge und kämpft dagegen an, aber es ist zu spät, das Lachen lässt sich beim besten Willen nicht mehr unterdrücken. (Ich sehe schon, du bist entzückt, er ist auch wirklich gut ... betucht, ich hab' ihn für dich ausgesucht. Ich hab' ihn für dich ausgesucht!) Als Calaits Lied endet, wird aus der Belustigung in Colevars Augen ein breites Grinsen, aus dem Grinsen ein hilfloses Glucksen und aus diesem ein schallendes Lachen, Lías Wangen dagegen glühen mittlerweile purpurfarben und sie gibt nur noch halberstickte Zischlaute von sich. Sie ist absolut hinreißend in ihrer Verlegenheit, macht aber immer noch den Eindruck, sich am liebten in Luft auflösen zu wollen und er fragt sich ernsthaft, was wohl erst geschähe, wenn sie je 'Der alte Bär und die Jungfer her' irgendwo hören würde, während Calait sich hinter ihnen schier ausschütten möchte vor Lachen und es damit tatsächlich schafft, beinahe die Pferde scheu zu machen. "Lía... das muss dir wirklich nicht peinlich sein", er lacht immer noch, bringt gleichzeitig Filidh wieder zur Ruhe und dreht sich nach Calait um, gerade noch rechtzeitig, um sie rittlings vom Pferd purzeln zu sehen. "Es ist nur ein freches... hoppla." Er pariert mit einiger Mühe den Hengst durch und hält auch den Reninker fest, der wiehernd auf der Stelle tänzelt, um sich nach seiner plötzlich verschwundenen Last umzusehen, während Lía versucht, an ihm vorbei und um ihn herum einen Blick auf ihre Schwester zu erhaschen. Dann steigt er aus dem Sattel und hebt auch Lía vom Pferderücken. Calait taucht prustend und immer noch kichernd wieder auf, großzügig mit Blättern gespickt, aber ansonsten unversehrt und ganz offensichtlich bester Dinge, muss sich aber natürlich trotzdem von Lía untersuchen lassen - und Colevar kann es nicht beschwören, aber er glaubt zumindest, dass Lía der Älteren eine geflüsterte Strafpredigt hält, was ihr eigentlich einfällt (oder nun ja, eben das, was Lía unter einer "Strafpredigt" versteht), aber nun lacht auch sie. Ob das noch der Nachhall des Liedes ist oder schlicht Calaits komischer Anblick und ihr anhaltendes Kichern zwischen Moos und Farn, halb Nymphe und halb Waldschrat, kann er nicht sagen. Sie nutzen die Gelegenheit, wo sie ohnehin schon abgestiegen sind, wenn auch nicht alle ganz freiwillig, um einen Schluck Wasser zu trinken und sich von Calaits Sangeskünsten zu erholen, doch kaum haben sie so weit durchgeatmet, dass sie nicht mehr in Gelächter ausbrechen, schlagen plötzlich die Hunde an und rasen auf etwas im Schatten einer hohen, schlanken Birke zu. Colevar fährt herum und schiebt Lía hinter sich. "Meine Güte", ertönt eine dunkle, gedehnte Stimme. "Das ist mal eine Ansammlung, die sieht man nicht alle Tage hier in der Wildnis." Eine baumlange, aber spindeldürre Gestalt in grünbraunem Leder und grauem Pelzwerk löst sich aus dem Schutz der Bäume und zieht einen verbeulten, fleckigen Schlapphut.

"Zu Euren Diensten. Und, wenn ich das sagen darf, M'lady, was für ein äh... denkwürdiges Lied. Ich will doch hoffen, dass sie schon gefrühstückt haben?" Das gilt dann wohl den Hunden, die den Fremden inzwischen mit frenetischem Gebell und lautem Grollen umringt haben und ihn mit gesträubtem Fell an seinem Platz festhalten. Colevar mustert den Mann aus schmalen Augen und schlagartig wird es auf dem sonnengesprenkelten Waldweg ein paar Grad kälter, als steige ein kühler Hauch aus der herbstlichen Erde auf. Der Fragesteller ist ein langes Elend, noch einen Kopf größer, als er selbst und er ist alles andere als klein, dabei knochig und dünn, wenn auch zäh wie altes Leder. Ein dichter brauner Bart verdeckt das meiste des wettergegerbten Gesichtes, aber eine leicht gerötete Knubbelnase ragt aus dem dunklen Gestrüpp und darüber blicken wenig passende, leuchtend grüne Kulleraugen sanft und ein wenig traurig in die Welt. Colevar entspannt sich nur einen Hauch und taxiert sein Gegenüber einen Moment lang von den staubigen Stiefelspitzen bis zu den wirren Haaren, mustert Haltung, Bewaffnung und Kleidung seines Gegenübers, ebenso wie der Mann es mit ihm, seinem Pferd, seiner Ausrüstung, der Menagerie an Tieren und Calait und Lía tut (jedenfalls mit dem, was er von ihnen sehen kann, was wenig genug ist.) Dann blitzt es beifällig in seinen Augen auf und seine runde Nase beginnt vor Interesse zu zucken. "Schöne Hunde", meint er freundlich und hält ihnen ein paar Hände, groß und grobknochig wie Wagenräder zur Inspektion hin. Alle drei nehmen die Einladung an und beschnuppern den Fremden ausgiebig, bis die kleine Hütehündin als erste ein zaghaftes Wedeln versucht. "Ja, haben sie, " versichert Colevar ihrer unerwarteten Wegbekanntschaft und der Kerl grinst von einem Ohr zum anderen. Die Hälfte seiner Zähne fehlt. "Freut mich sehr, das zu hören, Sire.  Wär' nicht nett ein paar Stücke meiner Beine zu verlieren, brauch sie noch." Er schwenkt den schäbigen Hut und verbeugt sich dann mit knackenden Gelenken. "Kerkko Unelma, Waldläufer, Botengänger, Fallensteller, zu Euren Diensten, M'ladies, Sire." Als er wieder aus seiner Verbeugung auftaucht, ziert ein breites Lächeln sein Gesicht. "Colevar Lorcain," erwidert Colevar, immer noch wachsam, aber durchaus freundlich, und spürt in seinem Rücken sowohl Lía, als auch Calait, die eine mit unverhohlenem Interesse lauschend, die andere gleichsam fasziniert und schüchtern beobachtend. "Ich bringe diese zwei schnatternden Hühnchen und ihren Zirkus hier im Auftrag ihrer Großmutter zu den Hallen der Weisen in den Rhaínlanden, damit sie dort ihre Heilkünste vervollkommnen. An die Akademie", fährt Colevar fort, als Kerkko Unelma erst verständnislos blinzelt, dann aber mit großen Augen nickt. "Kräuterweiblein, eh?" Brummt er und kommt ein paar Schritte näher, aber behutsam genug, um deutlich zu machen, dass er nicht einmal im Traum daran denkt, sich mit ihm und den Hunden anzulegen. Die kleine Resanderhündin wedelt immer noch, die beiden großen Karjakoiras sind völlig entspannt und Louan, immer noch auf Filidhs Rücken, beobachtet alles ruhig aus goldenen Augen.

Colevar nimmt die Hand vom Schwertgriff und lächelt halb. "So könnte man es sagen. Heilkundige, die noch etwas dazulernen sollen." Die Lügen kommen prompt und leicht von seinen Lippen, auch wenn eine beharrliche Stimme dabei in seinem Hinterkopf wispert: 'Sein Mund spricht nur die Wahrheit.' Scheiß auf die Wahrheit, wenn sie dich vielleicht umbringt, kontert er in Gedanken. Der Waldläufer wirft ihm einen schnellen Blick zu und in seinen Augen glimmt dabei eine Art amüsiertes Wissen, das sagt: Ich weiß, wer du bist. Ich habe die Kälte gespürt. Er verliert jedoch taktvoll kein Wort darüber, stattdessen wendet er sich mit spekulativem Interesse Lía und Calait zu. "Potzblitz, da soll mich doch der Dunkle holen. Und ich hab schon gedacht, ich müsste warten, bis ich in die Berge komme und mir einen Schamanen dafür suchen kann." Das ist Lías Stichwort, wie könnte es auch anders sein. Von einem Herzschlag auf den anderen ganz die Heilfrau, tritt sie vor, schenkt dem Fremden ein zaghaftes Lächeln, das prompt so gütig erwidert wird, als sei der Kerl Blaeran der Selige höchstpersönlich und fragt besorgt, ob er denn krank sei.
"Also ah, das nun nicht gerade, " erwidert Kerkko und beginnt plötzlich, seinen Fellüberwurf und das lange Hemd hochzuschieben. "Ist jedenfalls nicht das Brennen und auch nicht die Amazonenkrankheit, die hab ich schon mal gesehen." Er hat sich aus Hemd und Pelzen geschält und kämpft nun mit der ledernen Verschnürung seiner Beinlinge und des Lendenschurzes darüber. "Aber ist auch so recht ärgerlich, M'ladie, denn da war auf einmal diese Riesenbeule hinter meinen Eiern und..." Calait schnappt nach Luft, Lía wird schon wieder rot, doch Unelma blickt nicht einmal auf, sondern zupft  beharrlich an den Knoten seiner Unterkleidung herum und brummt dabei halb unverständlich in seinen Bart. "Tut gar nicht weh, wisst Ihr, ist aber ganz schön lästig. Könntet Ihr wohl einen Blick..."
Colevar schiebt sich entschlossen zwischen Lía und die Beinlinge des Waldläufers. "Ihr sagtet, Ihr wollt in die Berge?" Hakt er nach und etwas in seinem Ton lässt Unelma aufblicken. Einen Moment lang wirkt er verwirrt, anstatt eines Mädchens, das so klein ist, dass es seine Nase bequem in seinen Nabel stecken könnte, wenn es denn wollte, plötzlich ihn vor sich zu haben, aber dann zuckt er mit den Schultern. "Ahjapp", erwidert er gelassen, "schon. Wollte den Winter oben in Aura oder Pori verbringen, je nachdem wie weit ich komme, ehe die Schneefälle einsetzen und auf meinem Weg ein paar Botschaften aus Askainen und Kimito mitnehmen, warum?"
"Wärt Ihr bereit, ein paar Tage zu opfern und einen Umweg zu machen? Gegen gutes Silber?"
Ein spekulatives Lächeln geistert unter dem Bart herum. "Ein kleiner Auftrag, Sire?"
"Wenn Ihr so wollt. Ihr seid doch ein Waldläufer? Drei Tagesreisen nördlich von hier findet Ihr einen bunten Wagen und ein paar Schafe. Besorgt Euch bei einem Bauern in der Gegend Zugtiere und schafft den Wagen und die Tiere nach Falkenwacht ins Gasthaus "Managarms Amboss". Das kostet Euch vielleicht zwei Siebentage, aber ich würde gut bezahlen. Die Mädchen hängen an ihrem Wagen und den Schafen, aber wir mussten ihn zurücklassen. Die Wege waren vom vielen Regen so aufgeweicht, dass kein Durchkommen mehr war, aber jetzt hält das Wetter. Wir können nur nicht soviel Zeit verlieren, wir werden in Falkenwacht erwartet."


Unelma grunzt, nickt, schwenkt den Hut, trommelt sich mit den Fingern gegen den Oberschenkel und nickt noch einmal. "Na-aa", erwidert er gedehnt, "ich kann nicht so viel Zeit verlieren, sonst komme ich nicht in die Berge, aber ich weiß den richtigen Mann für  Euch, Sire. Ich gehe gleich los und hole den alten Sulo aus dem Birkenpfuhl in Lumpu. Die Sonne steht noch hoch, da wird er schon noch nicht zu besoffen zum Verhandeln sein. Braucht immer Geld und ich wollte sowieso im Birkenpfuhl bei der drallen Virva vorbei äh... das ist ein kleines Dorf, hier ganz in der Nähe." Er verbeugt sich überschwänglich und versichert, Sulo sei der richtige Mann für einen solchen Auftrag und er müsse ohnehin alle Naslang hinunter nach Falkenwacht, das sei also überhaupt kein großer Aufwand. Colevar nickt und der Rest ist Feilschen. Nachdem die Bezahlung geklärt ist - fünf Silberlinge im Voraus für ihn, fünf für Sulo und weitere zehn, wenn der Wagen und die Schafe wohlbehalten im Amboss in Falkenwacht abgeliefert worden wären - wendet sich der Waldläufer ohne Umschweife wieder Lía zu und nimmt seine Entkleidungsarbeiten erneut in Angriff. "Also, M'ladie, es ist ein dickes Ding und irgendwie purpurfarben. Es tut überhaupt nicht weh, aber es stört doch recht beim Reiten und beim Vö... äh, ja." Lía ist inzwischen so rot wie ein gekochter Hummer, aber sie nickt ganz tapfer, Calait gibt glucksende Prustlaute von sich im Bemühen, nicht in Gelächter auszubrechen und Colevar unterdrückt nur mit Mühe ein Stöhnen. "Bitte... macht Euch keine Mühe", hört er Lía sagen und sie klingt ein wenig atemlos. "Ich... ich glaube ich weiß, was es ist. Eine Bruch der Leiste."
"Ah", macht der Waldläufer mit großen Augen und scheint nicht im Mindesten unangenehm berührt zu sein, aber vielleicht hat er auch einfach nur überhaupt keine Ahnung, wovon Lía redet. "Ihr habt es sehr... sehr anschaulich beschrieben", nickt sie krampfhaft und klingt immer noch ein wenig überfordert, aber nichtsdestotrotz auch wild entschlossen, ihren Heilerpflichten nachzukommen. "Es ist nur durch... also man muss es aufschneiden und die Bruchpforte durch Nähte verschließen. Ihr müsstet dazu betäubt sein, ohne Bewusstsein, versteht Ihr? Ich kann hier leider nichts für Euch tun." Sie haben weder Mohnblumensaft noch Traumwein, abgesehen davon kann sie keine solche Messerarbeit hier mitten im Wald verrichten, das zumindest scheint ihr klar zu sein, auch wenn Colevar sehen kann, wie es sie mitnimmt, einem Hilfesuchenden nicht so beistehen zu können, wie sie es gern würde. Unelma kratzt sich am Kinn, wobei fast seine ganze rechte Hand im Bartwirrwarr verschwindet und denkt nach. "Glaubt Ihr denn, ich komme damit bis Askainen?" Fragt er zweifelnd und stülpt sich den Hut wieder auf den Kopf. Lía überlegt einen Moment und nickt dann, schärft ihm aber ein, keine abrupten Bewegungen zu machen und nicht schwer zu heben. Unelma schnieft bedauernd. "Also nicht zur drallen Virva", seufzt er ergeben, "Hm. In Askainen kenne ich einen guten Heiler, ist sogar ein Maester. Schuldet mir ohnehin einen Gefallen." Colevar unterdrückt ein Husten. Warum bei allen Höllen hatte er in Askainen nur einen schmierigen Quacksalber aufgetrieben? Seine Schulter könnte längst wieder verheilt sein, hätte er etwas von dem Maester dort gewusst. Sithech liebt dich, schon vergessen?


Der Waldläufer fügt sich in sein Schicksal und Lía tätschelt mitfühlend seine Hand, als er sich mit einem galanten kleinen Diener von ihr verabschiedet und auch Calait in ihrem Rücken höflich zunickt. Sie trennen sich mit freundlichen Worten und dem Versprechen, dass "der alte Sulo", ganz der richtige Mann für ein paar Schafe und einen Wagen, sich um alles kümmern würde. Bevor der Waldläufer sich jedoch endgültig empfiehlt und ihnen noch eine gute Reise wünscht, nimmt Colevar ihn kurz beiseite. "Wenn Ihr nach Askainen reist, nehmt den Weg über Ylane oder haltet Euch westlich der Berge. Zieht nicht direkt nach Norden, aye? Vertraut mir. Die westlichen Wege sind sehr viel sicherer." Einen Moment lang mustert der Mann ihn aus unergründlichen grünen Augen, aber dann nickt er langsam. "Ich... verstehe. Ich werde an Eure Worte denken. Haltet Euch von hier aus direkt südlich und Ihr seid  auf dem Frostweg noch bevor die Sonne sinkt. Nellim ist das nächste Dorf an der Straße, Ihr solltet es erreichen wenn es Nacht wird. Bin heute vor der Dämmerung von dort aufgebrochen. Kehrt in den Schwappenden Krug ein, der Wirt ist ein Freund von mir und wird Euch nicht übers Ohr hauen -aber tut Euch selbst einen Gefallen und esst keinen Elcheintopf, der ist ihm nicht gelungen." Ein letztes Nicken und ein Schwenken mit dem Hut, dann trennen sich ihre Wege wieder. Sie blicken Unelmas hochgewachsener, klapperdürrer Gestalt mit den wippenden Federn am Hut hinterher, bis sie um die nächste Biegung und hinter einer dornigen Schlehenhecke verschwunden ist, dann steigen sie selbst wieder auf und setzen ihren Weg fort. Wie sich herausstellt, hat der Waldläufer nicht gelogen - sie erreichen den Frostweg noch bevor die Nacht anbricht und reiten bis zum Mondaufgang auf einer breiten, gepflasterten Straße, die ihr Fortkommen unendlich erleichtert. Selbst zu dieser Stunde und um diese Jahreszeit sind hier noch Menschen unterwegs. Ein eiliger Meldereiter prescht in Richtung Norden an ihnen vorüber und eine Schar  Kaufleute aus Ylane mit langsamen Ochsengespannen bleibt hinter ihnen zurück, ohne dass sie mehr tauschen würden als ein paar neugierige Blicke auf der einen und knappes Nicken auf der anderen Seite. Nellim ist eigentlich ein kleines Dorf, kaum mehr als eine Ansammlung von drei Dutzend Häusern, die sich dicht links und rechts der breiten Straße drängen, aber es hat zwei Schmieden, mehrere große Lagerhallen und Ställe für die Tiere von durchziehenden Handelskarawanen, vier oder fünf Brunnen, drei große Gasthäuser und ein Bordell, und selbst jetzt, zu dieser nächtlichen Stunde, herrscht auf der Straße noch ein buntes Durcheinander. Der Schwappende Krug liegt im Herzen Nellims, hat drei Stockwerke, ein gemauertes Fundament, einen großen Innenhof und zahllose kleine, tiefgesetzte Fenster aus denen warmer, gelber Lichtschein strömt. Im Inneren herrscht Lärmen und reges Treiben, das können sie bis auf die Straße hören. Kaum sind sie durch den hohen Torbogen in den Hof geritten und ist Colevar aus dem Sattel gestiegen, hat Lía heruntergehoben und Calait vom Pferd geholfen, erscheint auch schon eine kleine Armada von Stalljungen, die darauf wartet, ihnen die Tiere abzunehmen - offenbar ist der Schwappende Krug eine der besseren Unterkünfte Nellims. "Nay, nicht nur die Pferde und der Onager, auch die Hunde und die anderen Tiere, bis wir wissen, ob wir sie mit hinein nehmen dürfen. Bring unser Gepäck in den Stall, aye, und versorgt die Tiere gut." Er wirft den Jungen ein paar Kupferlinge zu, die von geschickten Fingern noch aus der Luft geschnappt werden und erntet eine Phalanx breiten Grinsens von den schmutzigen Bengeln. Lía will es überhaupt nicht gefallen, sich von Louan trennen zu müssen, doch selbst sie sieht ein, dass es im Gasthaus entsetzlich voll zu sein scheint und sie den Wirt erst fragen müssen, ob er bereit ist, für ein paar Silberlinge extra auch einem Luchs, drei großen Hunden, einem Marder, einem Otter , ein paar Hörnchen und einem Trold, sowie einem kreischenden Eulenküken und einem Falken Obdach zu gewähren. "Im Stall sind sie erst einmal gut aufgehoben, Sommersprosse. Wir besorgen die Zimmer und reden mit dem Wirt", erklärt er geduldig, aber auch müde. Seit sie auf der Straße sind und die Aussicht, wieder unter Menschen zu sein und in einem Gasthof unterzukommen greifbar vor ihrer Nase gewesen war, spürt Colevar die Erschöpfung der letzten Tage mehr als deutlich in seinen Knochen.

Hier sind sie in Sicherheit, und zum ersten Mal seit zehn Tagen kann er vorsichtig aufatmen. Riku ist immer noch irgendwo hinter ihnen, aber selbst wenn er heute Nacht noch in Nellim einreiten würde, mit dieser schieren Anzahl Anderer um sich herum sind sie so sicher wie in Sithechs Schoß, so sicher wie sie nur sein können. Zum ersten Mal seit er auf Lía und Calait getroffen ist, kann er es sich damit erlauben, die eiserne Disziplin, die ihn bis jetzt hellwach und aufmerksam hatte sein lassen, ein wenig zu lockern. Als er mit den beiden Mädchen über den Hof zum hellerleuchteten Eingang des Gasthauses geht, fühlt er sich mit einem Mal hundert Jahre alt und spürt jeden einzelnen Knochen im Leib. Seit fast zwei Siebentagen hatte er kaum geschlafen, war hart geritten, hatte zu wenig gegessen und nie wirklich Ruhe gefunden, von dem ganzen Gefühlschaos, das obendrein noch über ihn hereingebrochen war, ganz zu schweigen. Seine Schulter beginnt zu pochen und protestiert vernehmlich gegen die Überanstrengung und die Anspannung sickert so beständig aus ihm heraus wie Wasser aus einem löchrigen Eimer. Als sie das Gasthaus betreten und in einem schmalen Windfang stehen, muss er sogar ein paarmal den Kopf schütteln, um nicht einfach im Stehen einzuschlafen. Es dauert allerdings nur einen Herzschlag, bis wieder Leben in ihn kommt, denn hinter dem Windfang herrscht Wärme, der Geruch nach süßem Hopfen, gebratenem Fleisch, Pfeifenkraut  und jede Menge feuchtfröhlichen Gedränges der unterschiedlichsten Wesen, hauptsächlich Menschen, die meisten von ihnen Männer, entweder, reisende Händler oder Soldaten der Frostgarde. "Lasst mich vorangehen." Er schiebt sich nach vorn und nimmt Calaits Hand, so dass sie zwischen ihm und Lía ist, um sie einigermaßen sicher durch das Gewühl zu bugsieren. Durch das Gedränge zu kommen, geht nicht ohne Berührungen ab, auch wenn sich die Menge vor seinen Schultern teilt wie seinerzeit der Ildorel vor Timeon Silberschild - in seinem Kielwasser sind die Mädchen sofort wieder umringt und es dauert keine fünf Schritt in Richtung Tresen, ehe Calait hinter ihm schon zischt wie eine verbrühte Katze und die Fersen in den Boden rammt. Ein Blick über die Schulter offenbart ihm Lía, eingefangen von einem viel zu gut aussehenden jungen Burschen in staubigem Reisegewand, der sie anlächelt, eine ihrer Hände in seine genommen hat und ihr, die erschrocken auf ihre Unterlippe beißt und auf einem Bein hüpft, weil sie sich anscheinend gerade irgendwo das Schienbein gestoßen hat, versichert, dass sie, wenn sie schon an irgendjemandes Lippe saugen muss, herzlich gern auch seine nehmen dürfe. Colevar schnaubt, dreht um, nimmt Lía am Arm, schiebt sie in Richtung Calait außer Reichweite und versetzt dem Jungen dann einen kurzen Stoß, der ihn rückwärts in die Arme seiner Kameraden taumeln lässt. Durch die eben noch so warme Gaststube weht ein eisiger Hauch, als habe irgendjemand irgendwo ein Fenster aufgerissen und der kalte Nachtwind ströme herein. "Nein wird sie nicht", erklärt er gefährlich leise, "und wenn du deine Finger nicht bei dir behalten kannst, schneide ich sie dir ab und stopfe sie dir dorthin, wo nicht einmal deine Mutter sie mehr findet. Hast du mich verstanden?" Sie ernten ein paar erschrockene Blicke, doch die meisten Umstehenden beachten das Geplänkel kaum und wundern sich höchstens über ihre plötzliche Gänsehaut... aber die restlichen Schritt zum Tresen hinüber sind mit einem Mal ziemlich menschenleer und damit rasch zurückgelegt. "Was hast du bloß an dir", raunt er im Plauderton, als sie darauf warten, dass der Wirt, ein rundlicher, rotgesichtiger Mann, der angenehm an einen großen, freundlichen Hund erinnert, Zeit für sie findet, "dass jeder Mann, der dir begegnet, sich, kaum dass er dich kennengelernt hat, die Hosen ausziehen will. Hmpf."  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 01. Nov. 2009, 23:07 Uhr
Der Ausdruck in Colevars Augen verursacht bei ihr Herzklopfen, doch diesmal nicht hervorgerufen durch irgendwelch sexuell konnotierten Anzeichen, sondern weil ihr ein Licht aufgeht, jetzt da sie sich dem wahren Wesen und der tatsächlichen Schwäche und Angst dieses erwachsenen, stolzen Mannes gegenüber sieht.  Sie spürt ein schmerzliches Ziehen in der Brust, als er sie ansieht, als hätte sie den Verstand verloren. Doch er irrt sich. Lía sieht völlig klar – und was sie sieht ist Colevar; der Mann auf den sie gewartet hat ohne es zu wissen, der Mann der den Schlüssel besitzt um, nicht nur wie alle anderen einfach in ihr Herz einzudringen, sondern die Tür zum Mittelpunkt ihres Seins zu öffnen und sich dort einzunisten. Es ist blanker Irrsinn, dass Lía sich so dermaßen sicher ist wo er ihr doch so gut wie völlig fremd ist – dennoch besteht für sie kein Zweifel. Und egal was er auch denken mag, sie weiß, was er ihr bedeutet und was sie in ihm gefunden hat. Vielleicht ist Colevar selbst nicht fähig dazu, aber Lía sieht sein strahlendes, wärmendes Licht und es erfüllt ihr Innerstes bis in den letzten Winkel. Er ist nicht das große Los, Colevar ist das einzige Los und sie würde nie ein anderes brauchen, denn er ist alles was sie will. "Ich liebe dich auch." Einen Moment lang sieht sie ihn verblüfft an. Das hatte bisher noch nie jemand zu ihr gesagt – jedenfalls nicht so. Lía zweifelt keine Sekunde an seiner Aufrichtigkeit, was sie nur noch mehr verwundert, da sie Colevar zwar als einfühlsam und sanft kennengelernt hat, jedoch durchaus weiß, dass dies nur eine Seite der Medaille ist. Sie hat einfach nicht erwartet, dass sie diese Worte von ihm hören würde, dass er sein Herz und seine Gefühle für auf der Zunge tragen würde. Doch offensichtlich ist sie nicht die einzige, die sich darüber wundert, denn auch auf Colevars Zügen macht sich so etwas wie leises Erstaunen breit. Ob es ihm nun bis er es laut ausgesprochen hatte einfach nicht bewusst gewesen war, oder ob es daran liegt, dass er nicht damit gerechnet hat sich diese Worte je sagen zu hören – er ist offensichtlich nicht weniger erstaunt als sie selbst. Für einen Moment droht ihre Traurigkeit übermächtig zu werden. Er geht nur nach Talyra, doch er hätte ebenso gut ans andere Ende der Welt gehen können, denn es würde ewig dauern bis sie wieder zusammen sein könnten. Doch bevor die Verzweiflung über den Abschied sie erneut überrollen kann ertönt Colevars belustigte Stimme und sie sieht ihn mit vorwurfsvollem Blick an, erspart sich jedoch jeglichen Kommentar. Nützen würde es ohnehin nicht, höchstens zu seiner Belustigung beitragen, weshalb sie sich damit begnügt das Näschen zu rümpfen und ihn mit einem bösen Blick zu strafen (oder das was sie dafür hält). Als sie sich seines fast schon gequälten Tones gewahr wird blickt sie auf und begegnet seinem Blick, der ihr mehr als deutlich macht wie ernst er seine Worte meint. Schlagartig wird ihr klar, dass sie ihn in eine prekäre Situation bringt, da er sich nur um ihretwillen zurückhält und sie es ihm nur noch unnötig schwerer macht. Lía nickt wortlos zum Zeichen, dass sie verstanden hat und senkt beschämt den Blick. Colevar hat Recht. Natürlich hat er das. Leider hilft ihr diese Erkenntnis im Moment wenig, aber sie reißt sich zusammen und als er sie schließlich hoch hebt und sie sich an ihn schmiegt, hat die Berührung wieder etwas von ihrer gewohnten Arglosigkeit und der Unschuld die Lía zueigen ist. Kurz steigt in ihr das Bedürfnis auf ihn zu schelten dafür, dass er seine Schulter so strapaziert, aber ein Blick in sein Gesicht genügt um ihr vor Augen zu führen, dass ihm das egal ist und er sie nicht einfach wieder hergeben wird. Allerdings hat er seine Rechnung ohne Calait gemacht, denn die nimmt ihm Lía ab sobald er ans Feuer getreten ist und bugsiert sie sanft aber bestimmt zu ihrem Schlafplatz. Es gelingt ihr gerade noch einen kurzen Blick auf Colevar zu erhaschen bevor sowohl Calait als auch das ganze Getier sich auf und um Lía herum versammelt und es sich bequem macht. Sie spürt wie Calait sich an sie schmiegt, einen Arm um ihre Taille schlingt woraufhin sich ein zärtliches Lächeln auf ihre Züge legt, sie sich zu den Älteren hinüber beugt und ihr einen sanftes Kuss auf die Stirn drückt. Schweigend kuschelt nun auch Lía sich tiefer in ihre Felle während Louan sich zu ihren Füßen niederlässt, jedoch nicht ohne ihr noch einen langen Blick zu schenken und Lía ist sich sicher in den gelben Augen all das zu lesen, was der Luchs für seinen Schützling empfindet. Mit dem Gefühl von Geborgenheit und geliebt zu werden schläft sie rasch ein, obwohl ihr soviel durch den Kopf geht, doch die Müdigkeit ist einfach zu groß und es dauert nicht lange bis sie in einen ruhigen, traumlosen Schlaf überdriftet.

Obwohl Lía tief und fest schläft ist sie sich Colevars Nähe durchaus bewusst. Sie spürt seine Nähe, sie weiß, dass er an ihrer Seite ist. So deutlich als würde sie ihn sehen. Und diese Gewissheit lässt ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen erscheinen, was ihren im Schlaf völlig entspannten Zügen einen noch unschuldigeren Ausdruck verleiht. Lía schläft den Schlaf der Gerechten, zwar hat sie selbst ohne aufzuwachen bemerkt, dass es bereits hell geworden ist, doch hat diese Erkenntnis sie nur dazu veranlasst ein unwilliges Murren von sich zu geben und sich umzudrehen. Solange sie schläft muss sie sich immerhin nicht mit dem Gedanken befassen, dass ihr nur noch einige wenige Tage mit Colevar bleiben. Jetzt, da die Sonne sie nicht mehr in ihrem Schlaf stört beginnt sie wieder in die Welt der Träume abzudriften. Colevar, einmal in ihren immer noch vom Schlaf umnebelten Gedanken weigert er sich strikt diese wieder zu verlassen und grinst ihr nur frech entgegen, was ihr ein leises Lachen entlockt, bevor sie dann die Augen aufschlägt und tatsächlich in Colevars lächelndes Gesicht blickt. "Morgen, Sommersprosse. Gut geschlafen?" Anstatt einer Antwort dreht sie sich auf den Rücken, hebt die Hand und blinzelt verschlafen gegen die Sonne, bevor sie dann ihre Decke um die schmalen Schultern wickelt, sich unter den Tieren hervorkämpft und - zwar immer noch verschlafen, aber nichtsdestotrotz zielsicher - auf Colevar zukrabbelt, sich auf seinem Schoß zusammenkauert und an seine breite Brust schmiegt. Wie nicht anders zu erwarten dauert es keine 3 Sekunden bis auch ihr kleiner Privatzoo sich gewahr wird, dass da jemand ihre Freundin für sich allein beanspruchen will und wie auf ein stummes Kommando wuseln plötzlich sämtliche Otter, Marder, Hörnchen und zu guter Letzt auch Louan auf sie zu und versuchen einen guten Platz zu ergattern. Als sie seine warmen Lippen an ihrem Hals spürt windet sie sich kurz auf seinem Schoß und gibt einen amüsierten Laut von sich, da Colevars lange Haare sie kitzeln, aber er lässt sie nicht beirren und verharrt an Ort und Stelle. Erst als er sich von ihr löst öffnet sie die Augen und sieht ihn unverhohlen an. „Guten Morgen“, lächelt sie sanft und ihre Stimme klingt warm und zärtlich. Nachdem Calait sich aus ihren Decken geschält hat und anfängt sich ums Essen zu kümmern kann auch Lía den Anbruch des neuen Tages nicht länger ignorieren und löst sich sichtlich ungern von Colevar und eilt ihrer Schwester zur Hilfe. Es dauert nicht lange bis der Geruch von gebratenem Fleisch und Brot die Luft erfüllt, was nicht nur Colevar von den Pferden zurück ans Feuer lockt, sondern auch sämtliche Tiere – allen voran natürlich Nimmersatt - auf den Plan ruft. Das Frühstück verläuft schweigend und in Rekordzeit ist das Lager abgebrochen und alles in den Satteltaschen verstaut und auch die Tiere eingefangen und ihrem Platz zugewiesen. Es ist noch früh als sie aufbrechen und der Nebel hängt noch über dem Wald, die Welt um sie her erwacht nur langsam, aber je länger sie unterwegs sind, desto mehr lichtet sich der Nebel und desto mehr Geräusche gesellen sich zu dem Hufschlag der Pferde. Die Kälte allerdings weicht nur langsam und Lía drückt sich fest an Colevar um sowohl ihn als auch sich selbst vor der beißenden Kälte zu schützen. Ab und an wirft sie Calait einen besorgten Blick zu, doch ihrer Schwester scheint der kühle Morgen überhaupt nichts auszumachen. Doch gegen Mittag gelingt es der Sonne endlich die Kälte zu vertreiben und es wird sogar richtig warm. Genüsslich reckt sie das Gesicht der Sonne entgegen und schließt die Augen. Es hätte ein schöner Tag sein können, hätte sein stetiges Voranschreiten nicht bedeutet, dass der Abschied von Colevar immer näher rückte, aber sie ließ den Gedanken nicht zu. Nicht jetzt. Sie würde noch lange genug damit zu kämpfen haben, jetzt wollte sie einfach nur die Zeit mit ihm genießen. Allerdings gelingt es ihr nicht den Gedanken völlig zu verdrängen. Nicht gewillt sich auch nur ein winziges Stückchen von ihrem Hintermann zu lösen versucht sie der erstaunlichen Wärme der Sonne dadurch vorzubeugen, dass sie ihre Ärmel hochkrempelt und ihre Röcke etwas lupft. Ein schelmisches Grinsen liegt auf ihren Zügen als Colevars Hand sich ihren Weg auf ihr Bein sucht, doch ihre Bemerkung bleibt ihr wortwörtlich im Halse stecken, als sie die ersten Töne vernimmt die ihre Schwester soeben anstimmt. Himmel! Sie kennt das Lied. Oh, natürlich kennt sie es – schließlich verfügen die Schwestern über das gleiche Liedrepertoire. Mit dem Unterschied, dass Lía manches davon einfach ignoriert und ihr nicht einmal im Traum einfallen würde ein solch frivoles Lied zu singen. „Calait!“, zischt sie in ihrer Hilflosigkeit und weiß doch genau, dass es längst zu spät ist. Weder ihre Schwester noch Colevar scheinen sich an ihrer Verlegenheit zu stören. Währenddessen würde sie am Liebsten vor Scham im Boden versinken und der zartrosa Hauch auf ihren Wangen ist schnell einem feuerrot gewichen. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Lass das!, schimpft sie in Gedanken, während sie immer kleiner und kleiner wird und eigentlich nur darauf wartet, dass sich ein Loch im Boden auftut in dem sie versinken kann. So sehr Colevar sich auch bemüht irgendwann gelingt es ihm dann doch nicht länger es zu unterdrücken und er fängt schallend an zu lachen was Lía nur einen verzweifelten Laut von sich geben lässt. „Jetzt hör schon auf“, murmelt sie verlegen, kann aber ein Lachen nicht mehr ganz unterdrücken. „Hauptsache ihr habt euren Spaß“, nuschelt sie gespielt empört und hält erschrocken inne, als plötzlich ein dumpfes Geräusch hinter ihnen verrät, dass Calait soeben auf etwas unelegante Art und Weise Bekanntschaft mit dem Waldboden gemacht hat. Colevar, wohl wissend, dass Lía sich selbst davon überzeugen muss, dass ihrer Schwester auch wirklich nichts passiert ist, springt aus dem Sattel bevor er dann ihr vom Pferd hilft und im nächsten Moment ist sie auch schon an Calaits Seite, hilft der Älteren auf die Füße, nimmt sie genau unter die Lupe um auch ja sicherzustellen, dass ihr nichts passiert ist, während sie ihr in leisen eindringlichen Worten erklärt, sie solle sich dieses und ähnliche Lieder doch bitte für die Schankräume sparen.

Es ist weniger das Verhalten der Hunde als Colevars Reaktion darauf, die Lía erschreckt. Ein kurzer Blick zu Louan, der nur träge den Kopf hebt und in die Schatten unter den Bäumen späht, bevor den großen Schädel dann wieder desinteressiert auf seine Forderpfoten bettet verrät ihr, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Colevar sieht das allerdings ganz offensichtlich anders. "Meine Güte", wenig überrascht aber durchaus neugierig reckt Lía den Hals und versucht an Colevar vorbei immerhin einen kurzen Blick auf den Mann zu erhaschen. "Das ist mal eine Ansammlung, die sieht man nicht alle Tage hier in der Wildnis." Ein amüsiertes Funkeln tritt in ihre Augen beim Anblick des langen, dürren Fremden. Anders als Colevar verspürt sie nicht das geringste Misstrauen, im Gegenteil, der Kerl ist ihr auf Anhieb sympathisch mit seinem struppigen Bart und den sanften grünen Augen. Schweigend tritt sie neben Colevar und legt ihm besänftigend eine Hand auf den Arm. "Zu Euren Diensten. Und, wenn ich das sagen darf, M'lady, was für ein äh... denkwürdiges Lied. Ich will doch hoffen, dass sie schon gefrühstückt haben?" Gerade als sie zu einer Antwort ansetzen will spürt sie wie es schlagartig ein paar Grad kälter wird und sie wendet irritiert den Kopf und blickt Colevar mit großen Augen an. Es ist nicht allein die Tatsache, dass er dem Dürren so feindselig gegenübertritt, sondern auch die Kälte mit der er es tut die sie erschüttern und einen Moment lang kann sie nichts anderes tun als ihn einfach nur anzustarren. "Schöne Hunde" Es sind diese Worte, die Lías Aufmerksamkeit wieder auf den Fremden lenken und hätte sie ihn nicht schon von vornherein irgendwie gemocht, so hätte er sie spätestens jetzt für sich gewonnen. Ein glückliches Strahlen erhellt ihre Züge und sie schenkt ihm ein dankbares Lächeln, wagt es jedoch nicht das Wort zu ergreifen, da Colevar nach wie vor misstrauisch wirkt und sie ihm keinesfalls in den Rücken fallen will (auch wenn ihr Verhalten seinem Auftritt wohl doch trotz allem etwas den Wind aus den Segeln nimmt, ohne dass sie es selbst ahnt). "Kerkko Unelma, Waldläufer, Botengänger, Fallensteller, zu Euren Diensten, M'ladies, Sire." Lía lässt ein leises Lachen hören bei Kerkkos überaus komisch aussehenden Verbeugung und quittiert seinen amüsierten Blick mit einem freundlichen Lächeln, auch Colevar schlägt nun einen wesentlich freundlicheren Ton an, auch wenn er nach wie vor nichts von seiner Wachsamkeit einbüßt. „Ich bringe diese zwei schnatternden Hühnchen und ihren Zirkus hier im Auftrag ihrer Großmutter zu den Hallen der Weisen in den Rhaínlanden, damit sie dort ihre Heilkünste vervollkommnen. An die Akademie" Lía zuckt unwillkürlich bei dieser Lüge zusammen, und die Erwähnung der Großmutter lässt sie für den Bruchteil einer Sekunde um ihre Fassung ringen, bevor sie sich dann wieder soweit unter Kontrolle hat, dass es ihr immerhin gelingt nicht mehr völlig entsetzt aus der Wäsche zu kucken. Trotzdem dürfte ihre Reaktion mehr als deutlich gemacht haben, dass Colevar lügt und es tut ihr augenblicklich leid. Schweigend zieht sie ihre Hand von seinem Arm zurück und weicht einen Schritt zurück, so dass Kerkko sich nun ausschließlich Colevar gegenüber sieht – allerdings nicht für sehr lange, denn die folgenden Worte lassen Lías Helfersyndrom erwachen und sie huscht an Colevar vorbei und bleibt knapp vor Kerkko stehen und erkundigt sich mit überaus besorgtem Gesichtsausdruck ob er denn krank sei. Lía folgt mit aufmerksamem Blick jeder seiner Bewegungen und lauscht seinen Ausführungen, auch wenn ihr bei der Ausführlichkeit seiner Beschreibung das Blut in die Wangen schießt, aber sie verharrt an Ort und Stelle fest entschlossen ihm zu helfen. Sie blinzelt etwas verwirrt und starrt perplex auf Colevars Rücken wo vor einer Sekunde noch der Waldläufer gewesen war. Gerade als sie Einwände erheben will beginnt Colevar mit Kerkko zu feilschen und sie schließt den Mund wieder ohne etwas gesagt zu haben. Angesichts der Summe um die es sich hier handelt reißt Lía die Augen auf und schnappt nach Luft. Natürlich ist sie ihm dankbar dafür, dass er ihr ihren Wagen und die Schafe wieder beschaffen will, aber doch nicht für ein kleines Vermögen. „Colevar!“, raunt sie ihm fassungslos zu, doch er beachtet sie gar nicht. Kaum haben sich die Männer auf einen Preis geeinigt wendet Kerkko sich nun wieder ihr zu und blickt sie hilfesuchend an. "Also, M'ladie, es ist ein dickes Ding und irgendwie purpurfarben. Es tut überhaupt nicht weh, aber es stört doch recht beim Reiten und beim Vö... äh, ja.", brummelt der Waldläufer ohne aufzusehen, doch Lía streckt die Hand aus und berührt ihn sanft am Arm. „Bitte, macht Euch keine Umstände“, stammelt sie etwas überfordert vor sich hin. "Ich... ich glaube ich weiß, was es ist. Eine Bruch der Leiste." Kerkkos ausdrucksloses Gesicht macht mehr als deutlich, dass er mit dieser Information nicht besonders viel anfangen kann, weshalb sie sich beeilt ihm zu erklären, dass sie leider nichts für ihn tun kann hier mitten in der Wildnis. Es ist unschwer zu erkennen, dass ihr diese Tatsache schwer zu schaffen macht; gern würde sie diesem komischen Kauz helfen, aber sie hat nun mal nicht die nötigen Mittel und unter diesen Bedingungen einen solchen Eingriff vorzunehmen wäre unverantwortlich. Nachdem Lía ihm allerdings versichert, dass er es damit bis Askainen schaffen wird, nickt er zwar etwas niedergeschlagen – offensichtlich gefällt ihm der Gedanke nicht auf Virva verzichten zu müssen – bevor er sich für die Hilfe bedankt und ihnen den Weg zu einem Gasthaus beschreibt, dessen Besitzer scheinbar ein Freund von ihm ist. „Seltsamer Kerl“, lacht Lía während die dürre Gestalt des Waldläufers hinter der nächsten Biegung verschwindet.

Der Rest des Tages verläuft relativ ereignislos und als die Nacht anbricht treffen sie zum ersten Mal seit Wochen endlich wieder auf andere Menschen. Die Aussicht auf eine warme Mahlzeit und ein richtiges Bett lässt sie alle noch mal ihre letzten Reserven zusammenklauben und etwas an Geschwindigkeit zulegen. Dennoch ist es bereits tiefe Nacht, als sie endlich den Gasthof erreichen. Als sie durch das Tor auf den großen Hof einreiten sieht Lía sich neugierig nach allen Seiten um. Nellim mag nicht mehr als ein Dorf sein und dennoch kommt es Lía nach all der Zeit vor wie eine Großstadt. Mit der Begeisterung eines Kindes ruckt ihr Kopf von links nach rechts und ihre Augen leuchten strahlend hell. Doch als ihr Blick auf Colevar fällt wird ihre Miene ernst und besorgt. Aber da ist noch etwas anderes in ihren Augen: Erleichterung. Die Stallburschen führen die Pferde ab, doch als sie sich daran machen wollen sich auch der restlichen Tiere anzunehmen setzt Lía gerade dazu an ihnen zu erklären, dass das nicht nötig sei, als Colevar ihr zwar durchaus geduldig aber auch sehr erschöpft erklärt, dass die Tiere gut bei den Burschen aufgehoben seien und sie erst mit dem Wirt abklären müssten ob das in Ordnung wäre, wenn sie die Tiere mit ins Gasthaus nehmen würden. Der Gedanke behagt der Jüngeren der beiden Schwestern zwar so gar nicht, aber sie sieht ein, dass es wohl besser so ist. Nach einer kleinen Ewigkeit die sie braucht um sich von Louan zu verabschieden betreten sie schließlich die warme Gaststube und werden augenblicklich eingehüllt von dem Geruch von gebratenem Fleisch, Bier, verbrauchter Luft und Mensch. Erschlagen von dieser Menschenmasse weiß sie gar nicht wo sie zuerst hinsehen soll, doch Colevar schiebt sich an ihr vorbei und bannt sich einen Weg zum Tresen, die beiden Mädchen im Schlepptau. Doch die Schleuse die er schlägt schließt sich augenblicklich wieder hinter seinem breiten Rücken und er dauert nicht lange bis Lía sich in dem Gedränge an einem Stuhlbein stößt. Der dunkelhaarige junge Kerl der bis eben noch mit dem Stuhl gewippt hat blickt sich bei ihrem leisen Wimmern erstaunt um und ist dann augenblicklich auf den Beinen. „Bitte verzeih“, säuselt er und ergreift ihre Hände. Das charmante Lächeln das er ihr schenkt lässt sie einen Moment verdutzt blinzeln bevor sie dann ebenfalls scheu lächelt. „Schon gut. Ist ja nichts passiert“, meint sie so leise, dass der Bursche scheinbar zwei Schritt näher kommen muss um sie zu verstehen. „Wirklich? Lass mich doch mal sehen“, er macht einen weiteren Schritt auf sie zu und obwohl er immer noch freundlich lächelt geht eine Veränderung mit ihm vor. Der Ausdruck in seinen Augen bringt Lía dazu hastig den Kopf zu schütteln und vermutlich wäre sie etwas vor ihm zurückgewichen, würde er nicht nach wie vor ihre Hände fest in seinen halten. „Ich will doch nur helfen“, grinst er woraufhin seine Freunde nur in schallendes Gelächter ausbrechen. Lía versteht nicht so wirklich was daran so lustig sein soll, aber sie lehnt sein Angebot dennoch ab. „Es ist wirklich nichts passiert“, versichert sie ihm und schenkt ihm ein warmes, dankbares Lächeln. Als er jedoch nun jedoch weiterhin immer näher kommt kaut sie nach Worten ringend auf ihrer Unterlippe herum. Seine nächsten Worte bringen sie so dermaßen aus dem Konzept, dass sie gar nicht weiß wie sie darauf reagieren soll. Doch das braucht sie auch gar nicht, denn in dem Moment taucht Colevar plötzlich neben ihr auf, schiebt sie außer Reichweite der jungen Burschen und verpasst ihm einen heftigen Stoß, der Lía erschrocken nach Luft schnappen lässt. Jedoch gibt Calait ihr gar nicht die Gelegenheit dazu einzugreifen, sondern schiebt sie nur weiterhin auf den Tresen zu. "Was hast du bloß an dir" Bei diesen Worten wird ihr Blick fragend woraufhin Colevar grimmig hinzufügt: "dass jeder Mann, der dir begegnet, sich, kaum dass er dich kennengelernt hat, die Hosen ausziehen will. Hmpf." Empört klappt sie den Mund auf um ihm zu widersprechen, klappt ihn dann jedoch wieder zu ohne etwas gesagt zu haben und schüttelt den Kopf. „Das ist doch gar nicht wahr! Wie kommst du nur auf diesen Unsinn? Das war weder bei dir noch bei dem Burschen von eben der Fall – und der Waldläufer wollte lediglich, dass ich mir seinen Leistenbruch ansehe!“, erklärt sie ihm mit solcher Überzeugung, dass sie Calait leise aufstöhnen hört. „Was denn?!“ Allerdings wird ihr Gespräch durch das Auftauchen des Wirtes unterbrochen und wie sich herausstellt ist der rundliche, kleine Wirt mit den wässrigen Augen tatsächlich ein alter Freund des Waldläufers, denn kaum erwähnen die dessen Namen breitet sich ein breites Grinsen auf dem freundlichen, runden Gesicht des Wirtes ab und er erklärt, dass es natürlich kein Problem sei, die Tiere ins Gasthaus zu holen, solange sie darauf achten würden, dass die Tiere keine anderen Gäste belästigen. Nach kurzem überlegen entscheidet sich die kleine Gruppe zuerst die Zimmer zu beziehen und sich das Essen dorthin bringen zu lassen. Während Colevar und Calait das Gepäck nach oben schaffen, treibt Lía die Tiere zusammen. Trotz des Einverständnisses des Wirtes entscheidet sie sich dafür nicht den gesamten Tierbestand mit hinein zu schleppen. Skar hat sich ohnehin schon auf Beutezug begeben und auch die Hörnchen haben sich ein Nachtlager im Stroh der Pferde gebaut. Tanguy auf dem Arm, Vi-Vi leise zirpend in ihrer Rocktasche, Noraya um die Schultern, die schmollende Ériu – mal wieder hat sie den Kampf gegen die weitaus bissigere Noraya verloren – neben ihr betritt sie durch den Gesindeeingang das Gasthaus und schleicht, dicht gefolgt von Louan die Treppe zu den Zimmern hoch.

„Calait?“, vorsichtig betritt sie das Zimmer ihrer Schwester und sieht sich nach der Älteren um. „Brauchst du noch etwas?“ Grinsend blickt Calait von ihrem Essen auf und merkt zu spät, dass die Tiere ebenso hungrig sind wie sie selbst. „Schert euch! Das ist mein Essen!“, schimpft sie lachend und schafft es gerade noch rechtzeitig ihren Teller außer Reichweite Norayas zu schaffen. Nachdem Lía den Tierchen lange gut zugeredet und fest versprochen hat sie würde sich drum kümmern, dass sie was in den Magen bekommen kann Calait es endlich wagen den Teller wieder niederzusetzen, ohne dass sich gleich die ganze Bande auf ihr Essen stürzt. Nachdem Lía veranlasst hat, dass man ihrer Schwester ein Bad einlässt und sie sich noch mindestens 5 mal erkundigt hat, ob sie auch sicher nichts mehr braucht, reicht es Calait irgendwann und sie schickt sie fort, wohl wissend, dass es da noch jemanden gibt dem Lía einen Besuch abstatten will. Louan versetzt ihr einen sanften Stubser als sie regungslos vor der Tür verharrt ohne Anstalten zu machen das Zimmer zu betreten. „Schon gut, schon gut – ich mach ja schon!“, flüstert sie ergeben und wirft dem Luchs einen prüfenden Blick zu. „Soll ich wirklich?“ Sie könnte schwören, dass Louan mit den Augen rollt. „Ist ja gut“, murmelt sie, atmet tief ein und streckt die Hand nach der Klinke aus. Auf ihr leises Anklopfen hatte er nicht reagiert, weshalb sie nun unendlich vorsichtig die Tür öffnet und ins Innere des Zimmers linst. Im ersten Augenblick scheint es so, als wäre Colevar gar nicht da und sie tritt irritiert nun vollends ins Zimmer ein. Doch dann fällt ihr Blick auf das Bett in dem spärlich eingerichteten Zimmer und ein sanftes Lächeln huscht über ihre Züge. Vorsichtig drückt sie die Tür ins Schloss, durchquert das Zimmer und lässt sich neben ihm aufs Bett sinken. Seine Brust hebt und senkt sich unter den rhythmischen Atemzügen. Zärtlich streicht sie ihm die Haare aus dem Gesicht und blickt in sein völlig entspanntes Gesicht. „Ich hatte schon befürchtet du würdest es nie zulassen“, flüstert sie und haucht ihm einen Kuss auf die Schläfe. Unendlich behutsam macht sie sich daran ihm sowohl Stiefel, als auch das abgewetzte Hemd auszuziehen. Es dauert lange bis sie ihn aus seinen Kleidern geschält hat, da sie mit einer unglaublichen Vorsichtigkeit vorgeht um Colevar auch ja nicht aufzuwecken. Erst als sie leise Schritte auf dem Flur hört hält sie einen Augenblick inne, bevor sie dann zur Tür huscht und mit einem dankenden Nicken das Essen entgegennimmt. Das Essen duftet herrlich, doch dafür war später immer noch Zeit. Achtlos stellt sie den Teller auf dem kleinen Tisch ab, bevor sie dann wieder zu Colevar ans Bett tritt und ihn sorgsam zudeckt. „Schlaf – es wurde Zeit, dass du dir endlich eine Pause gönnst“, flüstert sie leise und blickt auf ihn herab. Sie weiß nicht wie viel Zeit vergeht in der sie einfach nur dasteht und ihn ansieht, sich seine Züge genau einprägt und seiner ruhigen, gleichmäßigen Atmung lauscht. Die Nacht hat ihren Höhepunkt längst hinter sich gelassen und in wenigen Stunden schon einem neuen Tag weichen müssen. Schließlich streift sie ihre Stiefel ab, klettert über Colevar hinweg und kuschelt sich an ihn, ohne jedoch zu ihm unter die Bettdecke zu schlüpfen. Es dauert nicht lange bis auch Lía fest eingeschlafen ist, eng an Colevar geschmiegt, eine Hand sanft auf seiner nackten Brust ruhend, die andere entspannt unter ihrer Wange geschoben. Stunden später, das Zimmer bereits Licht durchflutet, erwacht sie nur aus dem Grund, da jemand ziemlich geräuschvoll einen Badezuber ins Zimmer schleift. Immer noch völlig erschöpft öffnet sie die Augen und blickt direkt in klare blaue Augen. „Hey“, murmelt sie verschlafen und küsst ihn sanft bevor sie dann auch schon wieder einnickt. Allerdings windet sie sich nach einer Weile aus ihrem Hemd heraus, woraufhin Colevar einen erschrockenen Laut von sich gibt und plötzlich senkrecht im Bett sitzt. „Was machst du da?!“, will er mit deutlichem Entsetzen von ihr wissen. Lía längst wieder im Halbschlaf brummelt lediglich etwas von „nicht bequem“ und „weiterschlafen“ und scheint sich an Colevars misslicher Lage überhaupt nicht zu stören, oder viel mehr gar nicht wirklich zu merken was sie ihm da gerade antut. „Danke“, nuschelt sie verschlafen und kuschelt sich nun wieder an ihn, als er in einem Akt der Verzweiflung die Bettdecke über sie wirft.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 02. Nov. 2009, 14:09 Uhr
Colevar schafft die Packtaschen und Lederbeutel der Mädchen nach oben und bringt Calait auf ihr Zimmer, während Lía sich um die Tiere kümmert. Seine eigene Kammer gleich nebenan ist klein, aber sauber und warm von zwei glühenden Kohlebecken. Das einfache, aber breite Bett ist ein geradezu paradiesischer Anblick aus einer weichen Matratze, Kissen und einer daunengefüllten Decke, und er entdeckt nicht die allerkleinste Wanze oder sonstiges Ungeziefer darin. Selbst die Laken sind frisch gewaschen und riechen nach nichts anderem als schwach nach Kernseife und Herbstluft. Er legt den Schwertgurt ab, holt einen Dolch aus dem Stiefel, nimmt den Umhang von den Schultern, kracht auf das Bett wie ein umstürzender Baum und ist weg noch ehe sein Kopf das Kissen wirklich berührt. Irgendwann, er kann nicht sagen ob ein paar Augenblicke oder ein paar Stunden später, driftet er aus der gnädigen Dunkelheit noch einmal an die Oberfläche zurück, spürt Lías warmen Atem und ihren weichen Mund an seiner Schläfe, kommt jedoch gar nicht wirklich zu sich und weiß nur, dass er es seltsamerweise überhaupt nicht eigenartig findet, dass sie hier bei ihm ist - aber in Träumen erscheinen einem wohl manchmal die wundersamsten Dinge als vollkommen logisch und selbstverständlich. Irgendwo am Rand seines wegdämmernden Bewusstseins bekommt er sogar vage noch etwas davon mit, dass sie beginnt, ihn aus Stiefeln, Wams, Hemd und den übrigen Kleidern zu schälen, doch außer ein paar dunklen, weichen Brummlauten ist er zu keinerlei zusammenhängenden Worten, geschweige denn Gedanken mehr fähig und lässt alles ohne jeden Widerstand zu leisten mit sich geschehen - dann holt ihn die Schwärze des Schlafes endgültig zu sich. Am nächsten Morgen... Vormittag... irgendwann... nach der diffusen Helle draußen zu urteilen, denn es scheint keine Sonne, erwacht er von einem energischen Klopfen und noch bevor er auch nur ein noch völlig schlafumnebeltes "Machdassdufortkommstwerimmerduauchbist", zu Ende geknurrt hat, öffnet sich knarrend die Tür und ein paar Knechte schleppen ein Ungetüm von einer Kupferwanne herein, in ihrem Kielwasser ein paar Mägde mit dampfenden Eimern. "M'lord, das Bad... gestern nacht wart Ihr..."

"Später", gähnt er über die Schulter, wundert sich überhaupt nicht darüber, Lías Geruch in der Nase zu haben und klappt unter allergrößten Mühen ein Auge auf. "Lasst die Wanne da aber kommt mit dem heißen Wasser später wieder. Irgendwann." Er schließt die Augen, streckt sich wie eine große Katze, dreht sich wieder um und schiebt seinen Arm um ihre Taille. Durch seinen noch völlig umnachteten Verstand geistern ein paar haltlose Gedankenfetzen. Lía. Bett. Neben dir. Lía. Schlagartig ist er hellwach. Sie hat sich im Schlaf so dicht an ihn gedrängt, wie ihre voluminösen Röcke und der kümmerliche Rest einer zerknautschten Bettdecke es zulassen, so dass ihr Rücken an seiner Brust liegt und sein rechter Arm ihr als Kopfkissen dient. Er erinnert sich bruchstückhaft daran, dass sie gestern Nacht noch bei ihm gewesen war und ihn aus seinen Kleidern geschält hatte, aber dann scheint sie hier bei ihm einfach eingeschlafen zu sein, vollkommen bekleidet und auf der Bettdecke, wohlgemerkt. Kleine Närrin, als ob dich ein paar Daunen und ein wenig Linnen schützen könnten. Colevar atmet behutsam aus, sieht auf ihr schlafendes Gesicht hinunter und weiß, dass er ihr nicht das geringste tun wird, es sei denn, sie will es so. Erschreck keine Rehkitze! gehört immer noch zu einer der wichtigsten Regeln auf der denkbar kurzen Liste seiner wenigen Grundsätze, auch wenn er in diesem Augenblick resigniert feststellt, dass es ziemlich frustrierend sein kann, ein anständiger Kerl sein zu wollen. Zu allem Überfluss muss sie ausgerechnet in diesem Augenblick aufwachen... obwohl aufwachen eigentlich übertrieben ist, denn im Grunde regt sie sich nur denkbar kurz. Lía dreht sich halb um, blinzelt ihn an, drückt ihre kleine Nase an seine Haut, atmet tief ein und küsst sein Schlüsselbein, weil sie höher gar nicht reicht, und schließt prompt die Augen wieder. Er ist immer noch dabei, sich selbst zu versichern, dass diese kleine und absolut unschuldige Geste kein ausreichender Grund ist, um seinen Puls in die Höhe zu treiben, als sie beginnt, sich mit unwilligen kleinen Lauten zu bewegen. Er unterdrückt ein belustigtes Schniefen, weil sie einfach zu niedlich dabei aussieht, die Brauen in verärgertem Unmut zusammengezogen und mit gekräuseltem Näschen, doch dann ...allmächtige Götter!... zieht und zerrt sie an ihrem vom Schlaf völlig verdrehten Hemd, kämpft einen Moment lang mit den Ärmeln und liegt im nächsten bis zur Taille nackt neben ihm.

"Was machst du zum Kuckuck?!" ächzt er hörbar entgeistert, doch sie nuschelt nur halberstickt ins Kissen etwas von "unbequem" und "schlafen", und macht keinerlei Anstalten, auch nur ansatzweise so etwas wie wach zu werden. Colevar starrt auf diese unerwartete Menge honiggoldener Haut, das Meer von Sommersprossen, dass ihre Schultern und Arme überzieht und sich auf ihrem Rücken wieder verliert, weil er nie so lange der Sonne ausgesetzt ist, auf die schmale elegante Furche ihrer Wirbelsäule von ihrem schlanken Nacken bis dorthin, wo sie sich unter dem Rockbund verliert, auf die feinen, zarten Muskelstränge unter ihrer Haut und sein Mund ist so trocken wie die Sacaleynda. Was immer das jetzt ist, es ist keine Einladung und er hat immer noch seinen Stolz, mag der auch arg in Fetzen liegen, also zerrt er die Decke unter ihr hervor, hüllt sie darin ein und schmiegt sich schicksalsergeben an ihren Rücken. Er legt den Arm um ihre Mitte und sie nimmt seine Hand und legt sie unter ihr Kinn, murmelt etwas, das er kaum verstehen kann und er schüttelt sacht amüsiert den Kopf. Hier sind sie, beide warm, beide sicher, beide halbnackt und in einem Bett verdammt nochmal. Und er wird sie dennoch nicht anrühren. Nein, nicht bevor sie nicht darum bittet. Aber er will verdammt sein, wenn er das süße, ahnungslose kleine Gör einfach so ungeschoren davon kommen lassen würde. Mit einem katzenhaften Lächeln neigt er den Kopf, bis sein Mund fast, aber nur fast ihr Ohr berührt. "Sommersprosse", murmelt er leise und dunkel, und senkt seine Stimme um eine Oktave, "wie lange willst du noch vor mir davon laufen?" Er atmet über ihre Haut, Haut so weich wie Samt, soviel steht fest, aber er tut nicht mehr als das. Ihr Ohr ist ein ausgesprochen faszinierendes Gebilde mit runden Formen und eleganten Schwüngen und er pustet einmal sacht darüber. Prompt überzieht Gänsehaut ihre Arme und sie erschauert einmal der ganzen Länge nach. Mit einem leisen, wissenden Lachen lässt seine Nase an ihrem Hals entlang gleiten, bis er all die verborgenen, geheimen Stellen dort gefunden hat und weiß, wie sie reagiert, wenn er sie mit seinem Atem wärmt oder seinen Mund so nahe an ihre Haut bringt, dass er sie fast schmecken kann, aber er küsst sie nicht und er berührt sie nirgendwo sonst.

Sie ist viel wacher jetzt, aber noch hat der Schlaf sie nicht ganz frei gegeben. "Vielleicht würde ich mit deinen Händen anfangen... weißt du, dass man eine Hand verführen kann?" Seine Stimme ist so warm und schwer wie Mitternachtssamt, als er sacht über ihre Wange streift und dann zu ihrem Ohr zurückkehrt. "Vielleicht würde ich auch deinen Mund einfach so lange küssen, bis du nicht mehr weißt, wovor du dich fürchtest", flüstert er hinein und hört sie atmen, als sei sich immer noch nicht ganz sicher, ob sie noch träumt oder wach ist. "Und mit deinen Lippen beginnen. Ich würde von dir kosten und dich berühren, bis ich weiß, wie du dich anfühlst, wie du schmeckst, von deiner Stirn bis hinunter zu deinen Füßen, jedes kleine Stück von dir, alles, so lange und so gründlich, bis du brennst und schmilzt wie Seide, die man zu nahe an die Flammen hält, bis du keinen klaren Gedanken mehr fassen kannst und überhaupt nicht mehr weißt, was du für Laute von dir gibst." Jetzt ist sie wirklich wach, er kann ihren Puls an ihrem Hals unter der Haut pochen fühlen, so nahe an seinem Mund, er kann ihn dort flattern sehen, so schnell und bebend wie das Schlagen zarter Flügel. Er spürt auch ihr Herz klopfen und vernimmt das gebrochenes Seufzen, das über ihre Lippen kommt, ohne dass sie es verhindern kann. "Und dann, wenn du dich mir hingibst, wenn ich in dir bin und ein Teil von dir, so tief dass ich ganz bestimmt dein Herz berühre, dann würde ich dich lieben, langsam und süß... bis ich weiß, dass ich dir gut gedient habe." Er hört sie nach Atem ringen und mit einem Lächeln, dass man nur noch als diabolisch bezeichnen kann, löst er sich sanft, aber bestimmt von ihr. "Hmm, all das könnte ich tun und mehr", schnurrt er. "Aber ich denke, ich werde jetzt ein Bad nehmen, lange und wenn es geht kalt. Also sei ein braves Mädchen und schau besser die Wand an oder mach die Augen zu, aye? Wir wollen ja nicht, dass du dich erschreckst." Ihre einzige Antwort besteht darin, sich mit einem entsetzten kleinen Aufjaulen die Decke über den Kopf zu ziehen, als er aufsteht und das Bett verlässt.

Mit einem unfrohen Grinsen und dem leisen Verdacht, dass er sich um Riku eigentlich überhaupt keine Gedanken mehr zu machen braucht, weil er ganz sicher bald an unerfülltem Verlangen sterben würde, ruft er nach einer Magd und putzt sich die Zähne mit einem geschälten Weidenzweig, während ihm ein Bad gerichtet wird. Lía taucht nicht ein einziges Mal auf, bis er bis zum Hals in köstlich heißem Wasser liegt, sich das Haar ausgewaschen und sich den Dreck der letzten Tage von der Haut geschrubbt hat, aber irgendwann blinzelt sie doch aus ihrem Nest von Laken, Kissen und Decken, so vorsichtig wie eine Schnecke, die nach einem Gewitterregen zum ersten Mal wieder aus ihrem Haus lugt. "Ich bin immer noch da, Sommersprosse", warnt er leise und weiß, dass er sich selbst viel zu tief ins eigene Fleisch geschnitten hat. Welcher Dämon hatte ihn nur geritten, sich das anzutun, denn die Bilder, die seine Worte heraufbeschworen haben, würden sich nicht mehr aus seinem Kopf vertreiben lassen und ihn vermutlich foltern bis ans Ende seiner Tage. Mmmpf! Das kann ja nicht mehr allzu weit entfernt sein, wenn sie so weitermacht... Sie angelt nach ihrem Hemd und wühlt im Bett herum, schlüpft hinein und schüttelt sich das lange Haar aus, dabei brummt sie missmutig, aber immer noch reichlich atemlos etwas von "anders wecken können", das ihn spontan die Augen verdrehen und mit einem gurgelnden Laut einmal komplett untertauchen lässt. Er kommt erst wieder hoch, als er befürchten muss zu ersticken, und als er aus dem trüben Wasser wieder auftaucht, hat sie ihr Haar zu einem losen Zopf im Nacken zusammengeschlungen und steht direkt neben ihm. "Nein, hätte ich nicht", erwidert er und schnappt nach Luft. "Hätte ich nicht, Sommersprosse. Du warst es schließlich, die sich das Hemd vom Leib gerissen hat, nur um das einmal erwähnt zu haben, aye?" Die Bosheit in seiner Stimme ist so sanft wie Sommerwind, aber bei allen Göttern, irgendetwas will er ihr antun, und wenn es nur die kleine, selbstsüchtige Vergeltung ist, sie rot werden zu sehen - ein Gefallen, den sie ihm auch prompt erweist.

"Apropos Kleider... wo sind eigentlich meine?" Sie errötet schon wieder und wedelt mit ihrer kleinen Hand in Richtung des Betthauptes. "Ah... na dann, dreh dich besser um, ich muss aus dem Wasser heraus." Sie nuschelt etwas von "Louan füttern" und flieht prompt aus dem Zimmer, verfolgt von seinem leisen, dunklen Lachen, das in Wahrheit nicht halb so amüsiert ist, wie es klingt. Ein paar Minuten später ist er angezogen, reibt sich das Haar mit einem Stück weichen Leders notdürftig trocken und macht sich auf den Weg in die Schankstube hinunter, um vielleicht endlich etwas in den Magen zu bekommen. Wie sich herausstellt, ist die Mittagsstunde längst vorüber und er trifft Calait an einem Tisch in einer Fensternische, den Marder und die Otterdame in selten friedlicher Eintracht auf ihrem Schoß und um ihre Schultern, die Hunde wachsam zu ihren Füßen, was ihr im ansonsten gut gefüllten, aber längst nicht so überladen wie gestern wirkenden Gastraum, den Luxus von vier Schritt Platz um sie her verschafft. "Guten Morgen", meint er durchaus freundlich, wenn auch kühl genug, um sie wissen zu lassen, dass er ihr Benehmen am Feuer nicht vergessen hat, und setzt sich ihr gegenüber. Calait macht immerhin keine Anstalten, ihn anzufauchen wie vor zwei Nächten, bevor er zu Lía gegangen war, aber er hat nicht vergessen, wie wütend sie gewesen war... noch irgendeines ihrer Worte. Ganz gleich, was er auch zu ihr gesagt hatte, sie hatte es nicht hören wollen oder es einfach abgetan. Das Fragezeichen in ihrem Gesicht ist so groß wie der Wolkenthron, als ihr nach einem Moment angestrengten Lauschens aufgeht, dass Lía nicht bei ihm ist. "Oben", erwidert er rasch, bevor sie sich Sorgen machen kann. "Füttert Louan und den Rest der Tiere und nimmt ein Bad, glaube ich. Hast du schon gegessen?" Sein eigener Magen knurrt vernehmlich und erinnert ihn daran, dass er gestern Abend trotz seines Hungers viel zu müde gewesen war, um sich noch mit einem Nachtmahl aufzuhalten. "Der Tag ist schon fast wieder vorüber und die Pferde brauchen Eisen oder müssen die Hufe ausgeschnitten bekommen." Innerlich verflucht er sich dafür, so lange geschlafen zu haben, aber daran ist jetzt nichts mehr zu ändern und abgesehen davon brauchen sie alle eine Rast, die Pferde am meisten. "Außerdem will ich ein paar Vorräte und noch andere Kleinigkeiten besorgen, und unsere Kleider und Schlafpelze waschen lassen... wir werden also wohl oder übel noch eine Nacht bleiben müssen."  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 22. Nov. 2009, 18:16 Uhr
Als Colevar sich an sie schmieg gibt sie ein schläfriges Maunzen von sich räkelt sich kurz und liegt dann auch wieder friedlich träuemend in seinen Armen. Doch bevor der Schlaf sie wieder ganz zu sich holt greift sie nach seiner Hand und schmiegt ihr Gesicht an seine warme Handfläche, einfach um ihm nah zu sein. Wie nah sie Colevar im Moment tatsächlich ist scheint ihr gar nicht bewusst zu sein, ansonsten würde sie wohl kaum zufrieden lächelnd neben ihm liegen, während er hellwach ist und sie tief und fest schläft wie ein Stein. Lía registriert zwar durchaus wie er sich neben ihr bewegt und sich über die beugt, doch wundert sie diese Tatsache überhaupt nicht, so als wäre es das Normalste auf der Welt, dass Colevar in ein und demselben Bett mit ihr liegt und sich über sie beugt, so dass sein warmer Atem ihre Haut kitzelt. Colevars leiste Stimme dringt nur gedämpft zu ihr durch und sie versteht kein einziges Wort, doch ihr entgeht keineswegs sein warmer, dunkler Ton und als er sie berührt dreht sie den Kopf leicht zu Seite und lässt ein genießerischen Laut vernehmen. Ein angenehmer Schauer erfasst sie, als Colevar ihr zärtlich übers Ohr pustet und sie hört ihn leise Lachen, doch immer noch gibt der Schlaf sie nicht frei. "Wie lange willst du noch vor mir davon laufen?", seltsamerweise gelingt es genau diesen Worten in ihr Bewusstsein durchzudringen und kurz regt sich so etwas wie Betroffenheit in ihr. Lía läuft nicht vor ihm davon, sie will es doch auch nicht, aber sie ist einfach unsicher. Bei dem Gedanken daran ihrer beider Verlangen nachzugeben und ihn anschließen ziehen zu lassen zersplittert ihr Herz in so winzig kleine Teilchen, dass sie problemlos durch eine Öse passen würden. Das brennende Verlangen von jener Nacht lässt sich nicht wieder einsperren und bei jeder seiner Berührungen wird es neu geschürt. Aber die Angst ist ebenso ein stetiger Begleiter. Die Angst einen Fehler zu begehen, die Angst es für sie beide noch schwerer zu machen…und die Angst ihm nicht gewachsen zu sein, etwas falsch zu machen und ihn zu enttäuschen. "Vielleicht würde ich mit deinen Händen anfangen... weißt du, dass man eine Hand verführen kann?" Nur langsam gelingt es ihr den Schlaf abzuschütteln, doch nimmt sie seine Nähe, aber vor allem seine Worte jetzt sehr viel deutlicher wahr als noch bis vor einer Minute. Nicht sicher ob sie tatsächlich wach ist oder einfach nur träumt regt sie sich kein Stück, sondern lauscht einfach nur mit angehaltenem Atem seinen Worten. „Vielleicht würde ich auch deinen Mund einfach so lange küssen, bis du nicht mehr weißt, wovor du dich fürchtest" Es spielt längst keine Rolle mehr ob sie nun träumt oder nicht, denn die Wirkung die seine Worte und seine leichte Berührung auf sie haben lässt sich nicht leugnen. Seine Worte sind viel mehr als einfach nur die Auslegung einer Möglichkeit, sie sind ein stummes Versprechen und in diesem Moment spürt Lía mit jeder Faser ihres Körpers wie sehr sie ihn wirklich will, wie sehr sie ihn begehrt und sie weiß, dass er ihr ihre Angst nehmen wird, wenn die Zeit reif ist. "Und mit deinen Lippen beginnen. Ich würde von dir kosten und dich berühren, bis ich weiß, wie du dich anfühlst, wie du schmeckst, von deiner Stirn bis hinunter zu deinen Füßen, jedes kleine Stück von dir, alles, so lange und so gründlich, bis du brennst und schmilzt wie Seide, die man zu nahe an die Flammen hält, bis du keinen klaren Gedanken mehr fassen kannst und überhaupt nicht mehr weißt, was du für Laute von dir gibst." Diese Worte lassen Lía endgültig aus dem Reich der Träume zurück in die Wirklichkeit finden, auch wenn die Situation etwas unwirkliches an sich hat, wie sie hier liegt, neben Colevar, seinen Worten lauscht, reines Feuer durch ihre Adern schießt und sie keinen einzigen klaren Gedanken fassen kann. Ihr Herz schlägt hart und schnell in ihrer Brust und in diesem Moment wird ihr bewusst wie schmal die Gradwanderung ist, die sie hier gerade vollziehen und wie schnell die Situation kippen kann. Für einen kurzen Moment ist sie versucht etwas zu tun, auf ihn zu reagieren, doch dann ruft sie sich selbst zur Ordnung, schließt die Augen, lässt ein leises Seufzen vernehmen und kratzt all ihre Selbstbeherrschung zusammen. Lía weiß, was Colevar will, was sie selbst will und doch zweifelt sie ob es richtig ist. Jetzt. Hier. Unter diesen Umständen. "Und dann, wenn du dich mir hingibst, wenn ich in dir bin und ein Teil von dir, so tief dass ich ganz bestimmt dein Herz berühre, dann würde ich dich lieben, langsam und süß... bis ich weiß, dass ich dir gut gedient habe." Lía schnappt völlig aus dem Konzept geraten nach Luft und gibt einen etwas erschrockenen Laut von sich. Es ist leicht sie aus der Fassung zu bringen und obwohl sie ähnlich empfindet wie Colevar trifft er mit seiner ausreichenden Ausführung und der ungeschminkten Offenheit eine empfindliche Stelle und sie spürt wie ihr die Hitze ins Gesicht schießt und vergräbt das Gesicht leise winselnd in den Bettlaken. Als er sich dann allerdings von ihr löst gibt sie so etwas wie einen leisen Unmutslaut von sich, auch wenn sie einerseits froh ist, dass sie seinen weiteren Ausführungen so entkommt, so will sie andererseits doch seine Nähe und Berührung nicht aufgeben. "Hmm, all das könnte ich tun und mehr. Aber ich denke, ich werde jetzt ein Bad nehmen, lange und wenn es geht kalt. Also sei ein braves Mädchen und schau besser die Wand an oder mach die Augen zu, aye? Wir wollen ja nicht, dass du dich erschreckst." Diese Ankündigung sorgt dafür, dass Lía einen erschrockenen Laut von sich gibt und sich nun vollends die Decke über den Kopf zieht und die Augen fest zukneift um auch ja nichts zu sehen. Sie spürt, wie er das Bett verlässt, hört das Rascheln von Stoff und das anschließenden Geräusch von einem großen Körper der in Wasser eintaucht. Immer noch bewegt sie sich kein Stück oder gibt auch nur einen Laut von sich, ganz im Gegenteil hält sie sogar die Luft an und lauscht Colevars regelmäßigen Atemzügen und den Geräuschen seines Badens.

Es dauert lange bis Lía es endlich wagt die Sicherheit ihres Deckenkonkons zu verlassen und unter den Laken hervor zu Colevar hinüber spinkst. "Ich bin immer noch da, Sommersprosse" Wortlos betrachtet sie seinen Rücken, lässt den Blick über die breiten Schultern wandern bevor ihre dunklen Augen dann an seinen Händen hängen bleiben. Schließlich löst sie sich von seinem Anblick, angelt nach ihrem Hemd, schlüpft hinein und wirft Colevar durch einige wirre Haarsträhnen die ihr ins Gesicht hängen einen missmutigen Blick zu. „Hättest du mich nicht auch anders wecken können?“, immer noch klingt sie reichlich atemlos und der leicht tadelnde Unterton der in diesen Worten mitschwingt ist nicht zu überhören, auch wenn sie weiß, dass sie sich das im Grunde selbst zuzuschreiben hat. Etwas irritiert über sein Untertauchen anstatt einer Antwort gleitet sie nun auch aus dem Bett und tritt zu ihm an die Wanne, auch wenn sie einen gewissen Sicherheitsabstand wahrt. Ihre Augen treffen direkt auf seine als er wieder auftaucht und für einen kurzen Moment hat sie das Gefühl als habe jemand ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. "Nein, hätte ich nicht. Du warst es schließlich, die sich das Hemd vom Leib gerissen hat, nur um das einmal erwähnt zu haben, aye?"" Augenblicklich schießt ihr wieder das Blut in die Wangen und sie schnappt empört nach Luft, schafft es allerdings nicht einen zusammenhängenden Satz zu formulieren weshalb sie sich damit begnügt eine Schnute zu ziehen und auf ihre Stiefelspitzen zu starren, als hätte sie sie noch nie vorher gesehen. Lía weiß, dass Colevar ein bestimmtes Ziel mit seinen Worten verfolgt, dennoch ist ihr seine völlig unbedarfte Art etwas zu offensiv und sie weiß nicht wirklich wie sie damit umgehen soll, weshalb sie auch nur, den Blick immer noch gen Boden gesenkt, ungefähr in die Richtung des Bettes deutet, als er nach seiner Kleidung fragt. Allerdings ist die Ankündigung, dass er jetzt aus dem Wasser steigen wird mehr als sie ertragen kann, weshalb sie unter dem fadenscheinigen Vorwand Louan noch füttern zu müssen geradezu aus dem Zimmer flüchtet, begeleitet von Colevars Lachen.
Atemlos lehnt sie sich gegen Colevars geschlossene Zimmertür und starrt in den leeren Flur. „Lía du dumme Kuh“, schimpft sie sich selbst und schüttelt immer noch mit klopfendem Herzen den Kopf. Louan sitzt zu ihren Füßen und sieht sie aus gold-gelben Augen spöttisch an. Langsam geht sie vor dem weißen Luchs in die Hocke, schlingt die Arme um das Tier und brummelt in das seidige Fell: „Ach Louan, was mach ich nur? Ich…“, sie bricht ab und flüchtet sich in einen Laut der deutlich macht, dass sie wütend auf sich selbst ist. Es bringt alles nichts… Einen Entschluss fassend richtet sie sich wieder auf, blickt nun wieder mit ihrem ihr eigenen Lächeln auf ihr Schutztier hinab und begibt sich in ihr eigenes Zimmer um ebenfalls zu baden.

Gedankenverloren lässt sie das warme Wasser durch ihre schmalen Finger rinnen und denkt über die Geschehnisse der letzten Wochen nach. Nichts war mehr so wie es mal gewesen war. Es würde nie wieder so sein. Etwas hatte sich verändert und das so drastisch, so unwiderruflich, dass es ihrer aller Leben von nun an in neue Bahnen lenken würde. Mit einem schweren Seufzen taucht sie unter und verharrt einen Augenblick unter der Wasseroberfläche bevor sie dann prustend wieder hoch kommt. Colevars Bild taucht vor ihrem inneren Auge auf und unverzüglich legt sich ein sanftes Lächeln auf ihre Züge. Warum hatte nie jemand sie vorbereitet? Warum hatte nie jemand ihr gesagt wie plötzlich all das kommen würde? Wieso war ihr Umfeld sonst so darauf bedacht sie zu beschützen und hätte es beinahe zugelassen, dass sie Colevar einfach durch ihre völlige Ahnungslosigkeit vertrieb? Der momentanen Situation sieht sie sich völlig nackt und unerfahren gegenüber was sie nicht nur zutiefst verunsichert, sondern auch ängstigt. Was wartet noch alles auf sie von dem sie bisher nichts ahnt? Wie soll sie ihm so nur gerecht werden? Mit einer geschmeidigen Bewegung erhebt sie sich aus dem Badezuber und stellt erstaunt fest, dass sie friert. Erst jetzt merkt sie, dass das anfangs heiße Wasser längst kalt geworden ist und sie beeilt sich in ihre Kleider zu schlüpfen. Ihre langen Haare rubbelt sie nur notdürftig trocken bevor sie das Zimmer verlässt und nach unten geht, doch bevor sie den Schankraum betritt entscheidet sie sich sponatn um und verlässt das Wirtshaus durch den Hinterausgang und läuft voll freudiger Erwartung hinüber zu den Ställen um ihre pelzigen und gefiederten Freunde zu begrüßen, welche sich beim Anblick ihrer Freundin auch schon prompt auf sie stürzen und ein furchtbares Geschnatter, Gefauche und Geschnurre bricht plötzlich los als jedes der Tiere den besten Platz ergattern will. Nachdem alle Tiere ihre Liebkosungen ausreichend genossen haben und von Lía persönlich gefüttert worden sind macht sie sich unter den erstaunt, belustigten Blicken der Stallburschen zurück auf den Weg ins Gasthaus.

Ein lautes Poltern, gefolgt von Lías erschrockenem Schrei lässt die Schankmaid in der Bewegung inne halten und über die Schulter zurück zur Tür blicken hinter welche jetzt nichts mehr zu hören ist. Doch gerade als sie dazu ansetzt hin zu eilen und sich zu erkundigen ob etwas passiert sei, wird die Tür von einer etwas blassen Lía geöffnet, den einen Arm um die Taille des Burschen des vergangenen Abend geschlungen und den Arm des jungen Mannes um ihre schmale Schultern, so dass er sich auf ihr abstützen kann während er zu einem der Tische humpelt. Louan trottet mit solch erhabener Miene vor den Beiden her, dass es ein leichtes ist sich auszumalen warum der junge Mann so urplötzlich humpelt und mit schmerzverzerrtem, wenn auch deutlich zufriedenem, Gesichtsausdruck zulässt, dass Lía mit spitzen Fingern seine Wunde betastet. Allerdings wird sie in ihrer Arbeit unterbrochen, als der Wirt plötzlich wie aus dem nichts neben ihr erscheint und loswettert, dass man ihm versichert habe „dieses Vieh“ sei ungefährlich. Lía sonst die Ruhe in Person reagiert alles andere als erfreut auf den Ton des dicken Wirtes und ignoriert seinen „Wunsch“ Louan sogleich aus dem Wirtshaus zu schaffen. „Hört mich doch an“, beschwört sie den Wirt „ich versichere Euch Louan ist ungefährlich.“ Weiter kommt sie nicht, denn der Wirt fällt ihr ins Wort und fuchtelt aufgeregt in Richtung des Burschen und dessen Wunde. Lía nickt langsam. „Das war ein Unfall“, unglücklicherweise hält der Luchs es in eben diesem Moment für nötig ein warnendes Knurren von sich zu geben, woraufhin Lía ihm einen scharfen Blick zuwirft. Nun schaltet sich auch das Opfer ein und lächelt wohlwollend. „Ich bitte Euch – lasst ihr ihren Luchs, wenn ihr soviel daran liegt. Es ist nichts. Wirklich; seht ihr?“, bei diesen Worten erhebt er sich und verlagert vorsichtig sein Gewicht auf das verletzte Bein. Es ist fragwürdig ob dieses Argument wirklich ausreichend gewesen wäre, doch zum Glück erscheint in genau diesem Moment die Köchin in der Tür und wirft dem Wirt einen Blick zu, welcher diesem ein schweres Seufzen entlockt. „Ich könnte genau so gut mit ihr verheiratet sein“, murrt er vor sich hin und verschwindet mit einem „Meinetwegen, aber achtet darauf, dass etwas derartiges nicht noch einmal vorkommt!“ ebenfalls in Richtung Küche. Elyas, wie der Bursche ihr leise ins Ohr flüstert als sie seine Wunde mit routinierten und schnellen Griffen versorgt, heimst für seine Rückendeckung ein strahlendes Lächeln ein, doch für einen kurzen Moment scheint es so, als reiche ihm das nicht, doch dann dreht er den Kopf und blickt direkt ins Colevars Gesicht woraufhin jegliche Farbe aus seinem Gesicht weicht er sich jedoch vehement weigert sich endgültig geschlagen zu geben, denn er lässt Lía zwar gehen, bleibt jedoch an seinem Tisch sitzen und folgt ihr mit seinen Blicken.

„Guten Morgen“, begrüßt sie die beiden anderen und drückt Calait einen sanften Kuss auf die Stirn bevor sie sich neben ihrer Schwester auf die Bank sinken lässt. Für den Bruchteil einer Sekunde blickt sie konzentriert vor sich auf den Tisch, bevor sie dann zuerst Calait mit zusammengezogenen Augenbrauen ansieht und sich dann Colevar zuwendet, ein fragender Ausdruck in den Augen. Ihre beiden Begleiter scheinen sich, wie der größte Teil der Anwesenden, köstlich über Elyas Unglück zu amüsieren. Lía runzelt missbilligend die Stirn und sieht von einem zum anderen. „Ihr solltet euch beide schämen! Jetzt hört schon auf so zufrieden zu kucken“, empört ruckt ihr Kopf zu Colevar rum und sie funkelt ihn entrüstet an. „Colevar! Wenn du dich schon darüber ergötzen musst, dann spar dir doch wenigstens das Lachen, ja?“ Allerdings muss sie recht schnell einsehen, dass es sinnlos ist Calait oder gar Colevar ins Gewissen reden zu wollen als beide augenblicklich erneut losprusten. Einen Moment noch ruht ihr tadelnder Blick auf ihnen bevor sie sich dann Louan zuwendet. „Und was dich angeht: wehe du beißt noch mal jemanden. Was ist nur in dich gefahren?“ Sonst biss der Luchs doch auch niemanden ohne Grund. Louan scheint jedoch völlig unbeeindruckt von ihrer Empörung und zieht es vor sich schnurrend an Colevars Beinen zu reiben. Ein leises „Oh“, entschlüpft ihr und als der Groschen endgültig fällt wiederholt sie, diesmal lauter und energischer „Oh!“ und blickt Colevar entgeistert an. „Er muss dich wirklich sehr mögen – er beißt sonst nie“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 08. Dez. 2009, 13:41 Uhr
Die träge, schwere Nachmittagssonne taucht den Schankraum in goldene Schatten und zeichnet Calaits Profil mit einem sanften Glühen. Ihr Gesicht zeigt kaum eine Regung und mit ruhigen, bedächtigen Bewegungen streicht sie der Otterdame, die sich über ihren Beinen lang gemacht hat, das seidig glänzende Fell glatt. Zu ihren Füssen liegt ein bunt gewürfelter Haufen an Hunden, der ihr trotz der zahlreichen Besucher etwas Platz  verschafft, und halb unter ihrem Haar, halb im Kragen ihres Lederkleides verborgen schnurchelt Ériu friedlich vor sich hin. Tanguy krümelt neben ihr die Bank voll und Vi-Vi blinzelt aus grossen, gelben Augen aus dem Nest heraus, das Calait aus ihrem Valkoinen Ilves-Fell improvisiert hat. Es ist nicht unbedingt eine stabile Unterkunft, aber es reicht um den Winzling warm zu halten und ihm das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.
“Guten Morgen.“ Calait schreckt aus ihren Gedanken auf, als Colevar an den kleinen, runden Tisch tritt. Die Art, wie er sie begrüsst, lässt deutlich durchblicken, dass er ihre scharfe Zurechtweisung des vorangegangenen Abends nicht vergessen hat. „Guten Morgen“, erwidert sie mit einem schiefen, verschlafenen Grinsen. Natürlich erinnert auch sie sich noch genau an die unsinnige, verbale Auseinandersetzung, aber im Gegensatz zu Colevar hat es keine nachhaltigen Auswirkungen auf ihr Benehmen ihm gegenüber. Obwohl sie keine Minute lang die Augen zugemacht hat, sondern stundenlang in ihrem kleinen Zimmer auf- und abgelaufen war, schmeckte die warme, blassgoldene Morgendämmerung nach einem neuen Tag – und Calait lebt ganz und gar nach der Auffassung, dass alte Sorgen zwar nicht verdrängt, aber auch nicht unnötig in die Länge gezogen werden sollten. Schon gar keine Streitigkeiten. Das ist vergeudete Zeit und ausserdem für einen Neuanfang nur selten förderlich.
Ihre Ohren verraten ihr, dass er alleine gekommen ist, was sie fragend die Stirne kraus ziehen lässt. Da Lía weder bei ihr im Zimmer, noch im Stall bei den Tieren genächtigt hat, bleibt nur eine Schlafstätte übrig und das ist Colevars. Ihr verwirrter Gesichtsausdruck verrät ihm die Frage, die ihr auf der Zunge legt, und bevor sie auch nur dazu kommt den Mund aufzumachen, meint er schon: „Oben. Füttert Louan und den Rest der Tiere und nimmt ein Bad, glaube ich. Hast du schon gegessen?" Sie verbeisst sich heroisch einen neckischen Kommentar, dass es wohl ein sehr kaltes Bad wäre und ob er auch schon eins genossen hätte, nickt stattdessen langsam und streichelt Noraya den sahnefarbenen Bauch, der ihr demonstrativ entgegen gestreckt wird: „Ja, ich habe schon gegessen. Frühstück und Mittagessen, und Abendessen ist bereits bestellt.“ Colevars Magen bescheidet ihr mit einem langgezogenen, vernehmlichen Knurren, dass er das nicht hören wollte und mit einem immerhin versucht mitleidigen „Ach herrje“, schiebt sie Colevar einen halben Kanten Brot zu, der von ihrem üppigen Mittagsmahl noch übrig geblieben ist, „Hier, bevor du mir verhungerst. Ich fürchte, dass würde Lía mir nicht so schnell verzeihen.“ Apropos verzeihen, mahnt sie sich selbst und zieht die Nase kraus. Es ist wohl an der Zeit einen Schlussstrich unter die ewigen Missverständnisse zu ziehen und da in ihrem Fall ganz bestimmt eine Entschuldigung fällig ist, wird es auch an ihr sein das abrupt unterbrochene Gespräch wieder aufzunehmen und falsch Verstandenes richtig zu stellen.
„Das habe ich schon“, erklärt sie lächelnd, als er auf ihre Schmutzwäsche zu sprechen kommt: „Heute Morgen habe ich um einen Waschzuber gebeten und unsere Kleider gewaschen. Imgrimms Tochter, Mere, hat mir geholfen.“ Als ihr auffällt, dass Colevar gar nicht wissen kann, wer damit gemeint ist, fügt sie mit einer Handbewegung in die ungefähre Richtung des Tresens hinzu: „Imgrimm ist der Wirt. Er war so freundlich mir seine Tochter als Orientierungshilfe zur Seite zu stellen. Dein Hemd ist übrigens genäht und die aufgerissenen Stellen deines Wams gestopft und abgesteppt. Und was den Schmied angeht: Ich dachte mir schon, dass die Hufe der Pferde Pflege benötigen und habe mich daher nach einem guten Schmied erkundigt. Imgrimm meinte, dass hinter dem Roten Schleier, das durch seine rote Fassade deutlich auffällt, der Grosse Malte arbeite. Ein Schmied, der für einen anständigen Preis saubere Arbeit abliefert.“ Hier und dort begleitet sie ihre Worte mit einer einfachen Geste, um etwas besonders hervorzuheben, oder abzutun, wobei es scheint, als wäre es ihr gar nicht möglich während des Redens still sitzen zu bleiben. Dieses Mal ist sie es, die ihm keine Möglichkeit gibt nachzuhaken – wie sie zum Beispiel an seine Kleidung gekommen ist. Man(n) muss nicht alles wissen.
Was mir ein wenig zu schaffen macht, Calait, ist einfach die Tatsache, dass sie unbedingt bei jemandem bleiben will, den sie überhaupt nicht verlieren kann“, zitiert sie mit leiser Stimme und neigt leicht den Kopf, als würde sie ihn von Kopf bis Fuss mustern, was sie auf ihre ganz eigene Art und Weise auch tut. Sie lauscht seinem Atem, achtet darauf, ob und wie er sich bewegt und wie sich sein Blick anfühlt. „Du weißt, dass das nicht stimmt, Colevar. Und dabei meine ich nicht die Tatsache, dass ich sie nicht mehr verlieren kann.“ Seine kurzzeitige Verwirrung ist beinahe greifbar und ihr Lächeln wird noch eine ganze Spur sanfter. Mit einem schlichten Schulterzucken vertreibt sie Noraya von ihrem Schoss, erhebt sich ein Stück und lehnte sich über den Tisch. Mit der Rechten stützt sie sich auf dem Holz ab, mit der Linken tastet sie nach seinem Gesicht, wobei die schmalen, goldenen Armreifen hell klirrend gegeneinander schlagen. Langsam wandern ihre Finger über seine Wange, tasten sich der geraden Linie seines Halses entlang, bis ihre Handinnenfläche weich und warm auf seiner Brust zu ruhen kommt. Das Klopfen seines Herzens dringt durch Knochen, Fleisch und Stoff und hallt zitternd an ihrer Haut wieder. Es ist ein starkes, beständiges Geräusch… doch da ist noch mehr. Ein kaum wahrnehmbares Summen, ein Hauch von Melodie, schnell und doch langsam, sanft und doch leidenschaftlich, hart und doch weich, deren Takt sich im Einklang mit dem Rhythmus seines Herzschlags befindet.
„Ich höre ihr Lied, Colevar. Hier, in dir. Und es wird dort bleiben, egal wie lange die Trennung dauert.“ Etwas fester graben sich ihre Fingerspitzen in sein Hemd und üben sanften Druck auf die darunterliegende Haut aus. Das wellengleiche Auf und Ab der Melodie wird stärker und pocht gegen seine Rippen. „Du kannst sie genauso wenig verlieren, wie ich.“ Mit einem unendlich warmen und sehr, sehr glücklichen Lachen zieht Calait gleich darauf ihre Hand zurück und setzt sich wieder. Es vergeht ein Moment, in dem sie sich auf die Unterlippe beisst, bevor sie vorsichtig, aber bestimmt fortfährt: „Es tut mir leid, Colevar. Einiges was ich gesagt habe, aber vor allem, wie ich es gesagt habe, war nicht richtig.“ Das Zögern, das auf diesen Satz folgte, ist eine Spur zu lang, um ignoriert werden zu können – es spiegelt deutlich wieder, wie viel Mühe Calait hat die richtigen Worte zu finden. Aber nach all dem Hin und Her will sie nicht länger leichtfertig etwas in den Raum werfen, nur um zwei Tage später wieder an einem Tisch sitzen und Händchen halten zu müssen. Zwischenzeitlich bekommt Colevar, dem es wohl irgendwo zwischen Schmutzwäsche und Hufschmied gelungen ist Imgrimms Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ein einfaches, aber deftiges Mittagsmahl serviert. Der Geruch nach saftiger Fleischbrühe, süssem Brot und einem starken Schluck Bier steigt Calait in die Nase und fast wäre sie geneigt ihm ein Stück Fleisch abspenstig zu machen – aber nur fast, denn die Erfahrung hat sie gelehrt, dass es unklug ist sich zwischen einen halb verhungerten Krieger und dessen Essen zu stellen.

Sie hört das Schaben von Eisen auf Holz, dicht gefolgt von einem geniesserischen, aber durch und durch barbarischen Laut der Erleichterung und nutzt den Moment der Unachtsamkeit, um Colevar ein Stück goldbackenen Brotes zu entwenden. Nur ein kleines, das noch sehr viel kleiner wird, als Noraya sich auf die Hinterbeine stellt und Calait die Hälfte davon dreist aus den Fingern rupft. „Oey!“ Prustend grabscht Calait nach dem hinterhältigen Futterdieb, bekommt aber nur leere Luft zu fassen, denn Noraya hat sich wohlweislich sofort aus dem Staub gemacht und sich unter den Tisch zwischen Colevars Füsse zurückgezogen, wo sie sich genüsslich über ihre Beute hermacht. Seufzend gibt Calait sich geschlagen und teilt die zweite Hälfte schwesterlich mit dem Rest der hungrigen Meute – ihr Glück, dass der Trold noch immer im Stall liegt… zumindest hat sie ihn dort zuletzt angetroffen. Hoffentlich ist der Vorratskeller gut abgeschlossen, überlegt sie und nimmt sich vor gleich nach dem Rechten zu sehen. Sobald alles gesagt ist, was gesagt werden muss. Ohne Hast kaut Calait auf dem Krümelchen Brot herum, dass man ihr gnädigerweise übrig gelassen hat. Obwohl sie viele verschiedene Sprachen beherrscht und für eine Ungelernte, die weder lesen noch schreiben kann, rhetorisch durchaus begabt ist, will ihr nicht einfallen, wie das Missverständnis mit dem Einssein aus der Welt zu schaffen ist, ohne sofort wieder neue Missdeutungen herauf zu beschwören. Shirin, die seit jeher ein sehr feines Gespür für den emotionalen Zustand ihrer Herrinnen besitzt, setzt sich mit einem leisen Winseln auf und schiebt ihre lange, schmale Schnauze zwischen Calaits schmale Finger. Kopfschüttelnd und mit einem feinen Lächeln auf den Lippen holt Calait Luft und wispert leise in ihrer Muttersprache:  „Ah, schon gut meine Süsse. Er ist ja zum Glück ein geduldiger Mann.“ Das Colevar Teile davon verstehen könnte, ist ihr bewusst, aber es geht in erster Linie auch nicht darum ihm etwas zu verschweigen – die Sprache ihres Vaters fühlt sich in diesem Moment nur so viel einfacher und besser an. „Wir sind nicht gleich“, beginnt sie irgendwann wieder und furcht die Stirn auf der Suche nach einer passenderen Beschreibung: „Aber wir sind eins. Nicht gleich, aber eins. Zwei Teile eines Ganzen. Das ist, was ich dir vor zwei Tagen zu erklären versucht habe. Nur war ich zu blind“, hierbei zieht sie mit einer gesunden Portion Selbstironie die Augenbrauen hoch, die nicht unter dem roten Band verschwinden: „um zu sehen, dass du das längst weißt. Ich war… eifersüchtig. Bin es wahrscheinlich immer noch und möglicherweise wird es noch eine ganze Weile dauern, bis dieses feine Brennen in meiner Brust aufhört. Nimm es mir bitte nicht übel.“ In einer ebenso unschuldigen, wie auch hilflosen Geste hebt sie die Hände: „Ich muss mich nur erst an ein paar Kleinigkeiten gewöhnen.“ Wie etwa alleine schlafen zu müssen. Allein der Gedanke an ihr herrlich weiches Bett lässt sie gähnen, doch kalte Laken und ein einsames Erwachen halten sie davon ab schlafen zu gehen, bevor sie nicht so müde ist, dass sie bis zum Morgen ganz sicher nicht mehr aufwacht. Einmal ganz abgesehen davon gilt es erst noch ein paar Dinge zu erledigen… und zu besprechen.
„Ich habe dich nie gefragt, wer du bist, Colevar.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Bisher schien es ihr auch überhaupt nicht nötig mehr zu erfahren, als er preis zu geben bereit war. Erst seit gestern, um genau zu sein, nachdem er das zweite Mal an einem Tag für eine ungewohnt kühle Atmosphäre – und das im wortwörtlichen Sinne – verantwortlich gewesen ist, fragt sie sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre Erkundigungen einzuziehen. Um was genau zu tun? Hätte sich irgendetwas geändert, nur weil du weißt, warum Blut an seinen Händen klebt und der Tod mit ihm geht? Sie muss nicht lange überlegen, um eine Antwort zu finden. Nein, hätte es nicht. Trotzdem wir es Zeit. Gemütlich stützt sie sich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab und legt die Hände übereinander, als ob sie sich auf längeres Gespräch gefasst machen möchte. „Als Unelma uns gestern im Wald überraschte, aber auch als Elyas Lía gestern dermassen schamlos überfiel“, sie empfindet es in diesem Moment als unnötig, Colevar darüber aufzuklären, woher sie den Namen des Bengels weiss: „wurde es kalt. Und damit meine ich kalt. Du weißt, wovon ich spreche.“ Natürlich weiss er es. Er ist schliesslich dafür verantwortlich gewesen. Zumindest geht sie stark davon aus. Sie hatte hinter ihm gestanden, etwas mehr als drei Schritt weg vom Mittelpunkt des Geschehens und doch war sie erschauert, als plötzlich eine Welle aus eiskalten Spitzen durch den Raum geglitten war und ihr eine unangenehme Gänsehaut beschert hatte. Im Zentrum Colevar. „Und es ist nicht die Kälte von Eis und Schnee“, fährt sie ruhig fort, als unterhielten sie sich über nichts weiter als die hiesige Unterkunftsmiete: „sondern die Kälte von Ewigkeit und Nichts. Die Kälte, wie nur der Tod sie bringt.“ Es schwingt keinerlei Vorwurf oder gar Misstrauen in ihrer Stimme mit und auch ihr Gebaren hat nichts Zurückhaltendes oder Verängstigtes an sich. Sie nimmt es, wie es kommt, im Wissen, dass der Tod das Leben erst lebenswert macht und niemand auf Rohas weitem Rund seinem Schicksal entkommen kann. Noch einmal moppst sie ein Stück Brot und schiebt es sich in den Mund, bevor sie sich zurücklehnt, Tanguy auf ihren Schoss hilft und sich ehrlich neugierig erkundet: „Wie machst du das? Ich meine… woher kommt es?“

Allerdings hat Calait die Rechnung ohne Lía, oder besser gesagt ohne Louan gemacht. Colevar bricht mitten im Satz ab, als ein leiser Schrei erklingt der eindeutig von Lía stammt. Erschrocken springt Calait auf, stolpert dabei beinahe über Breur und Trãon und kann einen höchst uneleganten Blindflug mit rudernden Armen gerade noch verhindern. Im Schankraum ist es schlagartig still geworden und ein jeder sieht sich verdutzt bis fragend nach dem Ursprung des Schreis um – der gleich darauf bleich wie geronnene Milch durch die Verbindungstür zwischen Gasthaus und Stall stolpert. Sowohl Elyas, der sich nur zu gerne von Lía stützen lässt, als auch Louan, der höchst zufrieden mit sich selbst vor den beiden hertrottet tragen ein Grinsen in ihrem Gesicht, dass seinesgleichen sucht. Calait hört das Poltern, als Imgrimm hinter seinem Tresen hervorstürzt, hört sein Toben, hört Lía auf ihn einredet, wie auf ein krankes Pferd und irgendwo dazwischen einen kurzen, unheimlich bösen und unheimlich schadenfreudigen Laut, den sie als Colevars Lachen identifiziert. „Was?“, zischt sie und tastet nach seinem Arm: „Was ist los, Colevar? Was ist passiert? Sag schon!“ Da er nicht sofort Hals über Kopf davongestürzt ist und auch jetzt keinerlei Anstalten macht sich zu bewegen, kann Lía nichts zugestossen sein. Zumindest nichts, was auch nur ansatzweise gefährlich sein könnte.
Colevar schafft es immerhin über die Hälfte der Geschichte hinaus, bevor Calait sich vor Lachen krümmt, hilflos kichernd nach Luft schnappt und dabei halb unter dem Tisch verschwindet. Doch nicht nur sie findet die Beschreibung von Louans triumphierendem Katzengrinsen amüsant, auch der Rest des Schankraums hält eine Menge an Spott für den Gebissenen bereit. Mit einem atemlosen Schnauben kämpft sich Calait, als sie immerhin wieder atmen kann, aus Fell und Leder bis über die Tischkante hinaus und giggelt: „Wer nicht hören will, muss eben fühlen.“ Gefühlt haben wird Elyas und zwar den letzten Zahn, den der alte Luchs noch sein eigen nennt. Es dauert nicht lange, bis Lía den Schaden ihres Seelentiers ausgebadet hat und sich zu ihnen gesellt. Mit einem liebevollen Lächeln greift Calait nach der Hand ihrer Schwester, als diese ihr einen sanften Kuss auf die Stirn drückt und sich dann neben sie, den Hasen, die Otterdame, Vi-Vi UND Shirin auf die Bank schiebt. Louan macht sich zu ihren Füssen breit und wäre Calait nicht blind gewesen, sie hätte schwören können, dass in den goldgelben Luchsaugen ein erheitertes Funkeln lag. „Guten Morgen?“, echote Calait mit gespielter Bestürzung, lachte auf und zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter zum Fenster: „Ich wusste nicht, dass die Sonne am Morgen untergeht.“ Lía ignoriert gekonnt, wie spät es ist. Dafür dämmert ihr sofort, dass ihre Schwester und Colevar überhaupt kein Mitleid haben mit Elyas. „Ihr solltet euch beide schämen! Jetzt hört schon auf so zufrieden zu kucken“, wird ihnen  mit erhobenem Zeigefinger gepredigt, was leider nur das Gegenteil bewirkt und als sie noch ein leicht verzweifeltes: „Colevar! Wenn du dich schon darüber ergötzen musst, dann spar dir doch wenigstens das Lachen, ja?“, hinterher hängt, ist es um Calait geschehen und ein erneuter Lachanfall schüttelt sie. Selbst Louan kriegt seinen Teil der Strafpredigt ab, was der Luchs aber mit einem Ohrenzucken abtut, um sich die wohlverdiente Streicheleinheit bei Colevar einzuholen. „Gut gemacht, Louan“, flötet Calait dazwischen und erntet einen Ellbogen zwischen ihre Rippen, was aber nichts an dem selbstgefälligen Ausdruck auf ihrem Gesicht ändert: „Was denn? Habe ich Recht oder habe ich Recht? Colevar?“ Das der natürlich ganz auf ihrer Seite steht, ist allen klar, was Lía ein empörtes Nasekrausziehen entlockt und Calait triumphierend das Kinn in die Höhe recken lässt. Dann legt sie ihrer Schwester den Arm um die Schultern und drückt ihr einen Kuss auf die Wange: „Ach ma kalon, Elyas überlebt das schon – und er wird sich das nächste Mal zweimal überlegen, ob er dich umgarnen möchte... wobei…“ Sie überlegt kurz und stösst einen theatralischen Seufzer aus: „Wahrscheinlich doch nicht.“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 19. Dez. 2009, 21:18 Uhr
Calait schenkt ihm ein müdes und vielleicht ein wenig grimassenhaftes, aber durchaus freundliches Lächeln, als er zu ihr an den Tisch tritt und sich setzt. Seine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage nach Lía, lässt auch noch etwas anderes über ihr Gesicht huschen - so rasch, dass man es sich auch eingebildet haben könnte, aber Colevar hätte seine Schwerthand darauf verwettet, dass ihre Miene für einen halben Herzschlag so etwas wie eine Mischung aus belustigtem Mitgefühl und mokanter Spöttelei zeigt. Sie sagt jedoch nichts, was immer in ihrem hübschen Kopf und hinter dieser roten Augenbinde gerade vorgehen mag, sondern erwidert nur, dass sie schon gegessen habe und schiebt ihm (oder eher seinem knurrenden Magen) dann mit einem eindeutig gönnerhaften Grinsen die Reste ihres Essens zu. >Hier, bevor du mir verhungerst. Ich fürchte, dass würde Lía mir nicht so schnell verzeihen.< "Oh, aye," erwidert er nur und bricht den Kanten Brot mit seinen großen Händen in mundgerechte Stücke. "Danke." Was Essen angeht ist er absolut pragmatisch, abgesehen davon ist er hungrig wie ein Wolf. Ein großer, starker Kerl zu sein hat unleugbar seine Vorteile, aber hin und wieder auch Schattenseiten - wer zwei Köpfe größer ist, als die meisten anderen, muss sich auch ein paar Tücken im Leben stellen, zum Beispiel  zu niedrigen Türstürzen und Deckenbalken, und der Tatsache, dass die meisten Mahlzeiten in Gasthöfen einfach zu knapp bemessen sind, um davon wirklich satt zu werden. Calait quittiert das Rupfen seiner Finger am Brot und sein Kauen mit einem wissenden Lächeln und erzählt dabei, dass die Wäsche bereits erledigt wäre, während er sich gerade suchend nach einer Schankmagd oder dem Wirt umsieht, um sich selbst ein Morgen- oder besser Mittags... nun gut, ein Nachmittagsmahl zu bestellen. "Will ich wissen, wie du an meine Kleider gekommen bist?" Erwidert er verblüfft, aber eher belustigt, als verärgert und ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, als sie ihm erklärt, was alles gewaschen und geflickt wurde. Dabei lässt sie ihn auch gleich noch wissen, dass sie, während Lía und er geschlafen hatten, keine Zeit verschwendet, sondern sich mit der Dienerschaft des Schwappenden Kruges und anscheinend auch halb Nellim bereits bestens bekannt gemacht hat. >Und was den Schmied angeht: Ich dachte mir schon, dass die Hufe der Pferde Pflege benötigen und habe mich daher nach einem guten Schmied erkundigt. Imgrimm meinte, dass hinter dem 'Roten Schleier', das durch seine rote Fassade deutlich auffällt, der Große Malte arbeite. Ein Schmied, der für einen anständigen Preis saubere Arbeit abliefert.<


Colevar winkt einer Schankmagd, die Erbarmen mit ihm hat und bestellt einen Krug Bier, einen halben Laib Brot, ein kleines Rad Käse, Butter und etwas von allem, was die Küche sonst noch gerade warm und fertig hergibt (außer Elcheintopf). Die Frau, eine dralle Mittvierzigerin mit aschblonden Locken und einem freundlichen, herzförmigen Gesicht, grinst mitfühlend und versichert ihm, dass sie dafür sorgen würde, dass er ganz schnell etwas in den Magen bekäme. Colevar erwidert ihr Lächeln aufrichtig dankbar und wird damit belohnt, dass zumindest Bier, Brot, Butter und Käse buchstäblich im Handumdrehen vor ihm auf dem Tisch landen - manchmal hat es eindeutig etwas für sich, mit einem einnehmenden Äußeren gesegnet zu sein. "Der Große Malte also?" Hakt er nach, während er den Käse verschlingt und das Brot mit dem Dolch in dicke Scheiben schneidet. "Gut, wir werden die Pferde zu ihm bringen, sobald Lía herunterkommt und wir etwas gegessen haben. Das wird seine Zeit dauern, hoffentlich hat der Schmied ein bisschen davon übrig. Ich will außerdem zwei Sattelkissen für euch und irgendeine Art Packkorb oder etwas Ähnliches machen lassen, das groß genug für Louan ist. Lía kann nicht die Zügel halten und den Luchs, wenn..." er verstummt, doch Calait weiß genau, was er meint. Wenn sie allein reiten muss, weil ich nicht mehr bei euch sein werde. Sie nickt nur, doch dann pressen sich ihre Lippen mit einem Mal kurz aufeinander, ehe sie abrupt und ziemlich drastisch das Thema wechselt: >'Was mir ein wenig zu schaffen macht, Calait, ist einfach die Tatsache, dass sie unbedingt bei jemandem bleiben will, den sie überhaupt nicht verlieren kann.'< Wiederholt sie exakt die Worte, die er vor zwei Nächten am Feuer zu ihr gesagt hatte. Ihre Miene ist scharf und sie sieht aus, als würden ihre blinden Augen unter dem roten Tuch ihn gerade jetzt fixieren - nicht argwöhnisch, aber doch irgendwie abwägend. Schließlich jedoch seufzt sie und ihre Schultern sinken ein wenig in sich zusammen. >Du weißt, dass das nicht stimmt, Colevar. Und dabei meine ich nicht die Tatsache, dass ich sie nicht mehr verlieren kann.< Einen Moment ist er wirklich ratlos, denn er hat keine Ahnung, worauf sie damit nun hinaus will, doch seine Überraschung wird noch größer, als sie aufsteht, sich über die ganze Breite des Tisches beugt und ihm dann sacht die Hand an die Wange legt, sanft wie die Liebkosung eines wohlwollenden Geistes. Er verharrt vollkommen reglos, viel zu verblüfft von dieser unerwarteten Wendung, um irgendetwas zu sagen oder zu tun, bis ihre Hand auf seiner Brust liegt, irgendwie fragend oder eher... lauschend, als würden ihre Finger durch die Schichten von Kleidung, Haut, Fleisch und Muskeln etwas erahnen oder spüren, das nicht nur das kraftvolle, stete Pochen seines Herzens ist... und sich dann blind und zielstrebig darauf legen.


>Ich höre ihr Lied, Colevar. Hier, in dir. Und es wird dort bleiben, egal wie lange die Trennung dauert.< Einen Moment ist es so still, dass sein Atem das einzige Geräusch auf der Welt zu sein scheint, dann schnellt die Wirklichkeit zurück wie ein Springseil und sie sind wieder im  warmen, von Hopfenduft, Pfeifenkraut und Essensgerüchen geschwängerten Gastraum des Schwappenden Krugs. Colevar ist nie ein Mann vieler oder ausschweifender Worte gewesen. Oh, er kann sich durchaus gewandt ausdrücken, aber seine Sprache ist eher schnörkellos und direkt, und ein Poet ist wirklich nicht an ihm verloren gegangen. Er hätte nie solche Worte für das finden können, was er in seinem Inneren fühlt und so sicher weiß, wie er weiß, dass die Sonne morgens im Osten aufgeht - aber Calait kann es. "Ich weiß", erwidert er also nur, denn sie hat Recht. Aber vor zwei Nächten auf jenem Berghang war das weder Lía, noch ihm selbst bereits so klar gewesen. >Du kannst sie genauso wenig verlieren, wie ich.< "Ich weiß," wiederholt er noch einmal, denn sie sagt auch diesmal die Wahrheit. Sie können sie beide nicht verlieren... Calait nicht als Schwester und er nicht als Frau, und doch könnte ihnen genau das geschehen: Lía könnte sterben. Sie wäre dann immer noch ihre Schwester und immer noch die Frau, die er lieben wird für den Rest seines Lebens, aber sie wäre fort, unwiederbringlich und für immer. Er will nicht daran denken. Er kann sich ihren Tod nicht vorstellen. Alles - aber das nicht. Er kann es nicht. Sie wird nicht sterben. Ihr wird überhaupt nichts geschehen. Du schaffst Riku nach Talyra, kehrst zu ihr zurück und findest sie wieder, wohlbehalten und unversehrt. Denk noch nicht einmal an etwas anderes.  Calaits Lachen reißt ihn aus seinen trübsinnigen Gedanken, doch ihrer Miene nach ist sie immer noch ein wenig auf der Hut, als sie fortfährt. >Es tut mir leid, Colevar. Einiges was ich gesagt habe, aber vor allem, wie ich es gesagt habe, war nicht richtig.< Er erwidert nichts, sondern wartet geduldig, bis sie sich die richtigen Worte zurechtgelegt hat - denn das sie noch nicht alles gesagt hat, hallt schwer und deutlich in der Stille nach ihren Worten mit. Sie ringt immer noch mit den richtigen Formulierungen, als sie schließlich fortfährt und er kann sehen, wie schwer es ihr fällt. >Wir sind nicht gleich. Aber wir sind eins. Nicht gleich, aber eins. Zwei Teile eines Ganzen. Das ist, was ich dir vor zwei Tagen zu erklären versucht habe. Nur war ich zu blind um zu sehen, dass du das längst weißt.< Colevar legt den Munddolch beiseite, mit dem er schweigend das Fleisch geschnitten hat, lehnt sich zurück und sieht sie an. Er versteht sehr gut, was sie ihm sagen will, aber er teilt ihre Meinung immer noch nicht, nicht in dieser einen Sache. Zwei Teile eines Ganzen? Ah, Calait, wenn ihr schon ganz wärt, ihr beide, würde Lía niemanden außer dir brauchen... aber das tut sie. Und du tust es auch. Er öffnet schon den Mund, um ihr das zu sagen, schließt ihn aber unverrichteter Dinge wieder. Er weiß nicht, wie er ihr etwas erklären soll, dass er selbst kaum in Worte fassen kann... oder etwas, das er selbst als vollkommen unmöglich abgetan hätte, hätte es ihm jemand noch vor einem Siebentag erzählt. Außerdem ahnt er vage, dass Calait grundsätzlich etwas anderes im Sinn hat, als das, woran er bei ihren Worten denkt... ein wenig so, als würden sie beide von Grün reden, der eine aber das frische, zarte Grün von Schilf und der andere das satte, schwere, dunkle Grün der Sithechtannen meinen. "Das weiß ich... oder ich versuche jedenfalls, es zu verstehen."


Ihre nächsten Worte jedoch kommen unerwartet - sehr unerwartet, weil er ihr die Kleinlichkeit, die dahinter steckt, einfach nicht... nicht... nun ja, nicht zugetraut hätte. >Ich war... eifersüchtig. Bin es wahrscheinlich immer noch und möglicherweise wird es noch eine ganze Weile dauern, bis dieses feine Brennen in meiner Brust aufhört. Nimm es mir bitte nicht übel.< "Eifersucht," echot er leise und mehr zu sich selbst, und kann es immer noch nicht ganz glauben. Das hatte sie mehr oder weniger ihm unterstellt, in jener Nacht am Feuer -  und er war aus allen Wolken gefallen. Oh, er ist mit Sicherheit ein besitzergreifender Mann, das ist wahr. Was ihm gehört, gehört ihm allein - aber sie ist ihre Schwester, Himmelgötternocheinmal. Glaubt sie wirklich... denkt sie... fürchtet sie... dass ich... ihr Lía wegnehmen könnte? Sind wir jetzt eigentlich alle vier Jahre alt und streiten uns im Tempelgarten um die Sandförmchen?  Er schüttelt sacht den Kopf, doch er glaubt in ihrem Gesicht zu sehen, dass sie sich mit ihren widerstreitenden Gefühlen alles andere als wohlfühlt. Aber neben all dem Unausgegorenen ist da auch Freude für Lía... und vielleicht auch für ihn. Möglicherweise muss sie es einfach noch ein paarmal hören, bis sie anfangen kann, es zu glauben. "Ich will sie dir nicht... nicht abspenstig machen Calait. Das kann ich auch gar nicht. Ganz abgesehen davon, würde ich dich ihr niemals wegnehmen." Sie ist deine Schwester und das wird sie auch immer bleiben. Das ist es, was ich versucht habe, dir zu erklären. "Und ich will immer noch nicht ihr Bruder sein. Außerdem... kann ich dich eigentlich wirklich gut leiden, wenn du nicht gerade den Hausdrachen gibst." Calaits Miene spricht Bände, als sie ein wenig hilflos mit den Schultern zuckt und die Hände dann in einer ebensolchen Geste hebt und wieder sinken lässt - ihr anschließendes Gähnen auch. >Ich muss mich nur erst an ein paar Kleinigkeiten gewöhnen.< Er weiß genau, worauf sie anspielt, er ist ja kein Narr und sie weiß, dass er es weiß, denn sie ist ja keine Närrin. "Aye", erwidert er gelassen, aber auch sanft. "Daran solltest du dich vielleicht wirklich gewöhnen." Sie zieht die Nase ein wenig kraus, aber dann schlägt sie mit ihren nächsten Worten eine völlig andere Richtung ein. >Ich habe dich nie gefragt, wer du bist, Colevar.< Das ist wahr - sie hatten beide keine Fragen gestellt, die nicht an absolut unverfänglichen Oberflächen geblieben wären, obwohl er sich keinerlei Illusionen darüber hingibt, wofür sie ihn wohl halten mögen. Er ist sich sicher, dass sie wissen, dass er ein Mann des Schwertes ist, aber jetzt, mit diesem vagen Unterton in Calaits Stimme, fragt er sich zum ersten Mal, ob sie ihn - obwohl er ihnen nicht einen Grund dazu gegeben hat - vielleicht für etwas halten, dass er ganz sicher nicht ist. Oh... Calait setzt sich erwartungsvoll zurecht, doch noch bevor er etwas erwidern kann, fährt sie fort, und das überraschend gelassen angesichts all dessen, was sie nun ausspricht: >Als Unelma uns gestern im Wald überraschte, aber auch als Elyas Lía gestern dermaßen schamlos überfiel wurde es kalt. Und damit meine ich kalt. Du weißt, wovon ich spreche. Und es ist nicht die Kälte von Eis und Schnee, sondern die Kälte von Ewigkeit und Nichts. Die Kälte, wie nur der Tod sie bringt.<  


Sie stibitzt sich ein Stück Brot von seinem Essen und er schiebt den Teller ein wenig näher in ihre Richtung. "Bedien dich ruhig, es ist reichlich", schnieft er ein wenig belustigt, während er ihr Gesicht genau beobachtet. Sie ist immer noch sehr gefasst, aber er kann wirklich nichts Aufgesetztes in ihrem Mienenspiel erkennen. In ihrer Stimme liegen kein Erschrecken, keine Ablehnung, noch nicht einmal gesunder Argwohn, nur eine Art Neugier: >Wie machst du das? Ich meine... woher kommt es?< "Ich bin..." setzt er an, kommt jedoch nicht weiter, denn in diesem Augenblick geschehen mehrere Dinge gleichzeitig: Lías Schrei erklingt und er ist auf den Beinen, noch ehe Calait auch nur zusammenzucken kann, während sich die Kälte, von der sie gerade gesprochen hat, schon ringsum ihn ausbreitet wie Wellen auf einem Teich. Doch noch bevor er einen Schritt tun und Calait erschrocken auf die Füße stolpern kann, kommt der Grund des Tumults auch schon durch die Hintertür spaziert, vornweg Louan, der so selbstzufrieden aussieht, als hätte er gerade den Sahnekrug ausgeschleckt, hinter ihm ein blasser, aber ebenso, wenn auch sehr viel wackliger, grinsender Elyas und an seiner Seite, ihn stützend, denn er hinkt so übertrieben, als würde er Ströme von Blut nach sich ziehen und sein Bein gewiss gleich verlieren, Lía, die halb erbost und halb besorgt dreinblickt. Colevar fasst die pittoreske Szene, die sich ihm bietet einen Herzschlag lang ins Auge und setzt sich dann unverrichteter Dinge wieder, verschränkt die Arme vor der Brust und wartet in aller Seelenruhe ab, was geschieht - das einzige, was er tut, ist Louan einen amüsierten, zufriedenen Blick zuzuwerfen und ein lautloses: 'Sehr gut gemacht' mit den Lippen zu formen. Das Grinsen des Luchses wird so breit wie der Ildorel. >Was?< zischt es neben ihm. >Was ist los, Colevar? Was ist passiert? Sag schon!<  "Oh... nichts weiter," erwidert er und klingt hochzufrieden. "Louan hat gerade eindrucksvoll bewiesen, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört. Ich liebe diesen Kater." Er lehnt sich zurück und synchronisiert Calait das Geschehen, doch sehr weit kommt er nicht, ehe sich Lías Schwester schon ausschütten mag vor Lachen und ihm selbst ebenfalls leises Gelächter in der Kehle aufsteigt. >Wer nicht hören will, muss eben fühlen<, ist alles, was sie schließlich dazu sagt und er nickt sacht. "Aye, das ist wahr." Irgendwann gönnt er dem armen Jungen doch noch einen Blick, wenn auch denkbar kurz und warnend, und außerdem von der Sorte, der einen frischen Krug Milch auf der Stelle hätte gerinnen lassen. Das wirkt, Elyas (so scheint der Bengel ja zu heißen), zuckt zusammen und verliert schlagartig jede Farbe im Gesicht. Sie amüsieren sich immer noch königlich, als Lía mit Louan zu ihnen an den Tisch kommt, Calait begrüßt und sich setzt, während Colevar die Hände ausstreckt und das pelzige Gesicht eines hinreißend selbstzufriedenen, hörbar schnurrenden Luchs in selbige schließt. Louan rammt ihm freundschaftlich die Stirn gegen das Knie und lässt sich dankbar hinter den weichen Pinselohren kraulen. "Das hast du gut gemacht, Pelzgesicht", lobt er, immer noch leise prustend, doch Lía ist anscheinend ganz anderer Ansicht. >Ihr solltet euch beide schämen! Jetzt hört schon auf so zufrieden zu gucken<! Fordert sie aufgebracht, doch Colevar schüttelt nur lachend den Kopf. "Ich denke ja gar nicht dran, Sommersprosse. Irgendjemand muss auf dich aufpassen, wenn man dich nicht einmal für eine halbe Stunde aus den Augen lassen kann."


>Colevar! Wenn du dich schon darüber ergötzen musst, dann spar dir doch wenigstens das Lachen, ja?<
"Nein," erwidert er ganz unverblümt und kratzt Louan den flauschigen Rücken, so dass sein langes  Fell absteht wie der Pelz einer explodierten Pusteblume. Der Luchs schnurrt frenetisch und reibt sich um seine Beine wie eine Katze um einen sonnenwarmen Mauerpfosten. Lía versucht eine strenge Miene aufzusetzen und bedenkt ihr Seelentier mit einem Blick, den sie wohl für bitterböse hält, während Calait immer noch kichert und ebenfalls ein Lob an Louan einwirft, was ihr einen Ellenbogenstoß einbringt und ein Lächeln von Colevar obendrein. "Natürlich hast du Recht." Lía schüttelt immer noch erbost den Kopf und fixiert ihren Luchs. >Und was dich angeht: wehe du beißt noch mal jemanden. Was ist nur in dich gefahren?< Louan erwidert ihren Blick vollkommen gelassen und legt Colevar demonstrativ eine seiner pelzigen Pfoten aufs Knie. Colevar blickt von Lía zu Louan und wieder zurück in ein Paar bernsteindunkle Augen, in denen sich so etwas wie erstauntes Begreifen zeigt. Oh. Oh! Er muss dich wirklich sehr mögen - er beißt sonst nie.<
"Natürlich mag er mich," antwortet er lächelnd und seine Hand sinkt sanft zwischen die Ohren des Luchses, der seine Pfote noch immer auf Colevars linkem Knie hat, als wolle er sagen: der hier, junges Fräulein, und bitte nur der! "Und ich ihn auch. Ich will mir ja nicht anmaßen Louan besser zu verstehen als du, Sommersprosse, aber wenn du mich fragst, erklärt er dir gerade, was er von anderen Männern mit ziemlich eindeutigen Absichten in deiner Nähe hält." Sein Lächeln wird noch ein wenig wärmer und für einen Moment sehen sie sich über den Tisch hinweg an. "Hunger? Dann bestell dir etwas zu essen, wir müssen mit den Pferden noch zur  Schmiede, ehe die Nacht anbricht. Und um auf deine Frage zurückzukommen, Calait." Er krempelt den linken Hemdsärmel nach oben und legt den Unterarm auf den Tisch. Zwischen Handgelenk und Ellenbogen sind auf der Unterseite deutlich vier ineinandergreifende Brandringe in seiner Haut zu sehen, blass und hell im Gegensatz zu seiner sonnendunklen Haut. Direkt vor dem Gelenk über seinen Pulsadern wäre auch noch Platz für einen fünften, doch den trägt er nicht und er bezweifelt auch, dass er ihn jemals erhalten wird. Lía kennt diese Narben schon, ebenso wie alle anderen auf seinem Körper, schließlich hatte sie seine Schulter in den letzten Tagen oft genug verbunden und ihn gestern außerdem bis auf die Bruche ausgezogen... aber sie hatte nach keiner gefragt. Sie stellt ohnehin kaum Fragen... Einen Augenblick fragt er sich, warum. Fürchtet sie die Antworten oder... ist es einfach nicht ihre Art? Er weiß nicht, ob die Mädchen mit den eingebrannten Ringen auf seinem Arm etwas anfangen können, denn obwohl sie auf ihren Reisen vom Ostwall in die weiten Steppen jenseits des Rhune viel herumgekommen sein müssen, hat er keine Ahnung, durch wie viele Länder mit einigermaßen verbreitetem Rittertum sie gezogen sind oder nicht. "Ich bin ein Ritter Sithechs, des Herren über Tod und Winter." Er lächelt ein wenig schief und schlägt den Ärmel wieder nach unten. "Wenn du so willst, sind das hier," er nickt in Richtung seines Armes, nun wieder verborgen unter weichem Leder, "seine Fingerabdrücke. So nennt man sie auch, die Ringe meine ich. Ich beantworte dir gern alle Fragen, die du vielleicht hast, Calait und ich stehe Lía jederzeit Rede und Antwort - aber vielleicht verschieben wir das auf später, wenn wir vom Schmied wieder hier sind, aye?"      

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 23. Dez. 2009, 03:03 Uhr
Resignierend seufzend stellt sie fest, dass weder Colevar noch ihre Schwester besonders viel auf ihre kleine Standpauke geben. Kurz huscht ihr Blick zum anderen Ende des Raumes wo Elyas immer noch am Tisch sitzt und ihr strahlend zuwinkt. Wie von selbst erscheint nun auch auf ihren sanften Zügen ein ehrliches Lächeln, doch sie unterdrückt den Impuls ihm ebenfalls zu winken. Empört blickt sie Calait bei deren Worten an und schnappt kurz nach Luft, will etwas erwidern, begnügt sich dann jedoch stattdessen damit sie sanft, wenn auch bestimmt mit dem Ellbogen in die Seite zu stoßen um ihr klar zu machen, dass sie ihr Amüsement über den Vorfall nun wirklich nicht teilt. Und auch Colevar zeigt kein Mitleid, im Gegenteil verwöhnt er Louan mit Streicheleinheiten und grinst dabei so unverschämt bis über beide Ohren, dass Lía gar nichts anderes tun kann als einfach nur den Kopf zu schütteln. "Ich denke ja gar nicht dran, Sommersprosse. Irgendjemand muss auf dich aufpassen, wenn man dich nicht einmal für eine halbe Stunde aus den Augen lassen kann."
Lía sieht ihnen einen Moment lang schweigend an bevor sie dann den Kopf schüttelt. Im Gegensatz zu Colevar und ihrer Schwester findet sie die Situation nicht im geringsten lustig. Natürlich weiß sie, dass Louan niemals jemanden ernsthaft verletzen würde, wenn er keinen triftigen Grund dafür sieht, aber allein die Tatsache, dass er zugebissen hat behagt ihr nicht und ohne noch etwas auf seine Worte zu erwidern wandert ihr Blick zu ihrem Luchs.

"Nein“ Ihr Blick wird eine Nuance dunkler aber sie sagt nichts mehr dazu, da sie ahnt, dass sie bei ihren beiden Begleitern auf Granit beißt. Doch als Colevar ihrer Schwester dann auch noch Recht gibt muss sie einfach etwas sagen. „Okay, euer Standpunkt ist klar. Aber Elyas hat doch gar nichts getan…Andererseits….Louan würde niemals…“, sie bricht ab und streckt ihre Hand nach dem Tier aus und streichelt ihm über den mächtigen Schädel, den der Luchs ihr sogleich zuwendet, nur um sich Augenblicke später, als sie die Hand zurückzieht wieder Colevar zuzuwenden und sich weiter liebkosen zu lassen. "Natürlich mag er mich" Erst jetzt löst sie den Blick von Louan und sieht nun Colevar wieder direkt an. Als sie seinem Lächeln begegnet, diesmal warm und voller Zuneigung für ihr Schutztier, kann Lía gar nicht anders als ebenfalls zu lächeln. Ein glückliches Funkeln tritt in ihre Augen als ihr bewusst wird wie sehr der Mann ihr Gegenüber den Luchs tatsächlich mag – dass Louan ihn mag ist ihr seit ihrer ersten Begegnung bewusst, wo der weiße Luchs sich schnurrend an seinen Beinen gerieben hatte. "Und ich ihn auch. Ich will mir ja nicht anmaßen Louan besser zu verstehen als du, Sommersprosse, aber wenn du mich fragst, erklärt er dir gerade, was er von anderen Männern mit ziemlich eindeutigen Absichten in deiner Nähe hält." Für einen Moment sieht sie ihn verblüfft über den Tisch hinweg an, doch dann breitet sich ein Lächeln auf ihren Zügen aus und sie streckt die Hand nach Colevar aus und berührt ihn sanft an der Wange. „Louan weiß, dass es keine anderen Männer geben wird“, ist alles was sie sagt. Ihre Stimme ist sanft und warm während ihre Finger zärtlich über seine Wange streicheln. Lía ist nicht dumm, sie weiß, dass es immer andere Männer in ihrem Leben geben wird und wie eben diese sie sehen und für sie empfinden kann sie nicht beeinflussen, doch im Endeffekt ist das auch nicht wichtig. Wichtig ist was sie empfindet. Und obwohl sie in derlei Dingen völlig unerfahren ist, ist sie dennoch sicher, dass es nie jemand anderen geben wird. Ihr Herz mag jedem offen stehen und sie mag ihre Liebe an jeden verschenken und doch würde Colevar immer der Einzige bleiben dem dieser ganz besondere Platz in ihrem Herzen, ihrer Seele und ihrem Leben zukommt. Niemals würde jemand außer ihm diese Lücke füllen können – ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie nicht komplett war, nicht bis zu dem Zeitpunkt wo sie das fehlende Puzzleteil gefunden hatte. "Hunger? Dann bestell dir etwas zu essen, wir müssen mit den Pferden noch zur  Schmiede, ehe die Nacht anbricht. Und um auf deine Frage zurückzukommen, Calait." Lía hält seinen Blick noch einen Moment fest in ihrem bevor sie dann zu Calait blickt. Welche Frage? Aber bevor sie auch nur ein Wort diesbezüglich verlieren kann hat Colevar auch schon seinen Ärmel hochgekrempelt und legt den Arm auf den Tisch, so dass der Blick auf die Narben frei wird. Leicht irritiert runzelt sie die Stirn und blickt von Calait zu Colevar und wieder zurück. Sie kennt die Narben, schließlich hat sie sie schon mehrmals gesehen, hat allerdings nie nach deren Ursprung gefragt – ebenso wenig wie sie nach den zahllosen anderen Narben gefragt hatte. Lía stellt selten Fragen, sie hört viel eher zu; wenn die Menschen bereit sind zu reden dann tun sie das in der Regel auch. "Ich bin ein Ritter Sithechs, des Herren über Tod und Winter." Während er spricht greift sie nach der Hand ihrer Schwester und führt sie behutsam zu den Narben damit Calait sie fühlen kann. Lía gibt in keinster Weise zu verstehen ob sie mit diesen Worten etwas anfangen kann oder nicht, doch als er schließlich den Ärmel zurückschlägt und den Arm zurückziehen will greift sie nach seiner Hand und blickt ihn aus großen Augen an. „Nicht..“, ist alles was sie sagt, während sie seinen Arm fest umklammert hält, ihm dabei jedoch fest in die Augen sieht. "Wenn du so willst, sind das hier seine Fingerabdrücke. So nennt man sie auch, die Ringe meine ich. Ich beantworte dir gern alle Fragen, die du vielleicht hast, Calait und ich stehe Lía jederzeit Rede und Antwort - aber vielleicht verschieben wir das auf später, wenn wir vom Schmied wieder hier sind, aye?" Erstaunt lässt sie seinen Arm los und sieht ihn an. Deshalb hat er also kein Wort verloren – er wartet darauf, dass sie fragt. Für einen kurzen Moment schleicht sich so etwas wie Betroffenheit auf ihre Züge, doch dann legt sich ein weiches Lächeln auf ihre Lippen und sie nickt verstehend.

Eine knappe Stunde später hat auch Lía gegessen, es irgendwie fertig gebracht Calait dazu zu bewegen sich etwas auszuruhen und den versäumten Schlaf nachzuholen und ist nun mit Colevar auf dem Weg zum Schmied. Obwohl die Sonne scheint weht doch ein kalter Wind und Lía vermisst die angenehme Wärme der vergangenen Tage und drückt sich schutzsuchend an Colevar. Eine Weile schreiten sie einfach schweigend nebeneinander her bevor Lía dann den Blick hebt und ihn von unter her nachdenklich mustert. „Colevar?“, sie spricht leise als sie stehen bleibt und sich ihm nun direkt zuwendet. „Hör mir zu“, nun klingt sie eindeutig eindringlich und greift nach seinen Händen, lässt seinen Blick jedoch nicht eine Sekunde frei. „Ich habe keine Fragen gestellt und das tut mir Leid. Natürlich will ich so vieles über dich wissen, aber ich wollte warten bis du bereit bist es mir von selbst zu sagen. Colevar, ich fürchte mich nicht. Nicht vor dir, nicht vor den Antworten, nicht vor dem wer oder was du bist oder woher du kommen magst. All das ist mir gleich. Ich weiß so wenig über dich und doch soviel….und das was ich weiß reicht aus um alles andere Nebensächlich werden zu lassen. Dein Leben mag von Kampf geprägt sein und ich gebe zu es…nun…“, kurz bricht sie ab und sucht nach den richtigen Worten. „Es ist einfach eine so völlig andere Lebensart als meine, verstehst du? Ich urteile nicht. Mir ist bewusst, dass ich es Menschen wie dir zu verdanken habe, dass ich Nachts ruhig schlafen kann. Aber ich lebe nach dem Gesetz des Blattes“, Lía lächelt bei Colevars fragendem Gesichtsausdruck „Das Blatt lebt solange es ihm eben bestimmt ist ohne dagegen aufzubegehren. Wenn der Wind es schließlich davonträgt, fällt es zu Boden und nährt ihn. Das Blatt schadet niemandem.“ Langsam setzt sie sich wieder in Bewegung und schmiegt sich an ihn während langsam die Schmiede in ihr Blickfeld tritt. „Ich weiß du bist ein guter Mensch. Und ich weiß, dass du meine Liebe verdienst, ich spüre es. Hier“, bei diesen Worten wandert ihre zierliche Hand zu ihrer Brust und legt sich auf die Stelle wo sie ihr Herz pochen spürt. „Allerdings…was mir Angst macht“, ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser und sie wagt es nicht länger ihn anzusehen, sondern blickt auf ihre Stiefelspitzen. „Was mir Angst macht…Es sind meine Gefühle…und…Colevar? Ich hab einfach Angst….etwas Falsches zu tun…und…“ dich zu enttäuschen…

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 17. Feb. 2010, 23:02 Uhr
Die sinkende Sonne wirft schräge, rotgoldene Finger durch Nellim und lässt die wenigen Häuser, die sich entlang der Straße drängen, purpurdunkle und blaue Schatten werfen, doch der Wind weht von Norden und schmeckt nach Frost. Sie sind in der letzten Woche hart geritten und weit nach Süden gekommen, doch sie sind immer noch in Immerfrost und es ist unleugbar Herbst – die Tage sind längst merklich kürzer geworden und Erde, Steine und Fels atmen Kühle. Lía und er haben die drei Pferde, das Hunajafohlen und den Onager aus den Ställen des Schwappenden Krugs geholt und sind jetzt auf dem Frostweg unterwegs in Richtung der Schmiede. Noch immer herrscht reges Treiben auf der Straße, wenn auch kein Gedränge und sie lassen sich mit dem Strom treiben, der im Augenblick aus einem Bauern mit einem Ochsenkarren, ein paar Einheimischen, die ihren Besorgungen nachgehen, Reisenden auf nervös tänzelnden Pferden, einem Hirten mit ein paar dicken, wolligen Schafen und herum flitzenden Kindern jeden Alters beim Stock-und-Ball spielen besteht.  Bis auf wenige Ausnahmen wie die Gasthöfe und das Bordell sind die übrigen Gebäude Nellims klein, alt und gedrungen. Sie schmiegen sich an sanfte Hänge oder ducken sich unter hohen Bäumen und sehen aus, als könnten sie jedem Schneesturm trotzen. Ihre Dächer sind mit Reet oder Grassoden gedeckt, ihre wuchtigen Balken silbern vom Alter - und wenn sie Fenster haben, sind diese klein und fast blind. Colevar hat den Onager und Filidh an langen Führleinen, während das Hunajafohlen ihnen wahlweise hinterher trippelt oder übermütig ein paar Schritt voraus hüpft, bis der Mut es verlässt und es sich eilig wieder in den Schutz seiner kleinen Herde flüchtet. Lía führt die beiden Reninker, die ihr gelassen hinterher marschieren, doch sie drängt sich im schneidenden Wind so nahe an ihn, wie es Leinen und Pferde nur irgendwie erlauben. "Ist dir kalt?" Sie schüttelt den Kopf, nickt gleich darauf und schüttelt wieder den Kopf, ehe sie ihn ansieht und unter ein paar windverwehten Strähnen ihres dunklen Zobelhaares zu ihm hochblinzelt. >Colevar?< Dann bleibt sie stehen und legt ihre freie Linke auf seine rechte Hand. Ihre Finger sind so kühl, so dass er sie am liebsten fest in den Arm genommen und gewärmt hätte. Hinter ihnen teilt sich die Menge der übrigen Passanten auf der Straße, nur um ein paar Schritt vor ihnen wieder zusammenzuströmen, doch niemand stört sich wirklich an dem kleinen Stau, den sie so provozieren. >Hör mir zu…< Nun wendet sie sich vollends zu ihm um, so inständig, als müsse sie ihm auf der Stelle ein wichtiges Geständnis machen. "Was ist los, Sommersprosse?" Will er alarmiert wissen, doch sie lächelt sofort beruhigend, wenn auch vielleicht ein wenig… wehmütig. >Ich habe keine Fragen gestellt und das tut mir Leid. Natürlich will ich so vieles über dich wissen, aber ich wollte warten bis du bereit bist es mir von selbst zu sagen.<

Colevar öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, schließt ihn jedoch unverrichteter Dinge wieder. Dann schüttelt er sacht den Kopf und seine Augen sind für einen Moment so  unergründlich wie der dunkelnde Himmel über ihnen. "Es ist nicht so, dass ich dir nichts über mich erzählen will, Lía. Oder dass ich dir irgendetwas hätte verschweigen wollen. Aber manche Dinge… nun, es ist einfach nur leichter, wenn man danach gefragt wird, schätze ich. Abgesehen davon hatten wir schlicht und einfach noch gar keine Gelegenheit irgendwelche längeren Unterhaltungen zu führen." Das ist wahr - die Ereignisse der letzten Tage mit ihren schier unmöglichen Umwälzungen was sie beide und ihre Gefühle anging, von ihrer Flucht vor Riku ganz zu schweigen, hatten ihnen ja nicht einmal Zeit zum Atemholen gelassen. Und als hätte sie seine flüchtigen Gedanken vorhin im Schwappenden Krug erraten, beantwortet sie prompt eine seiner unausgesprochenen Fragen. >Colevar, ich fürchte mich nicht. Nicht vor dir, nicht vor den Antworten, nicht vor dem wer oder was du bist oder woher du kommen magst.< Er kann gar nicht anders, als bei diesen Worten zu lächeln und streicht sacht mit den Fingerknöcheln über ihre Wange. "Ach Sommersprosse…"  >All das ist mir gleich. Ich weiß so wenig über dich und doch soviel….und das was ich weiß reicht aus um alles andere Nebensächlich werden zu lassen. Dein Leben mag von Kampf geprägt sein und ich gebe zu es…nun... Es ist einfach eine so völlig andere Lebensart als meine, verstehst du? Ich urteile nicht. Mir ist bewusst, dass ich es Menschen wie dir zu verdanken habe, dass ich nachts ruhig schlafen kann. Aber ich lebe nach dem Gesetz des Blattes.<
"Des… Blattes?" Echot er, von ihren Worten zugegebenermaßen ziemlich verwirrt und ihre Mundwinkel zucken amüsiert, als sie seine wohl reichlich ratlose Miene sieht. >Das Blatt lebt solange es ihm eben bestimmt ist ohne dagegen aufzubegehren. Wenn der Wind es schließlich davonträgt, fällt es zu Boden und nährt ihn. Das Blatt schadet niemandem.< Sie gehen weiter, langsamer diesmal und Lías kleine, schmale Finger bleiben fest mit seinen verschränkt. Vor ihnen ragt das Bordell Nellims auf, das letzte Gebäude der Stadt in Richtung Norden, ein zweistöckiges, gut besuchtes Hurenhaus, wie der Lärm verrät, der gedämpft durch die Wände dringt und die vielen Männer, hauptsächlich Soldaten, die aus- und eingehen. Von irgendwo her dahinter ertönt das rhythmische, metallische Klonk-Klonk-Klonk eines Schmiedehammers auf einem Amboss und sie verlassen die Straße und folgen dem Geräusch durch die beginnende Dämmerung.

>Ich weiß du bist ein guter Mensch. Und ich weiß, dass du meine Liebe verdienst, ich spüre es. Hier,< fährt Lía fort und legt ihre freie Hand für einen Moment auf ihr Herz. Er hätte gern etwas gesagt, etwas erwidert, aber lange Augenblicke ist er einfach nur sprachlos. Irgendwie - und er weiß wirklich nicht, wie sie das anstellt, macht sie ihm eine furchtlose Liebeserklärung nach der anderen ohne dass ihr das überhaupt bewusst zu sein scheint. >Allerdings…was mir Angst macht…< Jetzt senkt sie Kopf und Blick und starrt angestrengt auf ihre Füße, während ihre Stimme so leise wird, dass er ernsthaft Mühe hat, ihre nächsten Worte überhaupt zu verstehen. >Was mir Angst macht… Es sind meine Gefühle… und… Colevar? Ich hab einfach Angst… etwas Falsches zu tun… und…< Sie bricht ab und kaut einen Moment lang auf ihrer Unterlippe herum. Viel wichtiger als das, was sie sagt, sind die Worte, die sie nicht ausspricht und er hätte viel darum gegeben, jetzt ihre Gedanken lesen zu können. "Was ich vorhin gesagt habe, habe ich ernst gemeint, Lía. Ich stehe dir jederzeit Rede und Antwort." Seine Mundwinkel vertiefen sich zu einem halben Lächeln. "Ich hüte keine dunklen Geheimnisse, die du nicht erfahren sollst…" er verstummt und mustert sie einen Moment lang eindringlich. "Aber nur noch einmal für die Akten: Du machst dir also keine Sorgen, weil ich ein Mann des Schwertes bin, weil ich brutal sein kann und mein Handwerk das Töten ist, mal ganz abgesehen davon, dass du überhaupt nichts von mir weißt und ich zweimal so groß bin wie du… sondern du hast Angst, dass du etwas falsch machen könntest?" Ihr "Ja" ist leise, aber unmissverständlich, vollkommen aufrichtig und es kommt ohne jedes Zögern. Colevar schüttelt sacht den Kopf. "Du bist unglaublich."
Sie erreichen die Schmiede, gerade, als die Sonne sinkt und die hereinbrechende Nacht alle Farben schluckt. Die Welt wird zu einem grauschwarzen Schattenriss oder füllt sich mit blauen Schemen, nur vor ihnen glüht das Feuer einer großen Esse aus einem breiten Tor, das sperrangelweit offen steht. Die Schmiede hat einen überdachten, ummauerten Hof mit guten Dutzend Anbinderingen für Pferde und andere Zugtiere und eine kleine Heerschar von Lehrjungen noch dazu, die Blasebälge treten, Wasser holen und Werkzeuge hin und herschleppen. Der Schmied selbst scheint eindeutig mehr als nur einen guten Schuss Zwergenblut in den Adern zu haben, hämmert an glühendem Metall auf einem gewaltigen Amboss und kommandiert dabei ohne von seiner Arbeit aufzusehen fortwährend seine Gesellen und Jungen mit kurzen Befehlen hier und dort hin. Colevar hat noch nie jemanden getroffen, auf den der Beiname "Groß" weniger zutreffen würde, als auf diesen gerade viereinhalb Fuß großen, muskelbepackten Dorfschmied, aber wer weiß schon, von wem diese Bezeichnung stammt und auf was sie gemünzt ist (zumal die Schmiede auch noch direkt hinter dem Hurenhaus steht).

In der Schmiede geht es zu wie ein einem Taubenschlag - es herrscht zwar keine hektische, aber durchaus rege Betriebsamkeit und ein ständiges Kommen und Gehen von Pferden, Knappen, Soldaten, Händlern und Reisenden, dazwischen die Schmiedeburschen und der Große Malte selbst, der nie den Überblick zu verlieren scheint und sich offenbar - ohne auch nur einmal aus der Ruhe zu kommen - selbst mit vier Leuten (oder Pferden) gleichzeitig beschäftigen kann. Es dauert nicht lange, bis sie entdeckt werden und ein Kohlenjunge ihnen ein paar freie Halteringe im Vorhof der Schmiede zuweist, wo sie ihre Tiere anbinden können. Ihr Gespräch ist damit vorerst beendet, denn die nächsten zweieinhalb Stunden sind sowohl Colevar als auch Lía vollauf damit beschäftigt, dem Schmied und seinen Gehilfen zur Hand zu gehen, Pferdehufe aufzuhalten, Eisen auszusuchen, ein Hunajafohlen zu beruhigen, dem zum ersten Mal die Hufe ausgeschnitten und geraspelt werden, und dem Onager gut zuzureden, dem es überhaupt nicht schmecken will, ein paar Minuten still stehen zu müssen. Filidh, solchen Trubel und Schmiedearbeiten gewohnt, lässt alles mit Seharimgeduld über sich ergehen und auch die beiden Reninker sind die Nachsicht selbst, dafür dauert es keine halbe Stunde, ehe Lía sich nicht nur ihrer eigenen Tiere annimmt, sondern auch mit allen anderen Pferden in der Schmiede beschäftigt ist, die beim Beschlagen unruhig oder schwierig sind. Irgendwann, während Filidh gerade sein letztes neues Eisen angepasst bekommt und weißer Qualm und der Gestank verbrannten Horns den Großen Malte, Colevar und das Pferd gleichermaßen einhüllt wie eine Schwefelwolke aus einer der Neun Höllen, brummt der Schmied zwischen ein paar bedächtigen Blicken in Lías Richtung, ob sie vielleicht eine Druidin oder Waldläuferin sei. Colevar schüttelt den Kopf. "Weder noch. Eigentlich ist sie eine Heilkundige. Fragt mich nicht, wie sie das mit den Tieren anstellt… aber es funktioniert." Malte gibt keine Antwort außer einem knappen Nicken und einem noch trockeneren "Aye", mustert Lía noch einmal und lässt sie schulterzuckend gewähren - schließlich erleichtert es ihm und seinen Burschen erheblich die Arbeit, wenn die Pferde nicht herum zappeln.

Als sie endlich fertig sind und Colevar den Schmied bezahlt und sich nach jemandem erkundigt, der  - gegen entsprechenden Lohn in hartem Silber - über Nacht noch ein paar Lederarbeiten erledigen kann, ist es wirklich spät geworden. Malte nennt ihm einen Sattler und ein paar Händler, bei denen er ihre mager gewordenen Vorräte aufstocken kann, und sie machen den Mann tatsächlich noch ausfindig. Das beschert ihm eine arbeitsreiche Nacht und einen prall gefüllten Beutel Silberlinge, und ihnen das Versprechen, spätestens zum Mittag des morgigen Tages zwei lederne Sattelkissen und einen Korb, der groß genug für Louan ist, ins Gasthaus geliefert zu bekommen. Bei einer runzligen Alten, die eines von zwei Allerlei-Geschäften in Nellim unterhält, erstehen sie außerdem ein Bündel Pechfackeln und einen kleinen Berg an Vorräten, so dass sie mit hochbeladenen Pferden schließlich  im Licht hell und heiß lodernder Nachtfeuerkörbe zum Schwappenden Krug zurückkehren. Allerdings empfängt sie dort nicht die nächtliche Stille und Wärme eines allmählich zur Ruhe kommenden Gasthofs, wie man es zu dieser Stunde eigentlich erwarten könnte, sondern ein aus allen Nähten platzendes, vor Menschen (und allen möglichen anderen Wesen) wimmelndes, von Laternen und Feuerschein geradezu illuminiertes und obendrein furchtbar lautes Etwas, aus dem durch Stimmengewirr und Gelächter ein penetrantes Geräusch dringt, das sich anhört, als würden Rosshaare über Katzengedärme gezogen. Und über all dem schwebt Calaits (zugegebenermaßen sehr schöne) Stimme, die gerade aus vollem Hals eine Version des "Alten Bär und der Jungfer hehr" schmettert, die noch ganz anderen als Lía die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. '… Oh süß war sie, rein und blond und hehr! Und ihr Haar duftete nach Honig sehr…' "Was zum…?" Sie tauschen einen leicht hilflosen Blick und bringen kopfschüttelnd die Pferde durch den stockfinsteren und völlig verlassenen Hof des Gasthauses in den Stall, der ebenso stockfinster und verlassen ist, sieht man von dem halben Dutzend Pferden anderer Gäste ab, die zufrieden an ihrem Heu kauen und sich von dem grölenden Spektakel im Schwappenden Krug nicht sonderlich beeindruckt zeigen. Kein einziger Stallbursche oder Pferdejunge ist zu sehen, also laden sie die Vorräte ab, stapeln sie neben ihrem Gepäck in einer leeren Box auf und versorgen ihre Tiere im Stockdunkeln, herumtastend wie Blinde und demzufolge auch bald albern wie eine paar unbeaufsichtigte Kinder. Colevar füttert Filidh, während Lía dem Onager und dem Hunajafohlen nebenan ein paar Armvoll Heu hinwirft und es ist so finster, dass er im schwachen Schimmer der Sterne, der durch die kleinen, halbblinden Fenster hereinfällt, gerade noch ihre Umrisse ausmachen kann. Die anderen Tiere schnauben leise und es riecht nach süßem Heu, Dung, Leder und warmen Pferdeleibern. Ohnehin fast blind schließt Colevar einen Moment die Augen und atmet den vertrauten Geruch ein, dann gibt er sich der angenehmen Illusion hin, dass er Lías Körperwärme spüren kann, obwohl sie ein ganzes Stück von ihm entfernt steht und sich zwischen ihnen außerdem eine solide, halbhohe Trennwand aus massiven Holzbalken befindet.

Nein, keine Illusion… da ist ihre Wärme, langsam pulsierende Wellen reiner Hitze, die aufschimmern, verströmen und verblassen. Er hält die Augen geschlossen, legt aber den Kopf leicht schräg, als würde er auf etwas lauschen. "Wie nennen es die Gelehrten, wenn sie weit entfernte Sterne finden? Es gibt einen Ausdruck dafür… Hitzesignatur. Richtig?"
Er kann ihren Gesichtsausdruck nicht sehen und hätte es in der Dunkelheit auch nicht gekonnt, wenn er die Augen aufgeschlagen hätte, aber er nimmt ihr fragendes Lächeln so deutlich wahr, als würde sie in der hellen Mittagssonne vor ihm stehen und er direkt in ihr Gesicht blicken. "Du hast eine."
Jetzt wirkt sie ein wenig verwirrt, vielleicht blinzelt sie auch überrascht, aber das Lächeln ist immer noch da. "Im Ernst… ich könnte dich mit verbundenen Augen in einem Raum voller Menschen ausmachen. Du leuchtest."
Er hört das Rascheln von Stroh, als sie sich bewegt und spürt, wie ihre Wärme im steten Rhythmus ihres Herzschlages zunimmt und wieder schwächer wird. Dann streckt er den Arm aus und findet über die Bretterwand hinweg ihre Hand, blind und zielsicher wie eine Fledermaus in der absoluten Finsternis. Ihre Haut ist warm, viel wärmer als seine in diesem Moment. Sie leuchtet tatsächlich. Wenn er die Augen geschlossen hält, so wie jetzt, kann er es selbst durch die Schichten ihrer Kleidung hindurch sehen. Sie bewegen sich so synchron wie stumme Tänzer, als sie die Pferde verlassen und sich im Mittelgang des Stalles einander gegenüber wiederfinden. Colevar hält noch immer ihre Hand in seiner und zeichnet das feine Adergeflecht auf ihrem Handrücken nach, die Rundung der Fingerknöchel wie schimmernde Opale unter der Haut, die verschlungenen Brandnarben, die schlanken Fingerrücken und die Umrisse der glatten, hellen Nägel. Ihre Wärme flackert und ihr Pulsschlag wird ein klein wenig schneller. Er hebt die andere Hand, immer noch blind und sehend zugleich, streicht ihr schweres, weiches Haar über ihre Schulter und wandert dann langsam mit dem Finger über ihren Hals, spürt die Bewegung ihrer Kehle unter seinen Fingerspitzen, als sie schluckt und fährt sacht über den zarten Schwung ihres Schlüsselbeins. "Du wirst wärmer", flüstert er, ohne die Augen zu öffnen. Dann wird Lärm am Eingang laut und ein ziemlich weinseliger Stallbursche, dem Colevar liebend gern den Hals umgedreht hätte, poltert schwankend und mit einer klappernd herum baumelnden Laterne in der Hand in den Stall. Colevar öffnet die Augen und blickt direkt in Lías, die unverwandt zu ihm hochsieht. '…weiß wie Schnee und rot wie Blut… ihre Haut, die Lippen sind… schwarz wie Ebenholz das Haar, so wie's beim Kind im Märchen war…' weht Calaits Stimme gedämpft aus dem Schwappenden Krug herüber und bricht endgültig den Bann. "Lass uns nachsehen, was deine Schwester angestellt hat, dass halb Nellim im Gasthaus zusammengelaufen ist, aye?" Er rümpft die Nase über den Geruch nach Stall, Pferden, verbranntem Horn, Ruß und glühendem Eisen, der sie beide immer noch wie eine Duftwolke einhüllt und lächelt trocken und ein wenig wehmütig. "Ich glaube nicht, dass wir in diesem Trubel ein Bad bekommen… vielleicht tut es ja auch eine Katzenwäsche an der Pferdetränke."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 18. Feb. 2010, 13:50 Uhr
"Hunger? Dann bestell dir etwas zu essen, wir müssen mit den Pferden noch zur  Schmiede, ehe die Nacht anbricht. Und um auf deine Frage zurückzukommen, Calait." Sie hört das feine Rascheln von Leinenstoff und lehnt sich gleichermassen gespannt, wie auch neugierig ein Stück nach vorne, darauf wartend, dass Colevar mit seiner Erklärung fortfährt. Etwas irritiert bemerkt sie nur einen Herzschlag später, dass er ganz offensichtlich auch wartet. Nur worauf? Erst als Lías Finger sich plötzlich sanft um ihre Hand schliessen versteht sie und kann ein leises Schnauben nicht unterdrücken: „Ich bin blind, Colevar. Schon vergessen?“ Der feine Spott, der durch ihre Stimme tanzt, straft dem Tadel ihrer Worte Lügen. Vertrauensvoll lässt Calait sich von Lía führen, bis sie unter ihren Fingerkuppen das weiche, kräftige Pochen einer Ader unter warmer Haut spürt – und direkt daneben raue, harte Wülste, die sich in Kreisform über seinen gesamten Unterarm ziehen.  Argwohn macht sich schlagartig in ihr breit, als sie die nahezu perfekten Konturen nachfährt und in ihrem Gesicht mischen sich Verwirrung mit Sorge. Brandmarken? Wer würde es wagen einen Mann wie ihm sein Siegel aufzubrennen? Sie kann sie niemanden vorstellen, der auch nur annähernd mutig, beziehungsweise dumm genug wäre Colevar auf diese Art und Weise zu demütigen. Ihre Gedanken verstummen schlagartig, als sich in ihren Fingern ein sanftes, aber eiskaltes Pulsieren ausbreitet, als hielte sie eine kleine Gebirgsquelle in ihrer Hand. Sie hat nicht annähernd Worte dafür, was sie fühlt – aber es ist zu gleichen Teilen wunderschön und beängstigend. "Ich bin ein Ritter Sithechs, des Herren über Tod und Winter." „Was?“ Mehr erschrocken über die plötzliche Unterbrechung, denn über den Inhalt der Worte, zieht Calait ihre Hände zurück und hebt fragend beide Augenbrauen. „Entschuldige. Was hast du gesagt?“, wiederholt sie mit einem flüchtigen Lächeln und verschränkt die Finger im Schoss. Das Pochen hallt ein paar Herzschläge unter ihren Nägeln nach, dann ebbt es ab und ist verschwunden. Colevar wiederholt seine Worte und erntet zwei sehr unterschiedliche Reaktionen. Derweil Lías Gesicht unbewegt bleibt, zeigt Calaits Miene eindeutig, dass sie keinen blassen Schimmer davon hat, wie sich ein Gott mit ein paar Narben in Verbindung bringen lässt. Sie kennt den gesamten Pantheon, weiss welcher Gott welchen Namen trägt, für was er angebetet wird und wer seine Archonen sind. Sie könnte sogar auswendig die einzelnen Planeten, Tiere, Sternzeichen und Monate aufzählen, die den jeweiligen Göttern zugeordnet werden, aber über dieses Wissen hinaus reicht ihre Verbundenheit zu dem wohl mächtigsten Götterkreis der ganzen Immerlande nicht. Ihr selbst sind nur Ealara und die Geister, die ihr Wirken schafft, heilig – wenn es sich dabei nicht gerade um ihre Tante, ihren Cousin oder ihr Urgrossmutter handelt, die für Calaits Geschmack entschieden ZU oft in der Welt der Sterblichen wandeln. „Hm“, ist daher alles, was sie zu Protokoll gibt, als Colevar etwas ausführlicher hinterher hängt: "Wenn du so willst, sind das hier seine Fingerabdrücke. So nennt man sie auch, die Ringe meine ich. Ich beantworte dir gern alle Fragen, die du vielleicht hast, Calait und ich stehe Lía jederzeit Rede und Antwort - aber vielleicht verschieben wir das auf später, wenn wir vom Schmied wieder hier sind, aye?" „Aye“, stimmt Calait ohne zu zögern zu, im Bewusstsein, dass sie ihm im Bezug auf dieses lästige Frage- und Antwortenspiel vielleicht noch eine Kleinigkeit vergessen hat zu erzählen. Andererseits wird er sehr schnell selbst dahinter kommen, dass wir beide nicht sehr oft Fragen stellen. Lía, weil es ihr unangenehm ist Menschen mit Fragen zu bedrängen, Calait weil sie der festen Überzeugung ist, nicht alles wissen zu müssen. Sie nennt ein sehr gesundes Mass an Neugierde ihr Eigen und belässt es lieber bei einem einfachen „Ach so“, anstatt nachzuhaken, bis sie einen Dolch an der Kehle hat. Einschlägige Erfahrungen haben ihr gezeigt, dass ihre Art gewisse Dinge einfach zu ignorieren ihnen beiden vielerlei Sorten von Schwierigkeiten vom Hals hält. Neugierde ist der Katze Tod. Von meinen neun Leben sind so oder so nur noch etwa drei übrig. Die restlichen sechs hat sie damit vergeudet von irgendwelchen Bäumen zu fallen, sich mit im Winterschlaf befindlichen Branbären anzulegen, eisige Höhen zu erklettern und mit dem Feuer zu tanzen.
Während Lía neben ihr endlich etwas Anständiges zu Essen vorgesetzt bekommt und immerhin die Hälfte davon vor dem gefrässigen Vieh rundherum retten kann, erkundigt Calait sich nach den Plänen der nächsten Tage. Wann er gedenke Falkenwacht zu erreichen, wie weit es noch ist und wie sein Reiseweg danach weiter verläuft. Sie kommt nicht auf seine Verfolger zu sprechen, vermeidet es ihn nach dem Grund seiner Hetzerei auszufragen und schlägt einen grossen Bogen um möglicherweise persönliche Informationen, denn noch will sie die Sicherheit haben nicht lügen zu müssen, wenn jemand sie nach Colevar fragt. Sobald die ganze Sache durchgestanden, er seine Verfolger abgeliefert und wieder zu Lía zurückgekehrt ist, dann kommt die Zeit für Fragen, die über alltägliche Floskeln hinausgehen.

Zwar hat Calait heroisch damit gekämpft, eben nicht zu gähnen, aber Lía braucht nur einen einzigen Blick, um sie zu durchschauen. Was zur Folge hat, dass Lía Calait mitsamt dem ganzen Tierhaufen ins Schlafzimmer zurück packt und erst geht, als Calait entkleidet unter den warmen Decken liegt. Es dauert auch gar nicht lange, bis sie in tiefem Schlummer versunken ist… und die Traumpfade sich ihr öffnen.
Hohe, steinerne Mauern, bunte Wipfel, die Dächer mit Girlanden geschmückt und goldüberzogen vom morgendlichen Sonnenlicht. Sie rennt durch die Strassen, feinen Gesang und fröhliches Gelächter im Ohr und ihre Füsse wirbeln Wolken weisser Flocken auf. Wein in den Kelchen, Tanz in den Beinen und dort drüben, ein verbotener Kuss. Lachend schlägt sie einen Haken, um ihren Verfolger abzuhängen, taucht ein in ein Meer aus veilchenfarbener Seide, schwerem, silbernem Brokat, feinstem Linnen und dem süssen Duft nach Rosen und Mandelöl, wirft eine Entschuldigung über die Schulter zurück in Richtung der pikierten Damen, sieht die schlanke, hochgewachsene Gestalt und beschleunigt breit grinsend ihren Schritt. Er ist schnell… aber nicht schnell genug, und ausserdem wird jede zweite Häuserecke von einer Traube aus jungen Mädchen aufgehalten, die sich seufzend und kichernd um ihn ringt und ihm den Durchgang versperrt.
Fünf Strasse, mindestens dreitausend klimpernder Wimpern und eine Festtafel weiter, unter einem weissen Baldachin, der sich in der sanften Frühlingsbriefe hebt und senkt, hat Calait Erbarmen und wartet geduldig, bis er aufgeholt hat. „Es scheint“, bemerkt sie spöttelnd und ein katzenhaftes Funkeln tritt in ihre Augen: „Als hätte ich die Wette gewonnen, Wunderknabe.“ Er lacht auf… und noch während sein Lachen, ein rauer, warmer Laut hinter ihrer Stirn widerhallt, erwacht Calait aus ihrem Traum. Auf einen Schlag sind alle Farben, all herzhaften Gerüche, all die festliche Musik verschwunden. Zurück bleibt nur der milde, süsse Geschmack nach Honigwein auf ihrer Zunge und ein überraschtes, aber glückliches Lächeln auf ihren Lippen. Ein schöner Traum,, seufzt sie innerlich, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und geniesst die Unbeschwertheit der Bilder noch einen Augenblick länger. Dass sie in ihren Träumen sehen kann, verwundert sie nicht weiter, immerhin hat sie genug Erinnerungen, von denen sie zehren und aus denen ihre Fantasie ganze Welten erschaffen kann. Unbewusst schlägt sie die Augen auf, als der Moment kommt, da der fremde Mann zu ihr unter den Baldachin tritt, eingehüllt in einen Sturm aus silbernen und goldenen Blüten und belagert von einer fliegenden Armee von kiekenden und zwitschernden Feen. Sein Gesicht liegt im schummrigen Halbschatten verborgen und trotzdem erkennt sie jede Linie, jede Kante, jeden Schwung. Den würde ich wirklich nicht von der Bettkante schubbsen… aber so was läuft auch bestimmt nicht einfach so frei herum. Zumindest nicht ohne Ring. Auf jetzt, du Faulpelz, genug geschlafen. Neben ihr gibt Ériu ein protestierendes Quietschen von sich, als sie die Decke wegstrampelt und auch Noraya, sowie die Waldhörnchen sehen überhaupt nicht ein, warum sie das warme Nest verlassen müssen. „Na kommt schon“, murmelt Calait gähnend und stemmt sich in die Senkrechte: „Sonst verfall ich dem Kerl doch noch.“ Völlig nackt tapert sie zur Waschschüssel, gönnt sich eine kurze, aber herrlich erfrischende Katzenwäsche, kämpft sich mit der Knochenbürste so lange durch ihr Haar, bis es einigermassen sauber über ihre Schultern fällt, flicht es, schlüpft dann in ihren weichen, schön bestickten Lederkittel und kontrolliert, ob sie allen Schmuck noch trägt. Dazu gehören mindestens ein Dutzend Arm- und Fussreifen aus Knochen, Holz, Elfenbein, aber auch Gold und Silber, die Lederkette mit dem Amulett, zwei Federohrringe und eine mit Glas- und Flussperlen bestickte Augenbinde. Ausgeschlafen, sauber und frisch angezogen schultert sie Ériu und Noraya – Tanguy, Vi Vi und die Waldhörnchen lässt sie lieber kurz zurück und Skar zieht so oder so draussen seine Kreise – und ist gerade am oberen Ende der Treppe, die in den eigentlichen Gastraum führt, angekommen, als ein riesiger Tumult losbricht.

Lautes Gepolter, dicht gefolgt von Schreien und darüber hinweg donnert die Stimme des Wirts und lässt die Wände erzittern: “DIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIEB!“ Die Tiere vergraben vor lauter Schreck ihre feinen, spitzen Krallen in Calaits weicher Haut, die selbst erst einmal zur Sicherheit einen Schritt zurückmacht, derweil es unten tönt, als würde Imgrimm die Küche zerlegen. Calait hört wie Töpfe und Pfannen zu Boden gehen, wie die Küchenmädchen, aber vor allem die Köchin kreischend zu Protokoll geben, wo der Dieb gerade ist, hört Türen schlagen und Teller fliegen und wird eine Sekunde später kreidebleich, als sie unten am Treppenabsatz einen Gast sagen hört: “Hast du diese graue Ratte gesehen? Die war ja riesig. Und FETT!“
Diese Beschreibung kommt ihr unerwünscht bekannt vor.
Einen ganzen, ausgedehnten Moment lang erwägt sie einfach wieder umzudrehen und den verfluchten Trolde dem Wirt zu überlassen, dann aber erscheint Lías verweintes Gesicht vor ihren Augen. „Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt!“ Mit einem theatralischen „Warum ich?“, verwirft sie die Arme zur Decke, mahnt die beiden Schosstierchen brav auf ihren Schultern zu bleiben – und doch bitte ihre Krallen wieder zurückzuziehen – und strafft die Schultern. So schnell es ihr möglich ist, stolpert sie die Treppe hinunter, schiebt sich an der belustigen Zuschauermenge vorbei, wobei Ellbogen- und Nagetierzahneinsatz gefragt sind, und kommt schlussendlich völlig zerrupft, aber immerhin gerade noch rechtzeitig in der Küche an. „Nimmersatt!“, ruft sie, nicht einmal laut, da klebt ihr auch schon ein dickes, rundes, zitterndes und laut keuchendes Etwas an den Füssen und versucht panisch ihre Beine hinaus zu klettern. Schwere Schritte poltern ihnen entgegen und Calait kann Imgrimms Zorn spüren, bevor er die Küche einmal durchquert und sich in Armlängenabstand vor ihr positioniert hat. “DER gehört EUCH?“ Calait tastet nach dem Trolde, hebt ihn hoch und meint mit halb amüsierter, halb vorwurfsvoller Miene in dessen Richtung: „Das bin ich mir noch nicht so ganz sicher. Was hat er denn angestellt?.“
“Die ganzen, verdammten Beeren gefressen hat er! Und die halbe Butter! UND in der Milch gebadet!“ Besänftigend hebt Calait die Hand, die weder von Ériu, noch Noraya, noch Nimmersatt in Beschlag genommen wird und versucht den vor Zorn bebenden, so grossen wie breiten Hünen zu beschwichtigen: „Ich bin sicher, dass wir euch das auf irgendeine Art und Weise ersetzen können, Imgrimm. Butter und Milch, das findet sich schon und wenn nötig pflücke ich die Beeren höchstpersönlich.“ “Und wo wollt ihr die gepökelten Lammstückchen auftreiben?“ Oh… „Und die in Öl eingelegten Karpfen?“ Ohoh… „Und was ist mit dem halbes Dutzend Brotlaibe?“ … gna... Ein ganzes Tablett Honigfinger, einen Sack mit Gerste, zwei Tonbecher voller Sahne und ein ganzes Rund Käse später gelingt es Calait nur noch mit Mühe an sich zu halten, und das verfressene Biest nicht höchstpersönlich im nächstbesten Wassereimer zu ertränken. „Also…“, sucht sie nach einem passenden Ausweg aus der Misere, der weder dem Trolde, noch ihr den Kopf kosten könnte… und der nicht damit endet, dass sie Colevar um Hilfe bitten muss. Ansonsten würde er sich noch sehr viel öfters fragen, ob sie fähig waren ohne ihn zu überleben. Angestrengt denkt Calait nach, macht den Mund auf, macht ihn wieder zu, setzt gleich darauf den Trolde ab – und gibt ihm mit gestrecktem Zeigefinder unmissverständlich zu verstehen, dass er sich gefälligst NICHT von der Stelle zu rühren hat – und tritt ein wenig näher an Imgrimm heran. Dieser grummelt etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und sie fühlt seinen Blick, wie ein Dolch auf ihrem Scheitel. Alles ersetzen, dazu fehlt ihnen das nötige Kleinmünz, aber vielleicht können sie einen Teil abarbeiten. Auf ihre Art und Weise. „Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, wie wir diese Sache klären können, ohne das Blut fliesst. Auch Troldenblut. Na?“ Mittlerweile ist es totenstill geworden in der Küche und auch das Gemurmel im Schankraum ist verstummt. Allesamt lauschen sie dem, was noch kommen mag und dabei spielte es für einige wohl keine Rolle, ob das nun ein „Einverstanden“, oder neues Gebrüll ist. Imgrimm schnauft geräuschvoll und sie riecht den Fisch und die Zwiebeln, die er wahrscheinlich zu Mittag gegessen hat. Allerdings kann sie ein erschrockenes Aufkeuchen nicht vermeiden, als weniger als zehn Sekhel neben ihrer Hand ein leises ‚TSCHACK’ ertönt und das Holz unter ihren Fingern leicht erzittert. Sie will gar nicht erst wissen, wie gross oder breit das Messer oder Hackbeil, das er da demonstrativ im Küchentisch versenkt hat, ist. Gross genug, um einen Trolde zu köpfen auf jeden Fall.
“Dann lass mal hören, Mädchen. Und sei besser überzeugend, sonst gibts heute Abend Trolde am Spiess.“


Bevor Lía und Colevar sich endlich dazu bequemen ihr zu Hilfe zu eilen, hat Calait drei Dinge über Nellims Bewohner herausgefunden: 1. Keiner in Nellim kann halbwegs anständig singen. 2. Was an Gesang fehlt, kompensieren sie mit Tanz und Trank und 3. Wer zuerst umfällt, hat verloren. Immerhin scheinen die guten Geister ihr gewogen, denn es braucht nur eine Karaffe süssen Weines, einen Humpen Bier und einen Becher Met, bevor Imgrimm ihr verzweifeltes Händeschütteln über den ganzen Lärm hinweg richtig interpretiert und ihr einfach nur einen Krug mit Wasser bringen lässt.
Als sie Imgrimm angeboten hatte, einen Abend lang Gäste mit Musik und Gesang anzulocken, um auf diese Weise den Schaden wieder gut zu machen, hatte er laut geschnaubt und lauthals verkündet, dass man in Nellim getrost auf das unzivilisierte „Humba-Humba“ einer Wilden verzichten könne. Die Umstehenden waren in schallendes Gelächter ausgebrochen, aber Calait, die sich ihres Könnens voll und ganz bewusst war, bleckte nur mit einem spöttelnden Grinsen die Zähne und erwiderte kühn, dass der Herr, wenn er sich seiner Sache so sicher sei, einer Wette wohl nicht abgeneigt wäre. Imgrimm, noch immer der festen Überzeugung dass eine in Leder gehüllte Frau aus dem Wald wohl kaum fähig wäre, ein anständiges Lied zu singen, hatte einen Moment lang gezögert und irgendetwas unverständliches gemurmelt, doch die Menge rundherum, allen voran die garstige Köchin, hatten ihn ermutigt – ihm befohlen - darauf einzugehen. „Wenn meine Schwester und ich euren abendlichen Gewinn durch unseren Gesang und unsere Musik verdoppeln, dann erlasst ihr uns den Schaden und wir bekommen freie Kost und Unterkunft bis zu unserer Abreise. Wenn ich es nicht schaffe,  bekommt ihr den Schaden in doppelter Münze zurück.“ Hat Colevar so viel Silber? Sie entschied das aus sicherer Distanz herauszufinden, sollte es soweit kommen und sie die Wette, die aus ihrer Sicht eigentlich absolut narrensicher war, verlieren.
Als es auf Mitternacht zugeht und noch immer neue Gäste sich durch die Eingangstüre zwängen, Wein und Bier in Strömen über die Theke fliessen und das Klimpern der Münzen zu einem monotonen Geräusch im Hintergrund verkommen ist, weiss Calait längst, dass sie gewonnen hat – und die Erleichterung Colevar NICHT gestehen zu müssen, dass sie Imgrimm seine Geldkatze feil geboten hat gönnt ihr sogar etwas Platz für Spass und Freude an dem kleinen Fest. Die Schankstube birst aus allen Nähten und wer noch einen Sitzplatz ergattern konnte, verteidigt ihn mit Krallen und Zähnen, die Schankmädchen – Imgrimm hatte sogar prompt noch die Tochter seines Bruders und die des Fleischers Frau zum Pflichtdienst verdonnert – rotieren wie Brummkreisel um die Tische, die Tabletts ächzen unter dem Gewicht von Dutzenden von Krügen, Humpen, Karaffen und Bechern, aus der Küche ertönt regelmässiges Geschrei, von wegen wo bleibe der Fisch, das Öl, das Wasser, der Schinken, die Keule, die SAU! und über dem ganzen Trubel hängt eine Wolke aus Pfeifenrauch, Bratenduft, Alkoholschwaden und nassem Hund. Vergnügt lauscht Calait dem wirbelnden Chaos um sie herum für eine Sekunde, bevor Elyas neben ihr bereits ein weiteres Lied anstimmt. Der vorlaute Bursche, der sich seit ihrer Ankunft am laufenden Band mit Colevar und Louan anlegt, hatte als Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten angeboten Calaits Gesang mit seiner Katzenfidel zu begleiten, bis Lía zurück war und sich ihrer armen Schwester annehmen konnte. Durch eine kleine Probe hatte er bewiesen, dass er des Spielens durchaus fähig ist – auch wenn er in zehn Jahren nicht an Lía heranreicht – und Calait hatte sein Angebot dankend angenommen. Nun sitzt sie mit überschlagenen Beinen neben ihm auf der Theke und lockt mit ihrer Stimme seit den frühen Abendstunden die Dorfbewohner in den Schwappenden Krug. Gerade eben hat sie ihr Publikum mit einer sehr frivolen Version des „Alten Bär und der Jungfehr hehr“ begeistert und sich köstlich ob der spitzen Ausrufe an einigen Stellen amüsiert, nun wird ihre Stimme sehr viel rauer und dunkler, als sie die erste Strophe der Ballade „Die Königin“ ansingt. Bewusst bleibt sie leise, bis das Grölen, Lachen, Prosten und Reden im Raum nach und nach abschwillt und schliesslich ganz verstummt. Irgendjemand wagt es sogar den Kopf in die Küche zu stecken und um Ruhe zu bitten, als Calait langsam lauter wird und anfängt das Lied mit sanften Gesten zu begleiten. Elyas neben ihr gibt sein Bestes, um dem dezent verstimmten Instrument halbwegs ruhige und sanfte Töne zu entlocken – aus dem ausgewachsenen, jaulenden Kater wird jetzt immerhin ein winselndes Kätzchen, das hin und wieder sogar den richtigen Ton trifft. Calait stört das nicht weiter. Sie nutzt, was er ihr gibt und fängt die fallenden und falschen Noten mit ihrer Stimme, so dass das Gesamtbild harmonisch klingt.

“Im schwarzen Turm herrscht sie allein!
Ihr Atem rafft die Menschheit hin!
Seht die Königin.
Ihr Flügelschlag verheißt die Pein!
Der schwarze Drache - Seht Ihr ihn?
Das ist die Königin.
Seht die Königin.
Das ist die Königin.“


Die letzten Klänge, schwer wie Mitternachtssamt und dunkel wie die Nacht hallen noch an den Wänden wider, als die Menge euphorisch zu klatschen beginnt und Imgrimm, als guter Verlierer, ihr auf den Rücken klopft und einen verdünnten Wein spendiert. “Das hast du dir verdient, Wilde.“ Aus dem Schimpfwort ist längst ein Kosename geworden und Calait tastet sich mit einem aufrichtigen „Danke“ über seine Hände bis zum Becher vor. In diesem Moment packt Elyas sie am Arm und zieht sie in seine Richtung, was zur Folge hat, dass der Wein sich quer über den Tresen ergiesst. „Huch“, quittiert Calait die plötzliche Bewegung erschrocken, kommt aber gar nicht dazu ihm die Leviten zu lesen, oder sich bei Imgrimm zu entschuldigen. “Sieh mal, wen wir da haben!“, ruft Elyas vergnügt, ohne zu bemerken, wie unsinnig seine Aufforderung ist. Allerdings muss er ihr nicht erklären, wer gerade durch den Seiteneingang hereingeschneit ist – die wohlige Wärme von tausend Glühwürmchen, die sich in ihrer Brust breitmacht, verrät es ihr. Mit einer Hand winkt sie ihre Schwester zu sich, wobei sie immerhin fast die richtige Ecke des Raumes anpeilt, doch Lía versteht es und kommt. Die Zeit, die ihre Schwester benötigt, um sich durch den Pulk zu kämpfen, nutzt Calait, um sich über Elyas Schulter zu beugen und ihm leise ins Ohr zu zischen: „Schau meine Schwester noch einmal schief an, und ich kastrier dich.“ Ob er ihre Drohung ernst nimmt, kann sie nicht sagen, aber immerhin schafft es Lía zu ihr, ohne das Louan oder Colevar den Jungen beissen. Lachend zieht sie ihre Schwester in eine innige Umarmung, gibt ihr einen Kuss und patscht dann mit der Hand neben sich auf den Tresen: „Komm, deine Flöte wartet schon auf dich. Ich glaube zwar, dass ich den grössten Teil des Schadens schon behoben habe, aber die Karpfen und die Brote dü… ahm… sag mal, wie weit ist Colevar weg?“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 20. Apr. 2010, 12:46 Uhr
Im Gasthaus ist es brechend voll und der letzte kümmerliche Rest Hoffnung, man würde sich in Nellim nicht allzu lange an einen Fremden in Begleitung zweier Frauen und einer seltsamen Tiermenagerie erinnern (die ohnehin nie groß, aber immerhin doch noch vorhanden gewesen war) verabschiedet sich ins Nirgendwo. Zu allem Überfluss ist es auch noch dieser lebensmüde Rotzbengel Elias, der Calaits Gesang mit seinem Fidelquietschen untermalt hat und jetzt ebenso großspurig wie lauthals Lias Ankunft kund tut, kaum haben sie die Schankstube betreten. >Sieh mal, wen wir da haben!< Das ist zu viel, zumindest zu viel für Colevar, dem der ganze Aufstand im Schwappenden Krug schon alles andere als schmecken will… wenn Unauffälligkeit das Gebot der Stunde ist, veranstaltet man kein Spektakel wie zu einem Bardenwettstreit am Inarifest. Calait ist das ganz offensichtlich nicht bewusst, ihm hingegen schon - und als er in die strahlenden Gesichter der hingerissenen, versammelten Zuhörerschaft blickt, weiß er endgültig, dass kein Mann, keine Frau und kein Kind in Nellim diesen Abend, Calait, Lia, ihre Tiere oder ihn selbst so schnell wieder vergessen würde. Verdammt! Riku muss nur einmal den Mund aufmachen, nett lächeln und schon werden sie ihm alles, aber auch alles erzählen! In Colevars Innerem brodelt es gewaltig, obwohl ihm äußerlich nichts davon anzusehen ist, während seine Gedanken in alle Richtungen davon schnellen. Der angerichtete Schaden ist nicht mehr wiedergutzumachen, geschweige denn einzudämmen - genauso gut könnte man versuchen, einen Flächenbrand mit einem Mund voll Spucke zu löschen, das ist ihm beinahe sofort klar. Der nächste Gedanke ist noch unschöner. Nein, es sei denn, ich bringe heute Nacht noch ganz Nellim um. Durchaus eine Lösung, dennoch verwirft er sie sofort wieder, auch wenn seine Wut danach sicherlich verraucht wäre. Die einzige Chance, die wir haben, ist so schnell wie es irgendwie geht nach Falkenwacht zu kommen. Falkenwacht ist groß und ständig übervoll mit Reisenden aller Rassen, Völker und Kulturen… nicht einmal Calait schafft es, dort großartig aufzufallen. Dort können die Mädchen untertauchen und ich… Er schüttelt sacht den Kopf, während Calait am Tresen wild nach Lía winkt und ein breites Lächeln in ihre ungefähre Richtung schickt. Dieser Gedanke ist noch unschöner als alle anderen, aber ebenso unausweichlich. Ich werde gehen. Wenn Riku mir nicht folgt, wie er es soll, kann ich immer noch umkehren und ihn töten. Colevar hat keine Ahnung, wie er Olyvar, seinem Lord Commander, seinem besten Freund und Waffenbruder erklären soll, dass er ihm die Rache… nicht irgendeine, sondern die Blutrache für seine Frau, sein Eheweib, hatte nehmen müssen, aber wenn das das einzige ist, das Lías Sicherheit garantieren würde...

Dann hätte ich keine Wahl. Welcher dreimal verdammte Dämon hat mich damals bloß geritten, als ich Olyvar bat, ausgerechnet mich nach Immerfrost zu schicken? Ich hätte einfach bleiben sollen, wo ich hingehöre und nichts von diesem… diesem Desaster wäre geschehen! Ich hätte weder mein eigenes Leben, noch das Lías oder Calaits ins Chaos gestürzt, ich wäre nicht verwundet, angeschossen und von einer völlig wahnsinnigen Rotatkissa erst angefallen und dann adoptiert worden… und vor allem hätte ich nicht die himmelsschreiende Blödheit begangen, mein Herz an ein Mädchen zu verlieren. Bestimmt nicht! Das ist mit Abstand der allerunschönste Gedanke überhaupt. Sie schaffen es zu Calait an die Theke zu gelangen, diesmal ohne peinliche Zwischenfälle und sogar ohne dass Lía sich ein Knie oder das Schienbein irgendwo stößt oder irgendjemandem auf die Zehen tritt, was jedoch hauptsächlich an Colevars kalter Miene und der Tatsache liegt, dass sie praktisch an ihm klebt und er sie so mit seinem Körper abschirmen kann. Er sieht Calait mit Elias flüstern und den Jungen mit einem schwachen Lächeln zurückweichen ohne auch nur einmal in ihre Richtung zu blicken, dann überlässt er Lía Calaits Armen und ihrem freudestrahlenden Überschwang. > Komm, deine Flöte wartet schon auf dich. Ich glaube zwar, dass ich den größten Teil des Schadens schon behoben habe, aber die Karpfen und die Brote dü… ahm… sag mal, wie weit ist Colevar weg?<
"Nicht weit genug," erwidert er trocken. Schaden? Hat der Trold die Vorratskeller ausgeräumt oder hat Louan doch noch jemanden gefressen? Als er Calaits halb erschrockene, halb schuldbewusste Miene sieht, schüttelt er nur den Kopf. "Vergiss es einfach, aye? Ich will es gar nicht wissen." Er hebt Lía hoch und setzt sie neben ihre Schwester auf das glatte, polierte Holz des Tresens, legt seine Wange einen Moment an ihre und flüstert nahe an ihrem Ohr: "Ich gehe und halte Wache. Wenn dieses… Spektakel hier vorbei ist, dann geh mit Calait. Schlaf bei ihr. Nehmt die Hunde und Louan mit euch aufs Zimmer und verriegelt die Tür. Öffnet niemandem, geht nicht auf den Abtritt und sucht keine vermissten Trolde oder ähnliches. Ihr bleibt wo ihr seid bis ich euch hole. Verstanden? Lía, hast du mich verstanden?" Er wartet bis sie schwach nickt und lässt sie los. Die Wahrscheinlichkeit, dass Riku und seine Leute ausgerechnet heute Nacht hier in Nellim auftauchen würden, ist gering, aber sie ist durchaus vorhanden… und da fast das ganze Dorf einschließlich aller Reisender und Frostwegwachen dank Calaits Bardenvorstellung und Imgrimms Geschäftstüchtigkeit heute Nacht vollkommen arglos und außerdem sturzbetrunken sein würde, hätte er absolut leichtes Spiel.

'Lieber übervorsichtig als Bruder Leichtfuß…' Colevar weiß nicht, wie oft er diesen Satz als Junge von Rhordri und Vareyar in der Steinfaust zu hören bekam, aber unwahrscheinlich oder nicht, er würde Lías Leben nicht aufs Spiel setzen. Anstatt also in einem weichen Bett zu liegen und mehr als ein oder zwei Stunden zu schlafen, wie er das eigentlich tun sollte, würde er sich die Nacht auf dem Dach des Schwappenden Kruges um die Ohren schlagen, sich den Hintern abfrieren und auf ein paar dunklen Straßen und Höfe unter sich starren, auf denen sich hoffentlich nichts regen würde. Vielleicht ist es besser so. Du brauchst ohnehin Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen. Während Lía und Calait den fordernden Stimmen nachgeben, die immer lauter nach weiteren Liedern verlangen, zieht er sich erst in die Schatten hinter der großen Feuerstelle zurück, um die versammelte Menge einen Moment lang zu mustern, dann verlässt er die Schankstube. In seinem Zimmer tauscht er seine Kleidung gegen die weiche, schattendunkle Lederrüstung aus Pedwarlarhaut, bindet sich das Haar im Nacken zu einem Zopf, schnappt sich ein kurzes Tau aus geflochtenem Varynnagras, seine Dolche, den Katzbalger und ein kurzes Handbeil und verschwindet aus dem Fenster in die Dunkelheit. Nellim liegt still und schlafend unter ihm, als er sich auf dem Dach des Schwappenden Krugs am Rand des windschiefen Schornsteins niederlässt. Unter ihm im Gasthaus geht das fröhliche Treiben weiter und immer noch kommen vereinzelte Nachzügler an, um ebenfalls an dem unerwarteten, aber anscheinend hochwillkommenen Festabend teilzunehmen – der Schmied etwa, ein paar Huren, der ein oder andere Reisende und sogar die alte Vettel aus dem Allerlei-Geschäft krückt auf ihrem Stock noch in den Krug und das, obwohl Mitternacht längst vorüber und der Mond schon lange untergegangen ist. Calait und Lía singen ein Lied um das andere, Colevar kann ihre Stimmen schwach durch den Lärm in der Schankstube und das dicke Mauerwerk zu ihm heraufdringen hören – schnelle und lustige ebenso wie ernste und traurige Weisen, hin und wieder auch ein freches oder gewagtes Stück. Viele ihrer Lieder kennt er, andere sind ihm völlig fremd, aber er hört ein paar Hans-Mundwald-Gesänge, Stücke aus den Zaubererweisen und die Regenballade. Colevar lehnt sich an den Schornstein, lauscht Calaits Stimme und Lías Spiel, und beobachtet das schlafende Nellim… alle Gebäude sind dunkel, nur in einer kleinen Kate brennt noch lange ein einsames Talglicht – vermutlich der Sattler, der mit den Lederarbeiten beschäftigt ist. Irgendwann taucht die Rotatkissa bei ihm auf, frisst schmatzend die fette Ratte, die sie sich gefangen hatte und rollt sich dann völlig unbeeindruckt von seiner nachdenklichen - und alles andere als guten - Stimmung schnurrend an seiner Brust zusammen. Das lässt selbst ihn lächeln. "Na wenigstens ein Mädchen, das weiß was es will, hm?"

Er stupst die braune Nase der Katze sacht mit dem Finger an und der pelzige, runde Schädel schmiegt sich fordernd in seine Handfläche. "Du hast Recht. Vielleicht mache ich mir zu viele Gedanken. Aber besser, als wenn ich mir überhaupt keine machen würde, aye?" Mistress Grau räkelt sich mit einem wohligen Schnurrlaut, den er als Zustimmung deutet, und harkt ihre Krallen behaglich in sein Fleisch. Dann beginnt sie, sich zu putzen, eine Prozedur, der ihr Fell und seine Haut gleichermaßen anheimfallen. Colevar lässt seine Gedanken wandern, lässt die vergangenen Tage vor seinem inneren Auge noch einmal vorüberziehen und erinnert sich… aber obwohl er hier oben in der Stille der Nacht jede Menge Zeit hat, um nachzudenken, lässt sich mit Vernunft nichts klären, nichts beschließen oder entscheiden. Er versucht, all seine Gefühle zum Schweigen zu bringen und seinen Verstand zu benutzen, doch auch der bringt ihn nicht weiter. Dann versucht er, sich auf seine Gefühle zu verlassen und erntet erst recht das Chaos. Wenn ihm also Vernunft und Gefühl nicht weiterhelfen, wie steht es dann mit der Pflicht? Er hatte Olyvar versprochen, Riku nach Talyra zu bringen, so oder so. Und er hatte auch Lía ein Versprechen gegeben. 'Wenn ich den Mann nach Talyra gebracht habe, komme ich zurück. Wenn ihr auf der Straße bleibt, finde ich dich. Ganz gleich wie lange es dauert oder wie weit der Weg ist, ich finde dich.' Er weiß nicht, ob er dieses Versprechen halten kann, denn niemand kann sagen, was auf dem langen Weg oder während den Monden ihrer Trennung geschehen würde. Aber bis dahin würde es kein "wir" geben. Es darf keines geben. Er würde weiterhin Teil von etwas sein, das es noch gar nicht gibt, auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hat, wie er wochen- und mondelang mit diesem Loch in seiner Brust leben soll. Du konntest immer tun, was getan werden muss. Also tu es auch diesmal. Colevar sitzt auf dem Dach bis der Sonnenaufgang den Himmel mit goldenem Dunst und flammenden Rottönen überzieht. Alles war ruhig geblieben, doch die Mädchen hatten erst vor ein paar Stunden aufgehört zu singen und die letzten Gäste des 'Schwappenden Krugs' waren erst mit der Dämmerung nach Hause getorkelt. Ganz Nellim erlebt einen verschlafenen und ziemlich verkaterten Morgen, nur Imgrimm pfeift fröhlich vor sich hin und sieht nicht aus, als hätte er überhaupt ein Auge zugetan (oder als mache ihm die durchzechte Nacht irgendetwas aus). Colevar lässt die Mädchen schlafen bis die beiden Sattelkissen geliefert wurden, ein spätes Morgenmahl bestellt ist, ihre Vorräte verstaut und die Pferde gesattelt und abreisefertig im Hof des Gasthauses angebunden sind, erst dann weckt er Calait und Lía. "Wir müssen bald aufbrechen, also esst etwas, packt eure Sachen und die Tiere und kommt. Ich bin draußen bei den Pferden."

Eine halbe Stunde später, gerade um die Mittagszeit, haben sie Nellim verlassen und reisen auf dem Frostweg weiter Richtung Süden. Colevar ist behutsam mit Lía und nicht unfreundlich zu Calait, aber er spricht kaum und gönnt ihnen nur wenige Rasten. Sobald sie Hufschlag hören, verbergen sie sich vorsichtshalber in den dichten Weidenhainen, die die Moorwiesen links oder rechts der Straße säumen, doch außer ihnen sind nur ein paar Meldereiter und ein dicker Hausierer mit einem quietschenden Ochsenkarren unterwegs – ansonsten begegnen sie den ganzen Tag lang nichts größerem als den Wildenten, die schnatternd aus dem Schilf und den grauen, kühlen Nebeln aufsteigen.  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Arvo am 27. Apr. 2010, 10:45 Uhr
Es ist kalt in dieser Nacht, ein nasser Nebel hängt zwischen den Bäumen und versperrt die Sicht bis auf wenige Schritte, es ist kein Stern am Himmel zu erkennen, auch der Mond lässt sich nur in all dem Grau erahnen. Als sei es die letzte Zuflucht Rohas vor dem Untergang brennt ein für diese Uhrzeit ungewöhnlich gut genährtes Feuer irgendwo inmitten Immerfroster Wälder. Der Grund dafür, dass es noch immer so hoch brennt, Stunden nachdem es angezündet wurde, sitzt eingehüllt in einer Decke davor, versunken in den Anblick sich windender Feuerzungen. In seinem Zelt liegt ein Stapel einigermaßen trockener Holzscheite, doch er sitzt hier, mit Wassertropfen im aschblonden Haar und einem merkwürdig leeren Gesichtsausdruck. Er hat schon so viele Namen getragen, dass er mittlerweile bei einem neuen tatsächlich darauf achten muss, dass er ihn nicht schon einmal trug. Er lebt schon lange nach dem Rat, sich immer das Gesicht und nie den Namen eines Mannes zu merken, wobei er bewusst für sich ausnutzt, dass fast jeder andere das seine rasch wieder vergisst. Momentan wird er meist Arvo genannt, wobei ihm die Aussprache mit dem rollenden Pakkakieli-R besonders gut gefällt, doch auch dieser Name wird ausgewechselt werden, sobald er es als notwendig erachtet. Tulivahti nennen ihn seine Untergebenen mit gesenkter Stimme, wenn sie törichterweise glauben, dass er sie nicht hören würde – Feuerwächter. Tatsächlich ist es zwar so, dass das einzige was er bewacht, sein eigenes Leben ist, da er keinem Menschen vertraut, erst recht nicht denen, die er bezahlt, doch ihm gefällt der Name. Zudem ist wohl kaum zu verleugnen, dass er mehr Zeit als jeder andere bei den nächtlichen Wachen verbringt, was jedoch nichts mit Nächstenliebe zu tun hat. Vielmehr ist es eher so, dass er schon seit vielen Jahren nachts nur wenige Stunden schlafen kann und diese meist auch nicht am Stück. In diesem verwünschten Haufen Grün, in dem es ständig raschelt, knackt und piept ist es besonders schlimm, da Arvos Gehör immer Alarm schlägt, ganz egal ob sich gerade ein Meuchelmörder durch sein Zimmer schleicht oder eine Maus durchs Unterholz huscht. Somit erweist sich eine Fähigkeit, die ihm schon häufig das Leben gerettet hat, hier als eine andauernde Marter, doch einen Vorteil hat sie: Sie gibt ihm jede Nacht viele Stunden Zeit. Zeit um sich Gedanken zu machen, über seine Untergebenen, über das Unternehmen, aber vor allem über die Tatsache, dass er hier in diesem Wald, in dieser nassen Kälte sitzt, mit einem Haufen stinkender Menschen um sich herum, die alle das tun, was er nicht kann: schlafen.

Arvo könnte an einem ganz anderen Ort sein, in der Stadt, die er kennt wie seine Westentasche, er könnte sich in einem prächtig eingerichteten Zimmer aufhalten, dort könnte er auf dem Bett liegen, das länger und breiter ist, als er groß, in jedem Arm eine der teuren Schönheiten aus dem Edelsteinbordell, ein paar Straßenhuren könnten ihnen kostspieligen Wein und luxuriöses Obst aus dem Süden servieren und sie würden die Nacht zum Tag machen. Doch obwohl er den Reiz dieser Vorstellung durchaus kennt, zieht Arvo die Option umzudrehen und diesen Traum zu leben nicht einmal in Betracht. Grund dafür ist ein Gesicht, dass er in Gedanken malt, was sich auch nach all den Jahren als leicht erweist, zu oft hat er es sich schon in Erinnerung gerufen. Hübsche Wangenknochen, wenn auch nicht aristokratisch hoch, so doch immerhin sehenswert. Ein kleines Kinn, das sich gut mit dem Zeigefinger anheben lässt und eine kleine Nase, übersät mit wilden Sommersprossen über einem meist lächelnden Mund. All das ist nichts besonderes, solche Gesichter sieht man zahlreiche, doch herausstechend waren immer die Augen, undschuldig und  hellblau wie ein Himmelssplitter, Augen, in denen mehr Gefühl lag, als er je in anderen gesehen hat. All das umrahmt von ausgeprägten Locken, die auf seine Bitte hin in einem Zopf gebändigt wurden, was dem ganzen Gesicht mehr Klasse gab. Sie war nie eine herausragende Schönheit, auch wenn die Augen bemerkenswert waren, er hat viele schönere gehabt. Dank der vielen schlaflosen Nächte, die ihm diese Reise beschert hat, ist Arvo mittlerweile klar, weshalb er sie nie vergessen konnte und prompt auf die Herausforderung überbracht vom Sithechritter reagierte: Dieses kleine Miststück hat ihm seinen Stolz gestohlen, auf mehrfache Weise. Zum einen gehört sie zu den extrem wenigen Menschen – tatsächlich könnte man sie wohl an einer Hand abzählen – die er jemals falsch eingeschätzt hat. Er war immer ein hervorragender Menschenkenner, denn eigentlich ist es doch ganz einfach: Menschen haben Bedürfnisse und wenn man diese erfüllt, zunächst ohne Bedingungen daran zu knüpfen, bis zu dem Zeitpunkt an dem die Menschen abhängig davon werden, dann hat man sie in der Hand. Das und die Kenntnis über die Schwachpunkte einer jeden Person, mit der man Geschäfte pflegt, sind von jeher die Gründe für Arvos Erfolg gewesen. Ein umso schwererer Schlag war es dann festzustellen, dass man die eigene Geliebte vollkommen unterschätzt hatte. Nie hätte er sich träumen lassen, dass sie es wagen könnte, fortzulaufen und unerkannt unterzutauchen, ja, er hätte gar seine Schwerthand darauf gewettet, dass sie für ihn sterben würde. Damit ist auch gleich die zweite Art genannt, wie sie ihm seines Stolzes beraubt habt: So seltsam ihre Ansichten auch waren, Arvo ist sich nach wie vor sicher, dass sie die einzige war, die ihn jemals aufrichtig geliebt hat. Wahrscheinlich nicht um seiner selbst willen, sondern weil sie eine fixe Idee davon im Kopf hatte, wie er sein könnte, doch immerhin. In der Welt, in der er lebt, auf ein solches Gefühl zu treffen, ohne Hintergedanken, das ist außergewöhnlich. Dafür hatte er ihr vertraut, hatte ihr anders als jeder anderen Frau Einblick in große Teile seines Lebens gegeben – nur um dann hinterrücks verraten zu werden. Sie war der Hauptgrund dafür gewesen, dass man ihn in Nachtschimmer beinah um die Ecke gebracht hätte, weil wie sich im Nachhinein herausstellte, dass sie bei einigen Kunden unheimlich beliebt gewesen war und ihm die unterstellten, er hätte sie umgebracht. Sie hatte sogar einen der hohen Auftraggeber um den Finger gewickelt, weshalb der Arvo prompt in den Rücken fiel, als sie fort war.

Noch bedeutender als die falsche Einschätzung und der Vertrauensmissbrauch war etwas anderes gewesen: Dieses kleine Miststück hatte ihm bei ihrer Ehre und ihrem Familiennamen geschworen, bis ans bittere Ende bei ihm zu bleiben. Dieser Schwur gehört zu den ältesten Schwüren, die in Immerfrost überliefert sind und wurde angeblich erstmals von Seraths Anhängern geleistet. Dieser Eid verpflichtet denjenigen, dem er gegenüber geleistet wurde, bei einem Bruch den Schwörenden zu töten oder bei dem Versuch zu sterben, sonst ist dessen und die eigene Ehre auf alle Zeiten verloren. Wenn der Ehrbegriff in Südimmerfrost auch nicht mehr von allzu großer Bedeutung sein mag und jemand, der einen Schwurbruch vergilt, im Gefängnis landen kann, so wiegt er in den Nordprovinzen doch noch immer schwer und von eben dort kommt Arvo. Oft hatte er sich ausgemalt, was er mit ihr tun würde, wenn er sie in die Finger bekäme und dann plötzlich war wie aus dem heiteren Himmel dieser Ritter aufgetaucht. Ein wenig pathetisch gleich einen Sithechritter zu schicken, doch auch wenn das ein Wink der Götter sein mag, Arvo hatte nicht gezögert. Er wird sich seine Ehre wiederholen oder eben bei eben diesem Versuch sein Leben aushauchen, auf jeden Fall will er sehen, wie sie sich bei der Wiederholung ihrer eigenen Worte windet. Denn auch wenn ihre Ehre ihr unwichtiger sein mag als ihm, der Familienname hat ihr immer viel bedeutet, das weiß er. Er würde es weidlich auskosten, auf der Tatsache herumzureiten, dass sie mit dem Schwurbruch nicht nur sich, sondern auch all ihre Verwandten in den Schmutz gezogen hatte, indem sie den Namen besudelte. Das ist mit Sicherheit auch der Grund, warum sie diesen hervorragenden Mörder schickte, ihm aber auftrug, Arvo am Leben zu lassen. Mit harter Stimme verspricht er der Nacht: „Warte nur, Diantha Korhonen. Du willst mit mir spielen? Willst die Schande auslöschen? Das kannst du gerne haben. Ich werde gewinnen und du wirst für deinen Treuebruch und seine Konsequenzen leiden – langsam und qualvoll. Ich werde dich zurück in die Heimat bringen und du wirst lernen, was es heißt, mich zu hintergehen.“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 29. Apr. 2010, 09:59 Uhr
„Oh“, ist alles, was Calait erwidert. Immerhin hat sie den Anstand eine halbwegs schuldbewusste Miene aufzusetzen, was den amüsierten Zug aber nicht aus ihren Mundwinkeln tilgt. Auch der Tonfall, mit dem er ihr versichert lieber unwissend zu bleiben, tut ihrer Fröhlichkeit und ihrer ausgelassenen Stimmung keinen Abbruch. Sie erfreut sich an der überschwänglichen Festtagsstimmung, dem Gelächter, den kreuzfalschen Versionen ihrer vorgesungenen Lieder und der Begeisterung, mit der Nellims Bewohner den kleinen Ausbruch aus dem Alltag Willkommen heissen. Fast ist sie Nimmersatt sogar dankbar für seine elende Verfressenheit. Sie bietet eine wunderbare Rechtfertigung für ihre nicht sehr weitsichtige Entscheidung den eigenbrötlerischen Köpfen ein wenig Nachhilfe in Toleranz zu geben und sich dadurch auch auf ewig in deren Gedächtnis zu brennen.
Als der Platz neben ihr durch Lías Wärme gefüllt wird, schnappt sie sich lachend deren Hand und will ihr schon die hochgelobte Flöte reichen, als Colevars warnende Worte in Bruchstücken zu ihr durchdringen. “Nehmt die Hunde… verriegelt die Tür…nicht auf den Abtritt… verstanden… mich verstanden?“ Unbewusst nimmt der Druck ihrer Finger auf Lías Handrücken zu, als Colevar auch schon in der Menge verschwunden ist und seine Präsenz sich gleich darauf verflüchtigt. Zögernd, weil sie sich plötzlich mit einem Haufen von Fragen und Schuldgefühlen konfrontiert sieht, kaut Calait auf ihrer Unterlippe herum, derweil sie Lías schmale, zarte Finger fest zwischen den ihren hält. Natürlich hatte sie sich Gedanken um Colevars Verfolger und die möglichen Konsequenzen ihrer recht denkwürdigen Abendvorstellung gemacht, war aber zum Entschluss gelangt, dass es keinen Unterschied machte. Nach Nimmersatts Auftritt als Aasgeier der besonders verfressenen Art, ihrer Auseinandersetzung mit Imgrimm, Elyas Geplänkel mit Lía und Louan und Colevars einschüchterndem Auftritt am frühen Morgen – Geschichten und Gerüchte, die sich mit Sicherheit bereits durch das ganze Dorf verbreitet haben -  würden nur wenige in Nellim sich nicht an das seltsame Dreiergespann mit dem vielfältigen Tieranhang erinnern. Ganz zu schweigen davon ist weder Lía, noch sie selbst besonders unauffällig gekleidet und auch wenn Colevar die Gabe hat, ungesehen zu bleiben, wenn er so will, wurde ihm diese Möglichkeit in dem Augenblick genommen, als er eingewilligt hatte, sie sicher bis Falkenwacht zu begleiten. Er bringt nicht uns in Schwierigkeiten; wir bringen ihn in Schwierigkeiten, stellt Calait nüchtern fest und ein leises Seufzen liegt ihr auf der Zunge, doch sie kann es gerade noch so herunterschlucken. Und dann bleibt ihr auch schon keine Zeit mehr, um sich in den unmöglichsten und möglichsten Gedanken zu verstricken, denn nun da Lia da ist, wird aus vollen Kehlen einstimmig eine Fortsetzung der Vorstellung gewünscht. Nur allzu gerne gibt Calait dem Drängen nach und während Colevar sich auf dem Dach die Nacht um die Ohren schlaegt, sorgen die Zwillinge dafür, dass Nellims Bürger für kurze Zeit alles um sich herum vergessen und völlig in ihrer Darstellung aufgehen. Der Morgen schickt fahl silbernes Sonnenlicht durch die beschlagenen Butzenfenster des Gasthauses, als Imgrimm auch den letzten Säufer mit einem harten Schulterklopfen vor die Tür begleitet  und die Mädchen sich gähnend und schwankend vor Müdigkeit die Treppe hinauf kämpfen. Lía zittert vor Erschöpfung und bemerkt schläfrig, dass sie morgen mit Sicherheit Blasen an den Fingerkuppen haben würde von dem ganzen Flötenspiel. Calait erwidert heiser wie eine strangulierte Krähe, dass sie noch wo ganz anders Blasen hätte – aufgrund des Platzmangels hatten sie sich genötigt gesehen die ganze Nacht auf dem Tresen zu hocken – und sie sich schon auf ihr Bett freue. Daraufhin wird ihre Schwester auffallend still und Calait weiss sofort warum. Sanft fasst sie Lía am Arm und schenkt ihr ein liebevolles und sehr warmes Lächeln, das so zuversichtlich wirkt, wie ihr Tonfall klingt: „Colevar weiss was er tut. Um ihn musst du dir keine Sorgen machen.“ Noch nicht, fügt sie in Gedanken hinzu, behält ihre Zweifel aber für sich. Lía gibt sich mit dieser Aussage widerwillig zufrieden. Gemeinsam schlüpfen sie in ein Bett, kuscheln sich aneinander, um sich gegenseitig Sicherheit und Wärme zu schenken und schon bald hört Calait anhand der tiefen, langen Atemzüge, dass Lía eingeschlafen ist. Die Hunde und Louan haben sich in einem wilden Durcheinander an Fell, Pfoten und Schnauzen direkt am Bettende postiert, derweil das Kleinvieh teils im Stall, teils auf der kleinen, zierlichen Kommode, teils in ihren Kleidern und teils in ihren Taschen deponiert wurde. Obwohl sie todmüde ist und ihr Körper regelrecht nach Schlaf giert, hält Calait sich wach, indem sie sich erst vergewissert, dass Lía tief und fest schläft und sich dann halb aufsetzt, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Vielleicht ist es der falsche Zeitpunkt – sehr wahrscheinlich ist es der falsche Zeitpunkt -, doch irgendwo in ihrem Inneren spürt sie, dass kein besserer kommen wird: Colevar wird sie beide schon bald verlassen und es werden Monde voller Sehnsucht, Angst und plagender Unsicherheit folgen und ist er ersteinmal zurück gekehrt, um sein Versprechen einzuhalten und Lía zu holen, wird es viel zu spät sein. Vielleicht habe ich meine glückverheißenden Worte bis dahin bereut und bin zu der Erkenntnis gekommen, Lía mit nichts und niemandem teilen zu wollen. Dann kann er sehen wo er bleibt. Ein leises Lachen kommt über ihre Lippen, bei dem Schwachsinn, der sich versucht Gehör zu verschaffen. Niemals hat sie Lía das Glück vorenthalten. Ganz im Gegenteil, sie hat sich immer für ihre Schwester gefreut, wenn die Geister ihr wohlgewogen waren und alles daran gesetzt, um das Leben für sie noch schöner zu machen. Langsam beugt sie sich über sie, haucht ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Schläfe und murmelt dann ganz leise an ihrem Ohr: „Ich werde für die nächsten Monde auch noch auf dich aufpassen, wie ich es mein Leben lang getan habe, aber dann wird Colevar dich mitnehmen und du wirst gehen. Und ich werde es sehen und weinen, weil es mich schmerzt, und lachen, weil es mich freut. Ich werde nächtelang wach liegen, weil mir deine Wärme und Nähe fehlt und ich werde vielleicht sogar eifersüchtig sein auf Colevar, aber tief in meinem Herzen danke ich allen Geistern, Ahnen und Ealar für das Glück, das dir zuteil wird. Du hast es dir verdient. Du mehr, als jeder andere auf Roha. Ich liebe dich, ma kalon… und ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst. Ruf meinen Namen und ich werde es hören.“ Kaum hat sie geendet, gibt Lía ein unwilliges Brummen von sich, dreht sich um und bettet, ohne wirklich wach zu werden, ihren Kopf in Calaits Schoss, als wolle sie ihr versichern, dass sie nicht weggehen würde. Überrascht stellt Calait fest, dass sie weint und mit einem halberstickten Lachen, dass ebenso gut ein Schluchzen hätte sein können, wischt sie sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und legt den Kopf in den Nacken. In dieser Haltung schläft sie kurz darauf ein…

… und wird am späten Morgen prompt von Lía gescholten, als diese, durch Colevars Klopfen an der Tür, erwacht und ihre Schwester sitzend vorfindet. Calait lässt die Predigt schmunzelnd über sich ergehen, streckt sich einmal in voller Länge, hört ein paar Knochen knacken und lässt dann, noch im Hemd, Colevar ein. Noch im Halbschlaf lauscht sie seiner Ausführung und nickt lächelnd: „In Ordnung. Wir beeilen uns.“ Das tun sie auch und noch während sie den letzten Bissen Brot herunterschluckt, sitzt sie auch schon wieder auf Adnans Rücken, vor den Vorräten und hinter einer Ansammlung viel zu lebendien Kleingetiers und erinnert sich ganz genau, WO sie sich gestern ein paar Blasen eingefangen hat. Allerdings verkneift sie sich jeden Klagelaut, schliesslich ist es ihre eigene Schuld, und beisst heroisch die Zähne zusammen. Sie reiten nicht schnell, aber zügig, gönnen sich nur kurze Pausen und wann immer Gefahr droht, verbergen sie sich im nahen Unterholz. Die ersten zwei, drei Mal droht ein kleines Chaos auszubrechen bei dem Versuch alles und jeden zu verstecken, doch je länger sie unterwegs sind, desto routinierter wird ihr Vorgehen und als am späten Nachmittag dichte Wolken aufziehen und die ersten Tropfen fallen, weiss jedes einzelne Tier, was zu tun ist und wo es hingehört. Der Regen bricht mit einer solchen Wucht über sie herein, dass sie binnen weniger Sekunden bis auf die Unterkleidung durchnässt sind und schon bald klappern sie alle synchron mit ihren Zähnen, halbwegs warm gehalten durch mehrere Lagen Decken und Felle. Der Sturm hält den ganzen Tag und die ganze Nacht an, was ein Feuer nahezu unmöglich macht und das Abendessen mehr als karg ausfallen lässt, aller eingekaufter Vorräte zum Trotz. Erst der Morgen bringt eine Stunde Trockenheit, die sie nutzen, um sich aus ihren klammen Hemden, Röcken und Hosen zu schälen und frische Sachen überzuziehen. Dann wartet das Wetter mit neuen Regenböen, heftigem Wind und finsteren Wolkenzügen auf. Sie reden nur noch wenig. Jeder für sich bemüht sich so gut wie möglich aufrecht sitzen zu bleiben und vorwärts zu kommen.
Es dauert ganze sechs Tage, bis sich vor ihnen aus dem Grauschwarz des späten, immer noch regengepeitschten Abends die hohen, steinernen Mauern, silbern schimmernden Zinnen und schlanken Türme Falkenwachts schälen und Calait, kaum hat Lía ihr mit hörbarer Erleichterung verkündet, sie sähe die Stadt bereits, wäre geneigt gewesen einen Freudenschrei von sich zu geben, wäre sie dafür nicht viel zu erschöpft. Im langsam Trott – auch den Pferden merkt man die Anstrengung der beschwerlichen Reise an – nähern sie sich dem Nordtor, wo sie von zwei grimmigen und ziemlich nassen Soldaten mehr oder weniger freundlich empfangen werden. Colevar grüsst sie leise und erbittet Einlass. Die Männer wechseln einen Blick, bevor einer von ihnen, ein hagerer Bursche von vielleicht zwanzig Lenzen, eine Laterne packt und mit dieser um die Pferde herumläuft, um die Frauen und die Tiere zu begutachten. Als er mit dem fahlen, kläglichen Lichtschein allerdings zu nahe an Louan herankommt, hebt dieser träge eine Lefze und präsentiert damit immerhin einen eindrucksvollen Eckzahn. Leicht erschrocken weicht der Mann zurück und meint dann missmutig, dass man mit so einem Raubtier doch nicht in einer Stadt herumlaufen könne. Das ist für Lía das Stichwort, um sich mit Händen und Füssen für ihren Freund einzusetzen. Ob es nun der anhaltende, strömende Regen, oder aber Lías Redeschwall ist, irgendwann winkt der Mann hastig ab und lässt sie passieren, um sich gleich darauf wieder ins warme Innere des Wachhäuschens zurück zu ziehen. Colevar leitet sie sicher durch die in klamme Finsternis getauchten Strassen und Gassen von Falkenwacht, bis vor ein schmales, windschiefes Gebäude etwas abseits des Marktplatzes. Das Haus ist hoch, weiss gekalkt, mit Schindeln gedeckt und aus den grossen Bundglasfenstern fällt fahler Lichtstein auf die nassdunkeln Pflastersteine. Eine steinerne Treppe führt zum Eingang, über welchem ein hölzernes Schild in Form eines Amboss hängt, auf dem etwas krakelige Buchstaben verkünden, dass sie soeben : „Mangarms Amboss“, erreicht haben. Colevar hebt erst Lía und dann Calait aus dem Sattel und ist immerhin so anständig ihr gequältes Zischen stumm zu geniessen. Ihr wertes Hinterteil steht in Flammen und in ihren Beinen tun Knochen weh, von deren Existenz sie noch nichts geahnt hat. Steif und halb durchfroren will sie Colevar zur Hand gehen, um das Gepäck abzuladen, wird aber prompt dazu gedrängt mit Lía im Gasthaus zu verschwinden, damit sie sich wärmen und schon einmal etwas zu Essen bestellen können. Calait, viel zu müde um sich quer zu stellen, gibt sofort nach und wird von Lía, die sich die Tiere geschnappt hat, in Richtung Eingang dirigiert, derweil Colevar zusammen mit zwei Stallburschen die Pferde versorgt.

Calait strauchelt beinahe, als sie die ungewohnt hohen und durch den Regen glatten Steinstufen zu dem Gasthaus hinauf stolpert, aus dessen Inneren dumpf der abendliche Lärm einer gut gefüllten Schankstube dringt, und gönnt sich eine kurze Verschnaufpause , bevor sie die Hände gegen die schwere, eisenbeschlagene Holztüre stemmt, drückt… und fällt, als der Widerstand abrupt nachgibt, weil ein Gast auf der anderen Seite ruckartig zieht. Mit wild rudernden Armen und einem erschrockenen Aufkeuchen auf den Lippen landet sie vor dessen Füssen auf den Knien. Sofort entsteht ein kleiner Tumult im Eingangsbereich, doch bevor Lía, von oben bis unten mit den unterschiedlichsten Arten lebenden Pelzes bestückt, ihr zu Hilfe eilen kann, schliessen sich bereits lange, schmale Finger um ihre Oberarme und ziehen sie mit erstaunlicher Leichtigkeit in die Höhe. “Ist Euch etwas passiert? Habt ihr Euch weh getan?“ Die dunkle, feste Stimme und der deutlich besorgte Tonfall lassen Calait mit einem gequälten Lächeln hastig den Kopf schütteln und vorsichtig löst sie sich von ihrem Helfer, denn die Versuchung sich weiter gegen ihn zu lehnen und so ihre bleischweren Glieder ein wenig zu entlasten ist gross. Als könne er ihren Wunsch nach ein wenig Bequemlichkeit an der Nasenspitze ablesen, versichert sich der hochgewachsene, schlanke Mann zur Sicherheit noch einmal, ob auch wirklich alles mit ihr in Ordnung ist, bevor er ihr anbietet sie zu einem der noch freien Tische zu führen. Calait streicht sich das tropfnasse Haar, das ihr schwer über die Schultern hängt, aus dem Gesicht, fühlt Lías Wärme in ihrem Rücken und nimmt das Angebot mit einem sichtbar erschöpften Nicken dankbar an: „Das wäre sehr freundlich.“
Der Mann manövriert sie und Lía sicher und festen Schrittes durch das Getümmel bis an einen Tisch in einer kleinen Nische, direkt neben dem Tresen, bevor er sich mit einer letzten Entschuldigung von ihnen verabschiedet. Aufgrund des Geräuschepegels und der Art, wie ihr Führer sich durch die Menge kämpfen musste, geht Calait davon aus, dass Managarms Amboss aufgrund der anhaltenden Regenfälle sehr gut besucht ist. Das die Schankstube beinahe aus allen Nähten platzt, kann sie nicht sehen, allerdings fällt ihr auf, dass die Bedienung sehr lange auf sich warten lässt, denn als endlich eine Schankmaid den Weg an ihren Tisch findet, haben sie sich bereits aus ihren nassen Mänteln geschält, die Tiere unter sich aufgeteilt, versucht die Hunde ein wenig trocken zu reiben, sich gegenseitig das Wasser aus den Haaren gepresst und Colevar hat die Pferde versorgt und sich ebenfalls zu ihnen gesellt.
“Womit kann ich euch dienen?“ Die Frau, oder besser gesagt das Mädchen, wischt sich mit einer gehetzten Bewegung den Schweiss von der Stirn und blinzelt das Dreiergespann aus grossen, glänzenden Augen müde an. Calait entnimmt ihrer zitternden Stimme, kindlich, warm, mit einem krächzenden Nachhall, dass sie schon sehr lange auf den Beinen ist, die dunklen Ringe unter den Augen und die wachsbleiche Haut entgehen ihr. Nicht aber Lía, die geräuschvoll ausatmet und sich hastig erkundigt, ob mit dem Mädchen alles in Ordnung sei und ob sie sich nicht besser setzen und eine andere Schankmaid rufen möchte. Die Kleine, sie zählt vielleicht fünfzehn Sommer, hebt ihr blasses, abgekämpftes Gesicht und entlohnt Lías Fürsorglichkeit mit einem kleinen Lächeln, schüttelt aber gleichzeitig den Kopf. “Ich kann nicht“, erklärt sie leise, aber bestimmt und deutet mit einer fahrigen Geste hinter sich in Richtung des Wirtes, eines stämmigen, hochgewachsenen Mannes, der mit hochrotem Kopf hinter dem fleckigen Tresen steht und im Rekordtempo Humpen poliert und Bier ausschenkt: “Ohne mich schafft mein Vater es nicht. Und alle anderen Mädchen und Frauen hat das Fieber zehnmal schlimmer erwischt. Ich kann wenigstens noch auf meinen Beinen stehen und vernünftig essen.“ Besorgt zieht Calait die Stirne kraus und erkundigt sich mit ehrlichem Anteilnahme: „Können die Heiler etwas tun?“ Das Mädchen seufzt schwer und zuckt mit den Schultern: „Sie würden wohl, wenn sie könnten, aber auch sie hat das Fieber fest im Griff.“ Calait muss sich gar nicht erst nach Lía umdrehen, um zu wissen, was ihre Schwester als nächstes anbieten möchte – und kommt ihr zuvor: „Wenn es dir oder deinem Vater nichts ausmacht, werden ich und meine Schwester nach den Mädchen und Frauen sehen. Vielleicht können wir euch helfen.“ “Seid ihr denn Heilkundige?“, hakt die Kleine ebenso hoffnungsvoll wie skeptisch hinterher und lässt ihren Blick über ihre abgetragene, völlig durchnässe Kleidung, die Tiere und Colevar schweifen.
„Ja“, erwidert Calait sanft und schenkt ihr ein aufmunterndes Lächeln: „Sind wir.“ Hätte Calait auch nur ansatzweise geahnt, was sie mit ihrem Angebot anrichtet, hätte sie wohlweislich den Mund gehalten und Lía ebenfalls zum Schweigen verdonnert.

Noor, der immerhin einen Augenblick Zeit findet die beiden Frauen, die sich Heilkundige schimpfen und aussehen, als wären sie gerade aus Savos Wälder gekrochen, persönlich zu begrüssen – und genauestens unter die Lupe zu nehmen – nimmt ihre Hilfe sichtbar misstrauisch an, droht aber im gleichen Atemzug, dass Scharlatane in Falkenwacht schwer bestraft würden. Colevar, der bis zu diesem Moment schweigend zugesehen hatte, wie die Dinge ihren Lauf nahmen, setzt sich bei diesen Worten gerade auf und erkundigt sich kühl, ob er die Mädchen soeben als Lügner und Pfuscher bezeichnet hätte. Noor erwidert seinen Blick ohne Angst, aber mit gesundem Respekt und schüttelt den eckigen Kopf mit den markanten Zügen: “Nein, Sire, habe ich nicht, doch was ich in den letzten Tagen an „Heilkundigen“ zu Gesicht bekommen habe, da läuft mir die Galle über und noch ein jammerndes Weibsbild mit purpurnem Ausschlag brauch ich nicht.“ Lía garantiert ihm mit all der ihr geschenkten Überzeugungskraft – und das kann eine Menge sein, wenn es darauf ankommt – dass sie keine dieser halbgaren Halsabschneider wären, denen es einzig und allein um den Profit geht. Noor glaubt ihr und nachdem sie etwas gegessen, etwas getrunken und trockene Kleidung übergestreift haben, werden sie von der Kleinen, die sich zwischenzeitlich als Nora vorgestellt hat, zu den Gesindekammern geführt.
Obwohl sie beide am Ende ihrer Belastbarkeit angelangt sind und dringend Schlaf nötig hätten, schlagen sie sich die halbe Nacht mit kühlen Wickeln, heissen Steinen, völlig durchschwitzten Decken und Laken, Fieber, Husten und Erbrochenem um die Ohren. Lía und Calait sind sich schnell einig, dass es sich bei dem Fieber um eine schwere Grippe handelt, wie sie in den regengepeitschten Herbstzeiten öfters anzutreffen ist, und brauchen ebenfalls nicht lange um nüchtern festzustellen, dass ihnen für all die Kranken die nötigen Hilfsmittel fehlen. Nora erklärt, dass es in der Stadt eine Hexe gäbe, die in ihrem Häuschen die wundersamsten Tränkchen, Pasten und Salben mischt und die mit Sicherheit auch über eine beachtliche Sammlung an Kräuter verfügt, deren Stube zu dieser späten Stunde aber bereits geschlossen sei. Die Mädchen entschliessen sich am frühen Morgen vorbei zu sehen, um den Geplagten dann so rasch wie möglich zu helfen.
Allerdings hat keiner von ihnen damit gerechnet, dass sich die Ankunft zweier heilkundiger Frauen wie ein Feuer in Falkenwacht verbreiten würde und als Calait und Lía am nächsten Tag von der Hexe zum Gasthaus zurückkehren, werden sie dort von einer Menschenmasse erwartet, die ebenfalls von der Grippe geplagt wird. Lía, die angesichts von soviel Leid natürlich nicht nein sagen kann, bittet Noor ein Zimmer bereit zu stellen, wo sie die Patienten einen nach dem anderen empfangen und behandeln kann. Der Wirt kommt ihrer Bitte umgehend nach, ohne dafür Bares zu verlangen, viel zu dankbar ist er, dass zwei seiner Mädchen nach der nächtlichen Pflege immerhin wieder für ein paar Stunden arbeiten und damit sowohl ihn, als auch seine Tochter entlasten können.
Der Regen hält weiter an und nach nicht einmal einem Tag kommt es Calait vor, als hätte sich ganz Falkenwacht, stockheiser vom Husten und glühend vom Fieber, in Managarms Amboss versammelt. Sie geht Lía so gut es ihr möglich ist zur Hand. Auch diejenigen der Mädchen und Frauen, die sich halbwegs dazu im Stande fühlen ihre Betten zu verlassen, helfen ihnen, wo und wann immer nötig und Noor verliert kein Wort darüber, dass seine Schankstube sich für kurze Zeit in eine Art Lazarett verwandelt hat – selbst krank, gönnt sich das Volk noch immer gerne einen Schluck gutes Bier. Drei Tage, viel zu wenig Stunden Schlaf, dreihundert Kräutertees, unzählige Kranke, zwei Todesfälle, drei Auseinandersetzungen zwischen Colevar und einem dreisten Patienten, zwei weltuntergangsverkündende Stürme und tausende von Nerven später blinzelt zum allerersten Mal, seit sie aus Nellim aufgebrochen sind, die Sonne durch die Wolkendecke und vertreibt binnen weniger Stunden die klamme Kälte aus den Strassen der Stadt und den Gliedern der Bewohner. Es wird ein herrlich warmer Herbsttag, der die ganze Schönheit dieser Jahreszeit präsentiert. Das Blattwerk der umliegenden Wälder zeigt goldene, glühend rote, satt gelbe und tiefbraune Flecken, der Himmel ist klar und hell und Shenras Antlitz  hüllt alles in ein Meer aus Licht, das sich auf den noch nassen Dächern bricht und sie mit funkelnden Diamanten kleidet.

Alle drei waren sie noch vor Sonnenaufgang aufgestanden und Lía, die nur noch ihre armen Patienten im Kopf hat, gönnt sich gerade mal eine Katzenwäsche und ein mehr als spärliches Frühstück, bevor sie Louan, die Hunde und Ériu einsackt und sich mit ihrer notdürftigen Heilertasche auf den Weg zu einem Jungen macht, dessen Mutter am Abend zuvor mehr als besorgt und ziemlich ausser sich im Gasthaus aufgetaucht und die beiden Mädchen um Hilfe angefleht hatte. Calait verweilt mit Colevar noch einen Moment am Tisch und bespricht mit ihm das weitere Vorgehen. Trotz, oder gerade wegen der heftigen Regenfälle, die sie während der ganzen Reise von Nellim bis nach Falkenwacht geplagt haben, können Colevars Verfolger sie ein Stück eingeholt haben und logisch betrachtet kann es nicht mehr lange dauern, bis sie hier auftauchen. Es ist das erste Mal, das Calait völlig offen über Colevars lästigen Anhang spricht und sie tut es mit der nötigen Distanz und Sachlichkeit, um im Fall der Fälle einen kühlen Kopf bewahren zu können – ganz zu schweigen davon, dass sie Colevar wohl kaum ziehen lassen würde, wenn sie, wie Lía, sich zuviel davon zu sehr zu Herzen nimmt. Allerdings fragt sie nicht nach Gründen oder Namen. Sie will wissen, mit welcher Art von Gegner sie es zu tun haben, was ihre Vorteile, was ihre Nachteile sind, wie sie denken, vorgehen, planen und woher sie kommen. Erst ganz am Ende, als Colevar kurz innehält und dann erklärt, dass er jetzt nach den Pferden sehen würde, tastet sie hastig nach seiner Hand und zwingt ihn mit einem leisen „Bitte“ noch einen Augenblick zu warten. Er lässt sich langsam wieder auf die harte Holzbank zurücksinken und sie spürt seinen Blick, fragend, vielleicht ein wenig verwirrt, aber geduldig wartend auf sich ruhen.
„Es ist mir egal“, beginnt sie, holt Luft und lächelt ihr warmes, offenes Lächeln, das in hartem Kontrast zu ihren vollkommen nüchtern ausgesprochenen, mehr als deutlichen Worten steht: „Es ist mir egal für wen du diesen Auftrag ausführst und welche edlen oder verkommenen Gründe dich leiten… wenn du merkst, dass er dich deine Rückkehr an Lías Seite oder sogar dein Leben kosten sollte, will ich, dass du, was auch immer dich an diese Arbeit bindet, sei es nun Loyalität, Freundschaft, Ehre, Rache, über Bord wirfst, umdrehst und die Männer tötest.“ Niemals hätte sie diese Forderung in Lías Beisein ausgesprochen, denn ihre Schwester hätte sie mit Sicherheit nicht gut geheissen und das Wissen, dass Colevar für sie töten könnte, wäre eine untragbare Last. „Versprich es mir, Colevar“, bittet sie, tausend Mal sanfter als noch wenige Momente zuvor und spürt seine Finger, die sich fester um die ihren schliessen.
Gleich darauf ist er verschwunden und Calait bleibt allein zurück mit einer ziemlich mies gelaunten Noraya, einem äusserst hungrigen Vi-Vi, einem zufrieden an einer Rübe knabbernden Tanguy, einem Trolden an einer Leine – rein zur Sicherheit des Vorratskellers – und drei sich kabbelnden Waldhörnchen. Mit einem leisen Seufzen widmet sie sich der Pflege der Rasselbande und bringt sie danach ins Zimmer, wo immerhin die Hälfte sich sofort ein bequemes Plätzchen für ein Mittagsschläfchen sucht. Zufrieden besucht Calait noch die letzten Mädchen und Frauen – keiner der Knechte und Stallburschen hatte Klagen -, wechselt noch ein paar Wickel, ordert etwas mehr Tee, verabreicht etwas fiebersenkende Kräuter und setzt sich dann zu Noor an die Theke, um ein wenig ihre Gedanken schweifen zu lassen.
„Der Ernteertrag könnte höher sein.“
„Noch höher?“
„Meine Frau ist erst im dritten Mond… und jetzt schon nicht mehr zu ert…“
„… ehört? Gräfin Gwendolyn hat sich
schon wieder einen Mann genommen!“
„Das müsste jetzt der zweite in diesem Ja…“
„… ir etwa hoch genug?“
„Mir schon, aber meine Frau me…“
„… hat Haare auf den Zähnen und ein Arsch wie ein Wa…“
„… eich soll er sein, aber ansonsten unbekan…“
„… iftige Zunge, Warzen im Gesicht und Hängebr…“

Calait grinst, grinst noch breiter und verschluckt sich an ihrem warmen Met, als der alte Ohneknie neben ihr mit einem theatralischen „Und was zwischen ihren ausgemergelten Schenkeln ist, bei allen Göttern, ich armer, armer Mann!“, seine ‚Lobeshymne’ auf die werte Gemahlin beendet. Um Luft ringend – was lachend nicht ganz so einfach ist – wischt Calait sich mit den Handrücken die Tränen von den Wangen und bekommt tatkräftige Unterstützung von Noor, dem Wirt, der ihr ein paar Mal beruhigend auf den Rücken klopft. „Na, na, na, Mädel. Nicht gleich wieder ausspucken, so schlecht ist das Zeug auch wieder nicht.“ Verzweifelt darum bemüht zu Atem zu kommen, kann sie nichts weiter tun als den Kopf schütteln und weiter lachen. Heute Morgen noch war sie zusammen mit Lìa in Ohneknies gemütlicher Wohnstube gesessen und hatten dessen jüngste Sorge, die kaum drei Jahre alte Hanja, das Nesthäkchen der Familie und ein Goldstück von einem Kind, auf Krankheiten und Gebrechen untersucht, da die Kleine seit kurzem stark hustete und immer mal wieder vom Fieber geplagt wurde. Lìa hatte sich dem Mädchen angenommen, derweil sie sich selbst mit Ohneknie und dessen Frau, einem freundlichen, humorvollen, aber resoluten Grossmütterchen unterhalten hatte – und wenn sie nach diesem Gespräch etwas in Erfahrung gebracht hat, dann, dass Ohneknie sein Weib abgöttisch liebt. Genauso wie er über beide Segelohren hinaus in seine sieben Kinder, achtundzwanzig Enkel und dreizehn Urenkel vernarrt ist. Aber was ein echter Seemann sein will, der bleibt eben hart und hat mit Gefühlen erst recht nichts am Hut und Ohneknie ist ein Veteran unter den Matrosen, auch wenn er schon seit bald dreissig Jahren kein Schiff und kein grösseres Gewässer als die Pfütze in seinem Garten mehr zu Gesicht bekommen hat. Was ihn aber nicht davon abhält alles, was nicht mindestens so lange wie er auf einem Einmaster gedient hat, als „Landratte“ zu bezeichnen. Wenn einem armen Mädel aber der Erstickungstod durch Lachkrämpfe droht, dann zeigt er sein goldenes Herz und schreitet mit stolzgeschwellter, ausgemergelter Hühnchenbrust zur Tat. „Ja, Anker und Kanonen, was tust’d denn da, Mädel? Willst dich im Met ertränken, oder was soll das genau werd’n?“ Prompt wird ihr der Becher mit Met entwendet und Ohneknie ordert stattdessen lautstark einen Becher mit heisser Milch für die hübsche Landratte. „Mädel, Mädel, lass den Alkohol den richt’gen Männern und schau lieber zu, dass’d ins Bett kommst. Hab g’hört, du hast heut’ schon wieder eine ganze Weltreise hinter dir. Jaja, viel Regen, keine Sonne, das geht erst den Alten und Schwachen, dann den Kindern und irgendwann auch den Stärksten an Leib und Seele, jaja, hab alles schon n’ paar Mal mitgemacht, weisst’. Wen hat’s denn heut noch erwischt, Mädel?“
„Die Zwillinge Breda und Rosa vom Johannishof, den Hufschmied Eskald  und Markan, deinen Nachbar“, erzählt sie bereitwillig: „Und meine Schwester ist gerade auf dem Weg zu einer Frau namens Kera, deren Sohn auch schon seit Tagen im Fieber badet.“ “Wie? Ruans Kera? Die zarte Kleine mit der hübsch’n Nase und dem schwarzen Haar?“ „Ahm…“ “… das war jetzt wohl die dümmste Frage mein’s Lebens,“ stellt er fast schon trocken fest und bringt sie damit zum Lachen. „Schon gut. Das bin ich gewohnt“, winkt sie immer noch schmunzelnd ab: „Aber ja, ich glaube ihr Mann heisst Ruan. Und der Kleine Bram, wenn ich mich recht entsinne.“ “Ja, ja, der vorlaute Winzling mit dem Feuerkopf und den Hasenzähn’. So war mein Torr auch mal. Rot, mein ich. Feuerrot! Ich sags euch, ein Waldbrand war nichts dagegen. So rot, da wird die Flammenhölle neidisch! Jaja, so rot war der und…“ Mehr und mehr verschmilzt Ohneknies euphorisches Krächzen wieder mit der allgemeinen Geräuschkulisse und Calait vergnügt sich weiterhin einzelne Satzfetzen herauszufischen.

“… gefährliches Biest! Hat mir fast den Arm abgebi…“
„… ein sagtet ihr? Und dazu?“
„…egrüsst, Herr Wirt. Ich s…“
„…, als trüge er eine Feuerkrone! Sogar in tiefster Dunkelheit leuchtet der wie ein Glühw…“
„… es leider schlachten lassen. Hät mir sonst noch die Kinder tot ge…“
„… ondes, langes Haar. Er ist gr…“
„… dritte war ein armer Schlucker aus dem Bettelhaus, sagt man. Von wahrer Liebe war…“

Irgendwo zwischen zwei Schlucken Milch wird Calait plötzlich mulmig zumute, als sich unter die vertrauten Klänge eine unangenehme Dissonanz schleicht. Etwas, das nicht passt. Das nicht hierhin gehört, doch sie kann unmöglich festlegen, worum genau es sich dabei handelt.
“… n Haufen Batzen verdienen, würd’ er sich als Leuchtfeuer verdingen. H…“
„… aber gross war er. Und sto…“
„… indestens vier Pferde und ein Haufen Kleinv…“
„… Zweite hatte so viele Gebrechen, dass er noch vo…“

Unruhig dreht sie erst den Kopf zur einen, dann zur anderen Seite, um sich nacheinander auf die einzelnen Gespräche zu konzentrieren…
„… erwendung für ihn in Dunkelschein. Vi…“
„… gross. Und lang. Aber nicht von Ad…“
„…cheinlich einen Luchs.“
…und das Blut gefrier ihr in den Adern, als sie seine Stimme hört. Glatt wie Spinnenseide und kalt wie Eis schneidet sie in ihr Fleisch, wie ein Messer durch Butter, und unter der Binde werden Calaits Augen gross und rund vor Entsetzen. Der schreckliche Alptraum, beinahe vergessen, bricht an die Oberfläche ihres Gedächtnisses und mit ihm der Geschmack nach Blut und Tränen, das Geräusch brechender Knochen und der Schmerz, der ihr Herz zwischen seinen Klauen zerrissen hatte… und darüber hinaus seine Stimme.
„… Frauen und ein Haufen Tiere.“ Mit flatterndem Atem und mittlerweile bleich wie der Tod, dreht sie der Quelle ruckartig den Rücken zu und tastet mit ausgestreckten Armen, den Becher Milch immer noch in der Hand, nach der Wand. In der Hoffnung, dass der Wirt nicht einfach jedem dahergelaufenen Möchtegern bedenkenlos preis gibt, welche Gäste er beherbergt, angelt sie sich der Wand entlang zur Tür, die in den Verbindungsgang zwischen Haupthaus und Stall führt. Colevar hatte gesagt, dass er kurz nach den Pferden sehen würde, bevor er sich um die restlichen Vorräte kümmert – sie betet zu allen Geistern, Göttern und Dämonen gleichzeitig, dass er, aus welchen Gründen auch immer, noch immer dort ist… und das Lía nicht gerade jetzt zurückkommt. Zischend zieht sie die Luft durch zusammengebissenen Zähnen, als sie mit dem Fuss heftig gegen ein Stuhlbein stösst, winkt aber hastig ab, als irgendjemand sich erkundigt, ob alles in Ordnung sei. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist Aufmerksamkeit. Was zur Folge hat, dass sie sich zwar redlich um Eile bemüht, aber doch langsam genug läuft, um möglichen Hindernissen noch rechzeitig ausweichen zu können. Beinahe wäre sie auf den letzten Sekheln mit dem Pferdeburschen zusammengeprallt – oder jemandem, der zumindest stinkt, als habe er sich eben gerade im Mist gewälzt. Gerade rechtzeitig kann sie noch abbremsen, um sich dann mit einer gehetzten Entschuldigung auf den Lippen an ihm vorbei in den Gang zu drängeln. Hinter ihr fällt die Tür ins Schloss und obwohl die Gefahr noch längst nicht gebannt ist, fühlt sie sich bedeutend sicherer, nun wo sich zwischen ihr und ihm mindestens ein Dutzend Menschen und eine mehr oder minder solide Mauer befinden. Der Gang liegt leer und still vor ihr und von Furcht getrieben beginnt sie zu rennen. Sie hat Angst. Panische Angst, denn sie hat gesehen zu was er fähig ist. Mit einem dumpfen Krachen prallt sie mit ausgestreckten Armen in voller Fahrt gegen die geschlossene Türe… und merkt viel zu spät, dass diese nur angelehnt ist. Kopf voran stürzt sie in das warme Halbdunkel des Stalls, stolpert über die drei flachen Stufen und schlägt der Länge nach auf dem Boden auf. Ein kurzer, spitzer Schmerz jagt durch ihren Kiefer und sie hört ihre Zähne unschön knirschen, als ihr Kinn den steinernen Grund küsst, doch alles, was sie beherrscht ist der Gedanke, Colevar warnen und ihre Schwester retten zu müssen.

„Colevar“, keucht sie, verzieht gequält das Gesicht, als sie nach Luft jappst und dabei Staub und Dreck atmet, hustet erbärmlich, und kämpft sich stöhnend in die Höhe. Dass die Haut unterhalb ihres Kinns aufgeplatzt ist und Blut ihren Hals hinab rinnt, spürt sie gar nicht. Alles, was ihren Verstand und ihr Denken beherrscht, ist das nackte Grauen, ihr Traum könnte Wahrheit werden – und sie weiss, dass er es wird, wenn sie nicht eingreift. Es hat viel zu lange gedauert, aber in dem Moment, wo der Traum fliessend in die Realität überging, wusste sie, dass es kein Zufall gewesen war, sondern eine Warnung.
Colevar ist bei ihr, noch bevor sie halbwegs gerade steht und die eisige Kälte, die ihm nachfolgt, legt sich wie ein schützender Mantel um ihre Schultern. Er sagt kein Wort. Er kommt nicht dazu, etwas zu sagen, denn bevor er auch nur den Mund aufmachen kann, tastet sie nach seiner Hand und drängt ihn zurück. Fort von der Tür. Fort von einer möglichen Entdeckung. Fort von dem Traum. Und noch während sie schiebt – und er sich zu ihrem Glück schieben lässt -, hebt sie den Kopf und sieht ihn an. Eine vage Vorstellung aus kühnen Linien, einem hellen Blick, einem spöttelnden Lächeln und langem, hellem Haar taucht vor ihrem inneren Auge auf und zielsicher nimmt sie sein Gesicht zwischen ihre kleinen, schmalen Hände. Sie gibt sich keine Mühe ruhig oder sogar gefasst zu wirken – sie will, dass er die Angst, die sich tief in ihre Brust gekrallt hat, sieht und spürt… und versteht. Sonst, und das ist so sicher, wie der Tod, wird er Lía nicht zurücklassen. „Du musst gehen, Colevar.“ Es ist keine Bitte. Es ist Gewissheit. Endgültige Gewissheit. „Sofort! Ohne Vorräte, ohne Plunder, ohne Abschied. Wer auch immer dich verfolgt, hat dich eingeholt und wenn du nicht auf der Stelle verschwindest, werden sie uns alle finden und dann wird… wird…“ Mund und Herz stolpern und es dauert geschlagene drei Sekunden, bis sie sich fassen und den Satz beenden kann: „… wird Lía sterben.“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 30. Apr. 2010, 09:27 Uhr
Colevar ist im Stall bei den Pferden und kontrolliert wohl zum Dutzendsten Mal in den letzten Tagen Filidhs Beine. Als sie in Falkenwacht angekommen waren, hätte er schwören können, der Fryslâner gehe ein wenig lahm auf der rechten Hinterhand, aber als er endlich trocken gerieben und mit Heu versorgt im Stall von 'Managarms Amboss' stand, hatte Colevar an keinem Bein oder Huf eine Schwellung oder Hitze feststellen können - und auch heute, drei Tage später, nicht. Filidhs Beine sind so hart und trocken wie sie es immer waren, seine Sehnen stark wie Stahlseile und er läuft absolut gleichmäßig. "Scheint wirklich nichts zu sein, alter Junge", murmelt er beruhigt vor sich hin und hebt zum zweiten Mal jeden Huf auf, um ihn sorgsam zu inspizieren. Die Tragränder sehen gut aus, der Strahl auch, die Eisen sind erst etwas mehr als eine Woche alt und auch die Kronränder sind völlig in Ordnung. Nach den tausenden und abertausenden von Wegstrecken, die wir inzwischen hinter uns haben, ist es das reinste Wunder, dass er alles so gut überstanden hat. Filidh war schon immer ein gutes Pferd für lange Wegstrecken gewesen, obwohl er eigentlich keineswegs dafür, sondern für das Schlachtfeld gezüchtet wurde. Deswegen hast du dich ja auch für ihn entschieden und nicht für eines der Botenpferde oder ein Feuerblut aus den Ställen von Lyness. Für einen Moment schweifen seine Gedanken an zu Hause, während er sich an den großen, warmen Pferdeleib lehnt… das ganze Sarthetal mit seinen zahlreichen Blutbuchen, Ahornen, Kastanien und Linden, seinen uralten, knorrigen Eichen und den bleichen Herzbäumen wäre jetzt ein einziges Farbenmeer, durchsetzt von den ewig dunklen Wipfeln der Zedern, Indigotannen oder Bergkiefern. Im Tal unten wären die lichten Birkenhaine jetzt voll goldenen Lichts und das Smaragdgras schon zu Bronzegold verblichen, aber lang und weich wie Frauenhaar. Der Fluss wäre voller fetter Forellen und die Bären würden aus den Hügeln herab kommen wie jedes Jahr, um sich ihren Anteil zu holen. Die Bauern und Kätner würden das Vieh von den Waldweiden nach Hause treiben und die Felder wären längst abgeerntet, aber man würde noch sehen, wo Korn und Flachs gestanden oder leuchtende Wiesen im Sommerlicht gewogt hatten. Das Sarthetal war schon immer anders… nicht lieblich und verwunschen oder wildromantisch, wie das übrige Umland Talyras, sondern urtümlich und wild mit dem schäumenden Fluss, den tiefen Schluchten und den dicht bewaldeten Hügeln auf deren Rücken und Flanken sich Felsenklippen schroff und blau in den hellen Himmel hinauf türmen.

Colevar hat während des ganzen letzten Jahres kaum an sein Zuhause gedacht und noch weniger an seinen Vater, aber jetzt tut er es. Sein alter Herr ist nicht so groß und nicht so blond wie er selbst, aber hochgewachsen und breitschultrig, mit dem weichen, geschmeidigen Gang eines Jägers, klaren grauen Augen und einem Gesicht wie aus Eisen. Vor seinem inneren Auge sieht Colevar die dunklen oder vom Alter silbrig gebleichten Blockhäuser der verstreuten Orte und Siedlungen im Tal unten, auf deren tief gezogenen Dächern das Gras üppig wächst, den dunkel rauschenden Bergwald dahinter und im Norden, hoch über allem am Waldsaum, Burg Lyness selbst. Seine Gedanken wandern weiter nach Talyra, wo jetzt alles auf die herbstlichen Viehmärkte und das Erntefest zugehen würde, auf die Mühleninsel im Llarelon und das verwunschene, überwucherte, so wunderschöne, aber leere, stille Haus, das er dort sein Eigen nennt. Lia… Würde es ihr dort überhaupt gefallen? Vorausgesetzt du findest sie wieder und sie will dich dann noch haben. Hatte sie je in einem Haus gelebt? Würde sie überhaupt… ein Heim wollen, nach ihrem nomadischen Leben mit dem Wolkenvolk, den Resande und den Reisen an der Seite ihrer Schwester? Was… wenn sie ihre Zugvogelfreiheit gar nicht aufgeben will? All diese Fragen schwirren wie aufgebrachte Vögel in seinem Kopf herum und er hat keine einzige Antwort auf auch nur eine von ihnen. 'Ich fürchte mich nicht. Nicht vor dir, nicht vor den Antworten, nicht vor dem wer oder was du bist oder woher du kommen magst. All das ist mir gleich.' Das waren Lias Worte gewesen, aber was, wenn sie sich täuscht? Wenn er gar nicht der Mann ist, den sie will? Wenn sie feststellt, dass sie sein Leben nicht teilen kann? Da sind so viele Dinge, wichtige Dinge, über die sie nicht sprechen konnten, weil ihnen schlicht und einfach überhaupt keine Zeit dafür geblieben war. Könntest du es? Alles aufgeben, Talyra und die Steinfaust, Lyness, das Sarthetal und all seine Menschen zurücklassen und mit ihr gehen wohin immer die Straße sie führt? Er braucht ungefähr einen halben Herzschlag, um die Frage zu beantworten. Ja. Colevar lehnt seine Stirn einen Moment an Filidhs Hals und der Fryslâner schnaubt leise und warm. Und du wirst den langen Weg zurück und alle Gefahren auf dich nehmen für die Aussicht, dass an seinem Ende nur ein Vielleicht wartet… Kein Ja, keine Gewissheit, kein Versprechen… nur ein Vielleicht.

Calaits Worte vom Morgen fallen ihm ein und mit ihnen kommt die bittere Erkenntnis, dass er seinen Aufbruch nicht mehr lange hinausschieben kann. Filidh ist in Ordnung, die Mädchen sollten hier einigermaßen sicher sein und seine Verfolger können praktisch jeden Augenblick in Falkenwacht eintreffen… er muss gehen, er muss fort, noch heute Nacht. 'Versprich es mir Colevar!' Hallt Calaits Bitte in seinem Inneren wider. 'Es ist mir egal für wen du diesen Auftrag ausführst und welche edlen oder verkommenen Gründe dich leiten… versprich es mir Colevar. Versprich es…' Er hatte nichts erwidert, kein einziges Wort, aber er hatte ihre Hand in seiner einen Moment lang fest gehalten und sacht gedrückt, das stumme Versprechen, dass er tun würde, worum sie ihn gebeten hatte – dass er tun wird, was immer nötig ist. Er klopft Filidh sanft die Schulter. "Friss dich satt, Großer. Wenn die Sonne sinkt, sind wir…" Er kommt nicht dazu, den Satz zu beenden, denn in diesem Moment stürzt Calait – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes – in den bis zu diesem Augenblick so ruhigen, friedvollen Stall mit seinen zufrieden kauenden Pferden und schlägt der Länge nach auf den harten Steinboden. "Was zum…" Colevar eilt alarmiert aus Filidhs Box und erreicht Lías Schwester gerade als sie sich stöhnend aufrappelt. Ihr Kinn und ihre Handballen sind aufgeschlagen und bluten, ihre kleine Nase ist zerkratzt und sie ist voller Staub, Heu und Strohhalmen, doch  sie scheint nichts davon auch nur zu bemerken. "Calait! Was…" Ihre Hand verschließt seinen Mund, tastend und zielstrebig zugleich und sie schiebt ihn tatsächlich rückwärts durch die Stallgasse, fort von der Tür, drängend, erschrocken, panisch um genau zu sein… und das mit erstaunlicher Kraft für so eine kleine Frau. Colevar packt ihre Arme und hält sie ein Stück von sich weg, um in ihr Gesicht sehen zu können und in seinem Magen ballt sich ein Klumpen Eis. "Was ist passiert? Ist etwas mit Lía?" Sie schüttelt den Kopf und nickt gleichzeitig, tastet nach seinem Gesicht, hält es fest und holt Luft - am liebsten hätte er sie geschüttelt.  >Du musst gehen, Colevar.< Die Furcht in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, dennoch versteht er im allerersten Augenblick kein Wort.

"Was?!" Er lässt sie so abrupt los, dass sie fast gegen ihn taumelt, aber sie schnappt sich die Aufschläge an seinem Hemdkragen und hält ihn fest. >Sofort! Ohne Vorräte, ohne Plunder, ohne Abschied!< Fordert sie ebenso atemlos wie verzweifelt, und er weiß, was sie sagen wird, noch bevor sie es ausspricht – Riku ist hier. "Nein…"
>Wer auch immer dich verfolgt, hat dich eingeholt und wenn du nicht auf der Stelle verschwindest, werden sie uns alle finden und dann wird… wird…< sie ringt um Fassung, um Worte, die ihr sperrig wie ein Balken in der Kehle zu sitzen scheinen und diesmal schüttelt er sie wirklich. Ihr Blick ist benommen, weit weg, ihr Gesicht verzerrt vor Angst und ihre Haut so weiß wie ein Bettlaken. "Sag es mir!"
>…wird Lía sterben.<
"Was?" Er fährt zurück als habe sie ihn geschlagen und reißt sie mit der Bewegung fast von den Füßen, weil sie noch immer seinen Hemdkragen festhält. "Wovon zum Dunklen redest du?" Faucht er, dann kommt die Erkenntnis mit ihr das Entsetzen, das wie Säure in seine Adern schießt. "Hat er… oh Götter im Himmel… er hat Lía. Wo ist sie? Wo ist er?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 01. Mai 2010, 20:03 Uhr
Als er ruckartig vor ihr und ihren Worten zurückschreckt verliert sie für einen Augenblick den Boden unter den Füssen und stolpert beinahe gegen seine Brust. “Wovon zum Dunklen redest du?“ Ihr klappt die Kinnlade auf Halbmast. Wovon zum Dunklen ich rede? War ich eben nicht gerade deutlich genug?, schiesst es ihr durch den Kopf, dann schlägt sein Entsetzen über ihr zusammen, wie eine eiskalte Woge. "Hat er… oh Götter im Himmel… er hat Lía. Wo ist sie? Wo ist er?" Einen Herzschlag lang ist sie geneigt die Augenbrauen in die Höhen zu reissen und ihn aus offenem Mund mehr als verdutzt anzustarren, dann wird ihr schlagartig bewusst, dass er nicht die geringste Ahnung hat, wovon sie spricht – und woher sie diese Informationen hat. Oh gute Ahnen, er denkt… er glaubt… er hat keinen blassen Schimmer! Wäre die Situation nicht todernst, hätte Calait angefangen zu lachen. Stattdessen schüttelt sie heftig den Kopf und versichert so hektisch, wie atemlos: „Nein, Himmel, Colevar, er hat sie nicht. Er hat sie nicht.“ Flüchtig schnappt sie nach Luft und fügt wimmernd hinzu: „Noch nicht“, bevor sie seine aufsteigende Verwirrung mit einem kräftigen und entschiedenen Geste beiseite wischt und mit fester Stimme erklärt: „Ich habe das zweite Gesicht, Colevar. Visionen, Zukunftsträume, ich höre die Vorfahren sprechen, nenn es wie du willst, manchmal gewährt die höchste Mutter mir Einblick in das, was erst noch geschehen wird. Allerdings sind meine Künste in dieser Hinsicht so vage und unzuverlässig, wie… wie…“ Sie unterbricht sich selbst, denn wie gut oder schlecht ihre Voraussagungen sind, spielt in diesem Moment keine Rolle. Dieses eine Mal ist sie sich absolut sicher, dass ihre Fähigkeit sie nicht betrogen hat. Aber ich habe viel zu viel Zeit damit vertan, es zu merken. Gehetzt dreht sie den Kopf, um einen Blick über die Schulter zu werfen und merkt einmal mehr viel zu spät, wie unsinnig diese Bewegung ist. Doch aus Richtung der Tür dringt kein Geräusch. Keine Schritte, kein Gelächter, kein Schaben von Stoff auf Holz oder Stein. Nur das unruhige Schnauben der Pferde, Colevars Atmung und das Rasen ihres eigenen Herzens ist zu hören. Noch etwas fester krallen sich ihre Finger in den Kragen seines Hemdes, als sie sich weniger als einen Wimpernschlag gönnt, um ihre Gedanken zu ordnen. Neunundneunzig von Hundert möglichen Besuchen in der Welt dessen, was noch kommen wird, sind lediglich Möglichkeiten, Wünsche, Hoffnungen, Ängste. Nur einmal in soviel Zeit kommt es vor, dass Ealara Calait wirklich einen kurzen Einblick in die Zukunft gewährt. Hätte Lía es doch nur auch gesehen. Dann hätten wir sofort gewusst, dass es so kommen wird. Denn so launisch und unzuverlässig die Visionen bei der einen Schwester sind, so glaubwürdig und absolut bindend sind sie es bei der anderen, die sich leider nur nie mit dieser Gabe bemüht, weil sie sich nicht in die Geschicke Ealaras, der Geister und ihrer Ahnen, beziehungsweise Nachfahren einmischen möchte.

Die Unglaubwürdigkeit ihrer wirren Erzählungen steht wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen und sie kann seine Unsicherheit spüren – und hätte sie vielleicht sogar geschätzt, wenn nicht das Leben ihrer Schwester dabei auf dem Spiel stünde. „Verdammt nochmals, Colevar“, ruft sie aus und Tränen der Verzweiflung schiessen ihr in die Augen: „Wenn du bleibst, wenn du auf sie wartest, dann… dann wird er…“ Er versteht es einfach nicht. Er begreift nicht, was ich ihm sage. Wild hämmert ihr Herz gegen ihre Rippen und vor lauter Verzweiflung und Panik lacht sie leise. Es ist ein hysterischer, abgehackter Laut, der nichts Warmes oder Freundliches mehr an sich hat. Gute Geister, reiss dich zusammen, Calait! Er braucht dich jetzt. Er muss es verstehen. Alles, sonst wird seine Ungläubigkeit unser Tod, ruft sie sich innerlich scharf zur Vernunft und atmet langsam und tief ein und aus, einmal, zweimal, bevor sie schwer und mit rauer Kehle berichtet, was ihnen allen in ihrer Vision widerfahren ist: „…wird er sehen, wie du sie in den Arm nimmst. Er wird in der Dunkelheit stehen, den Abschied mitverfolgen und dann, wenn du dich gerade von ihr abgewendet und auf Filidhs Rücken gesetzt hast, wird er hinter ihr auftauchen wie ein böser Geist. Ich werde ihn nicht hören und erst recht nicht kommen sehen. Auch seine Männer nicht, die sich wie Dämonen aus den Schatten schälen. Er sagt etwas zu dir, ich weiss nicht was, aber die Klinge an Lías Hals zwingt dich abzusitzen. Sie wimmert leise, bittet dich aus grossen Augen dein Heil in der Flucht zu suchen… aber du bleibst und tust, was er von dir verlangt und in dem Moment, wo du deine Waffe ablegst, wirst du nieder geschlagen. Du erwachst erst wieder, als Lía schreit. Ich kann nicht schreien, kann mich nicht bewegen, denn sie haben mich geknebelt und gefesselt. Ich kann nur dasitzen und mitanhören, wie er dich quält, indem er Lía foltert. Es ist ein Spiel für ihn und er geniesst es in vollen Zügen, bis zum letzten Atemzug…“ Erstickt presst sie eine Faust zwischen ihre Zähne und schluchzt leise, als sie wieder und wieder das beinahe sanfte und unglaublich hässliche Knirschen von Lías Genick hört und sich realisiert, dass es, wenn sie nichts tun, kein Traum bleiben wird. „So wird es geschehen, wenn du bis heute Abend bleibst und dich von ihr verabschiedest. Und deswegen“, es ist längst keine Bitte mehr, sondern ein Befehl, wenn auch ein schwacher: „musst du jetzt gehen. Wenn sie deinetwegen stirbt, werde ich dir das eben so wenig verzeihen, wie du dir selbst.“ Und mir auch nicht.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Lia am 02. Mai 2010, 16:34 Uhr
Schmunzelnd folgt Lía Colevar zur Hintertür des Gasthauses und noch bevor sie die Tür durchschreitet ahnt sie, dass ihre Schwester sich mal wieder selbst übertroffen hat. Es ist erstaunlich; außer Calait schafft es wohl keine Menschenseele so schnell so viele Menschen für sich zu gewinnen – und das mit nichts weiter als ihrer wundervollen, dunklen Stimme. Die Tatsache, dass sie allerdings zu diesem Zeitpunkt ein solches Spektakel veranstaltet wo sie doch die letzten Wochen über immer wieder zur Vorsicht gemahnt hat lässt bei Lía die Frage aufkommen was um alles in der Welt sie nun wieder angestellt hat, dass sie so plötzlich jegliche Vorsicht fahren lässt. Kurz taucht das Bild eines zufrieden schmatzenden Nimmersatts vor ihrem inneren Auge auf und sie schüttelt seufzend den Kopf. Sie liebt den kleinen Fresssack abgöttisch, dass er sie am laufenden Band in Teufels Küche bringt allerdings eher weniger – nicht, dass die Schwestern das nicht auch gut selbst bewerkstelligen konnten. Im Grunde genommen hat ihre große Schwester wohl das schwerste Los, denn Lía selbst sorgt ebenfalls immer wieder für Ärger indem sie alles und jedem offen und hilfsbereit begegnet; leider bedeutet das eben auch ab und zu kleine krummbeinige Fohlen zu stehlen…Der eigentliche Besitzer war darüber mehr als einfach nur erbost gewesen und obwohl Lía niemals bewusst etwas rechtswidriges tun würde hatte sie sich in diesem bestimmten Fall eisern dagegen gewehrt das Tier zurückzugeben und somit in den sicheren Tod zu schicken. Dann fällt ihr Blick auch schon auf Colevars steinerne Miene und im gleichen Augenblick wird ihr klar, dass diese neue Entwicklung der Dinge ihm so gar nicht schmecken will. Natürlich kann sie ihn verstehen, denn sie mag zwar jung sein und ein völlig anderes Leben führen als er, aber sie ist nicht dumm, sie weiß durchaus um die Gefahr, was allerdings nicht bedeutet, dass sie auch mit der gebotenen Vorsicht handelt, denn in derlei Dingen hat sie eben ihre eigene Meinung und vertritt diese stur.
„Hallo Elyas“, begrüßt sie den jungen Mann der ihr freudig entgegenstrahlt und ihr wild fuchtelnd zu verstehen gibt, dass sie sich doch endlich zu ihm und ihrer Schwester gesellen soll. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen bei diesen Worten, welches sich jedoch etwas irritiert zu verlieren beginnt, als er plötzlich wie auf ein stummes Zeichen einige Schritte vor ihr zurückweicht. Intuitiv wandert Lías Blick zurück zu Calait und kurz kommt bei ihr die Frage auf was diese dem armen Jungen wohl zugeraunt haben mag, dass er jetzt vor ihr zurückweicht. Obwohl sie weiß, dass er nur auf fremdes Einwirken hin so reagiert kann sie nicht umhin etwas betrübt auszusehen. Schon immer hat sie äußerst sensibel auf ihr Umfeld reagiert und ganz besonders abweisende Haltung trifft sie schwer. Es ist nicht etwa so, dass sie unbedingt von jedem geliebt werden will, aber sie hat oft genug mit ansehen müssen wo eine solche Haltung enden kann. Wie soll sie es jemals vergessen nach allem was man Calait angetan hat?

Wortlos lässt sie sich von Colevar neben ihre Schwester auf den Tresen heben und schließt die Augen als er für einen viel zu kurzen Moment seine Wange an ihre legt. Wie von selbst finden ihre kleinen, zerbrechlich wirkenden Hände den Weg zu seiner Wange und berühren ihn sanft. „Ich gehe und halte Wache. Wenn dieses… Spektakel hier vorbei ist, dann geh mit Calait. Schlaf bei ihr. Nehmt die Hunde und Louan mit euch aufs Zimmer und verriegelt die Tür. Öffnet niemandem, geht nicht auf den Abtritt und sucht keine vermissten Trolde oder ähnliches. Ihr bleibt wo ihr seid bis ich euch hole. Verstanden? Lía, hast du mich verstanden?" Ein schlichtes Nicken ist alles was er zur Antwort erhält derweil ihre Finger sacht durch seine langen, blonden Haare gleiten. Wieder einmal wird ihr schmerzhaft bewusst in welche Gefahr sie Colevar bringen. Immer wieder machen sie ihm einen Strich durch die Rechnung, zwar ungewollt, aber dafür mir solcher Zielsicherheit als hätten sie es nur darauf abgesehen. Schließlich ergibt sie sich mit einem lautlosen Seufzen in ihr Schicksal, nimmt die Flöte entgegen und fällt fast augenblicklich in Calaits Gesang mit ein. Anders als ihre große Schwester behagt es ihr ganz und gar nicht so dermaßen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, weshalb sie das Singen ebenso wie das Tanzen meistens Calait überlässt. Zwar steht sie steht sie ihrer Schwester in Punkto Talent in nichts nach, allerdings mangelt es ihr am nötigen Mut und Selbstbewusstsein. Von klein auf hat Lía es schon vorgezogen ihrer Schwester einfach nur zuzusehen während sie sich mit dem Spielen der Instrumente im Hintergrund begnügt – nur Calait wird immer wieder Zeuge davon wie gern und wunderschön die Jüngere im Grunde singen kann. Lía kann nicht sagen wie viel Zeit vergangen ist bis sich die Menschenmenge in der Schankstube endlich langsam zu verlieren beginnt und auch der zufriedene Wirt die Mädchen endlich entlässt. Durch die Fenster stehlen sich bereits die ersten fahlen Lichtstrahlen einer blassen Morgensonne, die immer noch mit grauen, bauschigen Wolken zu kämpfen hat als Lía müde neben Calait die Stufen zu ihrem Zimmer hoch torkelt. Obwohl sie hört wie die Ältere neben ihr müde etwas vor sich hernuschelt ist ihr Verstand bereits zu sehr von der Müdigkeit vernebelt als dass sie sich noch wirklich auf die Worte konzentrieren könnte. Als sie schließlich endlich ihr Zimmer erreichen ohne irgendwo auf dem Weg eingeschlafen zu sein lockt das weiche Bett sie mit seinem Versprechen von süßem, wohligen Schlaf viel zu sehr, so dass sie sich gar nicht mehr die Mühe macht sich ihrer Kleider zu entledigen und noch bevor ihr Kopf gänzlich das Kissen berührt ist sie auch schon eingeschlafen. Obwohl sie tief und fest schläft spürt sie die Veränderung in Calaits Gefühlswelt was sie instinktiv dazu bringt ihre Nähe zu suchen um ihr Trost zu spenden ohne wirklich dabei aufzuwachen. Erst Colevars hartnäckigem Klopfen gelingt Stunden später das kleine Kunststück sie aus ihrem tiefen Schlaf zu reißen. Sich den Schlaf aus dem Augen blinzelnd rappelt sie sich unter all den Decken auf und brummelt ein „Guten Morgen“ in Richtung Tür, erst als sie Colevar erblickt beeilt sie sich ihrer eher dürftigen Begrüßung ein warmes Lächeln hinterherzuschicken. Obwohl sie der Unterhaltung zwischen ihm und Calait bisher nur mit halben Ohr gefolgt ist hört sie deutlich heraus, dass er nicht unnötig Zeit verlieren will. Sie ist also auf den Beinen noch bevor Calait auch nur die Tür wieder ins Schloss gedrückt hat. Tatsächlich dauert es nur knapp eine halbe Stunde bis sie ihre Katzenwäsche erledigt, sich umgezogen und in aller Eile ein spärliches Frühstück hinuntergeschlungen haben.

Erneut reisen sie in Richtung Süden und auch diesmal werden weder Tiere noch Reiter geschont, die einzigen Verschnaufpausen die sie sich gönnen sind die kurzen Momente in denen sie sich vor anderen Reisenden oder Bauern im Unterholz verbergen. Colevar ist ungewöhnlich schweigsam und Lía nimmt dies schweigend zur Kenntnis und akzeptiert es. Sie begegnet ihm ebenso herzlich und sanft wie immer, allerdings respektiert sie einen gewissen Abstand. Sie überlässt es ihm ob er diesen Abstand wahren will oder ihn überbrücken; ihr gesamtes Verhalten lässt daran keinen Zweifel. Es dauert nicht lange bis erneuter Regenfall ihre Reise nicht nur für Mensch, sondern auch für die Pferde weit unangenehmer macht als sie es ohnehin schon ist. Sehnsüchtig sucht Lías Blick immer wieder den Himmel nach Skar ab und wünscht sich sie könnte mit ihm fliegen anstatt sich auf einem Pferd den Hintern wund sitzen zu müssen. Sie brauchen fast einen ganzen Siebentag lang um Falkenwacht zu erreichen, doch kaum tauchen die hohen Mauern und die bunten Wimpel vor ihnen auf wünscht Lía sich plötzlich die Stadt möge am anderen Ende von Rohas Rund liegen. Die Trennung wird jetzt viel zu schnell kommen…So gut es geht verscheucht sie diese und ähnliche trüben Gedanken, dreht sich im Sattel um und berichtet Calait, dass sie ihr Ziel erreicht haben, dabei gelingt es ihr sogar den bekümmerten Ton aus ihrer Stimme herauszuhalten und tatsächlich scheint ihre Schwester nicht zu merken, was sich wirklich hinter ihren Worten verbirgt. Oder aber sie lässt es sich nicht anmerken – was auch immer der Fall sein mag, Lía ist in diesem Moment dankbar dafür.

Die kurze Zeit die ihr noch mit Colevar bleibt steht scheinbar unter einem schlechten Stern, denn kaum haben die drei das Gasthaus betreten, tritt auch schon eine aschfahle Schankmaid an ihren Tisch und will trotz ihres erbärmlichen Zustandes ihre Bestellung aufnehmen. Ein Umstand den Lía einfach nicht ignorieren kann, doch noch bevor sie auch nur ihre Hilfe anbieten kann kommt Calait ihr auch schon zuvor. Die folgende Nacht verbringt Lía ebenso wie die darauffolgenden Tage an der Seite ihrer Patienten und obwohl sich die meisten von ihnen rasch erholen wirft sie der Verlust eines sympathischen alten Greises kurzzeitig aus der Bahn, als am Tag darauf dann auch noch die kleine Kurai in ihren Armen stirbt braucht es Calaits und Colevars gemeinsamen Kräfte um die am Boden zerstörte Lía durch die Nacht zu trösten, nur damit sie sich am nächsten Tag mit gesteigertem Eifer an die Arbeit machen kann. Schon ihre Großmutter hatte ihr früher immer wieder gesagt sie dürfe sich nicht jeden Verlust so zu Herzen nehmen, das war ein Luxus den man sich als Heilerin einfach nicht leisten konnte und dennoch hat Lía diese Eigenschaft nie ablegen können selbst wenn sie es gewollt hätte.

Lía hatte das Gasthaus schon am frühen Morgen verlassen um einen weiteren Patienten zu versorgen – wieder ein Kind. Es tut ihr in der Seele weh wenn sie daran denkt wie der arme Junge sich gepeinigt vom Fieber in seinem kleinen Bettchen herumgewälzt hatte. Ihre Abwesenheit hat wesentlich länger gedauert als vorerst angenommen, aber sie war nicht von seiner Seite gewichen bis sein Fieber wenigstens etwas nachgelassen hatte und er friedlich eingeschlafen war. Mittlerweile ist der Morgen weit fortgeschritten und ganz Falkenwacht scheint auf den Straßen zu sein. Genau wie ihr Luchs ist auch Lía diese Menschenmenge nicht so ganz geheuer und sie merkt wie die Unruhe ihres Schutztieres immer mehr auf sie übergeht; vor allem jetzt, da sie vorerst alle Patienten versorgt und somit genug Zeit hat um über einige Dinge nachzudenken. Unschöne Dinge. Zum Beispiel Dinge wie der unvermeidliche Abschied von Colevar, oder der Gedanke daran, was wohl passieren wird, wenn ihn seine Häscher doch noch einholen…Wenn sie hier auftauchen und ihm oder Calait etwas zustößt. All die Zeit hat er sich so um ihre Sicherheit bemüht und dennoch hat die Angst sie nie ganz losgelassen. Seit Tagen verspürt sie eine dunkle Vorahnung, weshalb sie sich in den letzten Tagen noch mehr als sonst darauf konzentriert hat ihre seherischen Fähigkeiten unter Verschluss zu halten. Zwar hat sie ihre Fähigkeiten nie als Fluch angesehen, allerdings hätte sie auch gut darauf verzichten können. Genau wie Calait war es auch ihr nicht immer möglich sich ganz zu verschließen, was vor allem in ihrer Kindheit oft für Tränen gesorgt hatte. Doch mit der Hilfe ihrer Großmutter und Calaits ständigem Drängen sich mit ihren hellseherischen Fähigkeiten zu beschäftigen, ist es ihr im Laufe der Zeit gelungen sie mehr oder weniger kontrollieren zu lernen. Allerdings greift sie nur in sehr seltenen Fällen und auch nur äußerst widerwillig bewusst auf sie zurück, da sie nie weiß, was sich ihr offenbaren wird. Und manche Dinge bleiben nun mal besser im Verborgenen oder gehen sie auch einfach schlicht nichts an. Durch die Strapazen der letzten Wochen und dem Gefühlschaos das in ihr tobt sind ihre Mauern schwächer geworden und sie spürt immer wieder wie Ahnungen zu ihr durchsickern – ein deutliches Zeichen, dass ihr Schutzwall drauf und dran ist zu brechen. Es ist die feuchte Nase ihres Luchses die sie aus ihren Grübeleien zurück in die Realität holt. Ohne weiter darüber nachzudenken bleibt sie mitten im Schritt stehen und blinzelt verwirrt zu Louan hinab. „Was-„, weiter kommt sie nicht, denn keine Sekunde später läuft ein stämmiger Bursche von vielleicht 12 Jahren in sie hinein und das mit einer solchen Wucht, dass sie das Gleichgewicht verliert und ziemlich unelegant vor den Karren eines Händlers fällt. Dieser schafft es gerade noch rechtzeitig seinen Wagen zum Stehen zu bringen und schon im nächsten Augenblick prasseln abwechselnd Flüche und Fragen ob sie in Ordnung sei auf sie hinab. Bevor sie auch nur weiß wie ihr geschieht ist Louan mit einem Satz bei ihr und sorgt mit einem kehligen Knurren dafür, dass die Umstehenden einige Schritte zurückweichen bevor er seinem Schützling einen Blick zuwirft als wolle er sagen ‚Nun mach schon! Komm auf die Beine und sieh zu, dass du wieder zu den anderen kommst’ Sich immer wieder entschuldigend rappelt sie sich also schließlich auf und ist im nächsten Augenblick auch schon samt Luchs in der Menge verschwunden. Allerdings kommt sie nicht weit, denn unweit der Stelle an der sie eben für den ganzen Trubel gesorgt hat wartet eine der Schankmaiden aus dem Gasthaus auf sie. Schnell weicht ihr verdutzter Ausdruck Sorge und wandelt sich schließlich in pure Entschlossenheit, als sie auf das Mädchen zugeht. „Was tust du hier? Du sollst dich doch ausruhen“, tadelt sie das Mädchen und berührt sie leicht am Arm. „Du hast Fieber“, stellt sie leise fest und blickt ihr in die trüben blass-grauen Augen. Das ist nicht gut…. Jedoch scheint das junge Mädchen sie gar nicht zu hören. „Sie suchen nach euch“, flüstert Malika, die zweitjüngste Tochter des Wirtes. „Ich weiß nicht wer sie sind, aber sie sind gefährlich – bitte, ihr müsst fort!“ Malika ergreift Lías narbige Hände und ein fast flehender Ausdruck tritt in ihre Augen. „Sie suchen nach uns?“, wiederholt Lía langsam, so als wäre sie nicht sicher, ob sie die Jüngere richtig verstanden hat. „Wo sind Colevar und meine Schwester?“ Ohne der Schankmaid auch nur Zeit zum Antworten zu geben, hat Lía sie auch schon gepackt und schlängelt sich durch die ihr entgegenkommende Menschenmasse.

Geräuschlos schiebt sie die Tür auf und schlüpft in das Halbdunkel des Pferdestalls, wo sie in einigen Schritt Entfernung die beiden anderen ausmachen kann - und bleibt wie angewurzelt stehen, als ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzieht, weil sie sich Calaits panischer Angst gewahr wird. Sie nimmt sie so deutlich wahr, als wäre es ihre eigene und für einen kurzen Moment droht sie das Gefühl einfach mitzureißen. Instinktiv greift sie nach dem knorrigen Holzbalken zu ihrer rechten und merkt gar nicht wie sich ihre Finger so fest in das raue Holz krallen, dass sich einige Splitter tief in ihre Haut bohren und helles, klebriges Blut aus den Wunden zu rinnen beginnt. Unfähig etwas zu sagen oder sich auch nur zu bewegen ist sie gezwungen mit anzusehen, wie Calait ihren schlimmsten Albtraum bis ins letzte Detail ausführt. Lías Herz blutet für ihre Schwester und Colevar, der zwar mit vielem gerechnet haben mag, aber sicher nicht mit Calaits Visionen… Das war es also gewesen was Calait so mitgenommen hatte und sie ihr nicht hatte anvertrauen wollen. Hätte sie es doch nur getan! Oh, Calait….warum hast du nur geschwiegen? Warum hast du diese Bürde ganz allein getragen? Warum hast du nichts gesagt…. In ihre Sorge mischen sich schließlich Schuldgefühle, Schuld daran, dass sie es nicht gemerkt, ja, nicht gewusst hatte! Sie hätte es besser wissen müssen – wie hatte sie nur so blind sein können?! Während Lía sich mit Selbstvorwürfen quält, ist Calait in der Zwischenzeit immer noch dabei zu beschreiben, was sie gesehen hat und Lía spürt wie ihr Herz einige Schläge aussetzt, nur um dann plötzlich in halsbrecherischem Tempo in ihrer Brust los zu hämmern. Sie hat Angst. Angst vor dem, was sie hört, aber noch viel größer ist die Angst vor dem, was diese Vision bedeutet. Für sie. Für Colevar. Mit dieser Erkenntnis fällt augenblicklich die Starre von ihr ab und ohne auch nur ein Wort zu sagen oder zu versuchen ihre Gedanken zu ordnen, stürmt sie los und kracht mit solcher Wucht gegen ihre Schwester, dass sie diese wohl umgerannt hätte, hätte sie nicht ihre Arme von hinten so fest um die Ältere geschlungen, dass Calait sich gar nicht mehr rühren kann. Für einen kurzen Augenblick tut sie nichts anderes, als die Ältere einfach nur festzuhalten und so fest an sich zu drücken wie sie es wagen kann ohne Gefahr zu laufen Calait wehzutun. „Ich bin hier. Es ist in Ordnung. Ich bin hier. Es ist alles in Ordnung…“ Immer und immer wieder wiederholt sie diese Worte und vergräbt ihr Gesicht in den weichen, dunklen Locken der Älteren. „Mir wird nichts passieren. Ich lass dich nicht allein. Niemals.“ Als sie schließlich den Blick hebt und zu Colevar hinaufblickt, rinnen unaufhaltsam dicke Tränen über ihr Gesicht und obwohl ihre Stimme den gleichen sanften, ruhigen Ton hat verraten ihre Augen den Schmerz tief in ihrem Inneren. Calait darf ihn nicht wegschicken. Nicht so. Nicht ohne Abschied. Das darf sie einfach nicht. Obwohl ihre Schwester sie nur beschützen will, kann sie dennoch nicht wirklich fassen, dass sie ihn einfach so fortlassen wollte. Weiß sie denn nicht….ahnt sie denn nicht…dass Lía dem Schmerz einer solchen Trennung einfach nicht gewachsen gewesen wäre? Vorsichtig löst sie sich schließlich von Calait, tritt an ihr vorbei und auf Colevar zu. Gern würde sie etwas sagen, aber sie bringt keinen Ton hervor. Alles was sie tun kann, ist deutlich um Fassung ringend zu ihm aufzublicken. Sie spürt wie bei dem Gedanken daran, dass er sie jetzt verlassen wird, etwas in ihr klirrend zu Bruch geht und fast glaubt sie, dass die anderen beiden es hören müssen, aber als sie den Kopf hebt und ihm tapfer in die Augen sieht, gelingt es ihr die Tränen zurückzuhalten, auch wenn sie das Gefühl hat, an ihnen ersticken zu müssen. Sie wird den Dunklen tun und es ihm unnötig schwerer machen als es ohnehin schon ist. Colevar sieht sie ebenso schweigend an wie sie ihn und ein einziger Blick in seine Augen verrät ihr was gerade in ihm vorgeht. Es ist genau dieser Umstand der sie dazu veranlasst, sich in seine Arme zu werfen und ihre Finger graben sich so fest in seinen Rücken als gelte es das liebe Leben. Es kostet sie ihre gesamte Selbstbeherrschung ihn nicht zu bitten nicht zu gehen, denn sie weiß sehr wohl, dass es ihm ebenso schwer fällt wie ihr. Lía gehört nicht zu jenen Menschen, die eigennützig um etwas bitten und doch schreit jede Faser ihres Köpers danach ihn nicht gehen zu lassen. „Colevar…“, ihre Selbstbeherrschung ist längst dahin und alles was sie noch tun kann, ist sich mit der Kraft der Verzweiflung an ihn zu schmiegen, während ihr Innerstes gefriert. Sie kann das nicht. Sie kann ihn nicht loslassen. Sie will diese Trennung nicht. Sie erinnert sich an ihre eigenen Worte: ‚Wenn es soweit ist, dann musst du gehen’. Damals hatte sie geglaubt sie würde den Abschied ertragen, doch nun steht sie hier und sieht sich mit genau dieser Situation konfrontiert. Die Erkenntnis trifft sie wie ein Keulenschlag. „Denk an unser Versprechen“, schluchzt sie hilflos an seiner Brust und ohne es zu merken krallen sich ihre Finger in den rauen Stoff seines Hemdes. Ihr würde nichts passieren, sie hatte ihm versprochen, sie würde ihm folgen und ihn finden…sie würde nicht zulassen, dass jemand sie daran hinderte ihr Wort zu halten. Es gibt so unglaublich viel was sie ihm sagen will, ihm sagen muss – aber sie schweigt. Lía bringt es einfach nicht fertig diese Dinge auszusprechen nur um ihm dann zusehen zu müssen, wie er für lange Zeit aus ihrem Leben verschwinden wird. „Colevar…“, wiederholt sie noch einmal und hebt langsam den Blick. Es reicht ihr mit den Abschieden, wie oft muss sie sich noch von Menschen trennen die sie liebt? Wie oft muss sie diesen Schmerz noch ertragen? Wie oft kann sie ihr Herz noch auf diese Probe stellen? Warum muss sie die Menschen, die sie liebt immer verlassen? „Es wird nicht passieren. Ich werde es nicht zulassen.“ Ihre Stimme ist so leise, dass sie nicht sicher ist, ob er ihr Versprechen hört, aber plötzlich liegt noch etwas anderes als Schmerz in ihrem Blick; nämlich wilde Entschlossenheit.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 02. Mai 2010, 20:19 Uhr
Calait starrt ihn an, als hätte er den Verstand verloren und für den Bruchteil einer Sekunde lang sieht sie aus, als wolle sie gleich in irres Gelächter ausbrechen. Sie öffnet den Mund und er will sie schon aufhalten – sie darf nicht aussprechen, was er fürchtet zu hören, sie darf die Worte nicht sagen, die die Rest seines Lebens zerstören würden, aber dann schüttelt sie heftig den Kopf. >Nein, Himmel, Colevar, er hat sie nicht. Er hat sie nicht!< Hört er sie sagen und versteht genauso viel als würde sie von fliegenden blauen Schafen am Himmel reden, nämlich gar nichts mehr. >Noch nicht.<
"Was zum…" setzt er an, doch sie schneidet ihm mit einer harschen Geste das Wort ab und sprudelt ebenso hastig wie eindringlich hervor, sie habe das zweite Gesicht. >Visionen, Zukunftsträume, ich höre die Vorfahren sprechen, nenn es wie du willst, manchmal gewährt die höchste Mutter mir Einblick in das, was erst noch geschehen wird.<
"Das zweite Gesicht," echot er dumpf und es ist keine Frage, doch kaum hat Calait ihm die Antwort geliefert, woher ihr Wissen um Lías Verderben stammt, streut sie im gleichen Atemzug kräftig Zweifel über die Zuverlässigkeit ihrer besonderen Gabe. Er kommt jedoch überhaupt nicht dazu, in dieselbe Kerbe zu schlagen oder auch nur eine einzige der tausend Fragen zu Lías Schicksal, seiner Abwendbarkeit oder Calaits Glaubwürdigkeit und der Wahrheit ihrer Worte zu stellen, die ihm augenblicklich auf der Zunge brennen, denn Calait lässt ihn nicht einmal Luft holen. >Verdammt nochmals, Colevar. Wenn du bleibst, wenn du auf sie wartest, dann… dann wird er…< Einen Moment lang lacht sie wirklich, ein hysterisches Geräusch irgendwo zwischen Grauen und Verzweiflung, bis er sie noch einmal schüttelt. Am liebsten hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst, um sie zur Besinnung zu bringen, aber angesichts ihrer soliden Panik klingt er bei aller Bestimmtheit beinahe  sanft, als er fordert: "Reiß dich zusammen, Calait. Atmen. Langsam. Und jetzt sag es mir."
Sie erzählt es ihm, erzählt ihm alles, was sie in ihrer Vision gesehen hat und mit jedem ihrer Worte wird die Welt ein Stück kälter, während Frost in seinen Körper fällt und fällt, bis sein Inneres vollkommen taub und gefühllos geworden ist, als wäre er vom Hals bis zu den Fußsohlen völlig zu Eis erstarrt. Er kann ihr noch nicht einmal sagen, dass das niemals, niemals geschehen würde, weil sich weder Riku noch irgendeiner seiner Männer unbemerkt an ihn anschleichen kann, das hatten sie während ihres langen Katz-und-Maus-Spielchens oft genug versucht und es war ihnen nie gelungen. Irgendwo ist ein Fehler in ihren Gedanken, in ihrer Vision. Irgendetwas ist falsch, vollkommen falsch, aber er kann nicht sagen was und er muss ihr glauben, denn ihre Angst, ihr Entsetzen und ihr Schrecken sind echt. Ob es wahr ist oder nicht, sie glaubt, was sie sagt.
>So wird es geschehen, wenn du bis heute Abend bleibst und dich von ihr verabschiedest. Und deswegen musst du jetzt gehen. Wenn sie deinetwegen stirbt, werde ich dir das eben so wenig verzeihen, wie du dir selbst.<

Er lässt ihre Arme los, die er gepackt gehalten hatte ohne es zu bemerken und zwingt seine gefühllosen Füße einen Schritt zurück. Was Calait ihm verzeihen würde oder nicht ist ihm vollkommen gleich, aber Lías Leben und ihre Sicherheit sind wichtiger als alles andere. Colevars Blick ist dunkel und so leer geworden, dass er nichts mehr hält. "Lía wird nicht sterben", hört er sich selbst sagen und es klingt so rau und erstickt, als habe er rostige Nägel im Hals stecken. Kein Abschied, keine letzte Umarmung, keine Worte, die den Abgrund, der sich in den letzten Tagen zwischen ihnen aufgetan hatte vielleicht wieder überbrücken und den Geist des Zweifels wieder bannen und zur Ruhe legen würden, sondern ein glatter Bruch - Lía würde ihm das nie verzeihen, nie. Aber sie wäre am Leben, flüstert es in seinen Gedanken. Und sicher. Er weiß, was er zu tun hat. Er wird gehen, sofort und ohne noch einen Atemzug länger zu zögern - und er würde dafür sorgen, dass Riku ihm auf dem Fuße aus der Stadt folgt. Calaits Worte haben in seinem Inneren etwas freigelassen, einen Schmerz, der sich kalt und immer kälter durch seine Eingeweide frisst, und dem er nichts entgegenzusetzen hat. Er nimmt ihm jede Luft zum atmen ebenso wie all seine Sinne, denn plötzlich steht Lía vor ihm und klebt an einer zu Tode erschrockenen Calait, die sie genauso wenig hatte kommen hören, sehen oder fühlen wie er. >Ich bin hier. Es ist in Ordnung. Ich bin hier. Es ist alles in Ordnung…< hört er sie flüstern, wieder und wieder wie eine Beschwörungsformel, während Calait in einer rührenden Mischung aus Verzweiflung, Resignation, Hilflosigkeit und Verwirrung den Kopf schüttelt und sich an ihre Schwester klammert. Colevar starrt auf die beiden hinunter, schließt einen Moment die Augen und tritt noch einen Schritt zurück. Verschwinde! Hätte er am liebsten gebrüllt. Verschwinde, du darfst dich nicht verabschieden oder du wirst sterben! Sterben! Du solltest nicht einmal hier sein! Aber weder seine erstarrter Mund, noch seine Stimme gehorchen ihm, und als er die Augen wieder öffnet, sieht Lía ihn an und ihre Rehkitzaugen schwimmen in Tränen. Er hört sein Herz im selben Augenblick brechen wie ihres, ein dumpfer, sauberer Laut... wie das Knacken eines brechenden Astes. Einen langen Augenblick sagt keiner von ihnen ein Wort, aber ihre Blicke halten einander fest,  bis das Schweigen und die Spannung unerträglich werden – im nächsten Moment liegt sie in seinen Armen und krallt ihre Finger in seinen Rücken. Er hält sie so fest, dass er ihre Rippen bedenklich knirschen hört und sie sicher nicht mehr atmen kann, aber das ist ihm gleich und ihr auch, denn sie presst sich so fest an ihn, wie sie nur kann. Dann hört er sie seinen Namen flüstern und das Verlangen, alles zu ignorieren, sie auf Filidhs Rücken zu setzen und mit ihr davonzureiten, irgendwo hin wo niemand sie fände, wird für ein paar atemlose Herzschläge schier übermächtig. >Colevar…<

"Nicht", unterbricht er sie und seine Stimme ist kaum mehr als ein tonloses Raspeln, so fremd, dass er sie selbst kaum erkennt. Dann stellt er sie auf ihre Füße zurück ohne sie loszulassen und birgt ihren Kopf an seiner Brust. "Sag es nicht, Sommersprosse. Nicht so, nicht wenn ich dich verlassen soll. Sag es und mein es, wenn ich dich wiedergefunden habe."
>Denk an unser Versprechen!< Fordert sie und er nickt langsam, als koste ihn die Bewegung ungeheure Anstrengung. "An nichts anderes, Lía."
>Colevar…< Sie hebt Kopf und Blick und sieht ihn an. Er streicht das Haar aus ihrem Gesicht, nimmt es in beide Hände und fängt ihre Tränen mit den Fingern auf. Es ist still geworden im Halbdunkel des Stalles, als hielten selbst die Tiere ringsum inne – kein Stroh raschelt mehr, kein mahlendes Kaugeräusch ist zu vernehmen, nur Lías Atem, der mit jedem Zug kostbarer wird. "Ich komme zurück und ich werde dich finden, hörst du? Also lass nicht zu, dass dich irgendetwas vom Weg abbringt."
>Es wird nicht passieren. Ich werde es nicht zulassen,< wispert sie kaum hörbar, aber fest entschlossen und auch in ihren Augen zeigt sich neben der Verzweiflung nun etwas von dem feinen, harten Kern im Innersten ihres Wesen. Gut. Er hört Calait hinter ihnen rumoren – irgendwie hatte sie es geschafft, sich unbemerkt von ihrer Seite zu stehlen und sein Pferd zu satteln, jetzt führt sie den grauweißen Fryslâner die Stallgasse entlang und auf ihrem Gesicht streiten sich Mitgefühl und Sorge um den besten Platz. Irgendwie bringt Colevar so etwas wie die Grimasse eines wehmütigen Lächelns zustande, als er Calait die Zügel aus der Hand nimmt. Dann wendet er sich an Lías Schwester ohne seinen Blick auch nur einmal von dem schmalen, verweinten Gesicht zu nehmen, das unverwandt zu seinem erhoben ist und dessen Augen ihn ebenso wenig loslassen. "Ich lasse euch Mistress Grau und das Packpferd hier. Verkauft die Stute, sobald ihr euren Wagen wieder habt, denn ihr werdet das Geld für die Reise brauchen. Lass es dir nicht von ihr ausreden, aye? Sorg dafür, dass ihr immer sicher seid. Seht zu, dass ihr vor dem ersten Schnee noch bis Skjerna kommt und überwintert in den Rhaínlanden. Dem Wirt des Rabenkopfs in Skjerna könnt ihr trauen, er wird euch nicht übervorteilen. Die Katze… sie… sie  kann für Louan jagen, aber ich will sie wiederhaben, also passt gut auf sie auf, aye?" Er sieht Calaits wortloses Nicken nur aus den Augenwinkeln, aber das genügt ihm – sie würde für alles sorgen, das weiß er. Dann ist alles gesagt und es bleibt nichts mehr zu tun… der Augenblick des Abschieds ist gekommen, doch weder Lía noch er wissen, wie sie Abschied nehmen sollen. Schließlich löst er mit einem traurigen Lächeln ihre klammen Hände aus seinem Hemd, spürt ihr Zittern, streicht ihr noch einmal übers Gesicht und schiebt sie entschlossen ein Stück von sich, aber nur, um sie gleich darauf noch einmal an sich zu ziehen. Er hebt er sie ein Stück vom Boden und küsst sie, kurz und heftig. "Ich muss fort", flüstert er in ihren Mund, setzt sie ab und steigt in den Sattel. Kein Schmuggler tritt aus den Schatten und greift sie an, kein Arvo löst sich aus dem Verborgenen, niemand außer ihnen ist hier. Vielleicht hatte Calait das Schicksal, das sie in ihrer Vision gesehen hatte, schon allein dadurch abgewandt, dass sie es ihm erzählt hatte, er weiß es nicht.

"Geh. Geh! Versteckt euch hier drin und lasst euch nicht blicken bis er fort ist!" Calait begreift sofort, was er vorhat und eilt, um ihm das Tor zum Hof von Mannagarms Amboss zu öffnen. Er kann die abgehetzt aussehenden Pferde von Rikus Männern an der Tränke vor dem Gasthaus angebunden sehen und verliert keine Zeit mehr. Er weiß genau, noch ein einziger Blick zurück und er wird niemals mehr gehen - Lía verschwindet im Halbdunkel des Stalls und mit ihr alles, was ihn einmal ausgemacht hat. Dann ist er vor dem Gasthaus, auf einem verrückt im Kreis tänzelnden Pferd, das sich von einem Herzschlag auf den anderen von einem gelassenen Reittier in ein schnaubendes Schlachtross verwandelt hat, dessen ganzer Leib zuckt und bebt und das keinen Huf für auch nur eine Sekunde still halten will. "ARVO!" Seine Stimme ist so laut, dass jedes Gemurmel aus dem Inneren von 'Mannagarms Amboss' auf der Stelle verstummt. Filidhs trommelnde Hufe reißen Löcher in den schlammigen Boden des Hofes und er sieht ein Dutzend Gesichter oder mehr, die sich von innen ihre Nasen an den Butzenscheiben platt drücken. "Ich bin hier! Ich warte auf dich. Hör auf dumme Fragen nach mir zu stellen und komm heraus!" Es dauert vier Herzschläge, ehe die Tür auffliegt, ein Armbrustbolzen nur um Haaresbreite an ihm vorbeizischt und sich dumpf in die Bretterwand der Scheune hinter ihm bohrt. "Ist das alles?" Höhnt Colevar und Filidh macht einen Satz nach vorn, als wolle er gleich die wenigen Stufen hinauf mitten in den Eingang des Gasthauses preschen, wo augenblicklich hektische Panik ausbricht - erst im letzten Moment hält Colevar ihn zurück. "Ein Feigling wirst du doch nicht sein - oder doch? Deine Schützen sind immer noch grottenschlecht! Also komm und fang mich!" Er lässt Filidh fünf, zehn Schritt rückwärts weichen, eine einzige, fließende, geschmeidigen Bewegung nach hinten, wie das Zurückwogen einer sanften Welle, Drohung und Einladung zugleich. "Komm schon", flüstert er atemlos. "Komm schon, komm schon. Lass dich einmal hinreißen, nur einmal." Und Riku – oder Arvo – tut ihm den Gefallen. Mannagarms Amboss speit seine Männer und ihn selbst aus, einen nach dem anderen, acht huschende Schatten in ihren wehenden Umhängen, die zu ihren Pferden eilen, ein kaltes Versprechen in den noch kälteren Augen. Colevar wartet, wartet bis zum allerletzten Augenblick, dann lässt er Filidh herumwirbeln und gibt dem Hengst die Zügel frei. Sie schießen mit donnernden Hufen davon und seine Verfolger sind ihm dicht auf den Fersen - alle, ohne Ausnahme. Lía ist sicher.    

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Arvo am 04. Mai 2010, 18:39 Uhr
Eine Stadt, endlich eine götterverdammte Stadt, auch wenn es nur das verfluchte Falkenwacht sein mag. Ein paar weiße Türmchen, eine Menge Händler die auf das schnelle Geld aus sind (alle anderen bringen ihre Waren natürlich in die Königsstadt und halten sich hier nicht weiter auf) und ein Wirrwarr an Bewohnern verschiedener Nationen, mehr ist es gar nicht. Doch das genügt: Hier kennt Arvo die Regeln und ist nicht mehr auf die Hilfe seiner Späher und Spurenleser angewiesen, falls notwendig weiß er sogar, an wen er sich zur Informationsbeschaffung wenden kann. Die letzten Tage waren mehr als unangenehm gewesen, sie waren von einem Sturm in den nächsten geraten und hatten immer wieder längere Pausen machen müssen. Noch dazu hatten sich ein paar der Gäule auch schon Stunden, bevor kräftiger Wind aufkam, aufgeführt, als würden sie in Hornissennestern sitzen. Wenn er die dummen Viecher nicht bräuchte, hätte er sie wohl bei lebendigem Leid gebraten, dann hätte es wenigstens mal ein Festessen für alle gegeben. Glücklicherweise ist sein eigener Vierbeiner das wohl apathischste Pferd auf Rohas Rund, das nur an seinem Fressen interessiert ist – und da kann man über Arvo nichts sagen, davon gibt’s immer genug – sonst hätte es ihn wahrscheinlich bei diesen Gedanken abgeworfen und zu Tode getrampelt. Mit einem grimmigen Lächeln, den Gedanken noch bei Pferdebraten, und hoch erhobenen Hauptes begrüßt er die Stadtwachen, die Tatsache ignorierend, dass er und seine Leute wie eine Meute Landstreicher wirken mögen. Es braucht ein paar beiläufig fallen gelassene Namen mitsamt Details und sie werden ohne Fragen durch gewunken, eigentlich bedauerlich, so kann man den Unmut über die lange Reise an niemand Fremden auslassen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nun gut, dann eben die entgegengesetzte Methode, auch wenn sie weit anstrengender ist. Nachdem er seine Leute mit seinem Gaul vorgeschickt hat, zieht Arvo mit einer zu seinem heruntergekommenen Auftreten überhaupt nicht passenden, eleganten Handbewegung seine Geldkatze unter dem Ledermantel hervor. „So ein beschissenes Wetter, ich wette, ihr könntet ein paar Humpen Bier vertragen.“ Misstrauische Blicke werden ihm zugeworfen, doch zumindest in einem Paar blaugrauer Augen kann er Interesse sehen. Es ist doch immer dasselbe Spiel… Langsam kommt ein Silberstück ans Tageslicht und er lässt es sich auf seiner Handfläche drehen, sodass es aussehen wie Brummkreisel. Da werden die Augen groß, das hätte man ihm wohl nicht zugetraut und der Besitzer der blaugrauen Augen zieht ihn fluchend zur Seite. „Doch nicht mitten auf der Straße! Komm mit, du Trickspieler.“ Die jüngste der drei Wachen wird abkommandiert, auf dem Posten zu bleiben, die beiden anderen nehmen Arvo mit zu einem Unterstand in der Nähe der Stadtmauer, aber abseits der Straße. Der Besitzer der blaugrauen Augen entpuppt sich ohne tief ins Gesicht gezogene Kapuze als ein reichlich dumm wirkender Zeitgenosse mit breitem Kreuz, der den Blick nicht von dem Geld lassen kann. Der verschlagene Ausdruck des großen, eher hageren Dritten hingegen spricht eine ganz andere Sprache, er wurde ganz gewiss nicht wegen seiner Muskelkraft zur Wache. „Hört zu, ich weiß genau, wie niedrig euer Lohn ist und ich will auch gar nicht viel von euch, nur eine Auskunft über drei Reisende, die innerhalb der letzten Tage bei euch vorbei gekommen sein müssen.“ Ein Nicken von dem Hageren und ein auf Echtheit geprüftes Silberstück später fährt Arvo in kameradschaftlichen Ton fort: „Wenn ihr mir sagt, wann sie hier waren und wohin sie gegangen sind, ist dieses Silberstück euers und ich lege sogar noch zwei drauf, weil ihr mir so sympathisch seid.“ Die Ironie seiner letzten Worte scheint den Beiden gar nicht aufzufallen. Der Zauber des Geldes ist doch noch immer die größte Magie der Immerlande, sie kann unfreundliche, kratzbürstige Zeitgenossen zu höflichen, respektvollen und zuvorkommenden Personen machen. „Also: Ein Mann, könnte vom Aussehen her ein Immerfroster sein, über zwei Schritt groß, in Begleitung von zwei Frauen, Zwillinge, klein, schlank, dunkle Haut, tragen Kleider wie Resande, schauen aber auch ein bisschen wie Wolkenvölkler aus. Eine ist blind, sie haben einen halben Zirkus Tiere dabei…“ Er will noch mehr von dem erzählen, was er in Nellim von diesen unglaublich blauäugigen Menschen über die Veranstalter des großartigsten Fest der letzten Zwölfmonde erfahren hat, doch das braucht er gar nicht. „War eine Raubkatze dabei?“, unterbricht ihn der Hagere. Geht doch, irgendwann auf dieser Höllenreise muss man auch mal Glück haben. „Ja, ein altes Viech, aber immer noch recht eindrucksvoll, heißt es jedenfalls“, beantwortet er die Frage und lauert auf die Antwort. „Ich hab ihr gesagt, dass man so etwas nicht mit in die Stadt nehmen kann, aber die eine hat so lange rumgeplappert, dass ich sie dann doch gelassen habe. Hab was Besseres zu tun, als mich mit irgendwelchen herumziehenden Resande-Kinder herumzustreiten!“, ereifert der Hagere sich „Das kann ich mir vorstellen“, stimmt ihm Arvo zu, obwohl er seinem Gegenüber am liebsten das Messer an die Kehle halten würde, weil er es hasst, hingehalten zu werden. „Wann hast du sie gesehen und wo sind sie hin?“ Die Stadtwache scheint irgendetwas im Blick seines Gegenübers zu sehen, was ihm gar nicht zu gefallen scheint, denn plötzlich werden seine Ausführungen gar nicht mehr ausschweifend: „Vor fünf Tagen, ein paar Stunden früher als Ihr, sind sie hier aufgetaucht. Sie sind Richtung Marktplatz geritten, mehr weiß ich nicht, sie haben auch nicht darüber geredet, in welches Gasthaus sie gehen wollen.“ Nachdenklich nickt Arvo, seine Menschenkenntnis sagt ihm, dass die Wache nicht lügt und selbst wenn doch, wird er sich sein Geld eben zurückholen und doch ein wenig seiner schlechten Laune in Gewalt umsetzen können. „Hier ist euer Geld, vergesst den Kleinen nicht“, sagt er mit einem ironischen Grinsen, er ist sich ziemlich sicher, dass der jüngste Gardist kaum etwas von den Silberstücken abkriegen wird. Das Silber wechselt den Besitzer und der Reisende macht sich auf den Weg in Richtung Stadtmitte. Endlich kann sich Arvo einmal frei und ohne seine Leute im Anhang bewegen, das mag unsicherer sein, gewiss, aber er hat das Gefühl zu viel Zeit mit diesen Menschen zu verbringen, manchmal hat er Angst, dass ihre Dummheit abfärben könnte. Es ist selbstredend immer gut zu wissen, was ungefähr in den Köpfen der anderen vorgeht und ihnen jeden blöden Gedanken an der Nase ablesen zu können, doch manchmal fühlt sich Arvo in seinem Gefolge einfach fürchterlich in der falschen Begleitung. Sicher, sie müssen nur ihre Aufgaben ordentlich erledigen können, er braucht gute Späher und Fährtenleser, Armbrustschützen und Schwertkämpfer, Einbrecher und Meuchelmörder, Lügner und Betrüger, aber manchmal hätte er einfach gerne jemanden um sich, der ihn herausfordert. Anfangs hat die Verfolgungsjagd noch ordentlich Laune gemacht, sie schienen es mit einem hervorragenden Gegner zu tun zu haben, doch seit der sich diese Frauen und das Viehzeug angelacht hat, ist es nicht mehr halb so spannend. Sicher, er hatte immer noch ein paar Mal versucht sie in die Irre zu führen, doch allein hätte er sich so etwas wie in Nellim gewiss nicht geleistet, sie wüssten weit weniger über ihn und es wäre viel schwerer gewesen, ihn auch hier aufzufinden. Mittlerweile hat Arvo gar nicht mehr so sehr das Bedürfnis, den Sithechritter aufzuspüren und umzubringen, die Wut über den Tod seines Privatvampirs ist schon lange verraucht. Für ihn zählt nur Diantha in Talyra, doch für seine Leute ist ein tatsächliches Ziel vor Augen sicherlich besser, sonst würden sie sich über das straffe Tempo noch mehr beschweren. Außerdem, ist es nicht eine wundervolle Ironie: Sithechritter tötet ehemaligen Sithechjünger? Gut, er war schon kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten wieder zum Munduskind geworden, aber diese Tatsache kann man ja vernachlässigen.

Auf dem Weg in Richtung Marktplatz begegnet Arvo trotz der späten Uhrzeit einem Bettler und gegen ein paar Kupferstücke lässt er sich gerne berichten, was den in letzter Zeit so in der Stadt geschehen sei. Er erfährt alles Mögliche, unter anderem auch von zwei Heilkundigen in Managarms Amboss, die erst vor ein paar Tagen angekommen sein können. Schöne Wolkenvölklerinnen, erzählt der Arme und grinst zahnlos, als er erzählt, dass er auch zu ihnen gegangen sei, sie ihn aber wieder weggeschickt hätten, weil er nicht krank gewesen sei. Dafür habe er aber etwas zu essen gekriegt, weil er der einen so Leid tat, gelohnt habe es sich also allemal. Arvo braucht im Eilschritt nicht lange bis zu besagtem Gasthaus und unglaublich, aber wahr, seine Leute haben sich doch tatsächlich auch eben jenes ausgesucht und keins am anderen Ende der Stadt. Wahrscheinlich sollte ich sie für diese überaus intelligente Tat hoch loben. Das tut er natürlich nicht, sondern nickt nur denen kurz zu, die zum Pferde versorgen abkommandiert wurden. Wo findet er die übrigen im Gasthaus? Selbstredend an der Theke, mit wahrscheinlich nicht den ersten Bierkrügen in der Hand. Tja, das mit euren ersehnten Ruhetagen wird es wohl nichts, ihr Idiotenvolk, denkt er bei sich, als er sich daran macht, den erstbesten leutselig wirkenden Säufer nach Sithechritter und Anhang zu befragen. Scheinbar hat er etwas unterschätzt, wie betrunken dieser ist, denn der erzählt ihm erst einmal von seiner Frau, die so angenehm war, als sie krank war. Mit dem Bedürfnis, dem Deppen eine Flasche über den Kopf zu ziehen, hört Arvo ihm zu  und sieht sich nebenbei schon nach anderen Gesprächspartnern um, doch die wirken entweder ziemlich krank, zu abweisend oder noch besoffener. Also harkt er eins ums andere Mal nach, bis bei dem Trinker die Frage so wirklich angekommen zu sein scheint, sodass er von der Heilkundigen erzählt, die dafür verantwortlich ist, dass ihm sein Weib schon wieder die sieben Höllen heiß machen kann, weil es ihr so viel besser geht. Wo die sich aber derzeit aufhält, kann er auch nicht sagen, vielleicht noch irgendwo im Gasthaus, er hat sie aber schon länger nicht mehr gesehen. Arvo will sich gerade darauf pfeifen, wie beschäftigt der Wirt aussieht und ihn über die Fremden ausquetschen, als von draußen eine tiefe, herausfordernde Stimme erklingt: >ARVO!< Augenblicklich wird es still und alle Leute in der vollen Gaststätte bewegen sich in Höchstgeschwindigkeit in Richtung Fenster. Der Gerufene ist den Bruchteil einer Sekunde so perplex davon, dass seine Beute ihn ruft, dass er erstarrt, was eigentlich sehr untypisch für ihn ist. Doch ist es nicht absurd? Das wäre, als würde sich der Hirsch mitten auf die Lichtung stellen und röhren, damit der Jäger ihn auch auf alle Fälle erwischt. >Ich bin hier! Ich warte auf dich. Hör auf dumme Fragen nach mir zu stellen und komm heraus!< Ein paar von Arvos Leuten schalten schneller als ihr Brotgeber und zerren die Schaulustigen schon von der Tür weg, als auch er endlich schaltet. „Zu den Waffen!“, brüllt er, sodass auch der Letzte reagiert. „Armbrustschützen vor!“ Sie tun wie geheißen, der erste reißt die Tür auf und das Pfeifen des Bolzens ertönt. >Ein Feigling wirst du doch nicht sein – oder doch? Deine Schützen sind immer noch grottenschlecht! Also komm und fang mich!< Normalerweise hätte Arvo diese Provokation nichts ausgemacht, ihm wurde schon weit Schlimmeres an den Kopf geworfen. Im Normalfall hätte er seine Armbrustschützen weiter schießen lassen, sich in aller Seelenruhe auf die Suche nach den Weibern gemacht und sie als Druckmittel benutzt. Doch an diesem späten Abend ist es anders, er hatte keine Gelegenheit seiner immer stärker werdenden Wut auf alles und jeden Luft zu machen, er hat wochenlang nur verfluchtes Grünzeug gesehen, musste sich bei den dümmsten Dorfbewohnern Immerfrosts einschleimen, die Witterung hatte sich alle Mühe gegeben ihn in den Wahnsinn zu treiben und nicht zuletzt musste er sich hirnloses Gejammer von seinen Männern anhören. So beherrscht Arvo meist auch sein mag, irgendwann reicht es auch ihm. Deshalb kommandiert er alle seine Leute zu den Pferden und sie machen, dass sie auf die Pferde kommen, ohne dass er noch einen Gedanken an die Frauen verschwenden würde. „Sä puhut ihan hassuja senkin paskapää…“, murmelt er kaum hörbar vor sich hin, als er sich auf sein Pferd schwingt, er flucht zwar gerne auf Pakkakieli, aber selbstredend nicht laut vor seinen Anhängern, sonst könnten sie zu leicht hören, woher er eigentlich stammt. Dann nehmen sie die Verfolgung auf, manche kommen schneller mit ihren Gäulen zurecht, andere brauchen einen Moment länger, zum Glück sind die Armbrustschützen rasch zu gebrauchen. „Kopf oder rechte Schulter“, brüllt er ihnen zu, zum Glück sind sie auch vom Pferd aus gute Schützen. War es nun die rechte oder die linke?, fragt er sich kurz, als er sieht, wie ein Bolzen sich vielversprechend seinen Weg bahnt. Komm, triff ihn, am besten holst du ihn aus dem Sattel, dass wir ihn am Boden abstechen können, na komm schon.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 30. Mai 2010, 23:49 Uhr
Ein kurzer Blick über die Schulter offenbart ihm, dass sie ihm folgen und noch im gleichen Moment zischen ihm die Armbrustbolzen um die Ohren. Colevar hört einen Mann etwas schreien, das im allgemeinen Lärm untergeht, dann wirft ihn ein harter Schlag gegen die linke Schulter fast aus dem Sattel  und allein Filidhs mächtiger Hals hält ihn davon ab, kopfüber im Dreck zu landen - der Schmerz kommt erst einen Herzschlag später und fühlt sich an, als ramme ihm jemand einen glühenden Schürhaken durch die Brust. Grau und Braun ziehen die Häuser an ihm vorbei, als der Fryslâner in halsbrecherischem Galopp über das bucklige Kopfsteinpflaster einer Seitenstraße davon donnert. Grau und braun, silbern und fahl gelb – Stein und Holz, sonnenbleiche Schindeln und schmutzige Strohdächer. Er ist diesen Weg, den schnellsten Weg zum Südtor von Falkenwacht abseits der Hauptstraßen, in den letzten Tagen oft geritten und der Hengst kennt ihn längst in und auswendig. Hier behindern keine Passanten, keine Fuhrleute mit schweren Wagen oder Händler, die ihre Stände dicht an dicht neben den Rinnsteinen aufgebaut haben seine Flucht, hier spielen keine Kinder Stock-und-Ball und keine dichten Menschentrauben oder Viehherden blockieren den Weg. Riku – Arvo – und seine Männer sind die ganze wilde Flucht durch enge Gassen und verschlungene Nebenstraßen dicht hinter ihm. Nie hat er mehr als ein paar Pferdelängen Vorsprung, doch als er das Tor erreicht, lächelt Soris ihm zu und eine kleine Herde Heidschnucken kreuzt seinen Weg. Über die Schulter erhascht Colevar gerade noch einen Blick auf Rikus zorniges Gesicht, als Filidh über die Schafe hinwegsetzt und durch das Tor jagt, während seinen Männern die blökenden Tiere direkt unter die Hufe ihrer Pferde geraten, sich in  schreiende, zappelnde blutigen Wollbündel verwandeln und ein halbes Dutzend brüllende Wachen auf den Plan rufen, die erschrocken aus dem Torhaus stürzen. Riku wäre nicht Riku würde er sich davon lange aufhalten lassen. Wahrscheinlich reitet er die Wachen einfach nieder oder lässt sie über den Haufen schießen, das weiß Colevar genau - aber die Schafe haben ihm ein paar kostbare Herzschläge Zeit verschafft und das ist alles, was er braucht. Falkenwacht bleibt hinter ihm zurück und mit der Stadt auch Lía. Er schließt die Augen, versucht zu atmen, beugt sich weit im Sattel vor und lässt dem Hengst die Zügel frei. "Lauf. Lauf!"

Sie jagen über abgeerntete Felder, durch hüfthohes Gras und trockene Laubhaufen, die aufwirbeln, wenn Filidh hindurch galoppiert. Colevar hält sich abseits der Straße, denn so nahe an der Stadt herrscht dort zu viel Verkehr, setzt über einen Graben ohne die Geschwindigkeit zu verringern und prescht in einen kleinen Wald aus Birken, Eiben und Ulmen. Ein rascher Blick nach hinten verrät ihm, dass Riku und seine Männer ihm wieder auf den Fersen sind, wenn auch mit sehr viel mehr Abstand und längst außer Reichweite eines halbwegs gezielten Schusses. Im Wald kommt er langsamer voran, dennoch reitet er so schnell wie er es nur wagt, schlägt Bögen um umgestürzte Bäume, deren abgebrochene Zweige wie Zähne in die Luft ragen, prescht durch das braune Wasser von Bächen, die ihm den Weg versperren und galoppiert holprige Wildwechsel entlang, wo ihm die Zweige der dicht stehenden Weiden ins Gesicht peitschen. Hinter sich kann er die Pferde seiner Verfolger durchs dichte Unterholz krachen hören – und sie kommen näher. Filidh ist schneller, soviel ist klar, doch hier in diesem Gelände nützt ihm das gar nichts, er muss wieder hinaus auf offenes Feld. Ein Reh springt aus dem Gebüsch, als er vorbeidonnert, aufgeschreckt von seiner wilden Flucht. Der Wildwechsel führt ihn erneut zu einem Bach – oder ist es der gleiche? Ist er im Kreis geritten? Ihm bleibt keine Zeit, nachzudenken, denn er hört die Männer hinter sich jetzt näher und näher. Dornen zerkratzen sein Gesicht wie die Katzen, die er als Kind in der Steinfaust gejagt hat und ein Schwarm empört kreischender Krähen steigt aus der Krone einer Erle auf, als er vorbei jagt. Doch die Bäume stehen jetzt weniger dicht und plötzlich hat er den Wald hinter sich gelassen. Die breiten, ebenen Äcker und Weiden der nördlichen Rhaínlande erstrecken sich vor ihm – eine endlose grünbraune Ebene aus Wiesen und Stoppelfeldern. Er lässt Filidh die Zügel frei, der Hengst macht einen Satz nach vorn und donnert davon, bis Riku und seine Männer nur noch verschwommene kleine Punkte weit hinter ihnen am Horizont sind.

Als Colevar eine Woche später den Bree ein Stück nördlich von Stormgrûn erreicht, fällt schwerer Regen aus einem dunklen, zinngrauen Himmel und sticht mit tausenden von Speerspitzen auf den grünbraunen Fluss ein. Er braucht eine Weile ehe er begreift, wo und an welchem Fluss er ist, denn er hat so weite Strecken durch Regen und Dunkelheit, durch weglose Wälder und namenlose Dörfer abseits der Straßen zurückgelegt, dass er beinahe die Orientierung verloren hat. Es muss der Bree sein. Sonst ein eher beschauliches Gewässer, ist der Fluss jetzt dank des unaufhörlichen Herbstregens zu einem brodelnden Strom angeschwollen. Aber er ist mindestens einen Tausendschritt breit. Ein halbes Hundert Bäume ragt aus dem strudelnden Wasser und reckt seine nackten Äste dem Himmel entgegen wie ein schweigendes Heer hilflos Ertrinkender. Dicke Schichten von nassem Laub bedecken das Ufer und draußen auf dem Wasser entdeckt er etwas Helles, Aufgequollenes, ein totes Pferd vielleicht oder ein Hirschkadaver, der rasch davon geschwemmt wird. Es dauert einen halben Tag bis er flussabwärts einen missmutigen Fischer findet, der bereit ist, ihn mit seinem Kahn überzusetzen und es kostet ihn die Hälfte des wenigen Silbers, das er noch hat – aber auf diese Weise hat er wenigstens den Regen im Rücken. Colevar hat genug von den stechenden Tropfen, die ihn halb blenden und ihm halb wie Tränen über die Wangen rinnen, aber immerhin passt das Wetter gut zu seiner Stimmung, die in den letzten Tagen von miserabel zu katastrophal gesunken war. Bei Einbruch der Nacht erreicht er das Südufer des Bree, der Frostweg, jene uralte, schnurgerade Handelsstraße aus imperialer Zeit liegt vor ihm und er hat mindestens einen, mit Glück vielleicht auch zwei Tage Vorsprung herausgeschunden. Filidh ist erschöpft, aber Colevar gönnt weder ihm noch sich selbst Ruhe. Er muss Talyra vor Riku erreichen, also rastet er nur selten, schläft vorwiegend im Sattel, und überlässt es vertrauensvoll dem Hengst der Straße zu folgen, auch wenn es ihm die meiste Zeit schon wach schwer genug fällt, sich auf dem Pferd zu halten.

Die Schulter schmerzt immer heftiger, aber er wagt es einfach nicht, irgendwo so lange zu bleiben, bis sie geheilt ist. Er hatte sie in Brage notdürftig von einem Heiler versorgen und den Bolzen entfernen lassen, doch die Wunde bricht beim Auf- und Absteigen jedes Mal erneut auf, sein ganzer Arm ist stocksteif und er hat immer wieder Fieber… dennoch ist der Schmerz ein Nichts im Vergleich zu der Wunde in seinem Inneren, die mit jedem Schritt Richtung Süden ins Unermessliche wächst. Einen weiteren Siebentag später hat er eines Morgens das Gefühl, kein Stück mehr weiterreiten zu können, ohne zu ersticken… und in diesem Moment begreift er mit voller Wucht, was er verloren hat. Colevar steigt aus dem Sattel und bleibt mitten auf dem Frostweg sehen. Leer und windverweht, grau und regennass liegt die Straße vor ihm und die wogenden, herbstfahlen Wiesen Rijverlâns sind mit einem Mal so still wie irgendein unbelebter Mondkrater. Das betäubende Grau, in das er sich in den vergangenen Wochen so mühsam gehüllt hat, verflüchtigt sich immer mehr… und was es von ihm übrig lässt, ist vielleicht nicht nichts - aber nicht mehr viel.

-> Der Frostweg - Die Große Handelsstraße

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Calait am 23. Aug. 2010, 10:14 Uhr
„Schatje, kom hier. Nee, blijf met je fingers van het hek af, je weet, wat er het laatste keer gebeurd is.” Lachend angelt Imara Rose aus dem hüfthohen Gras und schwenkt sie hoch durch die Luft. Das kleine Mädchen streckt quietschend ihr Gesichtchen dem Himmel entgegen und macht mit den Armen Flügelschlagbewegungen, wie ein Vögelchen das flügge wird und seine ersten Flugerfahrungen unter dem sicheren Schutz der Mutter sammelt. Calait lehnt sich zurück gegen den moosbewachsenen Findling in ihrem Rücken und lauscht mit einem verträumten Lächeln den Geräuschen um sich herum. Unter Imaras Lachen und Rose begeistertes Krakeelen mischen sich fernes Hundegebell, Elises und Lías leises Singen und Robs tiefes Atmen, nur wenige Sekhel neben ihr. Der junge Mann hat den ganzen Tag mit dem Pflug auf dem Feld verbracht und genießt jetzt im Schatten der Felsen ein wenig seine wohlverdiente Ruhe. Halb auf, halb neben ihm liegen Roja und Janneke, beide im Halbschlaf versunken und irgendwo über ihnen, auf dem Größten der Findlinge, lassen sich Magnus und Klein Jon die Sonne auf den Bauch scheinen. Die Ruhe auf dem kleinen Hügel hat eine unheimlich einschläfernder Wirkung, derer sich Calait im Grunde gar nicht widersetzen möchte… wären da nicht zwei Gedanken, die sie wach halten und zum Aufbruch drängen. Der erste: Es ist später Frühling. Und der Zweite: Es wird Herbst, bevor wir Talyra erreichen. Ein dritter folgt unweigerlich: Er wird denken, uns sei etwas zugestoßen.
Das Trübsal liegt ihr schwer auf der Brust und wie so oft fragt sie sich, ob sie damals, ein halbes Jahr zurück, noch in Falkenwacht, die richtige Entscheidung getroffen haben. Nur ein Tag hatte sie noch vor der Abreise nach Talyra getrennt. Vielleicht auch nur wenige Stunden. Sie waren gerade damit beschäftigt gewesen ihr Gepäck auf den Wagen zu laden – der wie von Kerkko versprochen samt Sack und Pack und Tier nach Falkenwacht geliefert worden war – und mit Noor noch einmal die Reisestrecke durchzugehen, als ein noch sehr junges Mädchen die Schankstube betreten und sich nach der Heilerin mit dem Luchs erkundigt hatte. Mehrere Köpfe hatten sich bei ihrer Ankunft fragend gedreht und nicht wenige hatten mitleidig, bis angewidert die Nase hochgezogen ob ihres zerlumpten Aussehens. Trotz des nasskalten Herbstwindes und der frischen Temperaturen, die am Morgen bereits den Frost ins Land holten, war sie barfuß unterwegs gewesen und hatte nicht mehr am Leib getragen als ein zerrissenes Leibchen und einen viel zu kurzen Rock. Noors Frau, nicht weniger wuchtig und rund als ihr Mann, hatte sich des Mädchens angenommen und sie zu Lía geführt, die wiederum nur wenige Augenblicke später an Calaits Seite gestürzt war und gemeint hatte, sie müssten dringend weg. „Was ist denn los?“
„Gerade ist ein Mädchen zu mir gekommen. Ihre Mutter liegt in den Wehen, aber irgendetwas läuft schief.“
„Und wohin müssen wir?“
“Orans Hof liegt beinahe zwei Stunden Richtung Westen ausserhalb von Falkenwacht“, hatte Noor sich eingemischt, ohne im Humpenfüllen inne zu halten.
Lía hatte sich durch die lange Distanz nicht beirren lassen: “Das spielt doch keine Rolle. Sie braucht unsere Hilfe. Sofort.“
Stillschweigend hatte Calait sich erhoben und Noor gebeten die beiden Reninker satteln zu lassen. Mit Elise – so der Name des Mädchens – hinter sich und von Lía geführt, hatten sie sich schließlich am späten Nachmittag auf den Weg zum Wiesenhof gemacht.

Beerenreif 509 FZ. bis Taumond 510 FZ.

Calait, die sich den Duft herrlich klarer Morgenluft, regennasser Tannennadeln und sonnengetrockneten Laubes gewohnt ist, hatte sich der Magen umgedreht, als Lía die Türe zum Schlafzimmer für sie geöffnet hatte und ihnen ein ekelerregender, klebriger Gestank entgegen geschlagen war. „Gnädige Ahnen“, hatte sie halberstickt in ihrer Muttersprache gemurmelt und hatte sich zwingen müssen nicht Hals über Kopf wieder aus dem Haus zu stürzen. Ihre Nase war nie zimperlich gewesen – wer regelmäßig stolpert und mit dem Gesicht in den verschiedensten Substanzen und Materialien zurecht kommt, kann sich schlicht und einfach kein allzu sensibles Riechorgan leisten -, aber diese Mischung aus Schweiß, abgestandener, bracher Luft, Blut und faulen Eiern war so durchdringend und dick gewesen, das man sie beinahe in Scheiben hätte schneiden können. „Frische Luft“, hatte sie leise hinter vorgehaltener Hand gekeucht und noch im gleichen Augenblick gespürt, wie Lía sich, nicht minder verstört, rasch von ihr löste. Sie hatte den weichen, aber zügigen Schritten ihrer Schwester gelauscht, gehört wie etwas Stroh raschelte und Fensterläden klapperten und hatte erleichtert einen tiefen Atemzug getan, als eine schwache, aber frische Briese über ihre Wange gestrichen war. Die Freude war allerdings von kurzer Dauer gewesen, denn was Calait zwar gefühlt und gerochen hatte in der Dunkelheit, war durch das blasse, kalte Sonnenlicht, das durch das winzige, viereckige Fenster fiel, für Lía nun sichtbar geworden. Sie hatte kein Wort gesagt, aber Calait hatte gespürt, wie ihre anfängliche Besorgnis in Schrecken umgeschlagen war und leise und sehr sanft hatte sie gefordert: „Erzähl mir, was du siehst.“ Lía hatte einen Moment geschwiegen. Und noch einen, dann hatte sie sehr tief Luft geholt und mit beschlagener Stimme  - wieder in der Sprache ihres Vaters - das Bild beschrieben, das sich ihnen geboten hatte.
Es sei ein kleines Zimmer, geradezu winzig und fürchterlich schmutzig, selbst im Vergleich zum Rest des heruntergekommenen Hauses, und das einzige Möbelstück ein schmales, leicht schräg stehendes Bett. Keine Kerzen, keine Talg- oder Öllampen, nicht eine einzige Lichtquelle sei zu finden, die Dielen seien feucht und zum Teil morsch und die Spinnen und Ratten hätten sich zu Verbänden zusammen geschlossen. Kaum hatte Lía es erwähnt, war auch Calait sich dem leisen Trippeln unzähliger winziger Pfötchen gewahr geworden und der scharfe Zug um ihren Mund hatte sich vertieft. Das Bett selbst sei eine einfache Holzkonstruktion mit ein paar Halmen Stroh, die wohl als Matratze dienen sollten, darüber ein gelb, bis braun verfärbtes, von Dreck, Urin und Exkrementen starr gewordenes Laken. Gleich darauf hatte Lía gestockt und leer geschluckt, als wüsste sie nicht, wie sie fortfahren sollte. „Was ist mit der Frau?“, hatte Calait vorsichtig gedrängt, aber nicht gewusst, ob sie es wirklich wissen wollte.

Während Lía jedes noch so kleine Detail erfasst und mit zitternder Stimme hervor würgt hatte, hatte Calait sich an Noors Worte an jenem Morgen erinnert: “Imara vom Wiesenhof? Eine Schande, sag ich euch. Ich kann mich noch erinnern, als sie mit Jon nach Falkenwacht zog. Ein verdammich hübsches, sommersprossiges Mädchen, mit Haaren wie gesponnenes Gold, zartrosa Wangen und grossen, himmelblauen Augen. Sie war eine Pracht für jedes Männerauge. Aber seit Jons Tod und der Heirat mit seinem Bruder Oran hat sie sich sehr verändert. Als ich sie das letzte Mal zu Gesicht bekommen habe, hätte ich sie fast nicht erkannt. Brotmager, dreckig von Kopf bis Fuß und weiß wie der Tod.“ Er hatte nicht untertrieben. Auch Lía hatte mit einem seltsam berührten Unterton berichtet, dass sich die käsebleiche Haut über die Knochen spanne und der dicke, runde Bauch wie eine groteske Beule aus dem skelettartigen Leib herausrage, der nur von einem alten Hemd bedeckt werde. “Als wäre der Stoff das Einzige, was sie noch zusammenhält. Sie ist fürchterlich dreckig und wirkt sehr erschöpft… Wie kann jemand so etwas tun, Calait?“, hatte sie leise geschlossen und Calait hatte Lías Angst und Schmerz gespürt, als wäre es ihr eigener. Langsam hatte sie die Hand ausgestreckt, woraufhin Lía an ihre Seite zurück geeilt war und sie zum Rand des Bettes geführt hatte. Dort angekommen, hatte Calait sich vorsichtig vorgetastet, bis sich unter der feuchten Decke vage Konturen eines Menschenkörpers abgezeichnet hatten. Behutsam, aber mit der blindentypischen Sicherheit hatte sie ihre Finger entlang der harten Linie des Beckens, über die steinharte Bauchdecke, seitlich entlang der Brüste, den dünnen Hals hinauf zum Gesicht gleiten lassen, das sie sanft zwischen ihre kühlen Hände genommen hatte. Unter ihren Daumen hatte Calait Imaras Augenlidern flattern fühlen und über die spröden, blutig aufgerissenen Lippen war ein leises Wimmern gekommen, nicht mehr als das verlorene Mauzen eines neugeborenen Kätzchens. „Sie hat hohes Fieber“, hatte sie mit so viel professioneller Sachlichkeit, wie sie angesichts dieses Elends an sich raffen hatte können, an Lía weitergegeben, hatte der Frau zärtlich das wirre, schweißnasse Haar aus der Stirn gestrichen, war noch einmal ein Stück zurückgerückt und hatte entschieden die Decke beiseite geschoben, um das Ungeborene und die Mutter genauer untersuchen zu können. Was sie bereits anhand von Elises Beschreibung befürchtet hatte, war bittere Wahrheit geworden: Das Baby lag verkehrt. Lía, die neben ihr Platz genommen hatte, erklärte, dass die Fruchtblase noch nicht geplatzt sei und Imara nicht blute. Beide hatte sie das Gleiche gedacht: Dann musste das Blut auf dem Laken von anderen Wunden stammen. „Wie lange hat eure Mutter schon Wehen?“, hatte Calait sich mit einem warmen Lächeln in Richtung der Mädchenschar, die dichtgedrängt am Ende des Bettes stand und aus bleichen Gesichtern jede Bewegung der Heilerinnen ganz genau mit verfolgte, erkundigt. Etwas unsicher hatten sie untereinander Blicke ausgewechselt, bevor Elise in einer hilflosen Geste mit den Schultern gezuckt und erklärt hatte, dass sie das so genau nicht wisse, ihre Mutter aber mitten in der Nacht aufgestanden und den ganzen Morgen unruhig zwischen Wohnzimmer, Küche und sogar Hof hin und her gelaufen sei, bis sie gegen Mittag zusammengebrochen wäre und sie selbst, mit Hilfe ihrer Schwestern, die Mutter hierher getragen hätte. Calait hatte ihren Ohren nicht getraut und ungläubig nachgehakt: „Ihr habt sie hineingetragen? Wo ist euer Vater?“ Das Wort ‚Vater’ war wie ein Peitschenschlag über die Mädchen hinweggefegt, deren Köpfe synchron zwischen die Schultern gesunken waren und die Furcht, die schlagartig von ihnen ausgegangen war, hatte Calaits Arme und Rücken mit Gänsehaut überzogen. Es hatte einen Moment gedauert, bis Elise ihre Sprache wieder gefunden und sie sich getraut hatte zu antworten: “Er ist heute morgen ganz früh mit Klein Jon und Magnus in die Wälder geritten, um die Fallen zu kontrollieren… das tut er immer, wenn Mama ein Kind bekommt. Frauensache, sagt er dann und geht“ Frauensache? Er lässt sie einfach alleine, ohne Versicherung, dass es ihr gut geht und die Geburt unproblematisch verläuft? Dreckskerl!

„Roja, Janneke, Elise, Antje, wir brauchen eure Hilfe. Gibt es in diesem Haus einen Zuber, gross genug für eure Mutter?“ Die Älteste der vier Schwestern hatte genickt, war sich bewusst geworden, dass eine der Heilerinnen es nicht sehen konnte und hatte rasch hinzugefügt: „Ja. Im Keller.“ Calait hatte aufmunternd in ihre Richtung genickt: „Das ist gut. Sehr gut. Würdest du meiner Schwester zeigen, wo er steht und ihr dann helfen, ihn hierher zu schaffen? Vielleicht nimmst du am besten noch Antje mit.“ Gleich darauf war das Dreiergespann aus dem Zimmer verschwunden und hatte Calait mit der leise wimmernden Frau und den zwei Winzlingen alleine zurückgelassen. Roja und Janneke hatten sich, nun da ihre großen Schwestern weg waren, noch etwas enger an ihre Mutter geschmiegt, die ein gequältes Stöhnen von sich gegeben hatte. Um die Kleinen von der angespannten Situation abzulenken, hatte Calait auf das lange, fleckige Hemd gewiesen, dass die Rhainländerin getragen hatte und sanft gebeten: „Würdet ihr mir vielleicht dabei behilflich sein, eure Mutter ganz auszuziehen?“
Sie müssen ihre Mutter sehr lieben, war es Calait durch den Kopf gegangen, als die Zwillinge ihr geholfen hatten und dabei so behutsam vorgegangen waren, als bestünde ihre Mutter aus hauchdünnem Rauchglas. Dazwischen hatten sie der Frau immer wieder versichert, dass alles gut werden würde, dass sie ruhig bleiben solle, es wären jetzt Heilerinnen da und Oran sei weit weg, er könne ihr nicht weh tun. Letzteres hatte Calait mit einem abfälligen Schnauben zur Kenntnis genommen.Sie nennen ihn nicht einmal Vater. Es war nicht schwer gefallen Imara komplett zu entkleiden, obwohl sie kaum mitgeholfen hatte. Sie hatte ihr Bewusstsein nicht wieder erlangt, nur hin und wieder hatten ihre Lider gezuckt und unverständliches Gemurmel war über ihre Lippen gekommen. Lautes Ächzen, Knarren und Schaben hatte die Ankunft des Zubers angekündigt. Es war ein Ungetüm von einem Holzeimer gewesen, genauso staubig, dreckig und mit Spinnweben verklebt wie der ganze Rest des Mobiliars, aber immerhin, so hatte Lía nach eingehender Inspektion zufrieden verkündet, sei er dicht. Es war ein Feuer angefacht, ein riesiger, gusseiserner Kessel darüber gehängt und bis an den Rand mit Wasser gefüllt worden und dann hatten sie warten müssen, bis es kochte und man den Zuber füllen konnte.

Gemeinsam war es ihnen ohne Mühe gelungen Imara vom Bett hochzuheben, und Calait hatte es einen tiefen Stich in ihre Brust versetzt, als sie gemerkt hatte, wie leicht die Schwangere eigentlich war. Höchstens fünfzig Stein! Aber sie ist lang. So behutsam wie nur irgendwie möglich, hatten sie Imara von dem schmutzstarrenden Bett in den Zuber befördert. Der dünne, ausgemergelte Leib war unter Wasser geglitten und Calait hatte den Griff um die knöcherne Brust verstärkt, damit Imaras Kopf nicht untergetaucht war. So geht das nicht, hatte ihr Verstand sich neunmalklug zu Wort gemeldet. Ich kann sie nicht loslassen, sonst ertrinkt sie mir noch, aber mich dazusetzen geht auch nicht, denn dafür ist die Holzwanne nicht groß genug. Kurzerhand hatte sie die Älteste aufgefordert: „Elise, zieh alles bis auf dein Leibchen aus und setz dich zu deiner Mutter, so dass ihr Rücken auf deiner Brust aufliegt. Leg ihren Kopf auf deine Schulter und halte sie unterhalb ihrer Brüste fest.“ Das schlaksige Mädchen mit den wachsamen, grünen Augen war der Aufforderung ohne Umschweife nachgekommen und gleich darauf hatte Calait Imara ohne Bedenken der Umarmung ihrer ältesten Tochter überlassen können.
Derweil Lía im Hintergrund zusammen mit den Zwillingen und Antje das Laken ausgewechselt, das alte Stroh ersetzt, ein paar Ratten und Spinnen verjagt hatte und dem gröbsten Dreck mit einer alten, abgewetzten Bürste und einem Reisigbesen zu Leibe gerückt war, hatte Calait damit begonnen Imara zu waschen. Die Frau hatte sich nicht gewehrt, ganz im Gegenteil: Nach einer Weile hatte sie sich spürbar zu entspannt und der gequälte Ausdruck auf ihrem Gesicht war milder geworden. Während dieses ganzen Prozedere hatte Calait nur vier Wehen gezählt, die in regelmäßigen Abständen aufeinander folgten. Wenn es stimmt, was Elise sagt, dann kämpft ihre Mutter jetzt seit sechzehn Stunden mit dem Ungeborenen. „Lía?“ Calait hatte ihre Stimme gedämpft gehalten, als sie vor ihrer Schwester die Fakten auf den Tisch gelegt hatte: „Die Wehen sind zwar schön regelmäßig, aber sie kommen viel zu langsam.“ Für eine gesunde Frau in Imaras Alter wäre die Länge der Geburt kein Problem gewesen, aber die ausgezehrte Rhainländerin war vom Fieber geschüttelt worden und hatte so wenig Kraft, dass sie kaum selbstständig einen Arm heben, geschweige denn laufen konnte. „Wir brauchen…“ “Weidenrinde.“ „Ja, und Blutwurz. Die Mädchen sollen viel heißes Wasser aufsetzen und alle sauberen Laken, die in diesem Haus zu finden sind, erwärmen. Schick Antje… nein, vergiss es, das ist viel zu weit. Imara muss etwas essen, wir müssen sie auf die Beine kriegen, damit das Baby durch das Schwergewicht tiefer ins Becken sinkt… wozu es sich auch erstmal drehen muss. Man hätte viel früher einen Heiler oder eine Hebamme rufen müssen. Verdammter Dreck, wenn ich diesen Hundsfott von Ehemann in die Finger kriege, schlag ich ihn tot!“ Es war aus ihr herausgebrochen, bevor sie darüber nachgedacht hatte, aber keines der Worte hatte sie wirklich gereut und sie hatte Lías teils traurige, teils wütende Miene nicht zu sehen müssen, um zu wissen, dass ihre Zwillingsschwester es mit ihr eins war. Zumindest mit dem Teil mit dem ‚Hundsfott’. Stillschweigend hatten sie sich an die Arbeit gemacht und die Mädchen, sogar die kaum vierjährigen Zwillinge, waren ihnen ohne zu fragen zur Hand gegangen. Der Horizont hatte die Baumwipfel bereits in ein dunkelrotes Glühen getaucht, als Imara wieder in ihrem frisch bezogenen, gut gepolsterten Bett gelegen hatte, eingehüllt in wärmende Laken und von ihrer ältesten Tochter mit dünner Fleischbrühe gefüttert worden war. Als ob die Schwangere gemerkt hatte, dass man versuchte ihr zu helfen, hatte sie bereitwillig alles gekaut und geschluckt, was man ihr eingeflößt hatte, auch wenn es sie sichtbare Anstrengung gekostet hatte. Dazwischen hatte Calait das Baby mit sanfter Massage dazu ermuntert, sich zu drehen und hatte allen Geistern und Ahnen und Ealara im Besonderen gedankt, als es nach einer schieren Ewigkeit in einer fast schon abrupt anmutenden Bewegung kopfüber zu liegen gekommen war.

Zusammen hatte sie die Frau gezwungen aufzustehen, sich jeweils einen ihrer Arme um die Schultern gelegt und sie hochgehoben, bis sie halbwegs sicher auf ihren eigenen Füssen gestanden hatte. Zum ersten Mal, seit ihrer Ankunft, hatte Imara die Augen geöffnet. Sie waren wirklich so blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel und verblüffend klar, als würden sie alles um sich herum genau wahrnehmen und verstehen. Sie war gelaufen. Schritt für Schritt für Schritt für Schritt. Und noch einen und noch einen, bis sie das Zimmer einmal durchquert hatten. „Gut so“, hatte Calait sie ermutigt: „Du machst das sehr gut. Und jetzt wieder zurück.“ Irgendwann nach der dritten Runde hatte Calait begonnen ein leises Lied zu singen und schon bald hatten die Mädchen unerwartet enthusiastisch mit eingestimmt, als ob das Singen ihnen die Angst und die Nervosität nehmen konnte. Auch bei Imara hatten die Musik und die entspannte Stimmung Wirkung gezeigt: Ihre kleinen Schritte waren fester geworden und die Schwäche in ihren Gliedern, hervorgerufen durch ihre Angst, Kraftanstrengungen und Einsamkeit, geschwunden. Es war, als hätte sie Hoffnung aus der Nähe der zwei Frauen geschöpft. Auch der Weidenrindentee zeigt Wirkung. Als sie das Bett zum zehnten Mal umrundet hatten, folgten die Wehen dicht aufeinander und Calait hatte Erleichterung in sich aufsteigen spüren. Viel zu früh, wie sie gleich darauf feststellt hatte, denn in dem Moment, wo Imara sich in ihren Armen mit einem leisen Schrei zusammenkrümmt und der Duft nach süßen Beerensaft und frischem Sommer das Zimmer gefüllt hatte, hatte das laute Knallen der Vordertür den Moment wie ein Blitz zerrissen. Calait hatte gefühlt, wie sich Imara unter ihren Händen verkrampft hatte und hatte gehört, wie die Mädchen erschrocken aufschrien. Stumm hatte Calait Lía mit einem einfachen Heben des Kopfes zu verstehen gegeben, dass sie sich um den Störenfried kümmern würde, derweil sie Imara weiter beistehen sollte. Sie hatte sich kaum von Imara abgewendet, als Elise sie auch schon ablöste und Antje sie bei der Hand nahm. Calait hatte sich jeden Widerspruch gespart und sich von dem Mädchen bereitwillig aus dem Zimmer führen lassen. Ihr war gerade noch genug Zeit geblieben, die Türe hinter sich zu schließen und Louan neben sich zu rufen, als auch schon schwere Schritte im Flur widergehallt waren und bevor sie sich versah, hatte ihr jemand entgegen gedonnert: „HE! Wer bist du? Was machst du in meinem Haus?!“ Die Aggressivität, die ihr entgegen geschlagen war, war nahezu greifbar gewesen und in einer instinktiven Bewegung hatte sie die Arme auf Brusthöhe gehoben, derweil Antje sich hastig hinter ihren Röcken versteckt hatte, bevor sie so gefasst und schnell möglich zu einer Erklärung angesetzt hatte: „Ich bin Heilerin! Ich wurde gerufen, weil hier eine Frau in den Wehen lag und sich Komplikationen abzeichneten.“ Louan neben ihr hatte sich gegen ihre Beine gedrängt und sie hatte sein leises Knurren vernommen, nicht mehr als ein warnendes Knurren, aber es hatte den Mann auf Abstand gehalten.
“Kompli… was? Was soll der Unsinn. Ist das Balg etwa immer noch nicht auf der Welt? Dreckshure, elende. Und wer von den Rotzgören hat dich gerufen? Ach, egal. Verschwinde gefälligst aus meinem Haus.“ Mehrfach hatte versucht Calait ihm ins Wort zu fallen, doch es war aussichtslos gwesen. Sogar auf sieben Schritt Distanz hatte sie seine Wut gefühlt, die wie heisse Wellen über ihren Kopf hinwegfegt war und wieder einmal war sie äußerst froh gewesen, dass es sich bei Lías Totemtier nicht um ein niedliches, kleines Hoppelhäschen handelte. Das ignorante Verhalten des Mannes hatte sie wütend gemacht und sie hatte sich zusammenreißen müssen, ihm nicht einfach den nächstbesten Resandefluch auf den Hals zu hetzen… das sie davon überhaupt keinen Verstand hatte, brauchte er nicht zu wissen. Nein. Denk an Imara. An die Mädchen. An Lía. Versuch Zeit zu schinden, bis das Baby auf der Welt ist. „Nein“, hatte sie ihm daher nicht minder entschieden entgegen geschmettert, die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf geschüttelt: „Ich werde nicht gehen. Ich werde hier bleiben, zusammen mit meiner Schwester, und Imara bei der Geburt helfen.“ Sie hatte kaum geendet, als der Mann von Neuem angefangen hatte zu brüllen. Was sie sich erlaube, dass er hier der Herr im Haus sei, dass seine Frau bisher jedes Kind alleine auf die Welt gebracht hätte, wie sie es wagen könne, ihm zu widersprechen, dass eine blinde Heilerin ja wohl ein Witz sei, was das Monster hier mache, wo die Mädchen seien… und dann sagt er etwas, dass Calait das Blut in den Adern hatte gefrieren lassen. “Eigentlich kann es mir egal sein. Soll sie doch verrecken. Lieber das, als noch so ein Gör. Wehe sie bringt noch so ein verdammtes Biest zur Welt. Dann ersäuf ich sie zusammen mit dem Blag!“ „Er… was?“ An Ort und Stelle erstarrt und kalkweiß im Gesicht, hatte Calait die Hände zu Fäusten geballt und hatte mehrmals leer schlucken müssen, bevor sie ihre Sprache wieder gefunden hatte.
Und dann hatte sie den Arm ausgestreckt, mit dem Zeigefinger auf ihn gewiesen und ihm mit leiser, kalter Stimme im Namen ihrer Ahnen und Urahnen die Schwindsucht angedroht, wenn er sich auch nur in die Nähe des Zimmer wagte.

Er hatte das Zimmer nicht betreten. Stattdessen hatte er fluchend auf dem Absatz kehrt gemacht, ihr Pest, Cholera und noch Schlimmeres an den Hals gewünscht und den Hof in Richtung Stadt erneut verlassen. Zitternd am ganzen Leib und so wütend wie seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr, war sie mit einer heulenden Antje an ihrer Seite zum Bett zurück gelaufen und hatte Louan mit ein paar knappen Worten befohlen, die Türe im Auge zu behalten. Der alte Luchs, ansonsten der gutmütigste Katzengreis dies und jenseits des Dunkelwaldes, hatte sich mit gespitzten Ohren vor dem Eingang postiert und den letzten Rest seines einstmals sehr beeindruckenden Raubtiergebiss entblösst, bereit, seine Fänge in jedem Bein zu versenken, dass unerlaubterweise über diese Schwelle trat.
“Meinst du… glaubst du, er meint, was er sagt?“ Lías Stimme hatte vor Ungläubigkeit gezittert und Calait hatte sich in diesem Moment nichts Sehnlicheres gewünscht, als ihr versichern zu können, dass kein Vater dazu im Stande sei, sein eigenes Kind zu töten. Aber es wäre eine glatte Lüge gewesen. So hatte sie nur unmerklich genickt. Drei Herzschläge später hatten sich Lías zarte Finger über ihre geschoben und sich fest in ihre vernarbte Haut gegraben und Calait hatte gewusst, was das bedeutete, denn ihr war genau der gleiche Gedanke gekommen. Er war über alle Massen unvernünftig gewesen und absolut närrisch, aber er hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, wie ein Parasit und nur die leise Hoffnung, es würde vielleicht ein Junge werden, verhinderte, dass es aus der Idee eine fest beschlossene Sache wurde. Doch diese Hoffnung war mit dem ersten Schrei des winzigen Mädchens zu Grabe getragen worden. Sie hatten kein Wort gewechselt. Es war in jener Sekunde überflüssig geworden, als Imara das Mädchen schluchzend in die Arme geschlossen und die Götter um Erbarmen angefleht hatte.
„Nimm die Jungen mit, wenn du den Wagen holst. Sie können dir mit den Tieren helfen“, war das Einzige gewesen, was Calait gesagt hatte, als Lía sich vom Bettrand erhoben hatte und in Richtung Tür verschwunden war. Und während Lía mit Klein Jon und Magnus zurück in die Stadt geritten war, hatte Calait Imara mit fester Stimme – die keinerlei Widerspruch duldete – erklärt, dass sie und Lía planten sowohl sie, als auch alle Kinder in Sicherheit zu bringen.
“Aber wohin sollen wir gehen? Wir werden nirgendwo sicher sein, vor ihm. Er wird uns finden und dann wi…“ „Denk nach, Imara“, hatte Calait bestimmt gefordert und die knochigen Schultern der Frau ergriffen: „Hast du keine Familie mehr? Keine Verwandten, wo wir dich hinbringen könnten? Freunde? Oder einen Ort, wo du weißt, dass du zumindest so lange Unterschlupf findest, bis du fähig wärst, wieder zu arbeiten und deine Familie zu versorgen.“ Die Tatsache, dass der Gedanke, ihre sieben Kinder alleine durchbringen zu müssen, sie nicht abgeschreckt hatte, hatte sogar einem emotionalen Krüppel deutlich gemacht, wie sehr Imara von Oran weg wollte. Statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, dass es ein Kampf werden würde, sieben hungrige Mäuler zu stopfen, hatte Imara bereitwillig eröffnet, dass sie sehr wohl noch Familie hätte. Allerdings ganz am anderen Ende von Rhaínlande, in Loewensward, ihr das aber egal sei und sie zehnmal lieber dort ganz alleine ihre Kinder aufziehen wollte, als hier zusammen mit Oran. Calait war bei der Beschreibung nicht umhin gekommen leer zu schlucken und auch ohne nachzurechnen hatte sie sofort gewusst, dass sie niemals rechtzeitig zurück auf dem Frostweg sein würden. Aber sie hatte auch gewusst, dass es weder ihre, noch Lías Entscheidung beeinflussen würde. Sie würden Imara und den Kindern helfen, egal was es kostete und da sie nicht das Gold besaßen, um den ganzen Trupp samt heilkundigem Schutz bis nach Loewensward zu bringen, würden sie diese Aufgabe selbst übernehmen. Wir müssen Colevar unbedingt einen Boten zukommen lassen. Einen sicheren Boten. Sonst wird er glauben, uns wäre etwas zugestoßen, oder Lía hätte ihn…

Der letzte Teil des Gedankens war allerdings so unsinnig gewesen, dass er wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war, bevor Calait ihn hatte beenden können. Er weiß, dass sie ihn nie mehr verlassen wird. Er trägt ihr Lied in sich. Und ihr Lied ist stark.
Es war auf Mitternacht zugegangen, als sie alle acht Köpfe im Planwagen untergebracht hatten. Aus sicherer Quelle – Noor hatte Lía beim Abschied noch versprochen dafür zu sorgen, dass Oran das Gasthaus nicht vor der Morgendämmerung verlassen würde – hatten sie erfahren, dass Oran wahrscheinlich den ganzen nächsten Tag nicht auffallen würde, was ihm fehlte, weil er zu sehr mit seinem rebellierenden Magen und der mit Spitzhacken bewaffneter Zwergenschar hinter seiner Stirn beschäftigt sein würde. Trotzdem hatte Calait zum Aufbruch gedrängt, denn da die gesamte Ladefläche von Imara, den Kindern, sowie ihrer aller Gepäck in Beschlag genommen worden war, hatten die Schafe nebenher trotten müssen – und keines der Vier Wollknäuel gehörte zur schnellen Sorte. Die Reninker waren eingespannt gewesen, die Hunajas und der Onager hinten am Wagen festgebunden worden und die Hunde waren voraus gesprungen. Nur der Trolde und die kleine Zwergsaudame hatten es sich für einmal in wundersamer Einigkeit unter dem Kutschbock bequem gemacht, während der Rest des Pelzviehs sich auf und neben Lía in deren Wollumhang eingenistet hatte – immer mit einem respektvollen Abstand zu Mistress Grau, die sogar Noraya und Eriu den Lieblingsplatz um Lías Nacken abspenstig gemacht hatte. Imara hatten sie in mehrere Decken gepackt und das noch namenlose Neugeborene in einen mit weichen Kaninchenfellen gefütterten Weidenrindenkorb gelegt und mit mehreren, weichen Wolltüchern gut zugedeckt. Die älteren Geschwister hatten sich gegenseitig Wärme gespendet. Nur Klein Jon, Imaras Erstgeborener und nach ihrer Aussage genau Jons Ebenbild, hatte es sich neben Calait und Lía auf dem Kutschbock bequem gemacht. Er zählte nicht mehr als dreizehn Lenzen, aber das Leben war hart mit ihm gewesen und aus seinem Benehmen, seinen Worten und aus seinen dunklen Augen sprach bereits der Mann, zu dem sein Körper erst noch heranwachsen musste. Ohne gefragt zu werden, übernahm er die Aufgaben innerhalb des kleinen Zugs, die ein erwachsener, halbwegs anständiger Mann auch als seine Pflicht angesehen hätte und mehr als einmal fühlte Calait sich bei Klein Jons Anblick an Colevar erinnert. Nur in vier Köpfe kleiner und dreimal so dünn. Die Verteilung der Arbeiten war innerhalb der ersten Tage deutlich geworden. Derweil Klein Jon und sein Bruder Magnus sich um die Pferde, die Schafe, das Holz fürs Feuer und das Feuermachen selbst gekümmert hatten, waren Elise und Antje Lía bei der Pflege von Imara und dem Neugeborenem und der Kleinraubtierfütterung zur Hand gegangen und die beiden Zwillinge hatten Calait mit einer herzerwärmenden Begeisterung dabei geholfen das Essen zuzubereiten und das Lager auf- und abzubauen. Noch auf dem Weg zum nächsten größeren Dorf hatte Calait Lía schweren Herzens davon überzeugt, dass sie die Hunajastute, wie von Colevar empfohlen, doch würden verkaufen müssen, wenn sie alle ihre Schützlinge gesund und munter über den Frostweg bis nach Penllyn und von Penllyn mit dem Schiff bis nach Loewensward bringen wollten. Beinahe zwei Siebentage später hatten sie Brage am Morgen erreicht und am frühen Abend bereits wieder hinter sich gelassen. Ein Pferd und zwei Sorgen leichter, dafür ein paar Münzen und ein kiloweise Vorräte schwerer. Außerdem hatten sie einen Boten ausfindig gemacht, der sowieso gerade auf dem Weg nach Talyra gewesen war und sich bereit erklärt hatte Colevar, im Austausch für ein geringes Entgelt, eine Nachricht zu übermitteln. In ihrer typisch kindlich krakeligen Schrift hatte Lía einen kleinen Brief für Colevar aufgesetzt, in welchem stand, dass er sich keine Sorgen machen musste um sie; dass es ihnen beiden gut ginge; dass sie nur einen Umweg über die Rhaínlande machen würden; dass sie ihm alles erklären würde, wenn sie wieder bei ihm wäre und dass Calait ausrichten ließe, dass sie ihr Versprechen nicht vergessen hätte… und dass sie ihn liebe.

Die Reise bis nach Loewensward war überraschenderweise ohne weitere Probleme verlaufen. Kein wütender und in seinem Stolz gekränkter Oran hatte die Verfolgung eingesetzt, noch waren Mutter und Kind ernsthaft krank geworden. Noch vor dem ersten Schnee hatten sie Roskild erreicht, wo ein milder Winter es ihnen ermöglicht hatte bis Ende des Langschnees entlang eines Seitenarms der Bree nach Wolfsgrimm durchzureisen. Dort verbrachten sie im Wolfsauge den eher stürmischen Silberweiß und aufgrund fehlender Kooperation gewisser Kapitäne auch den wieder ruhigen, aber verdammt kalten Eisfrost, bis sich endlich ein weniger abergläubischer Seemann fand, der bereit war sie zu einem halbwegs anständigen Preis, samt Sack, Pack, Kind und Getier auf seiner Handelskogge mitzunehmen. Von der Bree, über den Rhaín, mit Zwischenstopps in den Häfen von Ranienbyrg, Tholen, Drakensward, Fa’Sheel, Dhelft, Stormgard und Godefrod hatten sie Ende Taumond endlich das lang ersehnte Loewensward erreicht. Dort hatten sie sich in der „Witte Meeuw“ einquartiert und sich nach Imaras Familie erkundigt. Es hatte zwei Tage gekostet, ihre Eltern, Greeda und Gjis, und ihren Bruder, Rob, ausfindig zu machen.
Calait hatte vieles erwartet. Von spürbarer Ablehnung, über freundliche Unkenntnis, bis hin zu zögerlicher Freude, doch als Greeda und Gjis ihre Tochter samt Kinderschar über den breiten Kieswegs auf das sehr alte, aber unglaublich gemütliche Gutshaus mit dem Reetdach und den geschwärzten Balken hatten zulaufen sehen, hatte es kein Halten mehr gegeben. Mutter und Tochter waren sich weinend in die Arme gefallen und auch der Vater hatte sich mit seinen krummen, faltigen Händen unentwegt die Tränen von den Wangen geputzt. Ein Kind nach dem anderen hatte er sich zur Brust genommen, es geherzt und geküsst und den Göttern in einem fort für diese glückliche Wendung gedankt. Entgegen aller Befürchtungen, waren Imaras Eltern mehr als froh über die Rückkehr ihrer Tochter, denn erstens hatten sie sich schon sehr lange Sorgen um Imaras Wohlergehen gemacht und hatten mehr als einmal erwogen, nach Falkenwacht zu reisen, sich dann aber angesichts all der Strapazen, die eine solch weite Reise mit sich brachte, dagegen entschieden, und zweitens waren ein paar helfende Hände auf dem Hof mehr ein Segen. Rob, der bei Imaras Abschied noch sehr jung gewesen war, hatte sich zwar ebenfalls ehrlich über ihre Rückkehr gefreut, aber beim Anblick des ganzen Kinderhaufens sorgenvoll die Stirn gefurcht und seinen Vater gefragt, wo er die ganze Schar denn unterbringen wolle, schließlich hätte der Hof nur fünf Zimmer. Gjis hatte seinem Sohn auf die Schulter geklopft und mit einem goldglänzendem Funkeln in den Augen gemeint: “Ach, dann wird es halt ein wenig eng, aber bestimmt nicht mehr kalt.“
Calait und Lía hatte der Großvater einen Schlafplatz im Heuschuppen angeboten und dankend hatten sie das Angebot angenommen.
Das war zwei Monde her und sowohl die Kinder, als auch Imara hatten sich perfekt eingelebt und waren den zwei Alten eine große Hilfe bei der täglichen Arbeit. Sogar Rob, der mehr als skeptisch gewesen war, hatte zwischenzeitlich eingesehen, dass ihm vor allem die Jungs eine Stütze sein konnten, wenn er es nur zuließ. Calait und Lía waren Imara mit der Jüngsten zur Hand gegangen, welche von der Mutter als Dank auf den Namen Rose – als Abkürzung für Rozenn – getauft worden war, und hatten sich Unterkunft und Mahlzeit auf dem Feld und durch alle möglichen Arbeiten im Haus verdient.

28. Taumond 510 FZ.

Und jetzt wird es Zeit zu gehen. Beim Gedanken an Abschied wird Calait schwer ums Herz, aber es ist höchster Eilbote, wenn sie noch vor Einbruch des neuen Winters in Talyra ankommen wollen, denn dieses Mal fehlen ihnen eindeutig die finanziellen Mittel, um mit dem Schiff zu reisen. Gerade dabei im Kopf eine mögliche Reiseroute durchzugehen, spürt Calait Lía neben sich und bevor sie ihre Pläne mit ihrer Schwester teilen kann, flüstert diese mit einem wehmütigen Seufzen: “Es ist so schön hier Calait… aber es wird Zeit, dass wir gehen.“ Ein weiches Lächeln huscht über Calaits Lippen und in einer fließenden Bewegung und den Worten „Dann komm“ erhebt sie sich und streckt Lía ihre Hand entgegen: „Colevar wartet.“


Taumond bis Beerenreif  510 des FZ.

Doch so unkompliziert wie die Reise von Falkenwacht nach Loewensward verlief, so voller Tücken und unvorhergesehenen Komplikationen steckt die Reise von Loewensward nach Talyra. Bereits auf dem Weg in die nächste, große Stadt Emelan bricht ihnen eine Achse, kurz hinter Emelan verliert erst Zhaabiz, dann Adnan jeweils ein Hufeisen und kurz vor Mordrechte setzen sintflutartige Regenfälle ein und sorgen dafür, dass die Yssel überläuft und weite Teile des flachen Weidelandes unter Wasser setzt, darunter auch die Handelsstraße nach Montfoort. Weil sie beide mehrere Tage nicht mehr wissen, wie man „trockene Füsse“ buchstabiert, werden sie, kaum hatte es aufgehört wie aus Kübeln zu gießen, vom Fieber heimgesucht. Von Montfoort nach Godin schließen sie sich einer Handelskarawane an, die sich auf halber Strecke als wandelndes Irrenhaus erweist und sowohl den Frauen, als auch den Tieren den letzten Nerv raubt. Mit dröhnendem Schädel und der Erkenntnis, dass ein Pack rhaínländischer Fischhändler hundertmal schlimmer ist, als jeder in Duftöl panierte und über beide Hörner hinaus tobende Dämon, erreichen sie irgendwann völlig fertig Godin, wo sie mehrere Tage verweilen, um sich ein paar Münzen dazuzuverdienen und ihre Vorräte aufzustocken. Die Strecke von Godin nach Wisperwald hält gleich ein Dutzend Überraschungen bereit: hinterhältige Attacken von Brennnesseln, eine Ameisenplage, einen Onager mit Kolik, ein Kampf mit einem ausgewachsenen Eber, dem die Hunde gerade so Herr werden können, eine gerissene Plane, wieder ein verlorenes Hufeisen, aber kein Schmied weit und breit, faulende Vorräte und ein Trolde, der sich angetrieben von seiner Gier, mit einem ausgewachsenen Branbären um ein Wespennest streitet und seine Niederlage erst einsieht, als er von einer Pranke quer durch die Luft ans andere Ende der Lichtung befördert wird. Um dem Elend so schnell wie möglich ein Ende zu setzen, beschließen sie so lange in Wisperwald zu bleiben, bis sie genug Geld zusammen haben, um eine Überfahrt über den Welynllyn bis nach Weidenfurt bezahlen zu können, doch die Geister meinen es nicht gut mit ihnen. Entweder sind die Schiffe bereits bis zur Reling voll, oder sie müssen in die Werft, oder haben eine Krankheit an Bord oder gehören irgendeinem altgefahrenem Kapitän, dem es nicht einmal im Traum einfiele, zwei Frauen auf sein kostbares Schiff zu holen. Nach drei Siebentagen haben die Zwillinge zwar genug Geld, um sich wenn nötig nach Talyra tragen zu lassen, aber noch immer keine Überfahrtmöglichkeit, weswegen sie Schiff irgendwann Schiff sein lassen und ihre Reise mit dem Wagen fortsetzen. Und siehe da: bis zum Kreuzweg, der in Tiefwald beginnt und in Talyra endet, hält das Unglück seinen Atem an, nur um dann mit ausgewachsenen Sturmböen noch einmal kräftig zuzuschlagen. Mehr als einmal müssen die Frauen in einem der Dörfer, die entlang der breiten, zum Teil gepflasterten Handelsstraße wie Unkraut aus dem Boden schießen, Schutz suchen und kommen deswegen nur schleppend voran, aber die Aussicht, ihrem Ziel so nahe zu sein, dass sie bald nur noch die Hand ausstrecken müssen, um es berühren zu können, treibt sie trotz des schwierigen Wetters vorwärts.
Das Jahr zählt den 24. Beerenreif, als sie nach einer viermonatigen, nervenaufreibenden Reise todmüde, mit noch immer nicht ganz trockenen Kleidern, aber überglücklich endlich Talyra, die große, freie Stadt am Ufer des Ildorel, erreichen. Gerade als sie den Wald hinter sich lassen, bricht über ihren Köpfen die gewaltige Wolkendecke auf und bleiches Mondlicht ergießt sich über die vor ihnen liegende Stadt und die Felder und Wiesen darum herum. Sofort sprudeln die Beschreibungen über Lias Lippen, wie das Wasser über die felsigen Klippen von Fa’Sheel und Calait lauscht andächtig, im Versuch sich ein Bild von dem Anblick zu machen, der sich vor ihnen aus der Dunkelheit schält. “Die Mauern sind riesig, Calait. Sie strecken sich zum Himmel hinauf, als wollten sie immer weiter wachsen und ganz oben, auf den Zinnen, flattern Fahnenwipfel wie pechschwarze Wolken vor dem samtblauen Himmel. Oh, und das Mondlicht… Ich kann die Wachsoldaten erkennen. Und ein Tor. Ein riesiges Tor.“ Verschlossen, wie Lía gleich darauf hörbar enttäuscht hinzufügt und Calait beeilt sich ihrer Schwester zu versichern, dass dies, wie bei jeder anderen Stadt auch, ganz normal sei und sie bestimmt keine Schwierigkeiten haben würden, doch noch eingelassen zu werden. Mit jedem Sekhel weniger, der sie von Talyra und damit auch Colevar trennt, wird Lía unruhiger und immer öfters rutscht sie von links nach rechts, von rechts nach links und versichert sich mindestens einhundert Mal, ob sie denn jetzt auch wirklich ganz, ganz, ganz sicher in dem Talyra angekommen seien, von dem Colevar gesprochen habe. Calait schließt ihre Schwester mit einem leisen Lachen in die Arme, streicht ihr das Haar aus dem Gesicht und wiederholt ein ums andere Mal mit Seharimgeduld: „Ja, ma kalon. Es ist ganz bestimmt und mit absoluter Sicherheit das Talyra, von dem Colevar gesprochen hat. Es gibt nur ein Talyra. Talyra die Prächtige, die Weltenstadt am Ufer des Ildorel. Und jetzt hör auf wie ein Springhörnchen hin und her zu hüpfen, sonst fällst du mir auf den letzten Schritt noch vom Kutschbock und brichst dir etwas.“ Louan lässt ein zustimmendes Grollen vernehmen und schiebt eine seiner Tatzen auf Lías Bein, als sei er geneigt ihr beruhigend das Knie zu tätscheln. Calait krault ihn liebevoll hinter den Ohren und hat für eine Sekunde den Eindruck, als wäre auch der Luchs von einer fast schon kindisch zu nennenden Vorfreude erfüllt, seinen alten Freund, den Katzenmenschen, wieder zu treffen. Mistress Grau hingegen liegt lang gestreckt unter ihren Beinen hindurch und sieht nicht aus, als würde die Spannung, die so langsam von ihnen allen Besitz ergreift und die Müdigkeit vertreibt, sie auch nur im Geringsten interessieren. Einmal hebt sie kurz ihre Nase, blinzelt zu Lía auf, gähnt und legt sich wieder hin, als wolle sie sagen: Wie, noch kein Frühstück? Dann schlaf ich weiter.
Auf Lías Anweisung hin zügelt Calait die beiden Reninker… gerade rechtzeitig, um zu verhindern, dass Lía ihr vom fahrenden Wagen springt. Noch bevor Adnan und Zhabiz gänzlich zum Stillstand gekommen sind, ist ihre Schwester schon vom Kutschbock gehüpft, zum Tor gerannt und klopft kräftig dagegen. Obwohl Lía sehr fein gebaut ist und nicht unbedingt als kräftig tituliert werden kann, rollt das Geräusch wie Donnerschläge durch die Stille der angebrochenen Nacht. Einige Sekunden lang herrscht Stille, dann werden kräftige Stiefeltritte auf den Pflastersteinen laut und gleich darauf vernimmt Calait das leise Quietschen von einem eisernen Riegel. Eine noch ziemlich jung klingende Männerstimme erkundigt sich in barschem Ton, wer da sei und was er wolle. Lía, der es offenkundig unter den Nägeln brennt Colevar zu finden, hält sich nicht mit Namen auf, sondern bringt ihr Anliegen sofort auf den Punkt: “Wir suchen einen Mann namens Colevar. Kennt ihr ihn vielleicht? Er ist ziemlich groß, kräftig, hat langes, blondes Ha…“ Calait lauscht der ausführlichen Beschreibung amüsiert, derweil sie sich daran macht vom Kutschbock zu klettern, das Gespann zu umrunden und dem armen Wachsoldaten zu Hilfe zu eilen. Ach, ma kalon. Als ob jeder in Talyra Colevar ke…
“Hauptmann! Die Fremden fragen nach Colevar.“

Tbc: Das Verder Stadttor

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 29. März 2011, 19:51 Uhr
Taumond 511 irgendwo in Gelderlan



Regen hüpft über die Pflastersteine und sammelt sich in braunen Tümpeln in den zahlreichen Mulden und Senken der alten Straße. Der große, sehr nasse Mann auf dem großen, noch nasseren, weißen Pferd verkriecht sich tiefer in den schweren Mantel aus geöltem Leder und schnalzt leise mit der Zunge, als der schwere Fryslâner ungehalten schnaubt und mit einem wilden Kopfschütteln die Nässe im langen Schopf und der Mähne loszuwerden versucht. "Ich weiß. Noch fünf Tausendschritt etwa, dann erreichen wir das Krähennest." Von dem Gasthaus hatte er im letzten Dorf gehört, durch das er vor zwei Tagen gekommen war, und es würde seinen wenig einladenden Namen hoffentlich Lügen strafen, denn es wäre das letzte Dach über dem Kopf, das das Pferd und er haben würden, bevor sie in die Berge hineinritten. Die sanften, dicht bewaldeten Höhenzüge der Sieben Schwestern steigen vor ihnen aus dem düsteren Schiefergrau des schwindenden Tages, fast vollkommen verhüllt von Dunst und Regen. Colevar hat eine langen Weg hinter sich und einen noch längeren vor sich, bis er wieder in Talyra sein würde. Talyra. Zu Hause. Er kann wirklich nicht sagen, ob ihn dieser Gedanke mit mehr Sehnsucht oder mehr Schrecken erfüllt. Du warst lange fort. Vielleicht zu lange. Filidh schüttelt sich erneut, diesmal von den Ohren bis zum Schweif, und rüttelt Colevar auf seinem Rücken ebenso durch. "Schon gut, mein Junge. Machen wir, dass wir aus dem Regen herauskommen, aye?" Er lässt den Fryslâner in einen raumgreifenden Trab fallen. Auch wenn ihm der Regen nun entgegen klatscht, als schaufle ihm jemand mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, viel nässer, als er ohnehin schon ist, kann er kaum mehr werden und außerdem zieht bereits die Dämmerung herauf.


Zwei Tage später verlässt Colevar das Krähennest wieder und setzt seine Reise auf dem Frostweg nach Süden fort. Die schweren Regenfälle der vergangenen Wochen lassen ein wenig nach, doch die Luft bleibt kalt und nass, und auch in den letzten Taumondtagen schmeckt sie hier, im Nordosten der Rhaínlande, noch nach Schnee. Das Krähennest war eine der schäbigeren Herbergen entlang der alten Handelsstraße gewesen und die Schankmägde hässlich, doch die Betten waren frei von Ungeziefer und das Essen erträglich, so dass er sich selbst und seinem Pferd eine längere Rast gegönnt und sich mit frischem Proviant versorgt hatte, bevor er in die Wildnis der Berge aufgebrochen war… wenn man altbackenes Brot, zwei Säcke mit verschrumpelten Wintermöhren und ein paar Handvoll steinhart getrockneten Wildbrets denn als frisch bezeichnen mag. Du wirst davon leben können. Diesem trockenen Gedanken antwortet prompt ein amüsiertes Schnauben Filidhs, der wie immer genau zu wissen scheint, was in den Gedanken seines Herren vorgeht. "Hmpf. Du brauchst dir um deine nächste Mahlzeit ja keine Sorgen machen." Neben den mageren Vorräten, die er für sich selbst erstanden hatte, hatte Colevar im Krähennest auch zwei Säcke erstklassigen Hafer und zwei kleine Ballen süßen Heus bekommen. Filidh würde so zwar gewiss nicht am Hungertuch nagen, muss sich dafür nun aber beladen wie ein azurianisches Lastkamel mit den Steigungen der sich windenden Straße abmühen, so dass Colevar die meiste Zeit selbst zu Fuß geht, um das Pferd zu schonen. Wieder zwei Tage näher an Talyra. Für gewöhnlich vermeidet er es, an Zuhause zu denken – an die Stadt am Ildorel und alles, was mit diesen Gedanken zusammenhängt. Aber in der Einsamkeit der Sieben Schwestern ist es still geworden auf der großen Handelsstraße - in den Bergen liegt noch Schnee und es ist zu früh im Jahr für Händler und Kaufleute, so dass außer ihm selbst kaum Reisende auf dem Frostweg unterwegs sind.


Colevar ist allein mit sich, mit Filidh und seinen Gedanken, und so ertappt er sich selbst immer öfter dabei, wie sie abschweifen und um bisher sorgsam verschlossene Türen herumschleichen. Auf dich wartet niemand. Du hast keine Frau und keine Kinder. Du hast ein Haus, aber kein Heim. Es kann dir vollkommen egal sein, wo du bist, denn überall ist es gleich.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 01. Apr. 2011, 19:31 Uhr
Jeder Mensch, vielleicht jedes denkende und fühlende Wesen, hat einen Platz in seinem Inneren, ein ganz und gar ureigenes, inniges Stück seiner Selbst, das er für sich behält. Es ist ein geheimer Ort, tief in der Seele, den man niemandem zeigt… höchstens vielleicht jemandem, dem man sehr vertraut und den man sehr liebt. Es ist das tiefste Ich, das klarste Selbst… vielleicht der Grund des Herzens, der Sitz der Seele oder der innerste Kern des Wesens, das einen ausmacht, das einen von allen anderen unterscheidet und unverwechselbar ist. Es ist auch eine Art Festung, der Ort, an den man sich flüchten kann, wenn die Welt um einen her in Stücke gerissen wird und tiefer als dessen Fundament man nicht fallen kann. Vor sechs Monden, als der Botenrabe Colevar endlich auf dem Frostweg aufgespürt und ihm Rhordris kurze Nachricht gebracht hatte, war seine innere Festung in Trümmer gesprengt worden - so gründlich, dass nichts von ihr geblieben war außer rauchender Asche. Inzwischen nennt er immerhin wieder so etwas wie eine windschiefe Hütte sein Eigen… auch wenn die Wände bestenfalls wacklig sind und das Dach noch undicht ist. Dennoch fühlt er jeden Morgen nach dem Aufwachen die Leere in sich. Das Gefühl hat nichts mit Hunger zu tun, obwohl es durchaus Ähnlichkeit damit besitzt, und er den manchmal ebenfalls verspürt. Es ist einfach eine hohle Stelle in seinem Inneren, ein Loch, dort, wo sich sein Herz befunden hatte, als hätte jemand den Platz, an dem Lía und ihr Lachen gelebt hatten, aus ihm herausgeschnitten. Sein Herz ist dunkel, kalt und stumm. Es liegt begraben unter einem Stein und hat vergessen, was Lachen ist. An manchen Morgen will er überhaupt nicht aufwachen. Er hüllt sich in seine Schlafpelze, drückt die Augen zu und will sich zwingen, weiterzuschlafen. Wenn sein verdammtes Pferd ihn nur einfach in Ruhe gelassen hätte, hätte er Tag und Nacht geschlafen. Und geträumt. Das war das Beste daran, das Träumen.

Aber Filidh lässt ihn nicht - und so watet er jeden Morgen durch zähen, kalten Schlamm an die Oberfläche der wachen Welt, die Füße in eisigen Morast zementiert. Im vergangenen Frühsommer hatte er herausgefunden, dass Lía ihr Versprechen nicht gehalten hatte. Sie war nicht auf dem Frostweg geblieben, sie war nicht wie vereinbart direkt nach Talyra gezogen. 'Ich werde dir folgen.' Das waren ihre Worte gewesen, aber sie hatte es nicht getan. Er hatte auch herausgefunden, warum – er war im letzten Jahr den ganzen langen Weg auf ihren Spuren geritten, den Frostweg zurück in die Rhaínlande bis nach Loewensward, aber er hatte sich dennoch verraten und verkauft gefühlt. Selbst wenn er das aller bitteren Erkenntnisse zum Trotz noch hätte nachvollziehen… oder vielleicht verzeihen… können, was er beim besten Willen nicht mehr hatte verstehen können – und auch nicht mehr hatte verstehen wollen – war die Tatsache, dass Lía und Calait ohne jede Not zwei volle Monde bei Imaras Familie geblieben waren. Dennoch hatte er bis zum letzten Augenblick, bis Rhordris Botschaft ihn erreicht hatte, irgendwo tief in seinem Inneren nicht daran geglaubt und gehofft, es gäbe für all das irgendeine Erklärung. Aber es gibt keine - Lía ist fort, endgültig. Mit Rhordris Nachricht war es zur bitteren Wahrheit geworden. Dann war der Schmerz gekommen, hatte sich auf ihn gestürzt wie ein hungriges Tier und ein wahres Festmahl gehalten, bis von seinem Innersten nicht mehr viel übrig gewesen war. Nach der Qual war die Wut gekommen, so blind wie tödlich, und sie hatte gut getan, so gut, weil sie jeden Schmerz betäubt hatte. Wann immer er im Freien sein Lager aufschlagen hatte müssen, wann immer er sein Handbeil genommen hatte, um Feuerholz zu machen, war die kalte Wut in ihm hervorgebrochen und er hatte wild auf einen Baum oder große Äste eingehackt, bis er zwanzigmal mehr Brennmaterial hatte, als er brauchen konnte.

'Bleibt auf dem Frostweg. Schließt euch einer Handelskarawane an, so dass ihr Schutz habt. Wenn ihr auf der Straße bleibt, finde ich dich. Ganz gleich wie lange es dauert oder wie weit der Weg ist, ich finde dich.' Das waren seine Worte gewesen und er hatte alles dafür getan, dieses Versprechen auch zu halten. Er hatte sich von Armbrustbolzen spicken und um halb Roha jagen lassen, war am Wundfieber fast gestorben, hatte Blutfäule und Starrkrampf ertragen, sich ins Leben zurückgekämpft, eine Heilerin verprellt, einen Freund im Stich und seine Männer sich selbst überlassen, Waffenbrüder gekränkt, seinen gesamten Clan vor den Kopf gestoßen, sich mit seinem Vater überworfen und beinahe sein Pferd zuschanden geritten… für nichts. Er hat die Worte ihres Abschieds jeden Morgen aufs Neue im Ohr, so deutlich, als hätte sie sie gerade erst gesprochen, doch sie ist fort. Gegangen - warum auch immer. Auch an diesem Morgen quält er sich aus seinen Träumen, den bitteren Geschmack von Asche im Mund, als Filidhs weiche Nüstern energisch über seine Stirn schnobern und ihm warme, ziemlich feuchte Luft in den Nacken prusten. "Geh weg, Pferd." Der Hengst hört nicht auf ihn, sondern schiebt seine Nase unsanft unter Colevars Schulter und stampft ungeduldig mit dem Huf auf, keine zwei Handspannen von seinem linken Ohr entfernt. "Oh Götter, schon gut. Schon gut. Ich stehe ja auf, siehst du? Ich stehe auf…" Knapp eineinhalb Stunden später ist Filidh versorgt, das Lager abgebrochen und Colevar wieder unterwegs… wieder einen Tag näher an Talyra. Nicht lange danach öffnet der zinngraue Himmel – wie an jedem einzelnen vergangenen Tag seit er die Sieben Schwestern erreicht hatte – seine Schleusen aufs Neue. Blitze zucken herab, Donner rollt durch die bewaldeten Bergtäler, und der Regen geht wie aus Kübeln nieder und lässt auch nicht mehr nach. Inzwischen ist Colevar tief in die Zeven Zusjes vorgedrungen und auf dem Frostweg ist außer ihm nicht eine lebende Seele unterwegs. Er reitet durch triefende, dunkle Wälder, über felsige Grate und durchquert angeschwollene Bäche, deren reißende Wasser Filidh bis zum Bauch gehen. Irgendwo muss er einen Unterschlupf finden, vielleicht eine verlassene Bauernkate oder eine Höhle, in der kein Bär schläft, wo er den Regen abwarten und seine Schlaffelle, sein Gepäck, Filidhs Sattel und seine Stiefel trocknen kann. Er folgt der Straße weiter, zieht seine tropfende Kapuze tief in die Stirn und beugt sich weit vor, um sich gegen den Wind zu schützen.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 21. Apr. 2011, 08:15 Uhr
Im Sturmmond 511


Ein neuer Mond ist dem alten gewichen, doch das katastrophale Wetter im Nordosten der Rhaínlande war keinen Deut besser geworden, im Gegenteil. Zum allgegenwärtigen Dauerregen hatten sich zu Beginn des Sturmwindmondes ungewöhnlich heftige Frühjahrsstürme gesellt und in den Sieben Schwestern ein fröhliches Stelldichein gefeiert - mit Hagelschauern, mächtigen Windböen, die ganze Bäume entwurzelt hatten und wildem Donnergrollen, das tagelang in den felsigen Tälern widergehallt war. Colevar ist kalt und nass. Obwohl er sich die größte Mühe gibt, sich fester in seinen schweren Umhang  zu wickeln, reißt ihn der Wind wieder von seinen Schultern und bläht ihn auf wie ein Segel. Er klatscht Meister Hyrdman, dem alten Schafbauern, dessen Gastfreundschaft er die letzten beiden Siebentage genossen hatte und der nun neben ihm hergeht, um den Kopf und reißt ihn selbst bei jedem Windstoß im Sattel zur Seite. Colevar ist längst bis auf die Haut durchnässt und der Wind dringt mit eisigen Fingern durch seine triefenden Kleider, noch ehe sie den Bach namens Swyn erreichen und das, obwohl sie den Hof der Hyrdmans erst vor wenigen Minuten verlassen haben. Der "Bach",  für gewöhnlich ein eher beschaulicher Wasserlauf, wie Meister Hyrdman versichert hatte, ist dank des Regens allerdings eher ein reißender Strom, der grün und grau an ihnen vorbei brodelt. Hyrdman wirft einen Blick in die Flut und hat die Schultern dabei fast bis zum Rand seines breiten Schäferhutes gezogen, den er sich zum Schutz vor dem Regen über seine abstehenden Ohren gestülpt hat.  Jede Runzel seines faltendurchzogenen Gesichts drückt Widerwillen und Zweifel aus, so dass Colevar sich weit im Sattel vorbeugt, um sich über das Prasseln des Regens und das Grollen des Wasserlaufes hinweg Gehör zu verschaffen: "Bleibt hier!"

Meister Hyrdman schüttelt den Kopf und brüllt etwas zurück, doch was immer er sagt, geht im Heulen des Windes unter, auch wenn seine Absichten völlig klar sind. Jetzt ist es an Colevar nachdrücklich den Kopf zu schütteln. Netter Versuch, aber nein, danke. Er mustert den wildgewordene Swyn mit einem abschätzenden Blick und sucht das Ufer mit den Augen ab. Es bröckelt bereits hier und da, und er kann förmlich zusehen, wie es vom Wasser fortgewaschen wird. Noch eine Woche solche Regenfälle und das hier wird ein Strom so breit wie der Bar el-Atbár. Meister Hyrdman sieht allerdings wohl gerade seine letzte Chance gekommen, ihn doch noch irgendwie zum Bleiben zu bewegen (am besten für immer) und macht seinerseits eine recht bedeutungsvolle Handbewegung – zurück zu Haus und Hof. Colevar schüttelt noch einmal den Kopf, kann ein belustigtes Grinsen jedoch nicht ganz unterdrücken. Nicht in diesem Leben und nicht im nächsten, du ausgefuchster Bastard. Der Schäfer hat alles andere als Unrecht, aber andererseits kann Colevar förmlich zusehen, wie der Fluss immer breiter wird und die hungrigen Wassermassen ganze Stücke aus dem Ufer fressen - wenn er noch länger wartet, wäre die Furt unpassierbar und würde noch tagelang nicht sicher sein. Außerdem würde er, wenn er auch nur eine weitere Nacht unter dem Dach dieses ergrauten Schlitzohres verbrächte, mit Sicherheit eine seiner Töchter – von denen Meister Hyrdman ein gutes Dutzend sein eigen nennt – in seinem Bett vorfinden, in das der Alte das Mädel höchstwahrscheinlich selbst hineingelegt hätte. Dann kannst du für den Rest deines Lebens Schafe scheren, Hammeleintopf essen und Zäune ziehen. Abgesehen davon reicht allein die Vorstellung, noch eine weitere Nacht entweder in einem Vierzimmerhaus mit allen sechzehn Hyrdmans oder aber in einer Scheune mit hundert blökenden Schwarznasenschafen und vier sabbernden Hütehunden eingepfercht zu sein, vollkommen aus, um ihn leichtsinnig werden zu lassen.

Er nickt Meister Hyrdman entschieden zu, weist ihn mit einer knappen Bewegung an, aus dem Weg zu gehen und wendet Filidh zum Fluss. Der Fryslâner schüttelt sich den Regen vom Kopf und bewegt sich vorsichtig auf dem rutschigen Boden, scheint jedoch genauso wild entschlossen, von den Schafen fortzukommen, wie Colevar selbst.  Hier, auf der oberen Uferböschung, gibt eine dicke Laubschicht vom vergangenen Herbst etwas besseren Halt, und die leiseste Gewichtsverlagerung reicht aus, Filidh in Bewegung zu setzen... offenbar ist er wirklich nicht darauf versessen, hier noch länger zu bleiben. Colevar spürt den plötzlichen Ruck, als sich seine Hinterhand senkt und anspannt, dann schliddern sie wild die Böschung hinunter und das Pferd landet mit einem gewaltigen Satz mitten im Fluss, so dass sich Colevar bis zu den Oberschenkeln im eisigen Wasser wiederfindet. Er lässt  die Hände sinken, macht sich so leicht wie möglich im Sattel, bringt hastig die Packtaschen in Sicherheit und überlässt Filidh die Führung, doch es dauert allen Göttern sei Dank nur ein paar atemlose Augenblicke, während das Wasser mit immer stärkerem Druck an ihnen vorbeidrängt, ehe der Hengst wieder festen Boden unter den Hufen hat. Einen weiteren Ruck später sind sie draußen, triefend wie ein Sieb, aber unversehrt und auch mit all ihrer Habe, eingeschlossen des Sacks mit Hafer und des Beutels mit Lammfleisch, der Bezahlung für zwei Wochen harter Arbeit auf dem Hof der Hyrdmans.

Colevar dreht sich im Sattel um und sieht den Alten missmutig am anderen Ufer stehen. Er kann keine Hand vom Zügel nehmen, um zu winken – nicht weil er nicht wollte, sondern weil seine Finger so kalt sind, dass sie auch mit dem Leder hätten verwachsen sein können, aber er nickt noch einmal formell zum Abschied, dann wendet er sich westwärts zu dem Pfad, der ihn zurück zum Frostweg bringen würde. Die Verlassenheit der Bergwälder umfängt ihn beinahe augenblicklich, kaum hat er den Swyn und die Weiden der Schafbauern hinter sich gelassen, und Colevar heißt sowohl die Stille, als auch die Einsamkeit dankbar willkommen. Obwohl Einsamkeit eigentlich das falsche Wort ist - sicher, hier ist keine Menschenseele außer ihm selbst, doch allein ist er auch nicht. Da ist die Präsenz der Wildnis, das unmittelbare, merkwürdige Bewusstsein, dass zwischen den Bäumen etwas wartet... nicht feindselig, aber auch nicht mit offenen Armen. Er hatte etwas mehr als zwei Wochen bei den Hyrdmans verbracht, die ihn zunächst voller Angst und Misstrauen, aber nichtsdestotrotz gastfreundlich aufgenommen hatten, und das obwohl auf dem Hof vierzehn hilflose Frauen und Mädchen, und nur zwei Männer lebten, von denen einer seine besten Jahre längst hinter sich und der andere noch kaum einen Bartflaum hatte. Sie hatten ihm einen Platz zum Schlafen auf dem Heuboden des Schafstalles, Heu für sein Pferd, warmes Essen für ihn selbst und Zuflucht vor dem erbärmlichen Wetter gegeben, obwohl sie ihn, seine Größe, sein wildes Aussehen und sein Schwert sicher zu Tode gefürchtet hatten. Um es ihnen irgendwie zu vergelten, hatte er die Zäune erneuert, das Scheunendach ausgebessert, beim Lammen geholfen, einen Wolf zur Strecke gebracht, der zwei Mutterschafe gerissen hatte  und außerdem Meister Hyrdman - und dessen bisher einzigem Schwiegersohn Ine - beigestanden, während das erste (und laut Aussage der werdenden Mutter auch letzte) Enkelkind der Familie zur Welt gekommen war. Die Geburt hatte zwei volle Tage gedauert und die arme Gytha, Hyrdmans Älteste, hatte dabei schlimmer geschrien als alle lammenden Schafe zusammen. Als ihr siebzehnjähriger Ehemann am Mittag des zweiten Tages einen argwöhnischen Blick ins Haus geworfen hatte, war er postwendend wieder hinausgeworfen worden, was ihn zappelnd vor Aufregung in die Scheune zurückgetrieben hatte, wo die Männer - also Colevar und der alte Hyrdman selbst - auf ein Ende der Dinge (und das Kind), die da kommen sollten, harren mussten.

Das Haus war von den Frauen der Familie völlig in Beschlag genommen worden, von Hyrdmans Eheweib Hunild und sämtlichen ihrer Töchter – der sechszehnjährigen Gytha, die schreiend in den Wehen lag, der fünfzehnjährigen, neunmalklugen Raenburh, der vierzehnjährigen, schüchternen Willa, den vorwitzigen, zwölfjährigen Zwillingen Begga und Berenga, der ein wenig schwachsinnigen, aber fröhlichen, zehn Jahre alte Emma, sowie von Ælgifu, Sunilda, Fara, Ansgard, Eadhild und der kleinen Oda (neun, acht, sechs, fünf, vier und eineinhalb). Der Alte war zu diesem Zeitpunkt vom Selbstgebrannten schon völlig hinüber und Ine hatte sich ihm schicksalsergeben angeschlossen, so dass Colevar am Ende die Hebamme aus dem zwanzig Tausendschritt entfernten Dorf geholt (und sie auch bezahlt) hatte, und sich in den folgenden Stunden um Haus, Hof, Feuerholz, Hunde, Schafe, ein Abendmahl für alle, heißes Wasser, wuselnde Kinder und völlig aufgelöste Weiber hatte kümmern müssen. Als der Frühlingsmond rund und blass am dunklen Himmel aufgegangen war, hatte er Ine endlich am Bett seiner Frau knien sehen mit einem Gesicht, das weißer gewesen war als die frisch bezogenen Laken. Der Junge hatte erst so fassungslos auf das runde, blondflaumige Köpfchen seines neugeborenen Sohnes gestarrt,  als müsse man ihm auf die Sprünge helfen, doch dann hatte er seine Frau geküsst und angefangen zu weinen. Der Anblick der drei, dieser erste Moment mit ihrem Kind, hatte bei aller unfreiwilligen Komik eine Reinheit und Wärme besessen, so hell und glänzend wie ein Sommermorgen nach einem schweren Regen, wenn die ganze Welt wie frisch gewaschen wirkt – und er hatte geschmerzt wie ein Glassplitter im Auge. Sieh sie dir an. Sie sind selbst kaum mehr als Kinder, doch sie haben alles. Was hast du? In diesem Augenblick hatte er beschlossen, am nächsten Morgen aufzubrechen, ganz gleich wie schlecht das Wetter oder wie heftig die Stürme sein würden... und so war er gegangen. Auf dich wartet niemand. Du hast ein Haus, aber kein Heim. Es kann dir vollkommen egal sein, wo du bist, denn überall ist es gleich.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 21. Apr. 2011, 12:12 Uhr
Im Sturmwind 511



Drei endlos lange Stunden später ist Colevar so kalt, dass er ständig mit den Zähnen klappern könnte, er ist tropfnass bis auf die Leibwäsche und es ist ihm alles andere als egal, wo er ist... mögliche Jungfrau in seinem Bett hin oder her, welcher Dämon hatte ihn nur geritten, bei dieser Sintflut den Hof zu verlassen? Auf dieser Seite des Bergrückens weht der Wind zwar schwächer, doch der Regen prasselt immer noch auf ihn nieder und der Boden ist aufgeweicht, schlammig und voller glitschigen Laubs, so dass Filidhs Hufe bei jedem Schritt wahlweise wegrutschen oder bis zum Fesselgelenk einsinken. "Hmpf." Weitere zehn Schritt später bleibt der Fryslâner völlig stehen und das aus gutem Grund: ein rauschendes Wildwasser gurgelt den Berghang hinunter, springt von Fels zu Fels und rauscht über dunkle Steine. Unglücklicherweise auch über die traurigen Reste des Pfades, der den Wassermassen nicht gewachsen und talwärts gerutscht war. Colevar sitzt im Sattel und trieft vor sich hin. Der Erdrutsch scheint weder umgeh-, noch umreitbar. Links von ihm steigt die Flanke des Berges als senkrechte Felswand in die Höhe, rechts von ihm fällt der Boden so steil ab, dass es selbstmörderisch gewesen wäre, den Abstieg auch nur zu versuchen. Wäre das Hochwasser nicht gewesen, hätte er den Gedanken, zu Hyrdmans Hof zurückzukehren ernsthaft in Erwägung gezogen, doch er hat keine Wahl. Er kann sich entweder einen anderen Pfad um den Berg herum zum Frostweg suchen - oder hierbleiben und ertrinken. Unter halblauten Flüchen lässt er Filidh rückwärts weichen, bis der Weg breit genug wird, um umzudrehen und reitet dann zurück. Keine fünfhundert Schritt vom Erdrutsch entfernt findet er allen Göttern sei Dank eine Stelle, wo der Abhang nicht sonderlich steil erscheint und in einen kleinen Sattel übergeht, eine Mulde zwischen hoch aufragenden Felsen. Wenn er hier auf die andere Seite der Schlucht gelangen kann, braucht er nur am Hang des gegenüberliegenden Hügels entlang Richtung Westen zu reiten, um irgendwann wieder auf den Frostweg zu stoßen. Vom Kamm zwischen den Felsen aus erhascht er einen kurzen, klaren Blick auf die Berge der Sieben Schwestern und die grüngrauen Täler dazwischen. Die Berggipfel auf der anderen Seite jedoch sind hinter schwarzen Regenwolken verborgen, die immer wieder vom fahlen Leuchten darin verborgener Blitze erhellt werden.

Irgendwie schafft er es durch den Abgrund und erreicht die andere Seite der Schlucht. Auf dieser Seite des Hügels kommt er eine ganze Weile wesentlich besser voran, denn der Boden ist hier felsig, aber nicht allzu steil und Filidh findet guten Halt.  Auch der Wind lässt nach, dafür regnet es  jedoch noch stärker. "Wundervoll", Colevar wirft einen extrem trockenen Blick in den extrem nassen Himmel. "Nur für den Fall, dass wir vergessen, wie es ist, nass zu sein, hm?" Will er wissen und meint damit niemanden im Speziellen, sondern ganz allgemein die kosmischen Mächte, das Schicksal oder wen auch immer, der sonst gerade zuhört - dass Sithech einen seltsamen Sinn für Humor hat, weiß er längst aus eigener Erfahrung. Offensichtlich scheint seine Bemerkung jedoch gehört worden zu sein, denn kaum hat er die Worte ausgesprochen, beginnt es wie verrückt zu hageln. Winzige weiße Körner prasseln auf seinen Kopf, seine Schultern und Filidhs Kruppe, hüpfen über den steinigen Boden und sammeln sich in den Mulden zwischen den knorrigen Baumwurzeln zu kleinen, weißen Verwehungen - dann werden sie so groß wie Haselnüsse und Colevar muss hastig unter den tiefhängenden Zweigen einer alten Fichte Schutz suchen. Dort ist es zwar so laut wie im Inneren einer gigantischen Trommel, aber sie sind einigermaßen sicher vor den schmerzhaften Geschossen. Allerdings nicht für lange, denn ein verirrter Blitz schlägt so nahe bei ihrer windigen Zuflucht ein, dass selbst Filidhs stoische Gelassenheit auf eine harte Probe gestellt wird. Nur einen Herzschlag später kracht ein Donnerschlag durch das Tal, der selbst das Stakkato des Hagels in der Fichte über ihnen übertönt. Der Fryslâner wirft den Kopf hoch, stampft nervös mit den Hufen, und die Luft riecht nach Ozon. Der Hagelschauer geht so rasch vorbei, wie er gekommen war, doch der Regen rauscht von neuem nieder, stärker als zuvor. Unter ihnen verschwindet das Tal in Düsternis, Wolken und Nebel, doch im Licht der Blitze treten die schroffen Bergkämme hervor wie groteske Schattenbilder. "Ruhig, ganz ruhig. Das ist nicht unser erstes Unwetter und es wird auch nicht unser letztes sein, aye?" Nie das Pferd belügen... schon vergessen?

Der nächste Blitz zerreißt den Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Krachen. "Steh, ruhig! Ganz ruhig. Es ist alles... " Beim nächsten Donnerschlag hätte Colevar schwören können, dass die Erde bebt, aber er kann nicht darauf achten, denn er ist vollauf damit beschäftigt, sein allmählich durchdrehendes Pferd zu beruhigen und kann sich gerade noch aus dem Sattel schwingen, bevor Filidh beginnt zu steigen. Allen Göttern sei Dank wird der Hengst sofort etwas ruhiger, als er neben ihm steht und ihm die klatschnasse Hand sanft auf den triefenden Hals legt. "Alles ist gu... nein, es ist nicht gut, aber wir werden das schon schaffen. Und du hast im Übrigen völlig Recht – wir müssen hier weg, ehe der nächste Blitz uns in ein Häufchen Asche verwandelt." Es ist nicht ganz einfach, einen Hengst von fast einem Quader Gewicht, der sichtlich nervös ist und am liebsten kopflos davongestürmt wäre, in einer Geschwindigkeit auf dem Weg weiterzuführen, bei der sich Colevar nicht gleich den Hals oder die Beine bricht, aber es gelingt ihm irgendwie, selbst als die nächsten Blitze über den inzwischen tintenschwarzen Himmel zucken. Sie sind so grell, dass er den Umriss von Filidhs zuckenden Ohren auch in der folgenden Dunkelheit noch als gelbes Schattenbild vor Augen hat... aber da war noch etwas. Colevar bleibt stehen, was dem Fryslâner überhaupt nicht gefallen will und späht angestrengt in die brodelnde Regenwand, die wie ein Wasserfall ringsum sie her niedergeht. Die Tropfen hämmern auf sein Gesicht, laufen ihm in die Augen und als kalte Rinnsale unter Umhang und Hemd. "Ruhig! Schluss jetzt, steh, verdammt nochmal! Ich glaube da war..."
Im Schein des nächsten Blitzes kann er es deutlich erkennen... über ihnen am Berghang, etwa zwanzig Schritt hoch über dem schmalen, steinigen Pfad gelegen, gähnt ein großes, dunkles Loch zwischen den Bäumen.

"Dort hinauf, das muss eine Höhle sein." Erleichtert, wieder einen Herrn zu haben der offensichtlich genau weiß wo es hingeht - auch wenn Filidh weder das Wort Höhle noch den Sinn darin verstanden haben kann - folgt der Hengst ihm so fügsam wie ein Lämmchen den steilen Hang hinauf. Zu ihrem Glück entdecken sie so etwas wie einen begehbaren Steig zwischen den Kiefern und Bergahornen, so dass sie besser vorankommen, als Colevar erwartet hat. Das Loch im Berghang erweist sich tatsächlich als Höhle, sogar als ziemlich große, und das Glück bleibt ihnen ausnahmsweise einmal Hold, denn sie ist außerdem völlig unbewohnt... einen hungrigen, übel gelaunten Branbären aus dem  Winterschlaf aufzuschrecken, hätte ihnen jetzt gerade noch gefehlt.  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 22. Apr. 2011, 20:05 Uhr
"Na, komm schon, Alterchen. Es ist nicht mehr weit, nur noch ein kleines Stück." Morian tätschelt dem alten Wallach, der tapfer neben ihr durch den strömenden Regen trottet, aufmunternd den Hals. Wasser rinnt in kleinen Bächen aus seiner triefenden Mähne und sein Fell ist dunkel vor Nässe – und sie selbst sieht auch nicht viel besser aus. Der Umhang, den sie trägt, ist aus dichtgesponnener Wolle und schützt für gewöhnlich ganz gut gegen Kälte, und auch ein paar Regentropfen können ihm nichts anhaben, doch gegen die sintflutartigen Wassermassen, die seit Tagen vom Himmel stürzen, kann auch die dickste Schafwolle nichts mehr ausrichten. Morian hat inzwischen keinen trockenen Faden mehr am Leib und selbst in den Stiefeln quietscht das Wasser bei jedem Schritt. Ein Katzensprung, hatte der Bauer behauptet, als sie zeitig am Morgen aufgebrochen war, in einer winzigen Ortschaft, deren Namen sie schon wieder vergessen hat. Es sind nur ein paar Wegstunden bis nach Krötenwald, bis zum Nachmittag seid ihr längst dort. Haha ... Die junge Frau stößt ein resigniertes Schnauben aus und zieht sich die lederne Kappe noch ein wenig tiefer ins Gesicht, um Wind und Nässe abzuhalten. Mittlerweile neigt sich die Sonne schon dem Horizont zu - oder wenigstens vermutet sie das, denn Sonne hat sie in diesem völlig verregneten Taumond seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen – und noch ist weit und breit kein Dorf in Sicht.

Entweder wollte der Bauer sie mit seiner optimistischen Zeitangabe an der Nase herumführen oder er hat einfach nicht bedacht, dass sie ein altersschwaches Pferd bei sich hat, gegen strömenden Regen ankämpfen muss und dass der Weg, den er ihr gewiesen hat, in diesen Vorfrühlingstagen kein Weg ist, sondern eine sich durchs Svalttal schlängelnde Schlammflut. "Elendes Dreckswetter", schimpft sie vor sich hin und zieht mit einem schmatzenden Geräusch den linken Stiefel aus einem Sumpfloch, in dem er soeben bis zum Knöchel eingesackt ist. "Wir hätten vielleicht doch besser auf dem Frostweg bleiben sollen. Da ist es bestimmt auch nicht trocken, aber wenigstens versinkt man nicht bei jedem zweiten Schritt in diesem götterverdammten Matsch." Die meiste Zeit ihrer Reise hatte Morian um die lebhaften, vielfrequentierten Routen wie die Handelsstraße entlang des Rhaíns oder eben den Frostweg einen großen Bogen gemacht, um allzu neugierigen Blicken zu entgehen, doch bei diesem Wetter stellt sich das als ziemlich hirnrissiges Unterfangen heraus, denn es bedeutet, dass sie die meiste Zeit durch sumpfige Felder und überschwemmte Wiesen waten und vom Frühjahrshochwasser angeschwollene Bäche passieren muss. Entlang der Handelswege hätte sie sicher auch ein trockenes Plätzchen für sich und das Pferd finden können, um das Ende der Wasserfluten abzuwarten, einen Stall, eine Bauernkate oder vielleicht ein Wirtshaus, doch stattdessen musste sie ja unbedingt querfeldein losziehen, mit dem Ergebnis, dass sie nun nass bis auf die Knochen durch das Gelderlâner Hügelland planscht und keinen blassen Schimmer hat, wo nun dieses verflixte Krötenwald liegt.

Seit Wochen nun schon durchwandert Morian diesen nordöstlichen Teil der Rhaínlande, eine hübsche, bewaldete Hügellandschaft, bevölkert von einem unüberschaubaren Gewimmel aus noch unüberschaubareren Mogbarfamilien, die irgendwie alle miteinander verwandt zu sein scheinen. Die Mogbars, denen sie bislang begegnet ist, hatten in jedem Nachbardorf im Umkreis von ein paar Tausendschritt mindestens drei Dutzend engere Verwandte sitzen, von denen jeder einzelne wiederum drei Dutzend Verwandte in den weiter entfernt liegenden Dörfern sein Eigen nennen konnte, von denen wiederum jeder ... und so weiter und so fort. Ein paar Tage lang, als der Eisfrost die Straßen und Wege unpassierbar gemacht hatte, war Morian bei einer Mogbarfamilie untergekrochen, Flinkfuchs mit Namen, in deren Häuschen sich grob geschätzt (die genaue Anzahl konnte sie bei diesem Gewusel beim besten Willen nicht ermitteln) zwanzig bis fünfundzwanzig Personen in verschiedensten Altersstadien vom plärrenden Wickelkind bis hin zum zahnlosen Tattergreis aufgehalten hatten. Auf ihre betretene Frage hin, ob sie gerade in eine Familienfeier geplatzt sei, hatten ihre Gastgeber nur verwirrte Gesichter gemacht und allen Ernstes behauptet, das sei ganz normal und sie würden alle hier wohnen, und überhaupt, wären der älteste Sohn mit seiner Frau und den drei Kindern sowie zwei der mittleren Töchter und die Schwester der Großmutter ja im Moment gar nicht zu Hause. Sprachlos vor Verblüffung hatte Morian nur auf diesen herumwimmelnden Ameisenhaufen von engsten Anverwandten starren können und einsehen müssen, dass sie mit ihrer Definition des Begriffs Großfamilie bislang wohl ziemlich daneben gelegen hatte.

So viele Familienmitglieder sich in ihren Haushalten auch immer drängeln, die geselligen Mogbars scheinen dennoch immer noch einen Platz für überraschende Besucher zu finden. Morian hatte in der Vergangenheit zusammen mit ihrem Vater, einem Norlâner Waffenhändler, etliche Reisen durch die Rhaínlande und auch in die Grenzgebiete der Herzlande und Immerfrost unternommen, nie war ihr jedoch ein Völkchen begegnet, das herzlicher und gastfreundlicher gewesen wäre als die kleinen Leute in den Tälern von Svalt und Bree. Flinkfuchs, der sie vor einigen Siebentagen so gastlich aufgenommen hatte, war es auch gewesen, der sie nach Krötenwald geschickt hatte, dem Dörfchen, nach dem sie gerade auf der Suche ist, weil dort der Bruder des Schwiegersohns einer seiner Vetter (oder so ähnlich) eine Mühle am Svalt betreibt und stets eine helfende Hand gebrauchen kann, die gegen einen Platz im Stall, ein warmes Essen und ein paar Kupferlinge Mehlsäcke schleppt, die Mühle ausfegt und ähnliche Arbeiten verrichtet. Und da Morians Ersparnisse schon längst aufgebraucht und der Lohn ihrer letzten Arbeitsstelle auf ein paar mickrige Kupferlinge zusammengeschrumpft ist, kommt ihr das gerade recht, denn irgendwie muss sie schließlich diese Reise finanzieren.

Obendrein hat sie mit dem alten Wallach, den sie unterwegs aufgegabelt und aus lauter Mitleid mit ihren letzten paar Silberlingen dem Abdecker vor der Nase weggekauft hatte, noch einen unerwarteten Fresser mehr, den es zu versorgen gilt. Er ist jedoch auch ihr einziger Freund auf dieser einsamen, beschwerlichen Reise, und ein greiser Gaul ist immer noch besser als gar kein Gesprächspartner, selbst wenn er einem dabei den halben Proviant wegfuttert. "Wir müssen uns irgendwo unterstellen", seufzt sie, "sonst werden wir noch weggeschwemmt. Und es wird auch schon bald dunkel." Hühnchen, wie sie das alte, ausrangierte Arbeitspferd genannt hatte (weil sie ihn auf einem belebten Marktplatz gefunden hatte, wo er an einen Karren gebunden geduldig im strömenden Regen gestanden und in aller Seelenruhe eine Schar gackernder Hühner beschirmt hatte, die unter seinem Bauch Zuflucht vor den Wasserfluten gesucht hatten), schnaubt zustimmend, mit hängendem Kopf und hängenden Ohren, von denen der Regen tropft. Er sieht so unglücklich und zum Erbarmen aus, dass es Morian schmerzhaft das Herz zusammenzieht. "Armer Kerl, halte noch ein bisschen durch, wir finden schon einen Unterschlupf. Das da vorne sieht aus wie ein Schuppen oder so etwas, wir versuchen es dort mal."

Sie durchqueren gerade ein weites Tal, das dicht mit knorrigen Apfel- und Kirschbäumen bestanden ist, und zwischen den noch unbelaubten Zweigen erspäht sie eine morsche kleine Holzhütte, die den Bauern im Sommer vermutlich als Obstlager dient und so baufällig wirkt, als würde sie schon seit den Zeiten des alten Imperiums hier vor sich hingammeln. Den nächsten stärkeren Sturm wird sie wohl kaum mehr überstehen und zusammenbrechen wie ein Kartenhaus, aber im Moment ist sie noch soweit intakt, dass sie Wind und Regen abhält. Vorsichtig öffnet Morian die schief in den Angeln hängende Tür und äugt ins düstere Innere. Bis auf einige kleinere Rinnsale, die durch Löcher im Schindeldach plätschern, scheint die Hütte halbwegs trocken zu sein und so bugsiert sie den triefnassen Gaul hinein und sich hinterher. Der Schuppen ist gerade mal so geräumig wie eine mittelgroße Pferdebox, mit einer schmalen Holzbank an einer Längsseite und einem Stapel vermoderter Holzkisten, Latten und Gerätschaften in einer Ecke, und wenn er auch kein Luxusquartier ist, so können sie hier wenigstens warten, bis der Regen ein wenig nachlässt und zur Not sogar die Nacht verbringen.

Sie nimmt Hühnchen das Gepäck und den Sattel ab, der sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hat wie ein Schwamm, und streift ihm das Wasser aus Mähne und Fell, so gut es geht. Sie würde ihn ja gern trockenreiben, aber jeder einzelne Fetzen Stoff, den sie am Leib trägt oder in den Satteltaschen hat, ist so nass, als hätte sie ihn gerade aus dem Svalt gefischt. Wenigstens ist der Haferbeutel, den sie fest mit Leder umwickelt hat, einigermaßen trockengeblieben, und Hühnchen, ausgehungert wie ein Höhlenbär nach dem Winter, stürzt sich auf das Futter, als sei es die letzte Mahlzeit vor einer drohenden Hungersnot. Erschöpft nimmt Morian den tropfenden Umhang ab und lässt sich auf die schmale Holzpritsche plumpsen, auf der sie wohl notgedrungen die Nacht verbringen wird. Weiterzuziehen wäre sinnlos, denn mittlerweile ist es so finster, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen kann, und obendrein weiß sie nicht einmal genau, wo sie ist. Die Tür des Schuppens steht noch offen und Morian blickt eine Weile trübsinnig hinaus ins letzte Dämmerlicht. Draußen regnet es inzwischen so sehr, dass die Bäume ringsum sich biegen, als würden sie sich bei sich selbst unterstellen wollen, und zwischen ihren nassglänzenden Stämmen wird sie eines Schattens gewahr, der dort herumschleicht. Ein grauer Schatten, der sie seit dem Morgen zu verfolgen scheint, von einem Tier vermutlich, vielleicht einem streunenden Köter oder einem Wolf, wobei sie hofft, dass es sich nicht um letzteres handelt. Ein paar Mal hat sie die Gestalt durch die Regenschleier schimmern sehen, doch nie hat sie sich wirklich blicken lassen, was immer es auch sein mag, das sich auf ihre Fährte gesetzt hat. Sicherheitshalber zieht sie ihr Messer aus der Lederscheide am Gürtel, und versucht, keine Angst zu zeigen, doch innerlich schlottern ihr die Knie, weil sie genau weiß, dass sie gegen einen ausgewachsenen Wolf kaum eine Chance hat.

Eigensinnig reckt sie ihr Kinn in die Luft und ist mit zwei schnellen Sätzen an der Tür. "He da!" schreit sie zornig in den Regen hinaus. "Zeig dich endlich, du feiges Vieh! Schleichst da herum ... komm doch raus, wenn du dich traust, na los!" Aber der graue Schatten scheint plötzlich wieder verschwunden zu sein und der rauschende Regen überdeckt jegliches Geräusch. Morian verbarrikadiert die klapprige Holztür mit ein paar Latten und verkriecht sich mit bangem Herzen wieder auf die schmale Pritsche an der Wand. Das Messer neben sich und die Augen ständig auf die Tür gerichtet, nimmt sie ein karges Nachtmahl aus Käse und ziemlich aufgeweichtem Brot ein, und sie schlingt dabei nicht weniger hungrig als das Pferd. "Ach, Hühnchen, was sollen wir bloß machen? Jetzt sitzen wir schon wieder fest, dabei sollten wir uns beeilen, bevor wir die Spur verlieren. Wir sollten schon längst in diesem vermaledeiten Dorf sein ... ach was, wir sollten schon längst in den Herzlanden sein. Götterverflucht!" Im Dunkeln räumt sie die Reste ihrer Mahlzeit wieder in die Satteltaschen zurück, dann zieht sie sich aus bis auf die Unterwäsche und wringt ihre Kleidungsstücke aus, die wahre Wasserfälle zu Boden plätschern lassen. Wenn sie auch nicht gerade glücklich darüber ist, die Nacht halbnackt in einem Schuppen mitten in der Wildnis verbringen zu müssen - in den nassen Sachen würde sie sich auf jeden Fall den Tod holen. Frierend kauert sie sich auf der Holzbank zusammen und schlingt die Arme um die angezogenen Knie. Sie fühlt sich mutlos und allein, und wünscht sich von Herzen, einfach umkehren zu können, zurück an die Silbermeerküste, zurück in ihr altes Leben, zurück in ihr Zuhause. Doch es gibt kein Zuhause mehr und auch kein altes Leben. Gleichgültig, wie widrig ihre Reise nach Süden noch werden wird, gleichgültig, was sich ihr auch entgegenstellen mag - sie muss weiter. Es gibt kein Zurück. "Wir werden das schon irgendwie schaffen", murmelt sie schläfrig. "Gut' Nacht, Hühnchen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 27. Apr. 2011, 07:44 Uhr
Ihr Glück hält an. Der Höhleneingang ist ein hoher, nahezu halbrunder Bogen aus grauem Stein, sicherlich acht Schritt breit und vielleicht halb so hoch. Er spannt sich über einem vorspringenden Sims mit felsigem, aber erstaunlich ebenem Boden, das wie ein Schwalbennest am Berghang klebt – wäre der Vorhang aus grauem Regen und die Düsternis der Sturmwolken nicht gewesen, hätte man das ganze Tal überblicken können. Die Höhle selbst scheint tatsächlich unbewohnt – als Colevar sein Pferd aus dem heulenden Wind und dem grollenden Gewitter ins Trockene führt, späht er wachsam umher, kann jedoch keinerlei Anzeichen dafür entdecken, dass in letzter Zeit irgendein Tier oder sonstiges Lebewesen hier gewesen wäre. Vom Wind hereingetragenes Laub und Nadeln, sowie Staub und Erde hatten  auf dem ursprünglich wohl felsigen Boden eine trockene, relativ fest getretene Schicht entstehen lassen, doch weder Gerüche, noch Geräusche oder Spuren weisen auf irgendwelches Leben hin. Im grellen Licht eines zuckenden Blitzes kann er allerdings die vagen Reste einer mit Steinen umlegten, ehemaligen Feuerstelle am Boden entdecken und schwärzliche Rauchspuren an der felsigen Decke verraten, dass diese Höhle wohl nicht zum ersten Mal einem Wanderer, Reisenden oder Hirten in diesen Bergen als Unterschlupf dient. Allerdings ist die Feuergrube schon so lange nicht mehr benutzt worden, dass die Steine an ihrem Rand bereits Moos angesetzt haben. Ihre Zuflucht ist nicht unbedingt riesig, aber auch nicht gerade klein, und bildet im Wesentlichen einen ziemlich runden Hohlraum mit einer hochgewölbten Decke, bauchig wie das Innere einer dicken Amphore. Weiter hinten im Dunkeln gibt es nur noch ein paar niedrige, finstere Nischen an den Wänden, in denen ein halbes Dutzend vermodernde Kisten und Schließkörbe vor sich hin gammeln, sowie  - Götterlob! - einen alten und strohtrockenen Vorrat an Feuerholz, der sauber aufgestapelt an der östlichen Wand unter einem Haufen alten Laubes zum Vorschein kommt... sonst nichts.

Colevar nimmt Filidh den klitschnassen Sattel, die Packtaschen, seine tropfenden Schlafpelze und alles andere Gepäck ab, das ebenso durchweicht ist, und reibt den Hengst mit ein paar Handvoll Herbstlaub vom letzten Jahr, das der Wind in großzügigen Haufen an den Höhlenwänden zusammengeweht hatte, so gut es geht trocken. Froh, dem Toben des Sturms draußen entkommen zu sein, stört der Fryslâner sich nicht länger an den zuckenden Blitzen und den krachenden Donnerschlägen, sondern frisst bald zufrieden sein ein wenig feucht gewordenes Heu. Nachdem sein Pferd versorgt ist, macht sich Colevar an eine Bestandsaufnahme seiner Habseligkeiten. Er hat reichlich Vorräte und sogar frisches Lammfleisch von den Hyrdmans, und dank der trockenen Holzvorräte in der Höhle ist er auch  in der Lage, ein Feuer zu schüren, doch fast sein gesamtes Gepäck ist zumindest feucht, vieles sogar noch immer klatschnass. Aus ein paar langen Ästen, die er von draußen hereinholt, errichtet er einige wacklige, aber brauchbare Gestelle zum Trocknen an der Höhlenwand und hängt seine schweren Schlafpelze, Filidhs Satteldecke, seinen Umhang, die triefenden Kleider und alles Lederzeug auf. Zumindest das Leder würde ein paar Tage brauchen, um zu trocknen und danach würde er es walken und fetten müssen, damit es nicht völlig steif wird... wie er es auch dreht und wendet, eine Zeitlang wird er auf jeden Fall hier festsitzen. Auch der Hafer ist nass geworden und muss zum Trocknen ausgebreitet werden, damit er nicht verdirbt, ebenso wie das meiste seines eigenen Proviants. Finde dich damit ab - du musst ohnehin die Stürme abwarten. Auf drei oder vier Tage mehr kommt es nun wirklich nicht mehr an. Er stopft seine Stiefel mit trockenem Laub aus und stellt sie zum Trocknen so nahe ans Feuer, wie er es wagen kann, ohne dass die Flammen oder Funkenflug sie erreichen. Dann schält er sich aus seinen nassen Kleidern und wühlt recht erfolglos in den durchweichten Satteltaschen nach einem trockenen Hemd und einer Hose, aus der nicht in Sturzbächen das Wasser rinnt.

Ziemlich feucht und durchgefroren setzt er sich ans Feuer und breitet seine Vorräte, die Zunderschachtel samt Inhalt und sein sonstiges Gepäck zum Trocknen auf dem Boden aus. Die Flammen prasseln inzwischen hell und warm in der mit Steinen eingefassten Grube, und füllen die Höhle mit orangerotem Schein und tanzenden Schatten. Draußen geht der Regen unvermindert heftig als kalte, graue Wasserwand nieder, aber das Gewitter scheint langsam weiter zu ziehen, denn die Abstände zwischen Donner und Blitz werden merklich länger und das grollende Krachen des Himmels allmählich leiser. Colevar sitzt am Feuer, starrt in die Flammen und fühlt sich so allein, wie ein Mensch es nur sein kann. Er lauscht auf etwas in seinem Inneren, aber da ist nichts mehr außer Schweigen.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 13. Mai 2011, 13:44 Uhr
Ein wenig abseits des Frostwegs




Als Morian im ersten Morgenlicht die Nase zur Tür des Schuppens hinausstreckt und argwöhnisch in den Himmel blinzelt, stellt sie mit einem Seufzer der Erleichterung fest, dass sich der wasserfallartige Regen der Nacht zu einem steten, gleichförmigen Nieseln abgeschwächt hat. Die Wolken sind noch immer dunkel wie altes Eisen und hängen so tief über den Obstbäumen, als wollten sie deren kahle Baumkronen ausbrüten, aber wenigstens schüttet es nicht mehr wie aus Kübeln, sodass sie heute hoffentlich dieses verflixte Dorf erreichen werden. Und auch von dem unheimlichen Schemen der letzten Nacht, ihrem schattengrauer Verfolger, ist weit und breit nichts zu sehen, so angestrengt sie auch nach ihm Ausschau hält. Hühnchens Fell ist über Nacht ordentlich getrocknet, im Gegensatz zu ihren Kleidern, die im Moment mehr nassen Scheuerlappen gleichen als Hemd und Hose. Sie wieder anzuziehen fühlt sich an, als würde man in einen eiskalten Froschteich springen, aber Morian muss wohl oder übel in den sauren Apfel beißen, und es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als die Luft anzuhalten, schlotternd den Bauch einzuziehen und dann todesmutig in ihre klebrigfeuchten, ledernen Beinkleider zu schlüpfen. Obwohl sie sich beim Anziehen beeilt, um nicht unnötig in der Kälte herumzustehen, prüft sie sorgfältig jedes Detail ihrer Verkleidung, die ihr mittlerweile beinahe zur zweiten Haut geworden ist. Mit geübten Fingern wickelt sie die schon ein wenig fadenscheinig gewordenen Leinenstreifen fest um ihren Oberkörper, um auch jede noch so kleine weibliche Rundung, die sie verraten könnte, darunter zu verbergen.

Zum Glück ist sie nicht gerade üppig gebaut, und durch die lange und beschwerliche Reise hat sie obendrein noch reichlich an Gewicht verloren, sodass es ihr inzwischen nicht mehr schwer fällt, sich mit wenigen Handgriffen in einen Jungen zu verwandeln. Während sie in ihre abgetragenen Stiefel schlüpft und sich Hemd und Lederwams über den flachgeschnürten Oberkörper zieht, kommt ihr jener Tag im vergangenen Sommer in den Sinn, an dem sie zum ersten Mal diese Verkleidung benutzt hatte. Freiwillig hatte sie dies nicht getan, aber als junge Frau allein über Land zu reisen ist selbst in den sicheren Rhaínlanden eine nicht ungefährliche Angelegenheit. Kaum einen Zehntag nach ihrem Aufbruch hatte sie die Nase schon gestrichen voll von den fortwährenden zweideutigen Angeboten diverser männlicher Reisender, die ihr unterwegs begegnet waren, war einem Überfall nur um Haaresbreite entgangen, und hatte es obendrein gründlich satt, in jedem Gasthaus, in dem sie Station machen wollte, als eine Art Freiwild betrachtet zu werden, das man nach Belieben betatschen, begrabschen und beleidigen kann. Also hatte sie sich eine Lederkappe besorgt, unter deren Schirm sie ihr Gesicht verbergen konnte, hatte ihr langes Haar darunter gestopft und sich ein wenig die Wangen geschwärzt, in der Hoffnung, dass man ihr die Verkleidung abnehmen würde.

Der erste Bauer jedoch, bei dem sie um eine Arbeit als Knecht vorgesprochen hatte, hatte sie verdutzt angeblickt, sich den kahlen Schädel gekratzt und sie dann grinsend gefragt, warum, bei allen Neun Höllen, ein hübsches Mädel wie sie glaube, sie käme leichter an Lohn und Brot, wenn sie sich als Kerl ausstaffiere - sie bräuchte sich nur zu ihm auf die Schlafstatt legen, dann würde er sich schon ausreichend um sie kümmern. Das alles hatte er noch anschaulich mit ziemlich eindeutigen Gesten untermalt, die Morian die Schamesröte ins Gesicht getrieben hatten. Wutschnaubend hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und zugesehen, dass sie Land gewinnt und aus seiner Reichweite kommt - und sie hatte notgedrungen einsehen müssen, dass wohl noch mehr dazu gehört, als unter eine Kappe gestopftes, langes Haar und unflätige Reden, um als Junge durchzugehen. Aber sie war nicht bereit gewesen, so schnell aufzugeben, und hatte von da an prompt jeden Kerl, der ihr begegnet war, einer genauen Inspektion unterzogen. Unter gesenkten Wimpern hervor hatte sie heimlich und  wann immer sich Gelegenheit dazu geboten hatte, Männer aller Altersstufen beobachtet, beim Gehen, beim Stehen, beim Arbeiten, beim Spielen, beim Reiten, beim Reden und Spucken und Würfeln und Trinken, und sie hatte versucht, ihre Haltung und ihre Körpersprache zu kopieren.

Im Lauf der nächsten Siebentage hatte sie geübt, sich wie ein Junge zu benehmen, wie einer zu sprechen, zu gehen und zu fluchen, so lange, bis niemand mehr ein verkleidetes Mädchen sah, sondern nur noch einen ganz gewöhnlichen, unauffälligen Bauernlümmel auf Arbeitssuche. Mit ihrem Munddolch hatte sie sich obendrein das lange, rotbraune Haar abgesäbelt, das ihr jetzt reichlich schief geschnitten nur noch bis zur Schulter reicht, und auch ihre Stimme weiß sie mittlerweile recht glaubhaft zu verstellen. So zieht sie nun seit dem vergangenen Sommer durch die Rhaínlande und über den Frostweg nach Süden: ein Bengel von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren, maulfaul, verschlossen und eigenbrötlerisch, stets auf der Suche nach Arbeit, einem Nachtlager und einer warmen Mahlzeit. Und in dieser Verkleidung wird er mich auch nicht aufspüren, denn er sucht ja nach einer Frau... wenigstens hoffe ich das.
Mit gespreizten Finger fährt Morian sich kreuz und quer durch das dunkle Haar, stülpt sich dann die lederne Kappe über und schnallt Hühnchen ihr weniges Gepäck auf den knochigen Senkrücken. Der braune Wallach schnaubt und schnobert hungrig an ihren Taschen herum auf der Suche nach einem Frühstück, aber es ist nicht mehr viel zu finden. Nach einigem Herumkramen fördert sie noch ein Stückchen Brot zu Tage, das sie dem Pferd zusteckt, doch es ist so hart, dass man damit einem Zwerg den Schädel einschlagen könnte. Wieder einmal kann sie Hühnchen nur vertrösten: "In dem Dorf bekommen wir sicher Heu und vielleicht auch etwas Hafer - aber dazu müssen wir dieses verflixte Kaff erst einmal finden. Komm schon, Alterchen, auf geht's."

Am späten Vormittag erreichen sie dann tatsächlich Krötenwald, das Mogbardorf, in dem Flinkfuchsens Vetter seine Mühle betreibt. Das Örtchen ist ein hübscher Marktflecken, gelegen im Svalttal und eingerahmt von Feldern, Obstgärten und einem lichten Wäldchen, das zaghaft das erste Frühlingsgrün zeigt. Die Pfützen auf dem Weg besitzen nach den vergangenen Regentagen zwar die Ausmaße mittelgroßer Badeseen, aber im Lauf des Morgens hat das Nieseln aufgehört und aus den dichten Wolken blitzt ab und an sogar ein verirrter Sonnenstrahl, als Morian den Ortseingang erreicht. Schmucke kleine Häuser mit tief heruntergezogenen Strohdächern säumen aneinandergekuschelt den Weg, und sie kann weiter vorne einige Marktstände erkennen, die von einer Schar tratschender Mogbarsfrauen belagert werden, ein Gasthaus und eine offene Hufschmiede, aus der Kohlerauch und lebhaftes Hämmern dringen. Die Mühle liegt ganz am Ende des Dorfes, an einem ruhigen Seitenarm des Svalts, sodass Morian mehrmals innehalten und Passanten nach dem Weg fragen muss. Schon seit Wochen ist es ihr nicht mehr passiert, dass sie in ihrer Verkleidung Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, aber als sie nun mit ihrem alten klapprigen Gaul am Zügel die Dorfstraße entlangstiefelt, hat sie das Gefühl, dass ihr heimliche, ja, sogar irgendwie belustigte Blicke folgen.

Hab' ich vielleicht die Mütze vergessen? Besorgt tastet sie nach ihrer ledernen Kappe, doch die sitzt genau da, wo sie sitzen muss. Nein. Hm … oder ist etwas mit der Kleidung nicht in Ordnung? Mit meinem Gang? Aber auch Kleidung und Gangart halten ihrer Prüfung stand, sie latscht genauso lümmelhaft dahin, wie sie es schon seit Wochen erfolgreich tut. Ja, aber was ... was um aller Welt glotzen die bloß alle so? Morian wirft einen misstrauischen Blick auf Hühnchen und vergewissert sich, dass dem alten Klepper in der Zwischenzeit kein Geweih gewachsen ist und sein stumpfbraunes Fell sich nicht in das leuchtendbunte Gefieder eines Pararuas verwandelt hat - aber auch das Pferd sieht aus wie immer. Da! Schon wieder! Was haben die denn nur? Als sie den Kopf nach ein paar Kindern wendet, die ihr kichernd nachsehen, laufen die Rangen flink wie eine Horde Eichhörnchen davon, bevor Morian auch nur den Mund aufmachen kann. Kopfschüttelnd wendet sie sich wieder der Straße zu und steuert schnurstracks die Mühle an, die schon in Sichtweite ist. Sie klappern über eine breite Holzbrücke, die den Mühlbach überspannt und passieren ein kleines, aber hübsches Häuschen mit einem blitzsauber gepflegten Garten - offenbar das Müllershaus.

Auf dem sonnengesprenkelten Hof vor der direkt an den Garten grenzenden Mühle ist ein kleiner, stämmiger Mogbar gerade dabei, einen Karren mit Mehlsäcken zu beladen. Seine Statur erinnert stark an ein Bierfass, und er schnaubt und prustet wie ein asthmatischer Wasserkessel, während er die schweren Säcke auf die Ladefläche des Gefährts wuchtet. "Einen schönen guten Morgen wünsch' ich", ruft Morian ihm zu und zupft an Hühnchens Zügel, um den alten Wallach anzuhalten. "Seid Ihr Meister Flinkfuchs, der Müller?" Der fassförmige Mogbar hält in seiner Arbeit inne und wischt sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, während er seinen Besuch interessiert betrachtet. "Der bin ich, Jungchen", bekundet er, als sie zu ihm tritt. "Und wer will das wissen?" Er hat ein breites, freundliches Gesicht mit einer gewaltigen Nase, und seine wolligen, abstehenden Haare sind über und über mit Mehlstaub überpudert, sodass er aussieht wie eine überdimensionale Pusteblume. "Morren ist mein Name", erklärt Morian und benutzt dabei die leicht abgewandelte Bauernjunge-auf-Arbeitssuche-Version ihres eigenen Namens. "Ich komme gerade von Eurem Vetter und seiner Familie, den Flinkfuchsens aus Nebelmoos, von denen ich die besten Grüße überbringen soll. Gevatter Flinkfuchs sagte, Ihr könntet gut Hilfe in der Mühle gebrauchen und würdet vielleicht einen armen Burschen wie mich in Lohn und Brot nehmen."

"Soso, aus Nebelmoos, sagst du ... wie geht es denn dem alten Schwerenöter? Muss doch inzwischen schon zwei Dutzend Kinder haben?" Der Müller mustert sein Gegenüber mit überaus kritischem Blick, aber durchaus wohlwollend. "Nun, sei's drum. Lohn und Brot suchst du also? Du siehst mir nicht gerade aus wie ein Bär, Jungchen .... kannst du diese Säcke hier überhaupt heben?" Morian zögert nicht lange, sondern schreitet beherzt zur Tat. Zwar knicken ihr unter dem Gewicht fast die Beine ein, aber sie schafft es doch, sich einen der Mehlsäcke auf die Schulter zu wuchten. Sie mag im Moment vielleicht ziemlich mager sein und nicht gerade die Kräfte eines stiernackigen Schwertschwingers oder Bergarbeiters haben, aber all die Gelegenheitsarbeiten, die sie seit dem letzten Sommer angenommen hatte, hatten sie abgehärtet, ihre Muskeln gekräftigt und ihre Hände mit Schwielen versehen. Bei ihrer langen Wanderschaft durch die Rhaínlande hatte sie, um das Geld für ihre Reise zu verdienen, als Knecht geschuftet, als Pferdebursche und als Schafhirte, als Gehilfe eines Flößers und als Küchenjunge, sie hatte Treidelkähne gezogen, Kälber entbunden, Torfballen verladen und fluchend Latrinen geschrubbt, Ställe ausgemistet und Fischabfälle geschaufelt - also werd' ich verdammt noch mal auch diese paar gammeligen Mehlsäcke schleppen können!

"Nun hör schon auf, bevor du mir hier zusammenbrichst", gluckst der Müller, "ich glaub's dir ja, Jungchen. Eine warme Mahlzeit am Tag kann ich dir wohl bieten, einen Schlafplatz im Stall, und wenn du zwei Wochen bleibst, noch ein paar Silberlinge extra. Einverstanden?" Morian nimmt das Angebot so gierig an wie ein herumstreunender Hund einen Brocken Hühnerfleisch und nickt zufrieden. Allerdings hat die Sache noch einen kleinen Haken: "Und das Pferd?" Flinkfuchs zwinkert gutmütig und lässt den Blick zu dem geduldig wartenden Hühnchen schweifen. "Na, den alten Klepper werden wir wohl auch noch satt kriegen. Aber die Ziege bleibt draußen."
"Die Ziege?" Morian hat nicht die leiseste Ahnung, wovon er spricht.
"Na, deine Begleiterin."
"Begleiterin?", echot sie und versteht noch viel weniger.
"Jetzt stell' dich nicht dümmer als du bist, Bürschchen, ich meine dieses komische, krummbeinige Vieh dort, das gerade meine Radieschen verspeist! Würdest du vielleicht bitte die Güte haben, dieses Monstrum aus meinem Garten zu entfernen? Meine Frau wird dir die Ohren lang ziehen, wenn sie das sieht!"
Ziege? Monstrum? Radieschen? Sprachlos vor Verblüffung fährt Morian in die Richtung herum, die der Müller weist, und tatsächlich: in dem gepflegten Gemüsegärtchen mit all den akkurat gezogenen Beetreihen und frisch ausgesetzten Pflanzenschößlingen - sicher das Herzblut und der ganze Stolz der braven Müllersfrau - steht eine zottelige, graue Ziege und mampft genüsslich ein spätes Frühstück. Lange Stirnfransen hängen ihr ins Gesicht und Radieschenblätter aus dem Maul.

"Die gehört mir nicht", beteuert Morian verwirrt, doch der Müller wirft ihr nur einen überaus skeptischen Seitenblick zu und sieht aus, als glaube er ihr kein Wort. "Ehrlich! Ich habe diese Ziege noch nie gesehen!"
"So? Sie ist aber zusammen mit dir hier angekommen, und wenn ich mir das hier so anschaue ..." - er macht eine weitschweifige Geste, die die umliegenden Häuser und die halbe Dorfstraße mit einschließt und obendrein auch eine Handvoll kichernder Mägde, ein paar Bauersfrauen, den grinsenden Schmied und ein ganzes Rudel lachender und prustender Kinder, die sich alle am anderen Ende der Brücke versammelt haben und sie belustigt beobachten - "...würde ich vermuten, dass sie dir schon eine ganze Weile nachläuft."
Morian betrachtet perplex und mit heruntergeklappter Kinnlade die Szenerie. Und plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: diese Ziege ist der Schatten, ihr geheimnisvoller Verfolger, der sie seit Tagen im Visier hat und im Dunkeln um die Hütte herumgeschlichen ist, der Schatten, vor dem sie sich fast zu Tode gefürchtet hätte ....
"Hmmpf! Na warte, du .... du …" Schnaubend stemmt sie die Fäuste in die Hüften und ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. Sie kann sich gar nicht entscheiden, ob sie der Ziege den dämlichen Hals umdrehen oder lieber über sich selber lachen soll, weil sie sich von ihr so an der Nase hat herumführen lassen. In jedem Fall aber ist eine gehörige Standpauke fällig und so stapft sie energisch auf das grünzeugzermalmende graue Zotteltier zu, das ihr unschuldig entgegenblinzelt - Morians erster großer Fehler.

Ihr zweiter großer Fehler ist, dass sie nicht sofort auf dem Absatz kehrt macht und schleunigst die Flucht ergreift, als das Tier - anstatt davonzulaufen, wie es sich anstandshalber für einen schuldbewussten Radieschendieb gehören würde - mit einem fröhlichen Meckern schnurstracks auf sie zutrabt. Das lässt Morian verblüfft innehalten und nimmt ihr völlig den Wind aus den Segeln. Offenbar hält die Ziege das Wutschnauben ihres Gegenübers für den Auftakt einer netten Unterhaltung und lässt sich weder einschüchtern noch vertreiben, im Gegenteil, sie schielt während ihrer Strafpredigt so glückselig unter ihren langen Stirnzotteln zu ihr empor, als würde Morian ihr die Speisekarte eines Fünf-Sterne-Ziegenrestaurants vorlesen. Aus der eigentlich geplanten stürmischen Maßregelung wird demzufolge auch nur noch ein laues Lüftchen, und selbst dafür muss Morian ihre ganze Willenskraft aufbieten. "Böse Ziege", schilt sie (schon ziemlich lahm und mit dem Anflug eines Lächelns in den Mundwinkeln), und dann macht sie den dritten großen Fehler, der die anlehnungsbedürftige Geiß in eine nicht mehr zu entfernende Klette verwandelt: sie krault ihr leichtsinnigerweise das weiche Fell unter dem Kinn. Das Tier verdreht verzückt die Augen und schmiegt sich an Morians Beine, wobei es ein ekstatisches Meckern von sich gibt und aussieht, als würde es vor Wonne gleich zusammenbrechen. "So, die Ziege gehört dir also gar nicht?", tönt der Müller amüsiert hinter ihrem Rücken. "Ich glaube, sie sieht das wohl etwas anders. Na, dann kommt mal mit, ihr drei. Wenn du uns was von ihrer Milch abgibst und mir versprichst, dass sie nicht den ganzen Garten ruiniert, dann wird' sich wohl auch noch ein Plätzchen für eine Ziege finden."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 18. Mai 2011, 12:25 Uhr
Im Sturmwindmond


"Hatschi! Argh .... dieser dreimal verfluchte Schnupfen, götterverdammt noch mal!" Die gewaltige Niessalve lässt beinahe Morians Nase explodieren. Mit tränenden Augen fingert sie nach ihrem Taschentuch, aber das ist mittlerweile ebenso aufgeweicht wie der ganze Rest ihrer Sachen, und so stopft sie es mit einem resignierten Seufzer wieder zurück in die Hosentasche und wischt sich der Einfachheit halber mit dem Ärmel über die Nase. Aber auch der Hemdsärmel ist nass, die Stiefel, der wollene Umhang, einfach alles. Wieder einmal stapft sie durch den kalten, strömenden Regen, und sie kann ihr Pech einfach nicht fassen: während der zwei Siebentage, die sie in Meister Flinkfuchsens Mühle in Krötenwald geblieben war und keuchend und schwitzend schwere Kornsäcke geschleppt, Karren beladen und das Mahlwerk bedient hatte, hatte der Frühling in den Rhaínlanden Einzug gehalten und das Svalttal mit Wärme und strahlendem Sonnenschein förmlich überschüttet. Aber kaum eine Stunde nach ihrem Aufbruch vor ein paar Tagen hatte es prompt wieder zu regnen begonnen und seitdem auch nicht mehr aufgehört. Mittlerweile hat sie den Frostweg von Krötenwald aus Richtung Osten überquert und befindet sich irgendwo in den schroffen, felsigen Hügeln der Sieben Schwestern, ein Stückchen abseits der breiten Handelsstraße. Und hier es ist nicht unbedingt gemütlich, denn der Sturmwindmond macht seinem Namen gerade alle Ehre. Frühjahrsstürme ziehen über das Land, jagen wilde Wolkengebirge vor sich her mit Blitz und Donner und heulenden Winden, die die Bäume am Wegrand schütteln und die hochwasserführenden Bäche entlang ihres Weges zum Schäumen bringen.

"Dieses ... dieses ...." Morian fällt schon gar keine passende Vokabel mehr ein für die Wassermassen, die seit Tagen vom Himmel stürzen und das Land in einen wahren Sumpf verwandeln - ihr wohlsortierter Sprachschatz an Flüchen, Drohungen, Beschimpfungen und beleidigenden Wörtern ist nach einer knappen Woche Wassertreten inzwischen restlos ausgeschöpft. Sie hat auch sowas von genug, sie will nur noch ins Trockene, will ein Dach über dem Kopf und eine anständige Mahlzeit, heißen Tee, zwei Zentner frischgebackene Haferkekse, ein prasselndes Feuer und eine warme Wolldecke. Stattdessen latscht sie schon wieder durch tosende Regenfluten und trieft mit schniefender Schnupfennase vorneweg, im Schlepptau ein altersschwaches, krummbeiniges Pferd und eine Ziege, die ihr mit ziemlicher Sicherheit bald die Haare vom Kopf fressen wird mit ihrem unersättlichen Appetit und der abstrusen Neigung, alles zu verspeisen, was auch nur entfernt essbar aussieht - und in den Augen dieser Ziege ist das nahezu alles. Hätte Morian gewusst, was sie sich mit diesem Vieh aufhalst, hätte sie bei ihrem ersten Zusammentreffen vor der Mühle ganz gewiss schreiend die Flucht ergriffen.

Nicht nur, dass Zora, wie sie die graue Buccaziege inzwischen nennt, verfressen, eigensinnig, starrköpfig und launenhaft wie eine Diva ist, einen ziemlich rüden Sinn für Humor hat und sich für unwiderstehlich hält, sie ist obendrein auch noch die geborene Schauspielerin und ihr mannigfaltiges Repertoire an Gesichtsausdrücken reicht von absoluter, jungfräulicher Unschuld über einen besserwisserischen Hab-ich's-dir-nicht-gesagt-Blick bis hin zu wildem Zähnefletschen und Augenrollen, eine Kombination, die sie verteidigungsbereit gegenüber jedermann einsetzt, der ihrer Meinung nach ihrer neuerwählten Herrin oder dem Pferd zu nahe kommt (die aber so albern aussieht, dass sie damit nicht einmal eine Maus in die Flucht schlagen würde). Am besten beherrscht sie ihre Ich-bin-eine-arme-verlassene-Ziege-Nummer, bei der sie mit tragisch hängenden Ohren und bebenden Lippen ein Bild äußersten Jammers abgibt. An Theatralik ist sie einfach nicht zu übertreffen. An Starrsinn und Fresslust auch nicht, wie Morians angeknabberte Stiefel, ihre zerkauten Handschuhe und diverse andere, den Ziegenzähnen zum Opfer gefallene Gepäckstücke eindrücklich beweisen.

Im Moment trippelt besagte Geiß mit unbehaglich heruntergeklappten Ohren, wassertriefendem Fell und kläglichem Gemecker hinter ihr und Hühnchen her. Ihre Stimme ist wahrhaft herzerweichend, und auch wenn Morian sie nicht wirklich versteht, so braucht sie nicht viel Fantasie, um zu begreifen, dass Zora gerade eine bitterliche Beschwerde auf Ziegisch von sich gibt. "Beklag dich bloß nicht", schilt sie mit schiefem Blick über ihre Schulter und wischt sich die Regentropfen aus dem Gesicht. "Du wolltest ja unbedingt mitkommen - niemand hat dich dazu gezwungen. Du hättest genauso gut bei der Mühle bleiben und dich durch Flinkfuchsens Radieschen fressen können, das wäre besser für dich gewesen. Aber nein, stattdessen hängst du mir wie eine Klette am Rockzipfel, du nichtsnutziges Vieh! Es ist mir wirklich schleierhaft, weshalb ich dich nicht einfach schlachte. Ziegenbraten schmeckt nämlich ganz hervorragend, solltest du wissen!" Im Grunde meint sie es gar nicht so und hat schrecklich Mitleid mit dem Tier, das ihr trotz all seiner nervtötenden Eigenschaften in den vergangenen Tagen ziemlich ans Herz gewachsen ist. Zora mag vielleicht halsstarrig und verfressen sein, aber eine solche Schimpftirade hat sie dennoch nicht verdient, und Morian weiß das auch. Aber Schimpfen ist augenblicklich das einzige, was ihr hilft, die Tränen zurückzuhalten, die ihr mit aller Macht in die Augen steigen wollen. Sie ist erschöpft, sie ist hungrig, sie ist nass bis auf die Knochen, die Füße tun ihr weh und sie hat noch immer kein Nachtlager für sich und die Tiere gefunden, obwohl es fast schon dunkel ist. Und der Regen will und will kein Ende nehmen.

"Ganz gewiss werden mir noch Schwimmhäute wachsen wie einem Frosch, wenn das nicht bald aufhört. Wo sollen wir denn heute nacht nur bleiben, götterverdammt!" Sie macht ihrer Wut und ihrem Kummer Luft, indem sie einen Schwall lästerlicher Flüche von sich gibt, und zum tausendsten Mal auf dieser vermaledeiten Reise fragt sie sich: Wofür das alles? Warum tu ich das? Warum kehre ich nicht einfach um und geh' wieder nach Hause? Aber sie kennt die Antwort: weil es kein Zuhause mehr gibt, zu dem sie zurückkehren kann. Und weil sie diejenigen zur Rechenschaft ziehen muss, die das alles zu verantworten haben, den niedergebrannten Hof, das Blutbad an ihrer Familie. Weil sie ihren verschollenen Bruder finden muss, wenn er überhaupt noch am Leben ist. Und weil sie Van Houtens Handlanger erwischen muss, die Männer, die all das angerichtet haben, die Männer, die er dafür bezahlt hat - sie sind der Schlüssel zu allem. Morian hat keine Ahnung, was sie tun soll, wenn sie sie gefunden hat, aber das ist ihr im Moment auch herzlich egal. Irgendetwas wird ihr schon einfallen, auch wenn sie dunkel ahnt, dass sie kaum eine Chance haben wird. Was kann eine einfache Händlerstochter schon gegen einen Haufen bezahlter Söldner ausrichten? Jetzt reiß' dich bloß mal zusammen!, packt sie sich selbst am Schlafittchen und zieht sich aus dem trüben Gedankentümpel, in dem sie versumpft ist. Du schlotterst so panisch wie ein Kaninchen vor dem Fuchs ... erst einmal musst du sie überhaupt finden, und wenn du noch länger herumtrödelst, wirst du alt und grau werden, bevor du sie einholst.

Morian kommt auch gar nicht dazu, noch weiter über ihre missliche Lage nachzudenken, denn mit einem Mal rammt sie in einer rabiaten Vollbremsung die Fersen in den schlammigen Boden und verharrt wie angewurzelt, die Nase witternd in der Luft wie die eines Bluthundes. Ein Geruch hat sie gestreift, ein Geruch, den sie trotz des Regens und ihrer Schniefnase deutlich erschnuppern kann, ein Duft, den sie auch erkennen würde, wenn ihre Nasenlöcher mit Lumpen verstopft und mit Wachs versiegelt wären: über Feuer bratendes Fleisch. Im Bruchteil eines Herzschlags läuft ihr das Wasser im Munde zusammen und ihr leerer Magen verknüllt sich bei diesem verlockenden Wohlgeruch zu einem schmerzhaften Knoten. Aber wo kommt das her, hier mitten im Nirgendwo? Hier gibt es weit und breit kein Dorf und keine Herberge. Verwirrt blickt sie sich um und versucht in der Düsternis des Sturms und der hereinbrechenden Dämmerung die Quelle des Geruches auszumachen. Der Pfad, dem sie gerade folgt, führt an dieser Stelle durch ein felsiges Waldstück mit steilen Hängen zu beiden Seiten, und sie kann zunächst kaum mehr erkennen als wirbelnde Regentropfen und die nahen Baumstämme, dunkel und glänzend vor Nässe. Erst als sie Blick über die Baumkronen in die Höhe schweifen lässt, meint sie in einiger Entfernung einen schwachen Glutschein wahrzunehmen, der sich an glattem Fels widerspiegelt.

Wie von einem Magneten angezogen folgt sie dem Lichtschein und dem Geruch durch die Dunkelheit und findet sich nur wenig später am Fuße eines bewaldeten Hangs wieder. Als sie durch die Regenschleier nach oben blickt, werden Morian fast die Knie weich und ihr ist zumute, als hätte sie völlig unerwartet das gelobte Land gefunden: "Eine Höhle!"  Höhlen haben naturgemäß Decken aus massivem Stein, Decken, die Schutz und ein Nachtlager bieten und vor allem diesen dreimal verdammten Regen abhalten - vor lauter Erleichterung würde sie am liebsten losheulen. Aber bevor sie in einer überstürzten Kurzschlussreaktion den Hügel stürmen kann, schaltet sich glücklicherweise das bisschen Verstand ein, das noch nicht vom Dauerregen aufgeweicht ist, und Misstrauen und Vorsicht gewinnen die Oberhand. Immerhin ist noch nicht klar, woher der Glutschein rührt und was da so verlockend duftet. Ein Höhlenbär wird's wohl kaum sein, der sich seine Beute über dem Feuer brät, mutmaßt sie und grübelt, wie sie nun am besten vorgehen soll. Sicher sind dort oben zwischen den Felsen keine wilden Tiere, keine Wölfe oder Bären, denn die würden sich nicht so nahe an ein Feuer wagen, aber dennoch kann es gut möglich sein, dass in der Höhle jemand lagert, der nicht gerade scharf auf ungebeten Besuch ist. Morian weiß, dass sich entlang des Frostweges allerlei zwielichtiges Geschmeiß herumtreibt, dass Diebe und Räuber verborgen in den Bergen ihre Schlupfwinkel haben, und dass es auch die eine oder andere Schmugglerhöhle geben muss.

Und wenn sich da oben irgendwelche Halunken verstecken? Oder eine Räuberbande? Was dann? Morian ist hin- und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, zwischen Vorsicht und Verzweiflung, aber dann siegen letztlich doch der Hunger und die kalten Füße: "Egal, ich muss einfach da hoch." Ein zweifelnder Blick über die Schulter trifft ihre treue Eskorte, Hühnchen und Zora, die sich hinter ihrem Rücken schutzsuchend zusammendrängen. "Aber ihr beiden bleibt lieber hier, wer weiß, was da oben auf uns wartet. Ich seh' mich besser erst einmal alleine um." Sie führt die Tiere ein Stückchen vom Pfad weg in die Dunkelheit und den Schutz der regennassen Bäume, wo sie für einen zufälligen Passanten unsichtbar bleiben, und wickelt Hühnchens Zügel um einen stabilen Ast. Zora bindet sie mit einem Strick um den Hals ebenfalls daran fest und bedenkt sie zusätzlich noch mit mahnendem Zeigefinger und gestrengem Feldherrenblick. "Und du passt auf das Pferd auf, hast du gehört? Seid brav!"
"Mäh-äh-äh", meutert die Ziege kläglich und wackelt mit den Ohren, dass die Wassertropfen spritzen, aber sie fügt sich notgedrungen in ihr Schicksal, während Morian sich fest in ihren Umhang wickelt und sich auf den Weg den Hang hinauf macht. Der schmale Steig, der zu der Höhle empor führt, ist zwar ein wenig matschig vom Regen, aber ganz gut begehbar, und so marschiert sie tapfer voran und versucht, jeden Gedanken an Diebe, Räuber und Mörder tunlichst zu verdrängen.

Wie ein riesiger Schlund gähnt der Eingang der Höhle dann vor ihr in der Dunkelheit, nur erhellt von einem sanften, rötlichen Glimmen, das aus einer Feuergrube dringt. Morian verbirgt sich in den Schatten der überhängenden Felsen und späht vorsichtig in die Grotte hinein. Sie ist riesig, geformt wie eine geöffnete Muschel, und sie scheint tatsächlich leer zu sein. "Hallo?" piepst sie zaghaft, den ganzen Körper angespannt wie eine Bogensehne und bereit, beim leisesten Anzeichen von Gefahr sofort die Flucht zu ergreifen. Denk dran, du bist ein Junge!, mahnt sie sich, räuspert sich den Frosch aus der Kehle und wiederholt dann, zwei Oktaven tiefer und auch ein bisschen mutiger: "Hallo? Ist hier jemand?" Nichts rührt sich, also wagt sie sich aus ihrer Deckung und tritt zögernd ein paar Schritte weit in die Höhle hinein, um sich umzusehen. Auch wenn sie im Moment tatsächlich verlassen ist, so scheint doch jemand hier zu wohnen oder zumindest ein Lager aufgeschlagen zu haben, denn das Feuer ist sorgfältig abgedeckt, um nicht zu schnell herunterzubrennen, ein Stapel trockenes Holz liegt daneben und in einer Nische ist ein einladendes Lager aus Schlaffellen und Decken bereitet. Auch ein Reittier muss hier seine Unterkunft haben, denn in einer Ecke der Höhle liegt eine dicke, weiche Schicht trockenen Laubs, auf einer Seite garniert mit einem angekauten Heurest, auf der anderen Seite mit einem Haufen Pferdeäpfel. Leise tappt Morian um die Feuerstelle herum und inspiziert die restliche Einrichtung.

Aus stabilen Ästen hat jemand entlang einer der Felswände eine Art Trockengestell gebaut, auf dem feinsäuberlich aufgereiht Sattelzeug und Ledergurte hängen, eine Pferdedecke, ein Zaumzeug, Felle, Stricke, Riemen, alles frisch gesäubert, gefettet und poliert. Hm, scheint ja ein ziemlich ordentlicher Räuber zu sein. Auf einem anderen gewaltigen Ast in einer der vielen Höhlennischen hängt ein frisch geputztes, blinkendes Kettenhemd, daneben lehnen an der Felswand ein Schild und ein gewaltiges Langschwert mit lederner Scheide und Schwertgehenk. Ein ordentlicher und außerdem wohlhabender Räuber. Und obendrein ein ziemlich großer, so wie es aussieht, stellt Morian fest, und dann interessiert sie nur noch eines: wo dieser verflixte Duft herkommt, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Dem Geruch nach hätte sie eigentlich erwartet, über dem Feuer einen Spieß vorzufinden, drapiert mit irgend etwas köstlich Brutzelndem und Fettriefendem (von dem sie sich schnell hätte ein Stückchen stibitzen können). Stattdessen liegen in der unter grauer Asche rotschwelenden Glut nur einige dicke Steine. Irritiert schnuppernd starrt sie diese komischen Klumpen an, denn der Geruch scheint zweifellos von ihnen zu kommen. Es sieht nicht nach Essen aus, aber es riecht wie welches. Was um Himmels willen ist das?

Nach eingehender Beäugung bemerkt sie, dass diese seltsamen Gebilde eindeutig grob hühnerähnliche Formen besitzen, und das weckt nun endgültig ihre Neugier. Mit einem rußigen Stock, den sie neben der Feuerstelle findet, stochert sie in der Glut herum und traktiert damit die 'Steine' so lange, bis sie diagnostiziert, dass es sich um eine Art Wildhühner oder anderes Geflügel handeln muss, dass jemand in Lehm gepackt und ins Feuer gelegt hat, um es so zu rösten. Morian mag vom Kochen nicht allzu viel verstehen, aber diese Art des Garens leuchtet sogar ihr ein. Das Ganze hat nur einen gewaltigen Fehler: sie kommt nicht an diese köstlich riechenden Hühnchen heran. Brathühnchen mit Diebstahlsicherung, das ist ja wohl die Höhe. Ich muss doch irgendwie an diese Dinger ran ... Eine neuerliche Inspektion ergibt, dass die federviehgefüllten Tonklumpen jeweils ein Loch an einem Ende besitzen, offenbar um den Dampf entweichen zu lassen. Ein Loch, das geradezu dafür geschaffen ist, den rußgeschwärzten Stock hineinzubohren und die Hühner so aus dem Feuer zu heben. Perfekt!, frohlockt Morian und macht sich sofort ans Werk. Der Bewohner der Höhle und eigentlicher Besitzer der Hühner - der ja vielleicht jeden Moment zurückkommen kann - ist wegen akuten Bärenhungers schlagartig vergessen. Es braucht nur ein wenig Geschick, eine gehörige Portion Schweiß ("Uuh ... heißheißheiß...") und eine konzentriert zwischen die Zähne geklemmte Zungenspitze, um das widerspenstige Geflügel aus der Glut zu bugsieren, aber schließlich hat sie es geschafft und hält triumphierend ein Lehmhühnchen am Stock wie ein König sein Zepter. Leider haben sich eine ausbrecherisch veranlagte Ziege und ein von ihr angestiftetes Pferd exakt diesen Moment ausgesucht, um meckernd und prustend die Höhle zu stürmen.

Morian hat im Eifer des Gefechts gar nicht gehört, dass die beiden den steilen Pfad erklommen haben - erst als sie mit Karacho und Getöse und dem Lärm einer durchgehenden Waldelefantenherde in die Grotte einfallen, wird sie ihrer gewahr und erstarrt angesichts dieser tierischen Apokalypse auf der Stelle zur Salzsäule. "Was macht ihr denn hier, verdammt noch mal?", zischelt sie erschrocken, und in diesem Augenblick wird ihr schlagartig bewusst, dass sie hier gerade schutzlos und unbewaffnet, mit Diebesgut in der Hand, in einer fremdbesetzten Höhle steht. Auf einmal wird sie hektisch. "Ksch, ksch, los raus hier, aber schnell!" Leider hat die Aufforderung nicht die erhoffte Wirkung, denn Zora scheint einen spontanen Anfall von "Ich-bin-auf-beiden-Ohren-taub" zu haben, und das hungrige Pferd hat den Rest des Heuhaufens in der Ecke erspäht und ist weder mit Gewalt, noch mit energischem Schubsen, noch mit guten Worten von dort wieder loszueisen. "Götternochmal, ihr sollt verschwinden, hört ihr nicht? Was glaubt ihr, was der Herr dieser Höhle mit uns anstellt, wenn er merkt, dass wir sein Futter klauen!" Schimpfend packt sie die Ziege am abgerissenen Strickende und versucht mit aller Kraft, sie hinaus zu zerren, als sie plötzlich zu Eis erstarrt: draußen in der Dunkelheit wiehert ein Pferd. Hühnchen reißt wie vom Donner gerührt den Kopf hoch, Heuhalme aus dem Maul hängend, und wiehert aufgeregt und mit bebenden Nüstern zurück. "Argh, du närrischer Gaul, sei doch still!" Schon sind draußen auf dem Pfad Geräusche zu hören, dumpfer Hufschlag und eine Stimme, ganz nah. "Verdammt, verdammt, verdammt!" Morian greift nach dem Erstbesten, das sie findet und das sich zur Not als Waffe eignet. Und dann kann sie nur noch der Dinge harren, die da kommen, bewaffnet mit einer verbeulten Bratpfanne und einem hühnergekrönten Feuerstock.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 18. Mai 2011, 18:15 Uhr
Zur selben Zeit, als nacheinander erst ein triefnasiger Bengel auf Beutezug, ein abgemagerter, aber stimmgewaltiger, alter Klepper und eine Ziege mit Charakter ausgehungert, durchnässt und schlotternd vor Kälte in die Höhle (und damit in Colevars vorübergehende Bleibe) einfallen, sitzt der Besatzer eben jener Zuflucht gerade bis zum Kinn in heißem Wasser und ihm ist paradiesisch warm. Von oben nieselt zwar kalter Regen auf sein nasses Haar, aber hier, in dem kleinen Felsenbecken, etwa fünfhundert Schritt von der Höhle entfernt am Rand einer kleinen Lichtung, auf der Filidh gerade grast, ist es so heiß, dass man es gerade noch aushalten kann, ohne schummrig im Kopf zu werden. Colevar hatte die heiße Quelle an seinem zweiten Tag hier entdeckt und nutzt die Gelegenheit zu einem heißen Bad seither jeden Abend, wenn er den Hengst zum Grasen herunterbringt, denn es ist die einzige Möglichkeit, wirklich warm zu werden. Seit knapp einem Siebentag harrt er in der Höhle auf eine Besserung des Wetters, aber die ist nicht in Sicht. Dafür hüllt eine allgegenwärtige Feuchtigkeit die Bäume und Felsen in triefenden Nebel, die Wolken spucken abwechselnd Hagel und eisigen Regen aus, und ein launischer Wind hatte die Temperatur um fast zehn Grad fallen lassen - würde es noch kälter werden, würde es wieder anfangen zu schneien.  

Jetzt sitzt er allerdings schon so lange gedankenversunken im heißen Wasser, dass er sich allmählich fühlt wie ein Suppenhuhn - als würde ihm die Hitze das Fleisch von den Knochen schälen. Die Haut an seinen Fingerspitzen ist schon so verschrumpelt wie Winteräpfel und die Hühner würden in ihrem Lehmmantel einfach verdampfen, wenn er nicht bald zu seinem Feuer zurückkäme. Du schindest Zeit. Schon wieder. Er will die Wärme nicht wirklich verlassen. Vielleicht will er auch die Höhle nicht wirklich verlassen. Vielleicht will er einfach hier in der Wildnis der Sieben Schwestern bleiben, allein mit sich selbst für den Rest seines Lebens - und nie wieder mit auch nur irgendeiner Menschenseele ein einziges Wort wechseln müssen. Sei kein Narr. Das sind nur die Nachwirkungen der Hyrdmanns, das ist alles. Möglich. Nach zwei Siebentagen im Kreis der vielköpfigen, lauten, anstrengenden, fordernden, schnatternden Schäferfamilie samt ihrer Schafe und Hunde war er reif dafür gewesen, sich ein Loch unter einem umgestürzten Baum zu buddeln und hineinzukriechen, nur um eine Viertelstunde seine Ruhe zu haben. Doch hier in der Höhle, nein eigentlich schon während seiner ganzen Reise, hatte er zwei Dinge immer wieder festgestellt: eigentlich ist er nicht gern allein. Er ist ziemlich schweigsam geworden in den langen, vergangenen Monden, in denen er Wegstrecke um Wegstrecke nur für sich oder manchmal auch in guter, ebenso wie in schlechter Gesellschaft zurückgelegt hatte - und er war noch nie ein redseliger Mann. Doch im Grunde schätzt er Gesellschaft.  

Hin und wieder aber ist Einsamkeit auch ein Segen für ihn. Jene Art Einsamkeit, bei der man sich gleichzeitig gut und traurig, wild und ruhig fühlen kann. Eine Einsamkeit, die beinahe wie ein süßer Schmerz im Inneren ist. Und man ist sich nicht sicher, ob man lachen oder weinen soll, weil man weiß, dass der Schmerz von einem Sehnen kommt, davon, dass man nach etwas  greifen will, was man niemals bekommen wird. Colevar schüttelt sich wie ein nasser Hund, um die ungewollten Gedanken loszuwerden, aber an manchen Gedanken klebt Leim und an diesem einen ganz besonders. Dann taucht er noch einmal völlig unter und steigt seufzend aus dem heißen Wasser. Die Dämmerung hat längst eingesetzt - ob es ihm gefällt oder nicht, wenn er sich auf dem Rückweg zur Höhle im Dunkeln auf dem rutschigen Pfad durch den Wald nicht den Hals brechen will, muss er jetzt gehen. Er wringt sich das lange Haar aus, schüttelt sich wirklich wie ein nasser Hund und sucht seine frisch gewaschenen Kleider zusammen, die er eigentlich zum Trocknen über die Äste eines nahen Schlehdorns geworfen hatte. Inzwischen sind sie dank des Regens wieder nass, aber immerhin noch sauber, dann pfeift er nach Filidh. Es dauert nur einen Moment, ehe der Fryslâner wiehernd auf ihn zu galoppiert kommt, tropfend von den Ohren bis zur Schweifrübe, aber natürlich schüttelt er sich erst, als er direkt neben Colevar steht und verteilt dabei neben sprühender Nässe auch wirbelnde, feuchte weiße Fellwolken.

"Besten Dank auch. Ich steige gleich wieder ins heiße Wasser zurück, wenn du so weiter machst." Zweifelnd blickt Colevar an sich hinunter, dann auf seine Kleider. Seine Haut trägt noch den Wärmemantel der Quelle und dampft in der kalten Luft, die er in diesem Moment aber fast als Segen empfindet. Schamhaftigkeit mag ein natürliches Empfinden sein (obwohl seine ohnehin eher mangelhaft ausgeprägt ist), aber er wird den Dunklen tun und seine sauberen, gewaschenen, regennassen Kleider jetzt anziehen, hier im Nirgendwo, wo außer ihm absolut niemand ist – die Eichhörnchendamen in der alten krummen Fichte vor der Höhle würden seinen Anblick schon verkraften, ohne bleibende Schäden davonzutragen oder ohnmächtig von den Ästen zu fallen. Außerdem ist ihm nicht kalt, auch wenn Wind und Regen eisig über seine Haut streifen. Er hat durchaus Respekt vor der rhainländischen Kälte, tatsächlich hatte er in den Rhaínlanden mit ihrer feuchtkalten Witterung mehr gefroren als je in Immerfrost, im Augenblick ist der Regen jedoch ziemlich angenehm auf seiner Haut. 'Du könntest auch nackt auf einer Eisscholle sitzen und würdest sie doch zum Schmelzen bringen.'

Das hatte seine Mutter immer gesagt, als er noch ein Kind war – wieder und wieder, während ihrer zahllosen Versuche, ihn dazu zu bringen, bei vier Fuß Schnee und eisiger Kälte Strümpfe und einen Umhang anzuziehen. Du warst noch nie sonderlich dünnblütig. Colevar zuckt mit den Schultern, angelt nach dem Gurt mit den beiden Jagdmessern, den er mitgenommen hatte, wirft sich das feuchte Kleiderbündel über die eine Schulter und den Waffengurt über die andere, schnappt sich seine Stiefel und macht sich auf den Rückweg zur Höhle, nackt wie am Tag seiner Geburt. Er ist noch keine zwanzig Schritt weit gekommen, als aus dem vergleichsweise leichten Schauer plötzlich die reinste Sintflut wird und der Wind ihm den Regen nur noch so ins Gesicht klatscht – doch er ist immer noch so in Gedanken, dass er kaum etwas davon bemerkt. Er blickt erst auf, als Filidh auf etwa halber Höhe des Weges plötzlich den Kopf hochwirft, lauthals in die nasse Düsternis wiehert und es plötzlich ziemlich eilig hat, zur Höhle zurück zu kehren. "Woah, langsam! Brich' dir nicht die Beine auf den nassen Felsen, wir brauchen sie noch, aye?" Colevar schüttelt so nichtsahnend wie nachsichtig den Kopf. Nichts und niemand ist zu sehen oder zu hören, aber im Rauschen des Regens gehen ohnehin alle anderen Geräusche unter, so dass er das aufgeregte Antwortwiehern von oben gar nicht hört. Arglos folgt er seinem Pferd die wenigen Schritte zum Sims hinauf, biegt um die letzte Felsnase - und bleibt wie vom Donner gerührt stehen.

Seine einst so ruhige, beschauliche und vor allem einsame Höhle hatte sich in seiner Abwesenheit mit einer Ziege und einem Pferd bevölkert, die gerade in trauter Gemeinschaft (aber rasender Geschwindigkeit) Filidhs abendliche Heuration wegfressen, sowie einem jungen Burschen, der trieft wie ein Sieb. Der Junge – im flackernden Feuerschein, der seine tropfnasse Gestalt in einem fadenscheinigen Wollumhang nur von hinten beleuchtet, kann Colevar unmöglich sagen, wie alt er ist, es könnte alles zwischen zwölf und zwanzig sein – hält in der einen Hand die gusseiserne Bratpfanne, in der anderen Hand ein gestohlenes Waldhuhn in Lehm, aufgespießt auf einem langen Stock. Beides streckt er vor sich wie Schild und Schwert, und starrt ihn dabei offenen Mundes an, so fassungslos, als sehe er gerade ein Gespenst. Viel zu überrascht, um verärgert oder auch nur argwöhnisch zu sein, starrt Colevar einen halben Herzschlag lang zurück, dann räuspert er sich vernehmlich. "Hmhm. Legst du die Bratpfanne und das Huhn von allein wieder zurück oder muss ich dich erst übers Knie legen, Junge?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 18. Mai 2011, 19:35 Uhr
Zu sagen, Morian wäre perplex, wäre noch eine gewaltige Untertreibung - mit dem kampfbereit gezücktem Bratpfannen-Schild in der Linken und dem Hühnchenspieß in der Rechten starrt sie völlig konsterniert und mit auf die Brust geklappter Kinnlade die Gestalt an, die da im Eingang der Höhle steht, und sie kann nicht glauben, was sie da sieht. Es muss ein Phantom sein. Eine Erscheinung. Eine Halluzination, hervorgerufen von Aufregung und abgrundtiefer Erschöpfung. Sie muss im Hungerdelirium sein, da ist sie sich ganz sicher. Denn es kann unmöglich real sein, was sie da im Feuerschein sieht: einen ziemlich barbarisch aussehenden Hünen mit Schultern, breit wie ein Kleiderschrank, und langem Blondhaar, das ihm nass über den Rücken fällt. Einen ziemlich barbarisch aussehenden, splitterfasernackten Hünen.
Also, ich muss wirklich dringend mal wieder etwas essen ... ich hab' ja schon Wahnvorstellungen. Besagte Wahnvorstellung nimmt ihr allerdings schnell die Illusion, dass es sich bei ihr um pure Einbildung handelt, denn sie spricht. >Hmhm. Legst du die Bratpfanne und das Huhn von allein wieder zurück oder muss ich dich erst übers Knie legen, Junge?<, tönt sie mit tiefer Stimme - und Morian kommt zu dem Schluss, dass es am besten wäre, wenn sie jetzt gleich und auf der Stelle lautlos im Erdboden versinken oder alternativ wenigstens ein bisschen in Ohnmacht fallen würde. Doch so viel Glück hat sie natürlich nicht.

Mit vor Verblüffung sperrangelweit offenstehendem Mund lässt sie die Bratpfanne und den Hühnchenspieß sinken und starrt ihr Gegenüber an. Es ist nicht der erste nackte Kerl, den sie zu Gesicht bekommt (schließlich hat sie auch einen jüngeren Bruder), aber sie muss zugeben, dass es ein ziemlich stattliches und äußerst gut gebautes Exemplar ist, das sie da vor sich hat. Als ihr klar wird, dass sie vermutlich gerade aussieht wie ein geistig minderbemittelter Karpfen, klappt sie den eilig den Mund zu. "Oh!" schnappt sie nach Luft und dann wird sie flammend rot bis zu den Haarwurzeln und kann nur hoffen, dass es in der Höhle dunkel genug ist, damit er es nicht bemerkt. Der Schrecken, der ihr beim unerwarteten Anblick dieses blonden Riesen in die Glieder gefahren ist, hat offenbar auch ihre Gehirnzellen vorübergehend lahmgelegt, denn sie begreift erst jetzt, was er mit seiner Aufforderung meint. Das Huhn wieder zurücklegen? Sofort sind Pfanne und Spieß wieder in Hab-Acht-Stellung und sie schaut ihn an, als hätte er ihr gerade vorgeschlagen, sie solle sich einen Fuß abhacken. "Die Bratpfanne könnt Ihr haben", gesteht sie ihm großmütig zu, "aber kann ich das Huhn bitte behalten? Ich hab' nur so fürchterlichen Hunger. Bitte. Ich bezahl' es Euch. Das Heu auch, wenn Ihr wollt. Und auch diesen ... hmpf, tut mir wirklich leid ... auch diesen ..." - Morian wirft einen kopfschüttelnden Blick auf ihre verfressene Begleiterin - "... leicht angekauten Zügel. Böse Ziege!"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 18. Mai 2011, 20:42 Uhr
Das Feuer ist im Rücken des Jungen, so dass Colevar von dessen Mienenspiel kaum etwas mitbekommt. Das einzige, was er zunächst hört, ist ein ziemlich gekiekstes "Oh!", das reichlich erschrocken klingt, doch als der Bengel endlich seine Sprache wiederfindet und auf seine Frage antwortet, rutscht seine leicht heiser klingende (und obendrein ziemlich belegte) Stimme wieder eine Oktave tiefer. Im Stimmbruch also, geht es Colevar durch den Kopf und er korrigiert seine erste, recht vage Alterseinschätzung um ein paar Jährchen nach unten. Was er dann allerdings zu hören bekommt, lässt ihm selbst beinahe den Mund offenstehen, lässt ihn obendrein seinen Ohren nicht ganz trauen und sein Gesicht sich augenblicklich drohend verfinstern. >Die Bratpfanne könnt Ihr haben<, wird ihm gönnerhaft beschieden. >Aber kann ich das Huhn bitte behalten? Ich hab' nur so fürchterlichen Hunger. Bitte. Ich bezahl' es Euch. Das Heu auch, wenn Ihr wollt. Und auch diesen ... hmpf, tut mir wirklich leid ... auch diesen...< Der Blick des Bengels schweift schuldbewusst zu der grauen Ziege, die inzwischen etwas Interessanteres als das Heu gefunden hat. >...leicht angekauten Zügel. Böse Ziege!<

Jetzt klappt Colevar wirklich den Mund auf, schließt ihn aber unverrichteter Dinge wieder und schnaubt ungehalten. "Leg alles wieder zurück, sofort! Und du!" Sein bitterböser Blick fixiert die Ziege, die ungerührt Filidhs Zaumzeug anfrisst und er wirft zielsicher einen seiner Stiefel nach ihr. Der schwere Schuh trifft die Geiß mitten auf ihr freches Hinterteil, doch alles, was er damit ausrichtet, ist, dass sie sich nach einem erschrockenen kleinen "Bäh-hä!" umdreht und beginnt, sein Schuhwerk anzuknabbern. "Himmel und Hölle, lass das!" Er schiebt sich entschlossen und reichlich unsanft an dem Bengel, der immer noch Huhn und Bratpfanne fest umklammert hält, und an der Feuerstelle vorbei, stapft auf die Ziege zu und schnappt ihr seinen Stiefel praktisch direkt aus dem Maul, bevor sie noch größeren Schaden anrichten kann. Trotzdem ist das Leder am Schaft zerkaut, perforiert mit den Abdrücken winziger Zähne und voller Sabber. "Igitt!" Colevar erdolcht die Übeltäterin förmlich mit seinem Blick, doch alles, was er dafür erntet, ist ein verliebtes kleines Meckern und ein sehnsuchtsvolles, wimpernklimperndes Schmachten unter grauen Stirnfransen hervor. "Hör auf, mich anzuhimmeln wie ein verliebter Backfisch", knurrt er. "Das zieht bei mir nicht!"

Sithech bewahre mich, jetzt rede ich schon mit einer Ziege! Er scheucht die Geiß zum Heu zurück und hängt alle herabbaumelnden Lederstücke nach oben, so dass sie nicht mehr das Opfer von fehlgeleitetem Ziegenheißhunger werden können. Dann wirft er seine tropfenden Kleider daneben und rupft schnaubend, noch immer verwirrt von dieser unerwarteten Heimsuchung, eine Lederhaut von einem Ast, die er sich wie ein Handtuch um die Hüften wickelt. Den Gurt mit den beiden Jagdmessern behält er lieber bei sich - nur für den Fall. Auch wenn der Bengel so dürr aussieht, als könne er ihm mit einer einzigen Bewegung den Hals brechen und er merkwürdigerweise jede Menge Verwunderung, aber keinerlei Misstrauen verspürt. Für gewöhnlich nennt Colevar durchaus einen gesunden Argwohn sein eigen, aber er hatte schlicht und einfach noch gar keine Zeit für irgendein anderes Gefühl als Verblüffung. "Wer bei allen Neun Höllen bist du und was machst du hier im Nirgendwo?" Will er wissen, während er sein improvisiertes Kleidungsstück befestigt und dreht sich zum Feuer um, gerade als der Junge mit einem äußerst widerwilligen Gesichtsausdruck und einem abgrundtiefen Seufzen des Bedauerns den Stock mit dem in Lehm gebackenen Huhn zurücklegt. Die Bratpfanne hat er schon wieder ordentlich auf ihren Platz gestellt.    

Ich hab' nur so fürchterlichen Hunger. Bitte. "Mmmpf," schnaubt Colevar und nimmt seinen Überraschungsgast zum ersten Mal genauer in Augenschein. Es ist ein mageres Bürschchen, vielleicht sechzehn Sommer, vielleicht auch jünger. Wasser rinnt in Sturzbächen aus einem dunklen Wirrwarr fransiger Haarsträhnen, die unter einer nicht minder triefenden Lederkappe hervorlugen. Ein fadenscheiniges, schmuddeliges Leinenhemd klebt an dünnen Armen, ein abgewetztes Lederwams, vollgesogen wie ein Schwamm, hängt von schmalen Schultern und um ein Paar Beine, die gut zu einem jungen Mädel gepasst hätten, für einen Bauernlümmel aber reichlich schmal geraten sind, schmiegt sich eine lederne Hose. Die Stiefel sind abgelaufen, rissig und haben auch schon bessere Tage gesehen, genauso wie der Umhang aus ungefärbter Wolle, von dessen Saum das Wasser nur so tropft und kleine Pfützen auf dem Höhlenboden hinterlässt. Wortlos geht Colevar zu seinen Packtaschen, öffnet eine und holt eine Decke und ein paar kleinere Stücke weichen, saugfähigen Leders heraus, die er normalerweise als Handtücher benutzt. Dann geht er zum Feuer und reicht dem Jungen beides. "Hier. Sieh zu, dass du aus den nassen Sachen heraus kommst. Und wenn du trocken bist, kannst du etwas essen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 20. Mai 2011, 19:30 Uhr
Erschrocken macht Morian einen Satz zur Seite, als der Fremde sich bei seiner Mission, die Stiefel vor Zoras beißwütigen Zähnen zu retten, mit einem mörderischen Ausdruck auf dem Gesicht an ihr vorbeidrängt - so nah, dass sie die Hitze seiner Haut spüren und jede einzelne seiner honigblonden Wimpern zählen kann. Für ihren Geschmack ist das entschieden zu nah, also bringt sie schnellstens einen gebührenden Sicherheitsabstand zwischen sich und diesen nackten Wilden, der augenscheinlich nicht das kleinste Bisschen Schamgefühl besitzt und wohl auch nicht vorhat, irgendwann in allernächster Zeit seine Blöße zu bedecken. Und dann noch dieses verräterische Luder in Ziegengestalt! Anstatt ihr Frauchen und die gerade erbeutete Mahlzeit aus schmackhaftem Stiefelleder zähnefletschend und unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen, wie es sich für einen anständigen Reisebegleiter gehören würde, fängt sie - offenbar schwerstens beeindruckt von seinem energischen Auftreten - auch noch an, ihm Schmachtblicke zuzuwerfen und schöne Augen zu machen. So ein hinterhältiges Aas! Angesichts ihrer fahnenflüchtigen Geiß kann Morian nur noch den Kopf schütteln. Da lässt sich dieses verfressene Stück Ziegenfleisch drei Wochen lang von mir durchfüttern und dann läuft sie wegen eines ausgelatschten Stiefels gleich zur Gegenseite über, hmpf! Mit einem empörten Schnauben wendet sie sich von Verräter-Zora ab und der Feuergrube zu, wo sie schweren Herzens und unter begehrlichen Blicken Schild und Schwert (in Form einer ziemlich verbeulten Bratpfanne und eines dampfenden Tonhuhns am Spieß) zurücklegt.

Obwohl sie in den letzten Monaten so misstrauisch geworden ist wie eine herumstromernde Straßenkatze, hat Morian das Gefühl, dass von dem blonden Fremden keine unmittelbare Bedrohung ausgeht, auch wenn er in einem fort vor sich hinbrummelt und sich der düstere Ausdruck, den er aufgesetzt hat, auf seinem Gesicht durchaus zu Hause zu fühlen scheint. Also kann sie - so hofft sie wenigstens - vorläufig wohl gefahrlos ihre Waffen strecken. Außerdem wirkt seine Ankündigung, sie übers Knie zu legen, ziemlich beschleunigend auf die Rückgabe der gemopsten Dinge und sie will sich lieber gar nicht erst vorstellen, was dieser Hüne von Mann mit einem widerspenstigen Dieb anstellen würde - allein beim Gedanken daran tut ihr das Sitzfleisch schon weh. Besagter Hüne raschelt gerade hinter ihrem Rücken in seinem Gepäck herum und ist wohl endlich dabei, sich etwas Kleidungsähnliches über seine Blöße zu streifen, aber Morian zieht es sicherheitshalber vor, sich an dem Hühnchenstock zu schaffen zu machen und ihr vor Verlegenheit noch immer rosarot angelaufenes Gesicht dem Feuer zuzuwenden, wo er es nicht sehen kann. Doch dann tönt es hinter ihr unwirsch: >Wer bei allen Neun Höllen bist du und was machst du hier im Nirgendwo?< Und die dunkle Stimme des Fremden klingt haargenau so, als ob sie jetzt sofort und auf der Stelle und ohne auch nur einen Herzschlag Bedenkzeit eine Antwort verlangen würde. Morian fährt in die Höhe wie von der Tarantel gestochen. "Was? Ich? Was ich hier mache? Äh ..."

Ihr Gehirn arbeitet fieberhaft auf der Suche nach einer überzeugenden Ausrede, aber ausgerechnet jetzt, wo sie so dringend einen Geistesblitz bräuchte, ist es dort so leer und öde wie in der Wüste Hoth. Vermutlich ähnelt sie schon wieder einem Karpfen mit Schnappatmung, als sie ihre haarsträubend lahme Erklärung hervorstottert. "Ähm, also ...", beginnt sie, ein wahrer Ausbund an intelligenter Gesprächseröffnung, "... ich bin auf dem Weg nach Süden und in diesen verdammten Regen gekommen, und dann habe ich den Eingang zu dieser Höhle entdeckt, und ... na ja, es hat ziemlich gut gerochen, und da dachte ich, ich seh' mal nach ... tja, so bin ich wohl hier gelandet. Ich heiß' Morren. Komm' aus Duisterhaven, oben im Norden." Angestrengt überprüft sie dabei die Beschaffenheit ihrer Stiefelspitzen und lugt dann vorsichtig unter einem fransigen Schopf dunkler Haare hervor in Richtung des Fremden, der sich gerade ein großes ledernes Tuch um die Hüften schlingt. Aah ... den Göttern sei Dank! Nicht, dass sein Anblick so unangenehm wäre - nur hat ihr Verhalten durch besagten Anblick auf der nach oben hin offenen Peinlichkeitsskala inzwischen sehr bedenkliche Werte erreicht. Jetzt unterzieht er ihr Äußeres auch noch einer eingehenden Inspektion und sein durchdringender Blick scheint jedes einzelne Detail an ihr wahrzunehmen, angefangen von ihrem ausgetretenen Schuhwerk über ihre völlig durchnässten Kleider bis hin zu ihrem schief und krumm abgesäbeltem Haar.

Götter im Himmel, er wird doch wohl nicht merken, dass ich gar kein Junge bin ...? Einen Moment wird Morian wirklich bange unter diesem Blick und gleichzeitig wird ihr bewusst, wie abgerissen und verlottert sie inzwischen aussehen muss. Sie hat auf ihrer langen Wanderschaft durch die Rhaínlande nur selten einen Spiegel zu Gesicht bekommen, doch ist ihr trotzdem klar, dass sie kaum mehr Ähnlichkeit mit der jungen Frau haben kann, die vor einer gefühlten Ewigkeit in Duisterhaven aufgebrochen ist. Sie ist mager geworden, die Hände schwielig vom vielen Arbeiten, und ihre Kleidung befindet sich mittlerweile in einem fortgeschrittenen Zustand der Auflösung. Das ist nur gut für dich, je verwahrloster und zerlumpter, desto besser. So wird niemand auf die Idee kommen, dass unter dieser Verkleidung gar kein junger Bursche steckt. Als der Blonde seine Begutachtung beendet hat, wird sein forschender Blick einen Herzschlag lang weicher, bevor seine Miene sich sofort wieder verdüstert, er vernehmlich hmpft, sich auf dem Absatz umdreht und dann in seinen Packtaschen zu wühlen beginnt. Aus ihnen fördert er eine Decke und einige lederne Tücher hervor, die er ihr in die Hand drückt: >Hier<, brummt er.>Sieh zu, dass du aus den nassen Sachen heraus kommst. Und wenn du trocken bist, kannst du etwas essen.< Die Worte klingen in Morians Ohren wie Himmelsgeläut, vor allem der letzte Teil mit dem Essen. Mitten im Frohlocken wird sie jedoch von einem entsetzlichen Gedanken unterbrochen, der sie mit brutalem Würgegriff packt: Aus den nassen Sachen heraus? Ich soll mich umziehen? HIER?

Aber ihr Gastgeber scheint ihr wohl keine andere Wahl zu lassen, also nimmt sie Decke und Tücher in Empfang und verkrümelt sich dann unter dem Vorwand, sie müsse zuerst aber unbedingt ihr Pferd trockenreiben, bevor es sich noch die Schwindsucht hole, außer Reich- und vor allem außer Sichtweite. Hühnchen hat sich in der Zwischenzeit neben dem Reittier des Fremden, das nur Wimpernschläge nach seinem Besitzer in der Höhle eingetrudelt ist, häuslich eingerichtet und mümmelt in aller Seelenruhe dessen restliche Heuvorräte. Der prächtige Grauschimmel lässt es ohne größeren Widerspruch geschehen und bedenkt den knochigen alten Klepper und auch die Ziege neben sich mit einem freundschaftlichen Schnauben. Vielleicht ist er ja sogar froh über ein bisschen Gesellschaft, mutmaßt Morian, während sie den triefnassen Umhang abnimmt und sich daran macht, ihren greisen Gaul mit einer Handvoll trockenem Laub das Fell abzureiben. Ein Auge hat sie dabei stets argwöhnisch auf den blonden Mann gerichtet, der sich unterdessen beim Feuer niedergelassen und der lehmverpackten Hühner angenommen hat. Als sie den Trocknungsgrad des Pferdefells für ausreichend befunden und sich dann versichert hat, dass er gerade nicht hersieht, schlüpft sie in ihrer dunklen Höhlenecke hastig aus den nassen Sachen und zieht sich bis auf die Leibwäsche aus - mehr erlaubt ihr Schamgefühl beim besten Willen nicht. Ihre triefenden Kleider hängt sie neben das frischpolierte Kettenhemd auf eines der Holzgestelle, und stellt dabei fest, dass sie sich neben so viel blitzendem, blinkenden Stahl noch ärmlicher ausnehmen, als sie es ohnehin schon sind.

Auf bloßen Füßen und in die Decke gewickelt, den dunklen Haarschopf mit den Ledertüchern so heftig bearbeitet, dass die noch feuchten Fransen wie Stachelschweinborsten in die Höhe stehen, tappt Morian dann zum Feuer hinüber. Sie traut sich nicht so wirklich in die Nähe des Fremden, der noch immer nichts weiter trägt als sein ledernes Lendentuch, also lässt sie sich ihm gegenüber auf der anderen Seite der Feuergrube nieder. Die Flammen des inzwischen wieder hoch lodernden Feuers tanzen im Gold seiner Haare, während rote Funken wie Glühwürmchen zwischen dem Holzrauch sprühen. Im Feuerschein bemerkt Morian neben einigen übel aussehenden Narben, die er auf Schultern und Rücken trägt, auch die vier Ringe an seinem linken Unterarm, die ihr bis dahin in all der Verwirrung gar nicht aufgefallen sind. "Ihr seid ein Ritter", stellt sie überrascht fest. "Müsst Ihr denn gar nicht bei Eurem Orden sein?" Und dann gibt sie ihm neugierig seine Frage von vorhin zurück, ohne auch nur einen Blick von dem saftigen, duftenden Huhn zu nehmen, das er gerade aus seinem Lehmmantel schält: "Ich hab' Euch meinen Namen genannt, aber Ihr mir nicht den Euren. Wer seid Ihr denn nun und warum um Himmels willen haust Ihr in einer Höhle?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 20. Mai 2011, 23:36 Uhr
Auf seine erste – und zugegebenermaßen etwas unwirsche, aber daran war nur die Verblüffung über seine unerwarteten Gäste Schuld – Frage, macht der Junge am Feuer vor lauter Schrecken einen solchen Satz, dass er um ein Haar in die Glut gestolpert wäre und Colevar hebt skeptisch eine Braue. Das kann der Bursche jedoch nicht sehen, denn der starrt angestrengt überall hin, nur nicht in seine Richtung. >Was? Ich? Was ich hier mache? Äh... Ähm, also... ich bin auf dem Weg nach Süden und in diesen verdammten Regen gekommen, und dann habe ich den Eingang zu dieser Höhle entdeckt, und ... na ja, es hat ziemlich gut gerochen, und da dachte ich, ich seh' mal nach ... tja, so bin ich wohl hier gelandet. Ich heiß' Morren. Komm' aus Duisterhaven, oben im Norden.<
"Ah. Hmpf", erwidert Colevar gedehnt und weiß nicht, ob er dem Jungen diese halb hervorgestammelte Erklärung wirklich abnehmen soll, verliert jedoch - vorerst - kein weiteres Wort darüber. Der Bengel kann ja auch seine Gründe haben. "Morren." Aus seinem, an die rauweichen, kehligen Laute des Tamaraeg gewöhnten, Mund klingt der Name, als habe jemand ein paar ziemlich rollende "Rs" zu viel hineingeschmuggelt. Er hat eine ungefähre Vorstellung davon, wo Duisterhaven liegt, auch wenn es eine der wenigen Städte der Rhaínlande ist, durch die er auf seiner langen Reise nicht gekommen war. Reizend. Ein Dieb, wahrscheinlich ein Ausreißer, möglicherweise auch noch ein Lügner. "Ist ein langer Weg", murmelt er, nur um überhaupt etwas zu sagen, und stellt fest, dass nicht nur seine Stimme rau und eingerostet klingt, sondern auch, dass er ziemlich außer Übung ist, was Konversation an sich angeht. Ist ein langer Weg, vorausgesetzt du glaubst ihm. Hast du nicht gerade eben noch gedacht, dass er möglicherweise lügt? Trotzdem reicht er dem Jungen ein paar lederne Handtücher und die Decke, und hört sich selbst sagen, dass er zum Essen bleiben soll, sobald er seine nassen Kleider losgeworden ist. Bist du eigentlich noch ganz bei Trost? Das ständige Baden in dieser verdammten heißen Quelle muss dir dein Hirn weichgekocht haben! Einsamkeit ist ein Segen, schon vergessen? Du brauchst wirklich keine Gesellschaft, schon gar nicht die eines verlausten Rotzbengels, einer verfressenen, opportunistischen Ziege und eines Pferdes, das aussieht, als könne es jeden Augenblick an Altersschwäche sterben! Er wirft einen Blick zu Filidh hinüber, der seine neuen, ihm völlig fremden und obendrein ziemlich gierigen Fressgenossen nur mit freundlich hängenden Ohren und dem milden Ausdruck eines netten, gönnerhaften Onkels betrachtet, und schüttelt ungehalten den Kopf. Verräter!

Während der Junge irgendetwas von "Pferd versorgen" nuschelt und prompt mitsamt Decke, Ledertüchern und allem zu selbigem verschwindet, setzt Colevar sich ans Feuer. Er hält sich ganz instinktiv so, dass er dem Jungen nicht den ungeschützten Rücken zukehrt, sondern ihn im Blick hat – oder hätte, sobald er wieder hinter seinem alten Gaul hervorkäme, hinter den er sich fast verlegen geflüchtet hatte. Da Colevar sich beim besten Willen kein anderer Grund für diese Befangenheit vorstellen kann, bleibt nur die vermeintliche Reue über den fast begangenen Mundraub. Schämt sich wohl. Geschieht ihm ganz recht! Kaum ist der rachsüchtige Gedanke durch seinen Kopf geschossen, schnaubt er auch schon, diesmal jedoch eher ungehalten über sich selbst. "Bei allen Göttern, nun stell dich nicht so an", knurrt er kaum hörbar vor sich hin und schimpft sich selbst einen Narren. "Du bist vor lauter Misstrauen schon so stachlig wie ein Igel!" Colevar angelt mit dem Stock die in Lehm gebackenen Vögel aus dem Feuer, vier fette Waldhühner, die längst gar sind und einen überwältigenden Duft in der Höhle verbreiten. Er hatte sie am Morgen mit der Schleuder erlegt, sie ausgenommen und dann mit dem letzten Rest seines altbackenen, angerösteten Brotes, mit ein wenig Bärlauch, Gewürzen und den angebratenen Innereien gefüllt. Sieh dir den Jungen doch an. Es ist ein Welpe, verdammt nochmal. Gib ihm etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen, und morgen reitet jeder von euch wieder seines Weges. Als der Bursche ans Feuer kommt, stehen seine völlig ungleich langen Haarsträhnen wild in alle Richtungen ab und er hat sich wie eine Mumie bis zum Kinn in die Decke eingewickelt – nicht das allerkleinste Fleckchen Haut ist zu sehen, vom gelegentlichen Aufblitzen einer blassen Zehe irgendwo unter dem Deckensaum einmal abgesehen. Allerdings scheint Colevar nicht als einziger misstrauisch zu sein, denn der Junge setzt sich zwar ans Feuer, aber so weit weg von ihm wie nur irgend möglich. Die Vögel sind inzwischen von ihrer harten Lehmhülle befreit und dampfen auf einem flachen Stein vor sich hin, während Colevar sie mit dem Messer in mehr oder minder mundgerechte Stücke zerteilt und die Füllung in Scheiben schneidet.

Er will dem Bengel – Morren – gerade erklären, dass er schon herüber kommen und sich seinen Anteil holen müsse, weil er nämlich den Dunklen tun und ihn bedienen würde wie eine hochgeborene Lady bei Hofe, als der Junge auf der anderen Feuerseite plötzlich sein Schweigen bricht und mit einem ganzen Rattenschwanz an Fragen herausplatzt: >Ihr seid ein Ritter. Müsst Ihr denn gar nicht bei Eurem Orden sein? Ich hab' hab' Euch meinen Namen genannt, aber Ihr mir nicht den Euren. Wer seid Ihr denn nun und warum um Himmels willen haust Ihr in einer Höhle?< Colevar lacht zwar nicht, er lächelt nur flüchtig, wie zu sich selbst, aber seine Belustigung ist ihm deutlich anzusehen. "Du wirst schon zu deinem Essen kommen müssen, es gibt keine Teller. Und selbst wenn, ich würde es dir nicht hinterhertragen, aye?" Dass er eine hölzerne Essschale und einen geschnitzten Löffel sein eigen nennt, die irgendwo in seinen Packtaschen verstaut sind, muss er dem Jungen ja nicht auf die Nase binden. Er hätte aufstehen müssen, dem Fremden den Rücken zukehren, alles herauswühlen und alles wieder einpacken müssen. Ihm den Rücken zukehren. Das erste Stück Hühnchen ist so heiß, dass er sich fast die Zunge daran verbrennt, aber es ist auch so zart, dass es einem förmlich im Mund zergeht und es schmeckt himmlisch. Der inbrünstige Laut, den er von sich gibt, als er kaut, gibt dann wohl auch den Ausschlag, denn der Junge rafft seine Decke um sich und kommt herüber. Als er sitzt, immer noch mit genügend Sicherheitsabstand, aber immerhin in Reichweite des Essens, wirft Colevar ihm einen kurzen Blick zu und nickt leicht. "Aye, ich bin ein Ritter, aber ich bin keinem Orden verschworen... nur einem Gott. Ich bin Colevar. Und ich hause nicht in dieser Höhle, ich bin nur auf der Durchreise und habe hier eine Weile Zuflucht vor dem miserablen Wetter gesucht." Einen Moment überlegt er, doch dann fährt er fort – es kann ja kaum Schaden, ihm das zu sagen. "Ich kehre von einer langen Reise nach Hause in die Herzlande zurück."  


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 22. Mai 2011, 21:42 Uhr
>Du wirst schon zu deinem Essen kommen müssen, es gibt keine Teller<, wird Morian von ihrem Gastgeber beschieden. >Und selbst wenn, ich würde es dir nicht hinterhertragen, aye?< Sie meint fast, dabei in seinen Mundwinkeln so etwas wie den Anflug eines Lächelns zu entdecken, aber ganz sicher ist sie sich nicht, denn der flackernde Feuerschein tanzt ein wildes Wechselspiel aus Licht und Schatten auf seinem Gesicht. Nach außen hin versucht Morian zwar Gleichmut und Gelassenheit zu demonstrieren, aber innerlich ficht sie einen heftigen Kampf mit sich aus. Sie wagt es nicht so recht, sich auf die andere Seite des Feuers zu setzen, aus Angst, der Fremde würde sofort ihr Geheimnis durchschauen, wenn sie ihm so nahe kommt. Schon seine erste Musterung war so eindringlich gewesen, dass sie dabei das Gefühl gehabt hatte, sie bestünde aus Glas und er könne durch ihre Tarnung einfach hindurchsehen - und da war sie noch ein halbes Dutzend Schritt von ihm entfernt gewesen. Er wird es merken ... gewiss wird er es merken, und dann ...? Misstrauisch äugt sie über die Flammen hinweg zu ihm hinüber und ihr Blick klebt förmlich an seinen Fingern, als er in aller Seelenruhe damit beginnt, das Fleisch zu zerteilen. Schon allein dem köstlichen Duft, der die Höhle füllt, ist schwer zu widerstehen, und der Anblick der gebratenen Hühner lässt Morian schon fast sabbern - aber als der Kerl dann beim ersten Bissen auch noch einen kellertiefen Grunzlaut des Wohlbehagens von sich gibt, ist es aus mit ihrer Selbstbeherrschung, mit vornehmer Zurückhaltung und guten Manieren.

Energisch rafft sie ihre Decke und allen Mut zusammen und rutscht um die Feuergrube herum, bis sie in Reichweite des Geflügels kommt. Wie ein ausgehungerter Wolf stürzt sie sich auf eines der gebratenen Hühner und schaufelt, als wäre es ihre letzte Mahlzeit. Während sie in einem fortgeschrittenen Zustand kulinarischer Glückseligkeit schwelgt, genüsslich ihre Zähne in das weiche, weiße Fleisch gräbt und jedes noch so kleine Knöchelchen feinsäuberlich abnagt, beantwortet der Fremde nun auch endlich ihre Frage: >Aye, ich bin ein Ritter, aber ich bin keinem Orden verschworen... nur einem Gott. Ich bin Colevar. Und ich hause nicht in dieser Höhle, ich bin nur auf der Durchreise und habe hier eine Weile Zuflucht vor dem miserablen Wetter gesucht.< "So wie ich", quetscht sie zwischen zwei Bissen hervor und schielt schon nach möglicher weiterer Beute - die sich aber dummerweise in für sie unerreichbarer Ferne auf Colevars anderer Seite befindet. "Bei diesem elenden Mistwetter wundert es mich, dass wir nur zu zweit in dieser Höhle gelandet sind. Eigentlich hätte es Maus und Mann im Umkreis von ein paar Tausendschritt hier hereintreiben müssen." Blöde Gans, was tust du denn? Erschrocken über ihren Ausbruch senkt sie schnell die Lider und vertieft sich wieder im Anblick der abgenagten Knochen, als ob es in der ganzen Höhle nichts Wichtigeres gäbe. Du sollst hier keine Konversation machen, dummes Ding. Bleib ihm vom Leib und halt' die Klappe und lächle vor allem nicht. Du bist ein Junge, denk dran, ein Junge! Rede nicht so viel. Halte deine Stimme tief. Sei einfach vorsichtig.

Vorerst scheint Colevar jedoch keinen Verdacht geschöpft zu haben. Er hält zwischen zwei Bissen inne, als würde er über seine Worte erst nachdenken müssen, dann erklärt er: >Ich kehre von einer langen Reise nach Hause in die Herzlande zurück.< Im rauen Klang seiner Stimme ist etwas, das Morian aufblicken lässt. Seine Worte klingen unbeschwert, und doch kann sie seinem Gesicht ansehen, dass sein Herz es nicht ist. Für die Dauer eines Wimpernschlags kann sie hinter diese Maske aus Gleichmut und Beherrschung blicken, doch sofort verfinstert sich seine Miene wieder. Hm, scheint wohl keine sehr glückliche Reise gewesen zu sein, vermutet sie, aber sie spricht es nicht aus. Zwar trudeln ihr eine Million Fragen durchs Hirn, aber sie kennt ihn gerade mal seit einer halben Stunde und es geht sie ganz gewiss nichts an, weswegen er diese Reise gemacht und was er dabei erlebt hat. Im Moment sieht Colevar auch eher aus, als würde er ihr eins mit der gusseisernen Bratpfanne überziehen, sollte sie es wagen, ihn darauf anzusprechen. Aber bei dem Wort 'Herzlande' wird sie auch aus einem anderen Grund hellhörig und spitzt die Ohren, denn genau dort liegt ihr vorläufiges Reiseziel. Ihren letzten Informationen nach, die sie dem Wirt einer Schänke am Frostweg abgeschwatzt hatte, waren die Söldner, denen sie folgt, bei Einbruch des letzten Winters in dessen Herberge gewesen und hatten anschließend nach Brugia ziehen wollen, um dort den Rhaín zu überqueren und in die Herzlande zu reisen. "Ihr seid also in den Herzlanden zu Hause?", fragt sie vorsichtig nach und wagt einen verstohlenen Seitenblick. "Wo denn genau? Und wenn Ihr jetzt weiter reist .... Ihr kommt wohl nicht zufällig auch nach Brugia?"

Ein kleiner Funke hat irgendwo in ihrem Geist gezündet, ein absonderlicher, verrückter und womöglich auch absolut bescheuerter Funke, der Morian völlig irrwitzig erscheint, den sie aber schon nicht mehr ersticken kann - und in ihrem Inneren reift unaufhaltsam ein geradezu verwegener Plan heran. Er ist ein Ritter, er trägt die Ringe auf dem Arm. Ein Ritter ist ein Ehrenmann, er darf mir also im Grunde keinen Schaden zufügen, selbst wenn er irgendwann herausfinden sollte, dass ich gar kein Junge bin. Ein Ritter muss die Schwachen schützen, ha! Ein Ritter hat einen Kodex, an den er sich halten muss - und wenn er dabei noch so grummelt. Morian lässt die Reste ihres Hühnchens sinken und ihr verstohlener Seitenblick auf ein kantiges Profil und einen langen Vorhang goldblonden Haars nimmt mit einem Mal sehr entschlossene Züge an. "Ihr wisst schon, dass es gefährlich ist, allein zu reisen?" gibt sie zu Bedenken. "Und für einen Ritter ist das auch nicht angemessen, Sire Colevar, findet Ihr nicht? Da Ihr mir hiermit - ", zur anschaulichen Untermalung lässt sie ein abgenagtes Hühnerbein zwischen ihren Fingern baumeln, " - heute praktisch das Leben gerettet habt, habe ich beschlossen, auch das Eure zu retten, indem ich Euer Knappe werde. Ihr braucht ganz dringend einen Knappen, meint Ihr nicht? Ich bin sehr nützlich, ich kann Euer Pferd putzen und füttern, ich kann für Euer Gepäck sorgen, ich kann sogar jagen - ich habe einen Dolch und eine ganz famose Steinschleuder. Ich kann Euer Schwert tragen, und Euren Schild, und Euch bei Turnieren in die Rüstung helfen ... äh, was ein Knappe eben so macht. Aber ein Knappe darf natürlich nicht schwächlich sein, also, ähm ... könnte ich unter Umständen vielleicht noch etwas von diesem köstlichen Federvieh abhaben?"


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 23. Mai 2011, 13:27 Uhr
Einen Moment lang sieht der Junge ihn gerade heraus an, mit einem Blick, der direkt trifft, als habe er mit seinen harmlosen Worten viel mehr preisgegeben, als es seine Absicht gewesen war. Vielleicht hatte er auch für einen Herzschlag nicht auf sein Mienenspiel geachtet. Er beherrscht die Kunst, ein vollkommen versteinertes oder absolut unergründliches Gesicht aufzusetzen zwar nicht so gut wie Olyvar, aber für gewöhnlich kann ein Fremder ihm seiner Stimmung auch nicht gleich an der Nasenspitze ablesen. Aber der Junge kann es. Oder... Götter im Himmel... ist es mir so deutlich anzusehen? Colevar sagt kein Wort, aber sein finsteres Gesicht lässt auch keinen Zweifel daran, dass er keine einzige Frage dazu hören will - und was immer Morren nun denken mag, er schweigt taktvoll, wofür Colevar ehrlich dankbar ist. Er will nicht daran erinnert werden, er will nicht danach gefragt werden und erst recht will er nicht darüber reden müssen. Noch nicht. Vielleicht nie. Die Kammern seines Herzens ziehen sich fest zusammen, doch alles, was sie umschließen, ist Leere. Einen Moment schweigen sie beide, während sie essen und jeder hängt in die Flammen starrend seinen eigenen Gedanken nach. Wenn Colevar mit einem völlig Fremden isst – so wie jetzt – oder großen Hunger hat – so wie jetzt -, kommt ihm immer die rituelle Bedeutung einer Mahlzeit in den Sinn. (Auch wenn die Feierlichkeit dieses Mahls vielleicht ein wenig leidet, da Morren mit methodischer Gründlichkeit das ganze Hühnchen frisst, die allerkleinsten Fleischfetzen von den Knochen nagt, das Mark aussaugt, sich die Finger schleckt und nicht einen einzigen, verwertbaren Krümel übrig lässt.) Trotzdem - sein Essen mit jemandem zu teilen erinnert Colevar an seine Kindheit, an die Große Halle von Lyness und das Verschmelzen von Gemeinschaft und Geschmackserlebnissen. Das köstliche, dunkle Büffelfleisch nach den großen Herbstjagden, der würzige Juleber an Mittwinter, das Inarilamm im Frühjahr... das Gefühl, das im Großen und Ganzen alles im Leben zum Teilen da ist. Grrmpf. Fängst du schon wieder an?

>Ihr seid also in den Herzlanden zu Hause?< Morrens Frage reißt ihn aus seinen Gedanken, die sich schon wieder gefährlich nahe an lauernden Abgründen herumtreiben und Colevar blickt auf. Die hellen Augen des Jungen mustern ihn noch immer ein wenig argwöhnisch, aber auch eindeutig gespannt und... spekulativ? "Aye", erwidert er nur und wirft einen abgenagten Hühnerknochen ins Feuer. "Warum so neugierig?"
>Wo denn genau? Und wenn Ihr jetzt weiter reist .... Ihr kommt wohl nicht zufällig auch nach Brugia?<
"In Talyra, das ist eine große Stadt am Nordwestufer des Ildorel." Er angelt nach einem weiteren Huhn, schält es aus seiner Lehmverpackung und zerteilt es mit dem Messer. "Hm, Brugia? Höchstwahrscheinlich schon. Jeder, der auf dem Frostweg nach Süden reist, muss irgendwo den Rhaín überqueren und Brugia ist die beste Wahl, um überzusetzen." Und so oft, wie du das in den letzten zwei Jahren getan hast, schuldet der Fährmann dir inzwischen ein paar Überfahrten umsonst. Seine Worte scheinen die plötzliche Wissbegierde des Jungen befriedigt zu haben, denn eine ganze Weile sind von Morren nichts als dezente Kaugeräusche zu hören, was Colevar die Gelegenheit gibt, den fremden Jungen seinerseits ein wenig zu mustern. Er ist klein und vielleicht nicht unbedingt wirklich schmächtig, aber für einen Jungen seines Alters doch ziemlich schmal geraten - viel kann er von ihm ohnehin nicht sehen, da er nach wie vor bis zum Hals in die Decke eingemummt ist. Vielleicht wächst er ja noch. Sein Haar ist dunkel, rötlichbraun, vermutlich kastanienfarben mit vereinzelten, helleren Strähnen, dort wo die Sonne es gebleicht hat. Allerdings sieht es aus, als habe es jemand, der es nicht gut mit dem Jungen gemeint haben kann, mit einer Heckenschere oder einem Hackbeil bearbeitet. Das lebhafte Gesicht des Bengels ist schmal und gut aussehend, die Wangenknochen sind hoch und so groß und rund wie Kinderfäuste, und der Mund scheint eine Spur zu breit für das Gesicht, ist aber anmutig geschwungen.

Colevar entdeckt eine kleine Armada von Sommersprossen auf Nasenrücken, Wangen und Stirn, aber nicht den allerkleinsten Schatten eines Bartes, ja noch nicht einmal die Andeutung eines dunklen Flaums. Morrens Augen sind hell, vielleicht grün, vielleicht grau, das ist im Feuerschein schwer zu sagen, und sie werden umrahmt von einem Kranz langer, dichter dunkler Wimpern. Einen Herzschlag lang spürt Colevar so etwas wie Mitgefühl in sich aufsteigen – der arme Bengel vor ihm hat vermutlich ebenso oft zu hören bekommen, er sähe so hübsch aus wie ein Mädchen, wie er selbst zu hören bekam, er sähe aus wie ein Seharim. Als Kind hatte er sein Aussehen gehasst, als Jugendlicher hatte er sich deswegen geprügelt. Dann hatte er irgendwann entdeckt, dass Mädchen doch nicht alle dumm wie Bohnenstroh sind und was man alles mit ihnen anstellen kann... und dass man es viel leichter mit ihnen anstellen kann, eben weil man das Gesicht eines Seharim spazieren trägt. Aber da war er schon zwei Köpfe größer als die meisten anderen Halbstarken in seinem Alter und etwas mädchenhaftes hatte er ohnehin nie  an sich gehabt. Morren dagegen läuft nicht nur mit einem entschieden zu hübschen Gesicht herum, er ist auch nicht allzu groß und scheint nicht sonderlich kräftig. Vielleicht wächst sich das noch aus. Vielleicht ist er auch einfach viel jünger, als du glaubst, schließlich hat er auch keinen Bart. Seine mitleidigen Gedankengänge werden jäh unterbrochen und zwar von einem plötzlich sehr entschieden wirkenden Morren, der ihn mit einer Miene ansieht, wie sie jeder Junge zur Schau trägt, der etwas im Schilde führt - obendrein etwas, das Colevar ganz bestimmt nicht gefallen wird und ihn schlagartig auf der Hut sein lässt. >Ihr wisst schon, dass es gefährlich ist, allein zu reisen?<
"Oh, aye?" Eine von Colevars Brauen hebt sich süffisant. "Ist das so? Da wäre ich nie drauf gekommen."

Ein ungehaltenes Zungenschnalzen über nicht angebrachten Sarkasmus antwortet ihm, gefolgt von der altklugen Erklärung, dass das für einen Ritter auf keinen Fall angemessen sei, gefolgt vom feierlichen Versprechen, sein Leben nun ebenfalls zu retten, zur Abtragung der eigenen Schuld, sozusagen. "Was...!?" Colevar verschluckt sich beinahe am Hühnchenfleisch. Gefolgt von der so großzügigen, wie ungerührten Erklärung, sein Knappe zu werden, gefolgt von einer haarsträubenden Aufzählung haarsträubend wertvoller Eigenschaften, bei der sich Colevar im wahrsten Sinne des Wortes die Haare sträuben - jedes einzelne auf seinem Körper. Und nicht nur die, seine Gedanken erst recht. Seine Kinnlade bleibt auch nur unter Aufbietung allergrößter Konzentration an ihrem Platz. >Aber ein Knappe darf natürlich nicht schwächlich sein,< schließt Morren in aller Logik und seine Stimme nimmt dabei einen so hypnotischen Unterton an, als sei Colevar ein Kaninchen, das er von der Behaglichkeit eines Schlangenmauls zu überzeugen versucht. >Also, ähm ... könnte ich unter Umständen vielleicht noch etwas von diesem köstlichen Federvieh abhaben?< Außer ziemlich unartikulierten Schnaubgeräuschen bringt Colevar erst einmal gar nichts heraus, doch allmählich kehrt sein Denkvermögen zurück. "Nein, nein und nein", knurrt er schließlich entschieden, schluckt den Bissen im Mund hinunter und beendet damit - seiner Meinung nach jedenfalls - jede weitere Diskussion. Trotzdem schiebt er Morren das vierte und letzte gefüllte Huhn zu. Zu den wenigen unverbrüchlichen Regeln in seinem Leben, an die er auch bereit ist, sich zu halten - er stiehlt nicht, er schändet keine Frauen, er tritt niemanden, der bereits am Boden liegt, er ersäuft keine Welpen, bricht keine Eide, belügt niemals das Pferd und erschreckt keine Rehkitze -, gehört offenbar auch, keinen durchgefrorenen Bengel verhungern zu lassen, nur weil der offenbar gerade den Verstand verloren hat. "Schlag' dir das mit dem Knappen ganz schnell wieder aus dem Kopf, Junge. Ich bin vielleicht ein Ritter, aber ich bin keine gute Gesellschaft. Und ich brauche niemanden. Jetzt iss' dein Huhn und dann geh schlafen. Ich reite morgen bei Sonnenaufgang weiter. Allein."

Colevar erwacht bei Anbruch der Dämmerung mit einem mulmigen Gefühl. Nachdem er dem Jungen Filidhs Schabracke als provisorische Schlafmatte überlassen und ihn zur Ruhe geschickt hatte, war er selbst die halbe Nacht über wach gelegen und hatte die andere Hälfte einen monotonen, unangenehmen Traum geträumt, untermalt von den Bildern und Geräuschen einer steigenden Flut, Welle um Welle um Welle. Nun streckt er sich in der Wärme seiner dicken Schlaffelle, versucht, das Gefühl seiner Träume loszuwerden und alarmiert damit ein Eichhörnchen in der verkrüppelten Fichte auf dem Sims vor der Höhle. Das kleine Tier spurtet hastig auf dem Ast zurück, auf dem es sich so weit vorgewagt hatte, dass es praktisch direkt über ihm gesessen haben muss. Offenbar ist es mit seinem Anblick alles andere als zufrieden, denn es fängt an, lauthals zu zetern und zu keckern. "Ach, gib Ruhe", gähnt er und wühlt sich aus den weichen Lammfellen. Das Eichhörnchen – es muss ein Eichhornmädchen sein –legt vehementen Protest gegen seinen Versuch aufzustehen ein und wird hysterisch, was Colevar jedoch ignoriert. Einen Herzschlag später erscheint ein dampfender Becher vor seiner Nase, samt einer sauber geschrubbten, dazugehörigen Hand und als er blinzelnd nach oben sieht, blickt er in Morrens linkisch grinsendes Gesicht. "Wa..?" Der Junge ignoriert seine wenig freundlichen Fragen, nutzt aber seine Verwirrung schamlos aus. Er drückt ihm einen Teebecher in die Finger, zerrt ihn aus den Fellen, schubst ihn auf die Füße und ignoriert seine immer drohender werdende Miene mit stoischer Gelassenheit. Er hatte zu seiner allergrößten Verblüffung und noch größeren Verärgerung feststellen müssen, dass sein Pferd gefüttert und gestriegelt, gezäumt und gesattelt praktisch nur noch auf ihn wartet, dass sein Gepäck sicher verstaut und die Höhle aufgeräumt ist. Selbst die Feuerstelle war gelöscht und mit Erde bestreut, und seine Waffen und sein Kettenhemd bereit. Wenigstens der allgegenwärtige Regen der letzten Tage hatte aufgehört - ein Blick aus dem Höhleneingang hatte offenbart, dass der Himmel klar war, die letzten Sterne gerade untergegangen waren und sich nicht ein Wolkenumriss mehr am perlgrauen Dämmerhimmel abgezeichnet hatte. Endlich!

Morren hatte ihm Schwert und Schild gereicht, als er in den Sattel gestiegen war und ihm bittend nachgesehen, als er die Höhle in eisernem Schweigen verlassen hatte, doch er hatte sich nicht erweichen lassen (und lobt sich dafür selbst als willensstark und tapfer). Wenn der Bengel glaubt, er kann mich so überzeugen, dann täuscht er sich. Ich brauche keinen Knappen. Ich brauche ihn nicht. Ich brauche überhaupt niemanden! Es hatte keine zehn Minuten gedauert, ehe der Junge hinter ihm auf dem Pfad aufgetaucht war, fröhlich vor sich hin pfeifend. Und da ist er jetzt immer noch, obwohl die Sonne allmählich höher steigt und überraschend warm eine regenglitzernde, grüne Frühlingswelt bescheint. Aus den nassen Wiesen im Tal, das sie durchqueren, erhebt sich goldener Dunst, und auch der mit Nässe nur so getränkte Wald atmet Nebel wie Rauch aus, der aus den grünen Wipfeln aufsteigt. Colevar spitzt die Ohren, doch er hört nichts als die normalen Geräusche eines Waldes, in dem sich der Frühling regt: das Murmeln und Rauschen des Windes im frischen Grün der Bäume, unterbrochen vom gelegentlichen Knacken eines fallenden Astes, oder dem dumpfen Aufprall eines Kiefernzapfen aus dem letzten Jahr auf dem weichen Waldboden; den fernen Ruf eines Eichelhähers, das Gezwitscher eines Schwarms von Fichtensängern auf Futtersuche, das Rascheln eines hungrigen Maulwurfs im Laub des Winters – und Morrens Pfeifen. Der Junge ist immer noch da, immer noch hinter ihm und denkt offenbar nicht einmal daran, wieder seines Weges zu gehen. Irgendwann ist es Colevar leid, auf ein Aufgeben dieses durchtriebenen, hinterlistigen, hartnäckigen, ausgefuchsten kleinen Schlingels zu warten, zügelt Filidh und verharrt ungeduldig am Wegesrand. "Bist du eigentlich taub? Ich sagte 'Nein'!" Blafft er, als Morren direkt vor ihm steht, samt meckernder Ziege und brummelndem Gaul. "Was genau hast du daran nicht verstanden? Ich brauche keinen Knappen. Und ich will auch keinen Knappen. Ich reite jetzt weiter und ich reise allein!"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 24. Mai 2011, 13:38 Uhr
Stillvergnügt pfeift Morian ein Liedchen vor sich hin, ein uraltes môrlander Tanzlied mit einer schnellen, fröhlich klingenden Melodie, das sie vor langer Zeit einmal von ihrer Mutter gelernt hatte. Es handelt zwar von Seeleuten, Piratenbräuten und Klabauterkobolden, und passt inhaltlich nicht unbedingt zu einer Reise auf einer pfützenübersäten Landstraße mitten in einem rhaínländischen Gebirge, aber im Moment ist ihr das wirklich schnurzpiepegal. Sie ist so gutgelaunt wie schon lange nicht mehr. Genau genommen ist sie seit ihrem überstürzten Aufbruch aus Duisterhaven schon nicht mehr so vergnügt gewesen, und das ist schon so lange her, dass sie sich kaum mehr daran erinnern kann. Pfeifend und summend und mit baumelnden Beinen hockt sie auf Hühnchens knochigem Rücken, der durchhängt wie ein alter, plattgesessener Schaukelstuhl, vor sich quer über dem Widerrist hängend eine hocherfreute, weil nicht laufen müssende Ziege, die zufrieden blinzelnd die vorbeiziehende Landschaft bewundert und ab und an verzücktes Gemecker von sich gibt. Morian reitet Hühnchen nicht sehr oft und führt ihn stattdessen die meiste Zeit am Zügel neben sich, um den greisen, abgearbeiteten Klepper nicht überzustrapazieren, doch hier auf dem breiten, gut ausgebauten Frostweg muss sie sich kaum Sorgen um seine müden alten Beine machen und kann ihm ihr Fliegengewicht ruhig eine Zeitlang zumuten, ohne zu befürchten, dass er an der nächsten Kreuzung tot zusammenbricht - und die paar Stein, die Zora auf die Waage bringt, wird er ohnehin kaum spüren.

Morians faule Lotterziege hält sich offenbar auch für etwas Besseres und einen Fußmarsch für unter ihrer Würde. Dagegen liebt sie es heiß und innig, auf dem Pferderücken schaukelnd durch die Gegend getragen zu werden, wie Morian festgestellt hat. Hmpf, wahrscheinlich bildet sie sich ein, sie sei eine königliche Bezoar mit ellenlangem Stammbaum und Von-und-Zu-Hochwohlgeboren im Namen, die von ihren Sklaven in einer Sänfte spazieren getragen wird - das würde diesem Vieh ähnlich sehen. Grinsend über diese Vorstellung krault sie der Geiß die flauschigen Ohren, aber ihre Aufmerksamkeit richtet sich bald wieder nach vorne, auf den eigentlichen Grund ihrer guten Laune: einen breiten Rücken in einem glänzenden Kettenhemd, oben eingerahmt von einem langen,  in der Sonne leuchtenden blonden Zopf, unten von einem Pferd. Morian reitet ein ganzes Stück hinter ihm, bestimmt mehrere Spuckweiten, doch selbst auf diese Entfernung ist zu erkennen, dass besagter Rücken eine unübersehbare Portion Zorn abstrahlt - ungefähr so wie ein brodelnder Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Mal sehen, wie lange er noch durchhält, bevor er explodiert, gluckst sie in sich hinein, nach wie vor felsenfest der Überzeugung, dass ihre Idee eine gute war - ach was, eine hervorragende -, auch wenn Colevar das etwas anders zu sehen scheint.

Aber Morian ist - trotz aller Verkleidung - immer noch eine Frau, und als solche weiß sie, dass Männer eben etwas schwer von Begriff sind und manchmal erst ein wenig Aufmunterung brauchen, um ihr Glück zu erkennen - wobei sich hier eine großzügig bemessene Behandlung mit der Holzhammermethode bestens bewährt hat. "Pfff, da behauptet er einfach, er bräuchte keinen Knappen, hat man so was schon gehört?", verkündet sie vergnügt der vor ihr schaukelnden Ziege, die ihr meckernd beipflichtet, und vergräbt ihre Finger in Zoras weichem grauem Fell. "Der Herr Ritter bräuchte übehaupt niemanden, sagt er. Der Herr Ritter wolle allein reisen, sagt er - ha! Er wird schon noch merken, was er an mir hat...." Jedenfalls hat sie am Vorabend in der Höhle schnell begriffen, dass ihr gar nichts Besseres hätte passieren können, als dass ihr ein waschechter Ritter über den Weg läuft, noch dazu einer, der in die gleiche Richtung will wie sie selbst. Wenn er sie mitnehmen würde, wäre das ihr Passierschein in die Herzlande, ihre Versicherung, unbeschadet in den Süden zu kommen. Selbst wenn sie nur eine kleine Weile mit ihm reisen könnte, so wäre dies eine Chance, wenigstens ein kurzes Stückchen ihres Wegs in Sicherheit zu sein, sich nicht dauernd fürchten und nächtelang voller Angst wachliegen zu müssen. Als Knappe eines edlen Ritters, eines hünenhaften Heroen in glänzender Rüstung mit echtem Schwert und echtem Schild - wer sollte es da wagen, ihr etwas zu tun?

Jetzt muss sie ihn nur noch überzeugen. Ihre Begeisterung hatte ihn leider nicht anstecken können und auch ihren gewichtigen Argumenten war er nicht zugänglich gewesen, sondern hatte sie kategorisch abgeschmettert. Er hatte noch nicht einmal auf ihre morgendlichen Mühen, auf dampfenden Tee und ein auf Hochglanz gestriegeltes Pferd reagiert - doch das macht nichts. Was Morian an Überzeugungskraft und an natürlichem Charme fehlt, wird sie einfach durch die ihr angeborene Penetranz wettmachen, und davon besitzt sie eine ganze Menge. Ihr unmelodisch gepfiffenes Liedchen wird vor lauter Frohlocken immer lauter und nimmt schon fast die Züge einer Jubelhymne an - etwas, das besagter Herr Ritter offenbar nur schwer erträgt, denn aus heiterem Himmel zügelt er plötzlich sein Schlachtross, macht scharf auf der Hinterhand kehrt und verharrt dann aufrecht und reglos wie ein bronzenes Reiterstandbild, während er auf sie wartet und ihr mit gewitterfinsterem Gesicht entgegenblickt. Als Hühnchen mitsamt Morian und der meckernden Geiß auf dem Rücken endlich im Trödelschritt zu ihm aufgeschlossen hat, plustert Colevar sich auf, als wolle er gleich ein gewaltiges Donnerwetter auf sie niederprasseln lassen. >Bist du eigentlich taub?, raunzt er dann auch sofort. Ich sagte 'Nein'! "Was genau hast du daran nicht verstanden? Ich brauche keinen Knappen. Und ich will auch keinen Knappen. Ich reite jetzt weiter und ich reise allein!<

Ungerührt und mit überaus hoheitsvoller Miene zuckelt Morian auf ihrem von den Ohren bis zur Schweifrübe vollgepackten Lastenklepper an ihm vorüber und bedenkt den zornig brodelnden Ritter nur mit hochgezogener Braue und einem indignierten Kopfschütteln. "Jaja, ist ja schon gut, nun beruhigt Euch doch endlich. Und hört bitte auf, mich mit Eurem stocktauben Urgroßvater zu verwechseln, ich höre noch ganz gut.. Wenn Ihr unbedingt allein reisen wollt, dann tut Euch keinen Zwang an - schließlich reise ich ja auch allein. Ich mein', ich kann ja schließlich nichts dafür, dass Ihr andauernd vor mir herreitet - obwohl ich das ganz praktisch finde, muss ich zugeben, denn Ihr gebt einen ausgezeichneten Windschatten. Ich persönlich glaub' ja, dass Ihr das mit Absicht macht - denn wenn es Euch so stört, warum sucht Ihr Euch denn dann keinen anderen Weg, hm?" Seinen bitterbösen Blick quittiert sie mit einem strahlenden Lächeln, und dann nimmt ihre Stimme das sanfte Timbre eines Irrenarztes an, der es mit einem widerspenstigen Patienten zu tun hat: "Im Übrigen ... wenn Ihr einfach nur ein bisschen Unterhaltung wollt, dann sagt es doch einfach, Ihr müsst doch nicht zu solchen Tricks greifen, um mit mir ins Gespräch zu kommen. Schönen Tag auch!" Ungerührt setzt Morian ihren Weg fort - nur um gleich darauf von einem wutschnaubenden Colevar wieder überholt zu werden, der angestrengt versucht, sie mit dolchartigen Blicken aufzuspießen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und seine ungebetene Leibgarde zu bringen.

Morian macht sich nichts draus, sondern folgt ihm unverdrossen und bester Laune, wohin er auch sich wenden mag. Sie stimmt wieder ein herzlich falsches Liedchen an, betrachtet mit einem höchstzufriedenen Grinsen abwechselnd die sonnenbeschienene, hügelige Landschaft neben sich, die glücklich schaukelnde Ziege unter sich und den angespannten, kettenhemdverpackten Rücken vor sich. Im Lauf des Vormittags wird es ziemlich warm, so dass sie den schweren wollenen Umhang abnimmt, ihn zusammenrollt und hinter sich aufs Pferd schnallt. "Schwitzt Ihr nicht in Eurem dicken Eisenhemd, Sire?", schreit sie fröhlich nach vorne. "Also, ich würde ja einfach verglühen, wenn ich so etwas tragen müsste. Soll ich es Euch vielleicht abnehmen?" Colevar scheint das jedoch nicht zu interessieren, denn er dreht sich weder um, noch gibt er irgend eine Antwort, sondern ignoriert hartnäckig weiterhin jeden Versuch der Kontaktaufnahme. "Tja, da muss ich wohl doch härtere Geschütze auffahren, was meinst du?" Zora bä-hä-hät zustimmend. "Sehr gut, Süße. Du musst mir nur ein klein wenig helfen. Ich werde dich jetzt nämlich zur DeNevarre'schen Botenziege ernennen, kleinen Moment noch ..."

Aus den vollgerümpelten Tiefen ihrer ledernen Packtaschen kramt sie ein abgebrochenes Stück Kohle und ein mehrfach gefaltetes, ausgefranstes Stückchen Pergament, das schon so viele Dutzend Male abgeschabt und neu beschrieben wurde, dass es im Lauf der Zeit so dünn wie Spinnenseide geworden ist. Sie breitet es vor sich auf Zoras sonnenwarmem Rücken aus und schreibt dann grinsend einige Worte nieder, ziemlich krakelig zwar wegen Hühnchens Schaukelei, aber dennoch gut lesbar. Dann faltet sie den Pergamentlappen wieder zusammen, bindet ihn Zora mit einem Stück Strick um den Hals und setzt dann ihre neuernannte Botenziege mit einem aufmunternden Klaps auf den Erdboden. "So, die Nachricht bringst du jetzt diesem netten Herrn Ritter da vorne, beeil dich ein bisschen." Auf den fragenden Blick der Geiß hin, fügt sie kichernd hinzu: "Na los, geh schon - er hat haufenweise leckeres Futter in seinen Satteltaschen!" Und wenn die verfressene Ziege mittlerweile eines versteht, dann das Wort "Futter" - eifrig und unter wildem Gemecker schwirrt sie ab und trippelt in Höchstgeschwindigkeit hinter Colevar und seinem Pferd her. "Wenn er dem Liebreiz eines Bauernlümmels widerstehen kann - gut, dann ist er abgebrüht. Aber wenn er dem Charme dieser Ziege widerstehen kann, dann hat er kein Herz. Hoffentlich kann er wenigstens lesen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 24. Mai 2011, 22:53 Uhr
Als es Mittag wird, haben sie den Frostweg längst wieder erreicht, der sich wie eine steingepflasterte Schlange durch die wilde Landschaft der Sieben Schwestern windet - und Colevar ist kurz davor, sich Moos vom Wegesrand in die Ohren zu stopfen. Er hätte alles getan, nur um das grottenfalsche Gepfeife dieses dreimal verfluchten Quälgeistes nicht länger ertragen zu müssen. Als er am Morgen angehalten hatte, um Morren unmissverständlich und ein für alle Mal fortzuschicken, hatte der nur frech gegrinst und dann losgeschnattert wie ein ganzer Schwarm fröhlicher Elstern, irgendetwas von stocktauben Urgroßvätern, keinen Zwängen, Windschatten, unlauteren Absichten und Tricks um ins Gespräch zu kommen. Dann hatte er ihm noch einen schönen Tag gewünscht. Einen schönen Tag! "'Schönen Tag auch, schönen Tag auch!'" Äfft er Morrens herablassenden Tonfall nach. "Ha!" Das ist kein Junge, sondern eine der Neun Plagen, die die Neun Höllen ausgespuckt haben, um mich neun-mal-neun Tage lang zu quälen! Am liebsten hätte er Filidh in einen schnellen Galopp getrieben, der ihn totsicher von Morrens Gegenwart befreit hätte, aber sein Pferd hatte fast einen Siebentag Ruhe hinter und noch einen langen Tagesmarsch vor sich, also bleibt er zähneknirschend im Schritt und verwünscht den verfluchten Bengel, auch wenn ihm dessen unerschütterliche Beharrlichkeit allmählich doch so etwas wie widerwilligen Respekt abnötigt.  Respekt? Du selbst bist wohl auch nicht mehr ganz bei Trost, oder? Respekt muss man sich verdienen. Der Junge da ist einfach nur verrückt ist. Irre. Schwachsinnig. Schwer gestört. Blöde. Was auch immer, auf jeden Fall nicht ganz bei Verstand. Colevar kann sich beim besten Willen nicht erklären, warum dieser sommersprossige Spargelritter auf seiner Jammergestalt von Pferd so einen Narren an ihm gefressen hat, dass er nun an ihm klebt wie die Biene am Honigtopf - und das, obwohl er sich redlich bemüht hat, möglichst grob und unfreundlich zu sein. Vielleicht bist du einfach nur ein lausiger Schauspieler?

>Schwitzt Ihr nicht in Eurem dicken Eisenhemd, Sire?< Tönt es vernehmlich hinter ihm und klingt derart beschwingt, dass Colevar seine Fäuste fest in Filidhs Mähne vergräbt, um nicht anzuhalten, das kleine Großmaul von seinem Klepper zu zerren und ihm ordentlich das freche Fell zu gerben, gleich hier in der Frühlingssonne am Straßenrand. Und wenn zufällig ein Reisender des Weges käme, und ihn fragte, was er da tue, dann würde er ihm den nackten Hintern des Jungen gleich für ein paar Handstreiche auf den selbigen feilbieten. Ganz bestimmt. Vielleicht würde Morren das ein paar Manieren beibringen. >Also, ich würde ja einfach verglühen, wenn ich so etwas tragen müsste. Soll ich es Euch vielleicht abnehmen?<
"Du würdest einfach zusammenbrechen, wenn du so etwas tragen müsstest", murmelt Colevar vor sich hin, doch das hört niemand außer Filidh und er bricht damit auch keine seiner Regeln, denn er hat das Pferd nicht belogen. Ignorier den Jungen einfach. Irgendwann muss er aufgeben. Als hätte das Schicksal, ein mitleidiger Gott oder sonst jemand seine Gedanken gehört, bleibt es hinter ihm tatsächlich still. Noch nicht einmal das grauenhafte Gepfeife hebt von neuem an. Hinter ihm rührt sich nichts, gar nichts: kein Laut, kein Gemecker, kein Geplapper, keine aufdringlichen Ratschläge. Colevar zügelt Filidh, wirft beide Arme hoch, die Handflächen gen Himmel und legt erleichtert den Kopf in den Nacken. "Danke!" Ruft er vernehmlich und hörbar erleichtert in Richtung der Götter, unsichtbarer kosmischer Mächte oder an wen auch immer gerichtet. "Oh, danke! Stille! Himmlisch." Zu seiner allergrößten Verwunderung bleibt es auch weiterhin still und er muss tatsächlich den Impuls unterdrücken, sich im Sattel umzudrehen um nachzusehen, was aus seinem kleinen Plagegeist geworden ist. Er ist nicht dein kleiner Plagegeist! Und du wirst noch nicht einmal den Kopf drehen!

Mit einem leisen Zungenschnalzen lässt er Filidh weitergehen, doch sie legen vielleicht gerade einmal fünfzehn Schritt zurück, als unter lautem Gemecker diese Apokalypse in Ziegengestalt neben ihnen auftaucht. "Ksch!" Macht Colevar, allerdings ohne Erfolg. Die Ziege wechselt zwar so hurtig die Straßenseite, dass ihre kurzen Beinchen nur so fliegen, denkt aber gar nicht ans Umdrehen - und daran, langsamer zu werden, auch nicht. Ein zweiter Blick auf das graue Tier – nun rechts neben ihm – offenbart ein wild flatterndes Stück Pergament an dem Strick, den Zora als Halsband trägt. Was zum...? Oh, er hätte wissen müssen, dass die Stille hinter ihm nur eine neue Teufelei des kleinen Tunichtguts bedeutet hatte. "Nein!" Knurrt er in Richtung Ziege, ohne Zora auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. "Verzieh dich und bring deinen Besitzer um den Verstand!" Mit einem entrüsteten kleinen "Bähä!" flitzt die Bucca mitten zwischen Filidhs Beinen hindurch, nur um wilde Sprünge auf seiner Linken zu vollführen, plötzlich im gestreckten Galopp davonzuschießen, mit gesenktem Kopf eine abrupte Kehrtwendung zu vollführen und sich meckernd vor ihm auf der Straße aufzubauen. Colevar lenkt Filidh mit leisem Schenkeldruck nach links, die Ziege hopst in ihren Weg. Er lenkt den Hengst nach rechts, Zora ist schneller. Hör sofort auf, 'Hasch mich' mit einer Ziege zu spielen! Wieder nach links, schon ist die Bucca da. Er täuscht ein Schenkelweichen nach rechts an, lässt den Fryslâner jedoch im allerletzten Moment Schulterherein in die andere Richtung gehen. Wieder springt die Ziege mit einem "Mä-hä-hä-hä-hää!" vor Filidhs Hufe, von dem Colevar schwören könnte, es klingt schadenfroh. Na schön, jetzt wissen wir, dass eine Bucca wendiger ist als ein Schlachtross. Und?

"Bäh! Bäh! Bäh!"
"Oh, schon gut, schon gut, du hast gewonnen!" Seufzend und sich selbst für bescheuert erklärend steigt er von Filidhs Rücken, geht zu der ihn hoch erfreut anblinzelnden Ziege, rupft das fadenscheinige Stück Pergament aus ihrem Halsband und stapft zurück zu seinem Pferd, um sich wieder in den Sattel zu schwingen. Er hat gerade einen Fuß im Steigbügel, als Morren an ihm vorbeitrabt und ihm dabei so hoheitsvoll zunickt wie Wüstenscheich, der auf seinem Kamel sitzt und auf die armen Unwürdigen hinabblickt, die da unten im Sand vorbeikrabbeln. "Rotzlöffel!"
Der Junge ist gut zwanzig Schritt voraus, als Colevar das schlabbrige Pergament entrollt hat.

'Wie viele Azurianer braucht es, um ein Feuer zu machen?'

Colevar ist derart fassungslos, dass er sich plötzlich an Morrens Seite wiederfindet ohne zu wissen, wie er überhaupt dorthin gekommen ist. "Was soll das?"
"Was soll was?" Will der Junge wissen und klimpert unschuldig mit seinen Mädchenwimpern.
"Das!" Colevar hält ihm das Pergament vor die Nase. "Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?"
"Aber Sire", erklärt Morren, ganz erschöpfte Geduld, "Das ist ein Witz. Ihr wollt mir doch wohl nicht erzählen, dass ein so weitgereister Ritter wie Ihr keine Feuerwitze kennt? Seht Ihr, Ärger steht Euch nicht gut zu Gesicht. All der Gram, die zornige Miene... davon bekommt man nur hässliche Falten. Als Euer treuer Knappe ist es meine Pflicht etwas gegen Eure fürchterliche Stimmung zu unternehmen. Also erzähle ich Euch Witze. Und nun, Sire, entfernt Euch wieder von meiner Seite, wenn ich bitten darf. Ihr reist ja allein. Und ich auch, im Übrigen. Ihr wollt doch wohl der armen Zora nicht ihre heroische Bedeutung als Botenziege nehmen? So herzlos seid nicht einmal Ihr!"
Er hätte gern etwas Geistreiches erwidert. Etwas Einfallsreiches. Etwas Schlagfertiges, Bissiges, irgendetwas Hundsgemeines. Bedauerlicherweise ist er so damit beschäftigt, seinen Mund wieder zuzuklappen, dass ihm überhaupt nichts einfallen will.

"Ich habe überhaupt kein Herz!" Knurrt er schließlich, nur um überhaupt etwas zu sagen und lässt Filidh doch angaloppieren – nur weit weg von diesem verzogenen Lümmel und seinen närrischen Ansichten. Er kommt keine hundertfünfzig Schritt weit, als das frenetische Ziegengemecker hinter ihm wieder einsetzt und als er einen Blick über die Schulter wirft, sieht er die kleine Bucca mit wildem Blick im Schweinsgalopp hinter Filidh her spurten, so schnell sie ihre Beine nur tragen. Selbstredend klemmt an ihrem Halsband schon wieder ein Pergamentfetzen. "Bäääääääähähääääääää!" Jammert es herzzerreißend und Colevar verdreht stöhnend die Augen. Der Bengel und sein Vieh sind der Mühlstein um seinen Hals. Die irdische Strafe für all seine Sünden. Was hatte er nur verbrochen? Noch nie hat ihm jemand auf diese Art und Weise getrotzt, das Verhalten des Jungen ist unglaublich. Ungeheuerlich. Ist... ist... Irgendwie amüsant. Sein rechtschaffener Groll löst sich nicht mir nichts dir nichts plötzlich in Wohlgefallen auf, aber er muss einfach zugeben, dass das Bürschchen so viel  Mut, Einfallsreichtum und Sturheit besitzt, dass sich so mancher erwachsene Mann eine gehörige Scheibe davon abschneiden könnte. Schicksalsergeben pariert er Filidh durch und lässt ihn Schritt gehen, was Klein-Zora mit einem dankbaren Meckern quittiert, ehe er sich weit im Sattel vorbeugt, um den Pergamentstreifen aus ihrem Halsband zu fischen:
'Wie viele Azurianer braucht es, um ein Feuer zu machen?'
Zwei. Der eine entzündet es. Und der andere spielt damit.
'Ein Sackpfeifer, ein Trommler und eine Tänzerin sehen ein Goldstück auf der Straße liegen. Wer hebt es auf?'
Der Sackpfeifer. Der Trommler weiß nicht, wie ein Goldstück aussieht und die Tänzerin bückt sich nicht für ein Goldstück.
PS: Ihr könnt Euch auch gleich ergeben und einfach lachen, Sire. Oder zählt Grummeln in Eurer Heimat vielleicht als ritterliche Tugend? Halten sie in Talyra Grummel-Wettstreite ab? Kann man Trophäen für die beste Grummel-Miene verliehen bekommen?


Es dauert eine Weile, ehe er in seinen Packtaschen nach Tintenflakon und Gänsefederkiel fündig geworden ist, und es gibt eine elende Kleckserei, bis er auf dem schwankenden Pferderücken eine passende Antwort auf das Pergament gebracht hat, aber schließlich gelingt es ihm und es ist sogar einwandfrei lesbar: Ich grummle nicht! Er pustet die Tinte trocken, hat keinen Löschsand zur Hand, muss ein wenig warten und heftet den Fetzen dann wieder an Zoras Halsband. Es ist auch nicht auszuschließen, dass er dabei möglicherweise beinahe so etwas wie ein Lächeln auf dem Gesicht trägt. Die Ziege trippelt zu ihrem Herrn zurück und wie erwartet dauert es keine fünf Minuten, ehe er – überbracht von Zora – die schriftliche Antwort in den Fingern hält. Diesmal allerdings macht Colevar sich nicht die Mühe, das Pergamentstück mehr als einen Klafter unter ihm mühsam vom Hals der Ziege zu pulen, sondern klopft einfach auf seinen Oberschenkel, während er weiterreitet. Die kleine Geiß nimmt die Einladung, ein paar Minuten auf dem Pferderücken verschnaufen zu können auch dankbar an und springt mühelos vor ihm in den Sattel. Es könnte sein, dass er, während er die Nachricht entrollt und liest, geistesabwesend das weiche Ziegenkinn krault. Was dann folgt geht wohl als lächerlichster Disput zwischen einem Sithechritter und seinem Möchtegernknappen in die Geschichte ganz Rohas ein, hin gekritzelt auf einem Stück Pergament, auf dem alsbald nicht mal mehr ein Fleckchen unbeschrieben scheint, hin und her getragen von einer armen Ziege, der allmählich von der ganzen Rennerei die Zunge aus dem Hals hängt:  

Tut Ihr wohl. Wann machen wir denn endlich Rast? Die Sonne steht schon im Zenit! Das edle Ross Eures Knappen braucht dringend Wasser und ein wenig Gras.

Es. Gibt. Kein. Wir. Genaugenommen gäbe es ohne "Mich" noch nicht mal mehr ein "Du".

Rast? Wasser? Gras?

Du bist so hartnäckig wie der Tag lang ist, oder?

(Zora schnauft inzwischen wie ein Blasebalg und ihr Gemecker klingt zusehends verzweifelt.)

Das, Sire, ist eine meiner hervorragendsten Eigenschaften und da die Tage länger und länger werden...

Götter, bewahrt mich!

Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung...

Die Botschaft bricht plötzlich ab und als Colevar das Pergament suchend in den Fingern hin und herdreht, um zu sehen, an welchem Rand der Rest des Satzes steht, erscheint plötzlich Morren an seiner Seite. Sein armer Gaul schnauft allerdings schon genauso wie die Ziege, die völlig fertig mit der Welt auf den mageren Beinen des Jungen hängt. Das Pergament sei alle, wird Colevar informiert. Ob er noch welches habe. "Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine Nervensäge bist?"
Morren strahlt ihn an und erwidert prompt, er habe ein dickes Fell.
"Argh!" Er zügelt Filidh und starrt seine ganz und gar unglaubliche Reisebegleitung einen Moment lang ziemlich durchdringend an. Morren zuckt nicht mit der Wimper. "Dort auf der Lichtung mit dem Bachlauf. Eine halbe Stunde. Gras und Wasser. Ich tausche sie gegen Schweigen, aye? Den Rest des Tages wirst du damit verbringen, über alle möglichen Bedeutungen der Redensart "Schweigen wie ein Grab" nachzudenken."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 27. Mai 2011, 18:40 Uhr
Sollte ich jemals wieder in meinem Leben auf die schwachsinnige Idee kommen, mir einen Ritter als Reisebegleitung anlachen zu wollen, dann werde ich auf jeden Fall ein Exemplar nehmen, das ein bisschen weniger herumzickt als dieses hier! Zum ersten Mal, seit Morian die Idee durch den Kopf geschossen ist, sich als Colevars Knappe zu verdingen und sich somit Schutz und Geleit zu sichern, kommen ihr ernsthafte Zweifel, ob die Idee wirklich so gut ist, wie sie anfangs schien. Nach außen hin unerschütterlich, findet in ihrem Inneren ein heftiger Kampf statt, und Vernunft ("Als Ritter wird er dich beschützen, er wird für dich sorgen und dir zu essen geben, er wird dich im Notfall verteidigen, und du bräuchtest keine Angst vor Räubern, Dieben oder sonstigen Halunken zu haben.") und Zweifel ("Willst du dich wirklich allen Ernstes an einen griesgrämigen, fortwährend vor sich hin brummelnden Kettenhemdträger hängen, dem offenbar eine gewaltige Laus über die Leber gelaufen ist?") hauen sich gegenseitig erbittert die Köpfe ein. Letztendlich siegt dann doch die Vernunft - sich von einem mürrischen Ritter herumkommandieren lassen ist immerhin noch besser als sich von einem charmanten Räuber die Kehle durchschneiden zu lassen, das muss sogar Morian einsehen. Dass der von ihr auserkorene Beschützer ihr ja vielleicht selbst im Schlaf die Kehle durchschneiden könnte und mitsamt Pferd und Geiß und all ihren Besitztümern auf Nimmerwiedersehen verschwinden könnte, diesen Gedanken schiebt sie weit von sich.

Sie gibt wirklich ihr Bestes, und das der Ziege und des Pferdes noch obendrein, aber ihr Auserwählter erweist sich wahrhaftig als schwer zu überzeugender Brocken. Allein schon, ihn zu einer Rast zu bewegen, hat sie fast den ganzen Vormittag und ihren gesamten Vorrat an Pergament und Kohlestückchen gekostet - von Hühnchens armen müden Beinen und Zoras abgelaufenen Hufen gar nicht erst zu reden. Die Zunge der völlig ausgepumpten Geiß schleift vor Entkräftung schon fast über den Boden und sie wird anderntags bestimmt einen fürchterlichen Muskelkater vor lauter Gerenne und Gehopse bekommen. "Armes, kleines Ding", zirpt Morian mit honigsüßer Stimme und gerade so laut, dass der vor ihr reitende Colevar es noch hören muss, während sie die erschöpft meckernde Zora zu sich mit aufs Pferd nimmt. "So ein böser, böser Ritter ... hat gar kein Mitleid mit einer so kleinen, hilflosen Ziege wie dir ..." All die beleidigenden Schimpfnamen, die sie der Geiß schon an den Kopf geworfen hat (von denen 'verfressenes Monster', 'Verräterziege' und 'ausgekochtes Luder' noch die harmlosesten sind), sind schlagartig vergessen und Zora mutiert situationsbedingt innerhalb eines halben Herzschlags zum erbarmenswertesten und bemitleidenswertesten Geschöpf in der Götter schönen Welt. "So ein süßes kleines Zicklein ... deine armen Beinchen sind schon ganz kaputt wegen diesem herzlosen Schuft...."

Der herzlose Schuft rupft an den Zügeln seines Schimmels, bringt ihn zum Halten und wendet sich im Sattel nach seinem verlotterten Gefolge um, wobei er dessen Anführerin einen Blick zuwirft, von dem andere auf der Stelle tot umfallen würden. Nicht so Morian. Sie schenkt ihm nur ein jungenhaftes Grinsen und schäkert weiter mit ihrer ach so armen kleinen Ziege herum, bis Colevar sich mit einem entnervten Schnauben - aber eindeutig einem Schnauben der Kapitulation - geschlagen gibt: >Dort auf der Lichtung mit dem Bachlauf. Eine halbe Stunde. Gras und Wasser. Ich tausche sie gegen Schweigen, aye? Den Rest des Tages wirst du damit verbringen, über alle möglichen Bedeutungen der Redensart "Schweigen wie ein Grab" nachzudenken.< Morians rechte Braue zuckt belustigt in die Höhe. "Aha. Werde ich das?", echot sie, bedenkt Colevar mit einem überaus skeptischen Blick, und kontert dann: "Wenn Ihr mich nicht in Eure Dienste nehmen wollt, dann braucht ihr auch gar nicht erst damit anfangen, mir Befehle zu erteilen. Das dürfte höchstens mein Ritter und Lehrmeister, aber allerhöchstens. Wäre ich Euer Knappe, dann wäre das natürlich etwas ganz anderes", fügt sie listig hinzu.
"Und wie willst du mein Knappe werden, wenn du noch nicht einmal einen einfachen Befehl befolgen kannst?" schnaubt Colevar, offenbar am äußersten Rand seiner Geduld angelangt.
"Och, können tät' ich das schon", versichert ihm Morian. "Aber wollen würd' ich das nicht, nicht unter diesen Umständen. Und außerdem..."

"Schon gut, schon gut!" Colevar hebt gebieterisch die Hand und schneidet ihr sicherheitshalber auch gleich das Wort ab, bevor eine neuerliche Sprachlawine ihn niederwalzen kann. "In der Götter Namen, wenn du dafür schweigst, nehme ich dich als meinen Knappen in meine Obhut, bis du dir den Ritterschlag verdient hast."
Verblüfft sperrt Morian Mund und Augen auf. "Wirklich?", hakt sie ungläubig nach, und die Antwort kommt prompt: "Ja. Wirklich."
"Einverstanden!" Herrjemine, was mache ich denn? Ich muss närrisch geworden sein, jetzt bin ich auch noch ein Lehrling des Kriegshandwerks und bei diesem Ritter von der knurrigen Gestalt in Lohn und Brot, Götter steht mir bei.
"Ähh, aber eines müsst Ihr mir noch erklären..... was genau versteht Ihr unter 'Schweigen'? Schweigen für wie lange? Für länger oder wie? Oder gar immer für immer? Muss ein Knappe wohl ein Schweigegelübde ablegen? Und gilt das Schweigen dann nur für Euch oder ganz allgemein, also .... darf ich wenigstens noch mit Hühnchen reden? Und mit meiner Ziege? Also, wenn Ihr nicht reden wollt, ist mir das ja egal, aber wenigstens Zora braucht ein bisschen Ansprache..." Colevars Brauen wandern unheilverkündend in die Höhe. Das Gesicht eine einzige Miene des Ingrimms, legt er den Zeigefinger auf seine Lippen und bedeutet ihr so eindringlich, endlich ihr vorlautes Mundwerk zu halten. Brav klappt Morian also den Mund zu und sitzt so lange still und schweigend auf dem Pferdedrücken, wie sie kann - was ungefähr eine Viertelminute ist.  "Also wisst Ihr, das mit dem Schweigen finde ich aber schon ein bisschen übertrieben. Ich hab' nämlich..."

Ein so drohender Blick trifft sie von der Seite, dass ihr die Worte förmlich im Halse stecken bleiben und sie es vorzieht, ihrem alten Klepper die Sporen zu geben und schleunigst an Colevar vorbeizutraben, um das kleine Wiesenstück am Wegrand anzusteuern, das er als Rastplatz auserkoren hat. Ein Wildbach, der aus den bewaldeten Höhen der Sieben Schwestern ins Tal herabsprudelt, quert hier eine kleine Lichtung, schlängelt sich durch zartes junges Frühlingsgras und plätschert dann südwärts den Frostweg entlang Richtung Bree. Die nach dem langen Ritt durstigen Pferde wittern schon das Wasser und streben - im Schlepptau die fußwunde Geiß - so eilig dem klaren Bachlauf zu wie eine bis auf die Knochen ausgedörrte Kamelherde in der Wüste. Nachdem sie ausgiebig gesoffen haben, gehen sie sofort dazu über, Schulter an Schulter über die Wiese zu pflügen und eine breite Schneise durch das Gras zu fressen, während Zora ihnen meckernd zwischen den Beinen herumtrippelt, um möglichst noch vor den gefräßigen Pferdemäulern die besten Kräutlein abzubekommen. Die beiden Reiter haben sich unterdessen am Ufer des Baches niedergelassen - Colevar eindeutig erleichtert über die fehlende Beschallung und die daraus resultierende wohltuende Ruhe, Morian sichtlich erbost über genau dieselbe. Meine Güte, seufzt sie innerlich, das kann niemals gut gehen. Redet der Mann denn überhaupt nie?

Offenbar nicht, denn auch als Colevar sich auf die Beine müht und in seinem Gepäck zu wühlen beginnt, als er einen verschlossenen Proviantbeutel und einen ledernen Wasserschlauch zu Tage fördert und mit beidem zu ihr zurückkehrt, spricht er kein einziges Wort. Morian wirft dem Behältnis einen spekulativen - und überaus hungrigen - Blick zu, hält aber krampfhaft die Lippen geschlossen, während ihr neuer Lehrherr in dem Beutel herumkramt und allerlei Essbares herausholt: einige Streifen Dörrfleisch, ein Stückchen schon leicht angegammelten Käse in Wachspapier, eine kleine Räucherwurst, drei schrumpelige Winteräpfel und eine Handvoll getrocknete Beeren. Wortlos teilt er mit ihr, und Morian stürzt sich hungrig wie ein Wolf auf Käse, Wurst und Äpfel. Den Apfel verfüttert sie dabei zur Hälfte mitleidig an Zora, die beim Geruch nach etwas Fressbarem natürlich sofort herbeigetrabt kommt und mit verzückt gespitzten Lippen die dargebotenen Leckerbissen förmlich aufsaugt. Nur ein paar Augenblicke später verdient sich die Geiß dann aber auch redlich ihr Futter, indem sie beim Kräutleinabrupfen ein fettes Kaninchen im Gras aufstöbert, das angesichts des zottigen grauen Ziegengesichts und der scharfen Zähnchen, die sich urplötzlich auf es niedersenken, panisch davonhoppelt. Zora hält im Zermalmen einiger wohlschmeckender Gänseblümchen inne und starrt ihm mit völlig verblüfftem Gesicht nach, doch Morian zerrt geistesgegenwärtig ihre Schleuder vom Gürtel, klaubt flink einen Kiesel vom Bachufer auf, kneift die Augen zusammen, zielt, schießt - und sichert damit den Braten für das Abendessen. Als sie das Karnickel aufsammeln geht, kann sie es sich nicht verkneifen, Colevar ein triumphierendes Grinsen zuzuwerfen: "Ich sagte doch, ich hab' eine famose Schleuder!"

Das sind aber auch die einzigen Worte, die sie sich genehmigt, um den frisch geschlossenen Pakt nicht schon gleich am Anfang zu sabotieren. So wortlos, wie sie essen, füllen sie dann auch ihre Wasserschläuche, sammeln die Pferde wieder ein und setzen nach einer knappen Stunde ihren Ritt über den Frostweg fort, allerdings in etwas gemächlicherem Tempo als am Morgen, wo Colevar, in der Hoffnung, sie abzuhängen, ziemlich forsch vorangeritten war. Morians altersschwachem Gaul sind die ungewohnten Strapazen des Vormittags inzwischen deutlich anzumerken und er schleppt sich so entkräftet über die Landstraße, als hätte bald sein letztes Stündlein geschlagen, sodass sie gar nicht mehr aufsteigt, sondern zu Fuß neben ihm hertrottet. Während sie ob des ihr auferlegten Zwangsschweigens immer unmutiger wird und sich mittlerweile fühlt wie ein blubbernder kleiner Dampfkessel kurz vor dem Explodieren, scheint Colevar die Stille im Gegensatz zu ihr wirklich und wahrhaftig zu genießen. Der redet nicht. Immer wieder beäugt Morian von der Seite ihren frischgebackenen Lehrmeister und fragt sich, worauf sie sich da nur eingelassen hat. Der redet wirklich nicht. Naja, lange kann er das gewiss nicht durchhalten. Aber sie muss feststellen, dass er das tatsächlich kann und sich augenscheinlich auch noch so wohl dabei fühlt wie eine Made im Speck. Ich glaub's einfach nicht, er scheint tatsächlich völlig glücklich in seinem Schweigen zu sein, wundert sie sich kopfschüttelnd und es ist ihr völlig schleierhaft, wie jemand Stunde um Stunde aushalten kann, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen - vor allem, wenn er nach wochenlangem Alleinsein endlich Gesellschaft hat. Allmählich glaube ich ja, er kann nicht ganz richtig im Kopf im Kopf sein.

Dieser Verdacht scheint sich um so mehr zu bestätigen, als Colevar nach einer Weile anfängt, mit der Ziege zu sprechen. Morian glaubt ihren Augen nicht zu trauen (und ihren Ohren noch viel weniger), als er sich mit einem Mal zu der neben seinem Pferd hertrippelnden Geiß hinunterbeugt, sich freundlichst nach deren Befinden erkundigt und sie dann gar zu sich mit aufs Pferd nimmt. Sprachlos und mit offenem Mund starrt Morian den beiden hinterher. Hmmpf, das darf ja wohl nicht wahr sein! Mit mir will er kein Wort reden, aber die Ziege wird betüddelt und gehätschelt wie eine azurianische Prinzessin. Das macht er doch mit Absicht! Schnaubend vor rechtschaffener Empörung stapft sie hinter dem Grauschimmel und seinem Besitzer her und sinnt auf grausame Rache. Na warte, du … dir werd' ich … dir werd' ich … Auf die Schnelle will ihr gar keine passende Vergeltungsmaßnahme einfallen, so aufgebracht brodelt sie inzwischen vor sich hin. Gleich darauf bringt Colevar sie zum zweiten Mal binnen weniger Minuten dazu, verblüfft innezuhalten und an ihrem Verstand ( und an seinem erst recht) zu zweifeln, indem er nämlich sein Pferd zügelt, sich nach ihr und Hühnchen umschaut, und dann tatsächlich auf sie wartet, bis sie zu ihm aufgeschlossen haben. Das tut er während des ganzen Nachmittags immer wieder: sobald Hühnchen langsamer wird und es aussieht, als würde er vor Erschöpfung gleich zusammenbrechen, wartet Colevar geduldig auf sie und lässt sie alle ein wenig verschnaufen; wenn die Ziege zu müde zum Laufen wird, nimmt er sie vor sich in den Sattel, um sie ausruhen zu lassen; einmal macht er sich sogar die Mühe abzusteigen und nach Hühnchens Hufen zu sehen, als der alte Gaul sich ein Steinchen eintritt und zu hinken beginnt.

Also, irgendwie werd' ich aus ihm nicht schlau. Morian hat es inzwischen aufgegeben, dieses Mannsbild verstehen zu wollen, und pendelt im Minutentakt zwischen verständnislosem Kopfschütteln, verstohlenem Grinsen und empörtem Schnauben hin und her, bis sich allmählich der Tag seinem Ende zuneigt und die Sonne im Westen wie eine riesige glühende Kugel tief über den Hügeln Gelderlâns und dem Breetal hängt. "Wir sollten einen Platz suchen, an dem wir ein Nachtlager aufschlagen können", tönt es dann auf einmal vor ihr. Oh, Ihre Majestät geruhen wohl wieder mit mir zu sprechen. Morian hatte schon beinahe vergessen, wie eine menschliche Stimme klingt - und im Moment findet sie, dass sie ziemlich gut klingt, vor allem weil sie von Nachtlager spricht. Nach dem langen Marsch tun ihr entsetzlich die Füße weh, sie ist müde und hungrig, und sehnt sich nach einem prasselndem Feuer, nach duftendem Karnickelbraten und einem weichen Schlaffell. Einen halben Tausendschritt weiter finden sie dann einen geeigneten Platz ein Stück vom Weg entfernt, eine Gruppe verwitterter, grünbemooster Felsen am Rand eines lichten Wäldchens, durch das sich der Frostweg hier zieht. Trockenes Feuerholz gibt es in der Nähe genug, ebenso frisches Gras für Zora und die Pferde, ein windgeschütztes Plätzchen zum Schlafen, und auch ein Bach ist nicht weit. Colevar steigt von seinem Schimmel, streift ihm die Zügel über den Hals und macht Anstalten, ihm Sattel und Zaumzeug abzunehmen, als Morian ihm mit wichtigtuerischer Miene das Pferd förmlich aus der Hand reißt. "Lasst nur, ich mach' das schon. Das gehört ja wohl zu den Aufgaben eines Knappen, oder nicht?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 28. Mai 2011, 12:14 Uhr
Erst als die Sonne sich anschickt zu sinken und die Welt um sie her mit rotem Glühen überzieht, finden sie unweit der Straße am Rand eines kleinen Hains eine geschützte Lichtung für ihr Nachtlager, doch die amüsierte Leichtigkeit ihrer denkwürdigen schriftlichen Unterhaltung vom Vormittag hat sich restlos davongestohlen. Colevar weiß wirklich nicht, was ihn dazu gebracht hat, Morren als Knappen anzunehmen. Er hat den Mund gehalten, oder nicht? Jedenfalls mehr oder weniger. Noch weniger weiß er allerdings, was den Jungen dazu gebracht hat, unbedingt sein Knappe sein zu wollen (was schließlich ganz allein dessen Einfall gewesen war), auch wenn das anhaltende (wenn auch längst ziemlich brodelnde) Schweigen während des restlichen Tages ihm viel Zeit gegeben hatte, darüber nachzugrübeln. Der einzige halbwegs logische Schluss, zu dem er kommt, ist, dass Morren wirklich verzweifelt sein muss, wenn er derart stur in der Gesellschaft eines Mannes zu bleiben versucht, von dem er offenbar nicht das Geringste hält. Er kennt mich nicht und ich kenne ihn nicht. Alles, was Colevar von dem Jungen weiß ist, dass er Essen stiehlt, dass er ein vorlautes Mundwerk hat und anscheinend ununterbrochen reden kann, ohne dabei auch nur einmal Luft holen zu müssen. Und er kümmert sich um ein altes Pferd und eine penetrante Ziege. Sie halten die Pferde zwischen den von Moos und Flechten überwucherten Findlingen an, die wie gigantische Würfel, verstreut von der Hand eines launischen Riesenkindes, zwischen dem Waldrand und der Straße liegen. Er hatte Morren kein Haar gekrümmt, als er ihn beim Stehlen erwischt hatte. Er hatte sein Essen mit ihm geteilt, hatte ihm eine warme Decke und den Schutz seines Feuers gegeben - ihm, einem völlig Fremden. Er hatte den Jungen gewarnt er sei keine gute Gesellschaft und er hatte mehr als einmal versucht, ihn fortzuschicken, aber Morren hatte nicht hören wollen. Also war er bei ihm, dem altersschwachen Pferd und der gefräßigen Ziege geblieben. Ein einfaches Danke hätte es auch getan und vollkommen ausgereicht. Colevar schließt für einen Moment die Augen und über seinen Wangenknochen spannt sich die Haut, dann steigt er seufzend aus dem Sattel. Vielleicht bist du keine gute Gesellschaft, aber... oh, du vergisst - du bist 'böse und herzlos'... Das hatte ihn wirklich getroffen, vielleicht weil er genau das nicht gewesen war (obwohl es ihn - zugegeben – in den Fingern gejuckt hatte.) Nun, er ist auch keine gute. Vor allem ist er eine laute.

Mehr aus Gewohnheit, als aus Notwendigkeit sucht er mit den Augen sorgfältig ihren Lagerplatz ab, mustert den Waldrand, die Schatten unter den Bäumen, die Findlinge und prägt sich die Lage des Baches ein, der sich in etwa zwei Dutzend Schritt Entfernung durch das Gras schlängelt und leise vor sich hinplätschert. Sie sind dem ganzen Tag lang keiner Menschenseele begegnet, noch nicht einmal irgendeinem Lebewesen, das größer gewesen wäre als das Kaninchen, das Morren am Mittag mit der Schleuder erlegt hatte. Kaum haben seine Stiefelsohlen den Boden berührt, versucht der Junge auch schon, ihm Filidhs Zügel aus der Hand zu nehmen. >Lasst nur, ich mach' das schon. Das gehört ja wohl zu den Aufgaben eines Knappen, oder nicht?<
"Für gewöhnlich schon, aber..." Colevar schüttelt sacht den Kopf. "Filidh kennt dich noch nicht. Ich mache das lieber selbst." Halb rechnet er mit einem weiteren wasserfallartigen Redeschwall, doch zu seinem Erstaunen zuckt der Junge nur mit den Schultern und wendet sich seinem eigenen Tier zu. Colevar sattelt Filidh ab und nimmt ihm die Packtaschen und festgezurrten Säcke vom Rücken, Morren befreit seinen alten Wallach derweil von dem wenigen Lederzeug , das er trägt und eine Weile arbeiten sie so beide in gemeinschaftlichem Schweigen. Das heißt er schweigt, Morren redet derweil mit ihrem Pferd, mit der Ziege, mit den Heupferden im Gras, die bei ihrem Auftauchen in alle Richtungen davonschwirren, mit den Libellen, die über dem Wasser im letzten Abendlicht tanzen, selbst mit den Käfern auf ihrem Weg, für die sie alle ein freundliches Wort oder einen kleinen Scherz übrig zu haben scheint. Dann bringen sie die Pferde zum Bach, tränken sie und stellen sie ins kalte, fließende Wasser, um ihre überanstrengten Sehnen zu kühlen. Filidh, der diese Prozedur bereits kennt, bleibt gelassen mitten im Bach stehen, lässt sich das Wasser um die Hufe rauschen und frisst gleich an Ort und Stelle die Uferränder kahl, und Hühnchen tut es ihm augenblicklich gleich. Nachdem die Tiere versorgt sind, kümmert Colevar sich um Holz für ein Lagerfeuer, holt einige größere Äste (sprich abgeknickte junge Bäume) aus dem Wald und richtet sie mit dem Handbeil zu, so dass sie brauchbare Scheite abgeben.  

Von Morren ist währenddessen weit und breit nicht einmal sein Schatten zu sehen, aber als Colevar ein Feuer in Gang gebracht und seine Schlaffelle ausgerollt hat, taucht er wieder auf, das abgebalgte, ausgenommene Kaninchen in den blutigen Händen. Colevar sitzt im Schneidersitz auf einem Polster dicker Lammfelle und reinigt das Lederzeug seines Pferdes mit einem feuchten Tuch vom Schweiß und Dreck des Tages. "In der linken Packtasche sind etwas Salz und noch andere Gewürze", informiert er Morren, als der Junge ans Feuer kommt. "Du findest bestimmt auch den Dreifuß und die Pfanne." Er selbst würde sich wohl mit ein paar Streifen Dörrfleisch und den letzten Schrumpeläpfeln aus Hyrdmans Speisekammer begnügen - das Kaninchen ist zwar ein stattliches Exemplar, aber sie würden niemals beide davon satt werden und Morren ist, zumindest so viel weiß er, anscheinend immer hungrig. Das Feuer brennt allmählich heiß und hell, und Colevars Blick verliert sich gedankenverloren in den Flammen und dem kleinen Reigen wirbelnder Funken, die in der Hitze aufsteigen und verglühen. Auf der anderen Seite hört er den Jungen mit den kurzen Stangen des eisernen Dreifußes herumklappern. "Warum Hühnchen?" Ein verdutzter Blick über das Feuer hinweg antwortet ihm und für einen Moment rechnet er fest mit einer schnippischen Gegenfrage... etwas wie: 'Oh Götter, Ihr sprecht?' oder 'Habt Ihr Eure Zunge wiedergefunden?', aber alles, was er zu hören bekommt ist ein gezischtes: "Verflixt, du blödes Ding!" Das ihn erstaunt eine Braue heben lässt. "Wie bitte?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 28. Mai 2011, 15:19 Uhr
Misstrauisch beäugt Morian das Dreibein aus Colevars Gepäck und versucht mit gefurchter Stirn, die Geheimnisse dieser ausgeklügelten, zusammenklappbaren Gerätschaft zu ergründen. Immerhin hat sie schon herausgefunden, wie sie dieses Ding dazu bringen kann, tatsächlich auf drei Beinen zu stehen, ohne umzufallen, doch nun gilt es außerdem noch, die mysteriöse Aufhängung für den Bratspieß zu entschlüsseln, der irgendwie zwischen den eisernen Beinen angebracht werden muss. Mit zweifelnder Miene umkreist sie den Dreifuß, hält den Spieß mal hierhin, mal dorthin und experimentiert gerade ein wenig damit herum, als Colevars Stimme auf einmal ganz unerwartet die friedliche Stille durchbricht und sie verdutzt aufblicken lässt. "Warum Hühnchen?", will er unvermittelt und aus heiterem Himmel wissen und sieht sie über das Feuer hinweg fragend an. Morian, aus ihrer Konzentration gerissen und völlig aus dem Konzept gebracht, stolpert vor lauter Überraschung einen halben Schritt nach vorne, rammt dabei unabsichtlich das Dreibein, bringt es holterdipolter zum Umfallen und klemmt sich in den jäh zusammenklappenden Stangen auch noch hundsgemein den Finger. "Verflixt, du blödes Ding!", entfährt es ihr. Erbost verpasst sie dem zusammengebrochenen Gestell einen Tritt, der es quer über die Wiese schliddern lässt, und saugt mit schmerzverzerrtem Gesicht an ihrem wehen Finger. Schön, wenn der Schmerz nachlässt...

Colevar, der sich mit 'blödes Ding' offenbar angesprochen fühlt, lässt ein erstauntes "Wie bitte?" hören, das Morian mit einem Kichern und den Worten "Ich meinte doch nicht Euch, ich meinte dieses widerspenstige Ding hier" quittiert. Mit dem schmerzenden Finger zwischen den Lippen klingt es allerdings mehr wie "Iff meimbte boch nich Euff, iff meimbte bieses biberbfenfftige Bing hier". Jetzt erst dringt auch seine ursprüngliche Frage zu ihr vor, nämlich die nach "Warum Hühnchen?" - eine Frage, die sie allerdings noch viel mehr aus dem Konzept bringt, als die bloße Tatsache, dass Colevar wieder mit ihr spricht. "Warum Hühnchen?", echot sie vollkommen verdattert und ihr Blick irrt zweifelnd zwischen ihm und ihrer mittäglichen Jagdbeute hin und her, die inzwischen gesalzen und mit trockenen Kräutern eingerieben, bratfertig neben ihr im Gras liegt und nur noch darauf wartet, auf den Spieß gesteckt und über dem Feuer geröstet zu werden. "Äh .... ich enttäusche Euch ja nur ungern, aber es ist kein Hühnchen, es ist ein Kaninchen!" Als anschaulichen Beweis schlenkert sie den abgehäuteten Karnickelbalg hin und her, doch Colevar verdreht nur in gespielter Resignation die Augen und ein Grinsen zuckt in seinen Mundwinkeln, als er richtigstellt: "Ich meinte eigentlich dein Pferd." Als Morian endlich kapiert, worum es geht, muss sie so lachen, dass sie darüber sogar ihren gequetschten Finger vergisst. "Ach, dieses Hühnchen."

Sie prustet noch immer, als sie den davongekickten Dreifuß aufsammeln geht und ihn über die holprige Wiese zur Feuerstelle zurückzerrt. "Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, stand er auf einem Marktplatz irgendwo in Noorlân, ich glaub', in Skraard oder in Moymôr, ich weiß es nicht mehr genau." Kichernd klappt sie das Dreibein auseinander und rammt die eisernen Stangen in den Boden - dabei sorgsam auf ihre Finger achtend. "Es hat wie aus Eimern gegossen, und er stand da, an einen Marktkarren gebunden, wie ein Häuflein Elend. Das Wasser lief ihm aus der Mähne und dem Schweif und sogar aus den Ohren, aber er stand wie ein Felsen und hat sich keinen Sekhel wegbewegt, weil sich unter seinem Bauch eine ganze Schar Hühner vor dem Regen verkrochen hat. Er sah ein bisschen aus wie ein riesiger, nasser, brauner Gockel, der seine Hennen vor einer Sintflut beschützen muss ... deshalb heißt er jetzt Hühnchen. Er sollte eigentlich zum Schlachter kommen, na ja ... ich hab seinem Besitzer das gleiche gegeben, was er vom Abdecker für den Gaul bekommen hätte. Und bevor Ihr fragt ...", - ein vergnügtes Augenfunkeln blitzt über das Feuer hinweg in Colevars Richtung - "... für diese nichtsnutzige Ziege kann ich nichts, die ist mir einfach nachgelaufen und pappt seither an mir wie eine Klette."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 28. Mai 2011, 19:44 Uhr
Das Gelächter des Jungen hallt durch die anbrechende Nacht – laut, ein wenig heiser und aus voller Kehle. Es ist ein so vollkommen unbekümmerter, herrlich ansteckender Laut, dass sich Colevars Mundwinkel wie von selbst nach oben verziehen... er stimmt zwar nicht mit ein, aber er lächelt - zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Ein wirkliches Lächeln, das auch seine Augen erreicht. >Ach, dieses Hühnchen.< Morren stapft, immer noch kichernd, über die Wiese, sammelt den Dreifuß wieder ein, den sie vorhin so erbost von sich getreten hatte. Sie stellt ihn über dem Feuer auf, während sie erzählt, wie sie an ihr Pferd gekommen ist und warum es diesen denkwürdigen Namen trägt. >Er sollte eigentlich zum Schlachter kommen, na ja ... ich hab seinem Besitzer das gleiche gegeben, was er vom Abdecker für den Gaul bekommen hätte. Und bevor Ihr fragt... für diese nichtsnutzige Ziege kann ich nichts, die ist mir einfach nachgelaufen und pappt seither an mir wie eine Klette.<

"Hmhm," macht Colevar und wirft einen vielsagenden Blick neben sich, wo besagte Klettenziege im Augenblick an ihm pappt, genauer gesagt an seinem linken Bein, das dem kleinen frechen Ziegenkinn kurzerhand als Kopfkissen dienen muss. Zum Wiederkäuen. Zora lümmelt bequem an seiner Seite, halb auf seinen Schlafpelzen, halb auf dem Boden. Mit spekulativ-begehrlichen Blicken in Richtung der zahlreichen Lederriemen zu seiner Rechten und in seinen Händen. Wir werden alle so nach Ziege stinken, dass uns kein Gasthaus aufnehmen wird. "Das glaube ich dir sofort." In Gedanken fügt er das Bisschen, das Morren mit seinen Worten preisgegeben hatte dem Wenigen an Wissen über den Jungen hinzu, das er schon hat. Er hat sich mit einem steinalten Pferd und einer Ziege abgegeben, die kein Kitz hat und kaum Milch geben kann. Entweder er hat tatsächlich keinen Verstand - was gar nicht sein kann, dazu ist er viel zu neunmalklug -, oder er hat ein Herz wie ein Roanner Weichkäse. Einen Moment lang mustert er Morrens Profil, orangerot beleuchtet von den knisternden Flammen. Er hat wirklich Mädchenwimpern. "Was führt dich so weit von deiner Heimat fort, Morren? Du hast gesagt, du seist auf dem Weg nach Süden – wie weit in den Süden soll es gehen?"  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 28. Mai 2011, 21:15 Uhr
Morian muss immer noch über ihre eigene Begriffsstutzigkeit kichern, als sie den eisernen Dreifuß aufklappt und ihn über den lodernden Flammen in Positur stellt. Inzwischen hat sie auch die Aufhängung für den Bratspieß entdeckt, die eigentlich gar nicht so schwierig zu finden ist - vorausgesetzt man hat nicht gerade einen Anfall von spontaner geistiger Umnachtung wie sie gerade eben noch. Während sie mit dem Eisengestell herumhantiert, riskiert sie einen kurzen Blick über das in der Dämmerung hell leuchtende Feuer hinweg, und was sie sieht, lässt sie stillvergnügt in sich hineinschmunzeln. Sieh an, Ritter Griesgram kann also doch lächeln, wer hätte das gedacht. Und das Lächeln verändert sein ansonsten so grimmiges Gesicht völlig, lässt die Andeutung zweier Grübchen sehen und seine Miene viel weicher und freundlicher erscheinen. Einen Herzschlag lang kann Morian einen flüchtigen Blick auf den Mann werfen, der hinter dieser schweigsamen Maske steckt, und sie bekommt eine leise Ahnung davon, wie er aussehen kann, wenn er nicht gerade das Leid der Welt auf seinen Schultern zu tragen scheint. Sie weiß zwar nicht, was ihn so wortkarg und mürrisch hat werden lassen, aber sie vermutet, dass es wohl mehr war als nur irgendein unwichtiges Ärgernis. Na, das werde ich mit der Zeit schon noch herauskriegen. Wäre ja gelacht, wenn ich ihn nicht doch ein bisschen aufheitern könnte.

Colevar ist immer noch reichlich sparsam im Umgang mit Worten, und kaut an jedem seiner Sätze so lange herum, als müsse er überlegen, ob er ihn überhaupt aussprechen solle, aber wenigstens redet er inzwischen und es kommt allmählich tatsächlich so etwas wie eine zögernde Unterhaltung zustande, was Morian ungemein erleichtert. Sie kann durchaus auch längere Zeit die Klappe halten und hat gelegentlich sogar Phasen, in denen sie Stille und Zurückgezogenheit genießt, aber nach so langen Monden des Alleinseins und nach so viel unfreiwilliger Einsamkeit ist sie einfach begierig nach menschlicher Gesellschaft, nach ein wenig Ansprache, nach ein paar freundlichen Worten und nach jemandem, dem sie ihr Herz ausschütten und von ihrer Reise erzählen kann - und nach einem willigen Opfer, das sie mit ihrem Geplapper und mit tausenderlei Fragen nerven kann. Genau das tut sie dann auch: "So, nun wisst Ihr also, wie ich zu diesem Gaul kam und warum ich ihn Hühnchen nenne. Aber ich weiß immer noch nicht, warum Euer Pferd so heißt, wie es heißt - Filidh, hat das irgendeine Bedeutung? Habt Ihr ihm diesen Namen gegeben oder hieß er schon so, als er zu Euch gekommen ist?"

Wenn Ihr unbedingt eine Fragestunde wollt, könnt Ihr schon eine haben - aber dann fragt nicht nur einer, grinst Morian still in sich hinein, während sie das abgezogene Kaninchen mit den letzten Speckstreifen aus Colevars Proviant umwickelt und dann auf den Bratspieß packt. Gerade als sie den eisernen Spieß über die Flammen hängen will, weht auch schon Colevars nächste Frage über das Feuer zu ihr herüber - und die ist nicht so harmlos wie die nach dem Namen ihres Pferdes, sondern lässt ihr das Lächeln aus dem Gesicht rutschen und bringt sie einen Moment lang in ziemliche Bedrängnis und in argen Erklärungsnotstand: >Was führt dich so weit von deiner Heimat fort, Morren? Du hast gesagt, du seist auf dem Weg nach Süden – wie weit in den Süden soll es gehen?< Morian wirft ihrem Begleiter einen zögernden Blick zu und fragt sich, wie viel sie ihm verraten kann, ohne ihre Identität zu offenbaren und ihre Verkleidung lüften zu müssen. Mistverdammt, was erzähle ich ihm denn jetzt? Soll ich ihn anschwindeln und ihm irgendein Märchen auftischen? Irgendwann wird er wohl sowieso dahinterkommen, dass ich nicht unbedingt zu meinem Vergnügen durch die Lande ziehe ... vielleicht sollte ich einfach mit offenen Karten spielen. Immerhin hat er mich mitgenommen und sich um uns gekümmert, obwohl er das nicht hätte tun müssen. Sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie das Richtige tut, aber sie hat das untrügliche Gefühl, dass sie mit der Wahrheit - oder zumindest mit soviel Wahrheit, wie sie im Moment gefahrlos preisgeben kann - wohl immer noch am besten fährt.

Trotzdem druckst sie erst ein wenig herum und hantiert auffallend geschäftig mit Karnickel und Bratspieß herum, bevor sie sich ein Herz fasst. "Ich weiß noch nicht genau, wie weit nach Süden", seufzt sie. "Vielleicht sehr weit. Bis nach Brugia muss ich auf jeden Fall, und dann über den Rhaín weiter in die Herzlande. Wie es dann weitergeht, kann ich nicht sagen - ich werde wohl erst ein wenig herumfragen müssen." Wieder streift ein zögernder Blick Colevar. "Ich bin auf der Suche nach einer Gruppe Söldner, und ich weiß von einem Wirt in Roskild, dass sie letzten Herbst in seiner Schänke waren und darüber geredet haben, dass sie bei Brugia den Rhaín überqueren und dann weiter nach Süden wollen. Seit dem Spätsommer bin ich schon auf ihrer Spur, aber sie haben inzwischen schon so viel Vorsprung, dass sie vermutlich schon über alle Berge sind und ich sie vielleicht nie finden werde. Warum ich hinter ihnen her bin, ist eine lange Geschichte, und keine schöne dazu." So, und jetzt heraus mit der Sprache - wenn schon, dann mach's gleich richtig. "Und es kann gut sein, dass auch ich von jemandem gesucht werde, deshalb ... deshalb wollte ich nicht mutterseelenallein reisen." Ziemlich betreten blickt sie über die Flammen hinweg zu ihrem neuen Arbeitgeber. "Vielleicht hätte ich Euch das gleich sagen sollen, bevor Ihr mich in Eure Dienste nehmt. Tut mir leid."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 28. Mai 2011, 23:29 Uhr
"Filidh?" Echot er und wirft einen Blick über die Schulter in Richtung der Pferde, die im letzten Abendlicht gerade eben noch am Bach auszumachen sind. Er braucht den Fryslâner nicht anzubinden, denn er würde in seiner Nähe bleiben und Morrens alter Wallach Hühnchen wiederum würde Filidh nicht verlassen, an dem er innerhalb kürzester Zeit einen Narren gefressen zu haben scheint. Überall Friede, Freude, Eierkuchen. Sogar diese aufdringliche Ziege mag mich - und mein Pferd sowieso, und das obwohl man uns nicht essen kann. "Es ist ein Wort in Tamar und ein Druidentitel. Soviel ich weiß heißt es 'Gelehrter' oder 'Weiser Mann'. Ich bekam ihn als Jährling und habe ihn so genannt, nachdem ich herausgefunden hatte, dass er... eindeutig zu klug für diese Welt ist." Wie immer wenn er von seinem Pferd spricht, schleicht sich ein leiser, warmer Unterton in Colevars Stimme, den er selbst gar nicht bewusst wahrnimmt. Und er lächelt schon wieder, wenn auch ein wenig melancholisch. "Er ist mehr als nur ein Schlachtross. Filidh ist..." er zuckt mit den Schultern und versucht etwas in Worte zu fassen, für das es eigentlich keine gibt. "Ich weiß auch nicht... ein Freund." Mein Spiegel, der mir nie schmeichelt. Ein Waffenbruder, ein Kampfgefährte, ein Retter aus mehr als einer Not und der einzige, zu dem ich immer ehrlich bin.

Morrens stilles In-sich-Hineingrinsen lässt nichts Gutes erahnen. Es ist zwar ein durchaus freundliches Lächeln, aber es hat außerdem etwas Hintergründiges, das Colevar schlagartig auf der Hut sein lässt, auch wenn ihm dabei der leise belustigte Gedanke durch den Kopf geht, dass sie tatsächlich gerade so etwas wie eine Unterhaltung führen. Götter im Himmel, wir reden wirklich miteinander, ohne uns gegenseitig aufzuziehen oder uns Schmähreden an den Kopf zu werfen... Seine nächste Frage scheint Morren jedoch an einem wunden Punkt zu treffen, denn das Lächeln des Jungen gerät zur Grimasse und weicht plötzlich unsicherem Misstrauen. Außerdem scheint das gewürzte, nackte Karnickel auf dem Bratspieß auf einmal ganz dringend seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu brauchen. Oha. Darüber wollen wir ausnahmsweise also nicht wirklich reden. Colevar wartet geduldig und fettet sorgsam die Lederriemen von Filidhs Zaumzeug ein, die er gerade gereinigt hatte. Dabei wirft er dem Jungen auf der anderen Seite des Feuers immer wieder kurze, offene Blicke zu, aber er drängt ihn nicht. Irgendwann – Colevar hofft schon vage, dass er vielleicht einen Weg gefunden hat, Morrens endlose Schwätzereien und Redeanfälle in Zukunft zu unterbinden  (Wenn du ihn demnächst einmal wieder zum Schweigen bringen willst, ganz einfach – frag ihn nur, wie weit er nach Süden will.), gibt der Junge sich doch einen Ruck und beginnt zögernd zu antworten.  

>Ich weiß noch nicht genau, wie weit nach Süden. Vielleicht sehr weit. Bis nach Brugia muss ich auf jeden Fall, und dann über den Rhaín weiter in die Herzlande. Wie es dann weitergeht, kann ich nicht sagen - ich werde wohl erst ein wenig herumfragen müssen.< Colevar sagt nichts, aber sein Blick wird fragend, als Morren den Kopf hebt und ihn durch die Flammen so abwägend mustert, als versuche er, eine Entscheidung zu treffen. >Ich bin auf der Suche nach einer Gruppe Söldner, und ich weiß von einem Wirt in Roskild, dass sie letzten Herbst in seiner Schänke waren und darüber geredet haben, dass sie bei Brugia den Rhaín überqueren und dann weiter nach Süden wollen,< rückt er schließlich mit der Sprache heraus, und Colevar nickt langsam und bedächtig. Söldner? Was bei den Neun Höllen haben denn Söldner mit diesem Jungen zu schaffen? Ihm ist ziemlich schnell klar geworden, dass Morren kein einfacher Bauernlümmel ist, der aus irgendwelchen nichtigen Gründen sein Heim und sein Dorf verlassen hatte und in die weite Welt hinausgezogen war. Dazu ist er zu gebildet, seine Sprache ist zu gewählt, sein Auftreten viel zu selbstsicher und außerdem kann er sowohl schreiben, als auch lesen. Und reiten, um das nicht zu vergessen. Er sitzt gut zu Pferd, auch wenn das Pferd ein Greis mit Senkrücken ist. Seine ärmliche Kleidung, seine magere Gestalt und vor allem die Schwielen an seinen Händen sprechen allerdings eine ganz andere Sprache, nämlich die von sehr langem, sehr hartem Tagwerk, notorischem Geldmangel und zu wenig Nahrung. Die Erwähnung von Söldnern wirft jedoch einen ganzen Berg von Fragen auf, die alle mit einem 'Warum?' beginnen. Dennoch stellt er keine einzige, sondern lässt den Jungen ausreden.  

>Seit dem Spätsommer bin ich schon auf ihrer Spur, aber sie haben inzwischen schon so viel Vorsprung, dass sie vermutlich schon über alle Berge sind und ich sie vielleicht nie finden werde. Warum ich hinter ihnen her bin, ist eine lange Geschichte, und keine schöne dazu.<
"Morren," beginnt er beinahe sanft - wenn er den Namen ausspricht, klingt es wirklich wie eine Aneinanderreihung ziemlich gerollter und geknurrter Konsonanten -, kommt jedoch nicht weit, denn dem Bengel brennt noch etwas unter den Nägeln: >Und es kann gut sein, dass auch ich von jemandem gesucht werde, deshalb ... deshalb wollte ich nicht mutterseelenallein reisen.<
"Gesucht", wiederholt Colevar trocken und schüttelt langsam den Kopf. Jetzt wird ihm einiges klarer, vor allem Morrens fast schon verzweifelter Wunsch, in seiner Nähe zu bleiben. Er sucht Schutz. Götterverdammt! Als der Junge den Blick wieder hebt und ihn ansieht, sieht er aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. Gut so! Geht es Colevar erbost durch den Kopf und er fragt sich ernsthaft, was es mit ihm und diesem dreimal verdammten Frostweg nur auf sich hat, dass er auf dieser Straße immer, aber immer wieder in die Schwierigkeiten anderer geraten muss. >Vielleicht hätte ich Euch das gleich sagen sollen, bevor Ihr mich in Eure Dienste nehmt. Tut mir leid.<

Er hätte hundert Fragen stellen können. Er hätte sie vermutlich stellen sollen. Allerdings kann er sehr deutlich sehen, wie viel Überwindung es Morren gekostet hat, schon das wenige preiszugeben, das er gerade offenbart hat und er will den Jungen wirklich nicht verschrecken. Wenn das schon die ganze Wahrheit war, bin ich ein Eisenzwerg. Andererseits... Morren ein Verbrecher? Gut, der Junge stiehlt essen, redet mehr als jedes Waschweib und ist unerträglich hochnäsig, aber wirklich verbrecherisch? Nicht in diesem Leben und nicht im nächsten. Hätte Colevar gewusst, welch bedeutsames Detail Morren so geflissentlich vor ihm verbirgt, hätte er sie wahrscheinlich persönlich beim nächsten Büttel abgeliefert und das Kopfgeld kassiert, unschuldig oder nicht. Allein – er ist wahrhaftig völlig ahnungslos. "Aye, das hättest du", schnaubt er, klingt jedoch nicht halb so streng, wie er es gern getan hätte. "Sag mir, dass du nichts Schlimmes angestellt hast", fordert er dann und klingt beinahe... besorgt. Lieber Himmel – besorgt? Alles, nur das nicht! "Du hast nicht zufällig ahm... jemanden ermordet, den Dorftempel niedergebrannt, deine Heimat an irgendwelche Feinde verraten oder die Insignien der Könige gestohlen oder etwas ähnliches? Nein? Gut. Ich nehme auch nicht an, dass du ein Mädchen geschändet oder geraubt, gebrandschatzt und gestohlen hast, aye?" Wildes Kopfschütteln antwortet allen seinen Mutmaßungen. "Ich werde nicht gern benutzt, Morren", hört er sich schließlich selbst sagen. "Du redest entsetzlich viel. Du bist aufdringlich, du bist ziemlich dreist, sturer als ein Eisenzwerg und ein penetranter Plagegeist. Aber wenn du kein Verbrechen begangen hast, bist du bei mir sicher. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten - so lange du bei mir bist, wird niemand Hand an dich legen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 30. Mai 2011, 17:32 Uhr
Alles, alles hätte Morian erwartet: dass Colevar ein gar fürchterliches Donnerwetter auf sie niederprasseln lässt (vielleicht sogar berechtigt), dass er ihr einen Satz gehöriger Backpfeifen verpasst (die vermutlich ziemlich schmerzhaft ausfallen würden, wenn sie ihn so betrachtet), dass er wortlos seine Sachen packt, sein Pferd sattelt und dann einfach auf Nimmerwiedersehen davon reitet (von allen Möglichkeiten die Wahrscheinlichste), dass er sie mitsamt ihrer aufdringlichen Ziege an Filidhs Schweif bindet und sie im gestreckten Galopp so lange über den steinigen Frostweg schleift, bis sie um Gnade fleht (hier ist zugegebenermaßen ihre Fantasie ein bisschen mit ihr durchgegangen), dass er sie kurzerhand in dem vorbeiplätschernden Bach ersäuft (Ertrinken soll eine verhältnismäßig angenehme Todesart sein, hat sie gehört), dass er sie am Schlafittchen packt und zu einer Stadtwache, einem Büttel, einem Richter oder gleich einen Henker schleift (was sie ihm nicht würde verdenken können), oder dass er sie auf dem nächstgelegenen Sklavenmarkt für einen Schleuderpreis verhökert (wobei es a). in den Rhaínlanden den Göttern und König Leodegar sei's gedankt ja keine Sklavenmärkte gibt und er b). mit einem so spillerigen Großmaul von Bauernlümmel ohnehin nichts verdienen würde. Aber nicht eine einzige dieser Szenarien bewahrheitet sich und Colevar tut nichts von alledem, sondern mustert sie nur mit einem so unergründlichen Blick, dass ihr ganz flau im Magen wird und sie unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern zieht.

Als er jedoch keine Anstalten macht, ihr den Hintern zu versohlen oder sie anderweitig unangenehmen Handgreiflichkeiten zu unterziehen, die ein lügender, stehlender und zudem rotzfrecher Neu-Knappe von seinem Lehrherren zu erwarten hätte, und obendrein weder nach einer Erklärung zu den Söldnern, noch zu ihrem Verfolger drängt, atmet Morian erleichtert auf und ihr fällt nicht nur ein Stein vom Herzen, sondern etwas von den Ausmaßen und dem Umfang des Wyrmschwanzgebirges. >Morren<, beginnt Colevar dann zögernd zu sprechen und sie muss trotz des Ernstes der Situation unmerklich in sich hineingrinsen, wie jedes Mal, wenn er diesen Namen ausspricht, denn Wörter mit vielen R's klingen bei ihm offenbar immer ein wenig nach polterndem Steinschlag und rrrrollenden Gerrrröllmassen. >Sag mir, dass du nichts Schlimmes angestellt hast. Du hast nicht zufällig ahm... jemanden ermordet, den Dorftempel niedergebrannt, deine Heimat an irgendwelche Feinde verraten oder die Insignien der Könige gestohlen oder etwas ähnliches? Nein? Gut. Ich nehme auch nicht an, dass du ein Mädchen geschändet oder geraubt, gebrandschatzt und gestohlen hast, aye?< "Ein Mädchen geschändet??" Morian wird rot bis zu den Ohren und muss mit aller Macht an sich halten, um nicht spontan loszuprusten,. Götter, wenn er wüsste ... "Nein, Sire, ich kann Euch alle Eide schwören, dass ich mich niemals an einem Mädel vergangen hab' und das auch nicht tun werde, bestimmt nicht!" Zur Sicherheit hebt sie beschwörend gleich beide Hände. "Und was den Rest betrifft ..." Angestrengt durchforstet sie ihr Hirn nach sämtlichen je begangenen Fehltritten, Schwindeleien, Diebstählen und sonstigen Verbrechen, aber wirklich viel gibt es da nicht zu finden - zumindest wenn man davon ausgeht, dass der Besitz eines losen Mundwerks nicht unter Strafe steht.

"Na ja ... gestohlen hab' ich schon. Manchmal jedenfalls, wenn es nicht anders ging. Aber niemals Geld oder Gold oder irgend etwas anderes Wertvolles, nur Essen und einmal ein Säckel Hafer für das Pferd." In ihrem Tonfall liegt beinahe ein Hauch von Empörung, als sie weiterspricht. "Aber das ist ja höchstens Mundraub - von irgendwas musste ich ja schließlich leben, wenn es gerade keine Beschäftigung gab. Ich hab' immer versucht, Arbeit zu finden, um mir das Geld für die Reise zu verdienen, aber im Winter war das schwer. Da braucht keiner der Bauern einen Knecht oder jemanden für die Ernte, es gibt kein Obst zu pflücken und keine Kartoffeln auszugraben, und die Flüsse sind zugefroren, so dass es keine Boote zum Treideln gibt. Da hab' ich dann ab und zu was Essbares stibitzt, um nicht zu verhungern. Und geschwindelt hab' ich sicher auch, aber das waren eher kleine Notlügen .... Zum Glück hat er meine größte Lüge noch nicht durchschaut. "... ansonsten bin ich völlig unschuldig und reinsten Herzens!" Sie schenkt Colevar ihren herzerweichendsten Welpenblick, aber der denkt gar nicht daran, sie zu bedauern oder gar zu hätscheln, sondern haut ihr nur in seiner unnachahmlich liebenswürdigen Art (also mit dem Knurren eines ziemlich großen, ziemlich unleidlichen Hundes) all ihre so reichlich vorhandenen Vorzüge um die Ohren: >Du redest entsetzlich viel. Du bist aufdringlich, du bist ziemlich dreist, sturer als ein Eisenzwerg und ein penetranter Plagegeist.<

Diese Tatsachen sind ihr nun wirklich nicht neu, und sie könnte Colevars Aufzählung spontan und ohne zu überlegen noch mindestens drei Dutzend weitere, nicht minder nette Eigenschaften hinzufügen, aber sie muss ihn ja nun nicht gleich mit der Nase draufstoßen. Mit der Zeit wird er schon von selbst dahinterkommen, was er sich aufgehalst hat. Aber trotz allem, trotzdem dass sie ein so fürchterlicher Tunichtgut ist, dass sie ihn angelogen, ihn beklaut, ihn genervt, ihn vollgequasselt und ihm seinen Proviant weggefuttert hat, scheint er nicht vorzuhaben, sie wegzuschicken, sondern beweist richtiggehend Edelmut, als er verkündet: >Aber wenn du kein Verbrechen begangen hast, bist du bei mir sicher. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten - so lange du bei mir bist, wird niemand Hand an dich legen.< Und für dieses Versprechen ist sie ihm wirklich und wahrhaftig dankbar, und er steigt in ihrer Achtung um einiges. "Das ist sehr freundlich von Euch, Sire, und ich danke Euch. Aber nun haben wir genug von mir geredet." Jetzt endlich hat Morian sich soweit entspannt und ihr Misstrauen abgelegt, dass sie sich am Feuer niederlassen kann, wobei sie in Reichweite des Bratspießes bleibt, den sie zwischendurch immer wieder drehen muss, um das Kaninchen vor dem Verkohlen zu bewahren. "Nun hab' ich Euch also den Grund für meine Reise erzählt, und warum ich so weit weg von Zuhause bin, aber was ist Euer Grund? Wenn wir schon dabei sind, die Karten auf den Tisch zu legen, solltet Ihr mir vielleicht auch ein wenig über Eure Reise erzählen, meint Ihr nicht?" Mit einem schiefen Grinsen fügt sie hinzu: "Inzwischen weiß ich mehr über Euer Pferd als über Euch."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 31. Mai 2011, 10:59 Uhr
>Ein Mädchen geschändet??< Tönt es ebenso fassungslos wie entrüstet durch die knisternden Flammen und Morrens Augen werden dabei so groß und rund wie Fa'Sheeler Golddublonen. Dann steigt flammende Röte aus dem schmuddeligen Hemdkragen des Jungen an seinem Hals empor und zieht sich leuchtend wie ein Buschfeuer bis in die Wangen hinauf – der Empörung, nicht der Schuld, jedenfalls hofft Colevar das inständig. Dass Morren mit einem verzweifelten Lachen kämpft, kann er ja nicht ahnen und durch die hochschlagenden Flammen, das brutzelnde Karnickel auf dem Bratspieß und das Dreifußgestell hindurch auch nicht sehen, denn der Junge verkriecht sich in diesem Augenblick förmlich hinter der Feuerstelle. >Nein, Sire, ich kann Euch alle Eide schwören, dass ich mich niemals an einem Mädel vergangen hab' und das auch nicht tun werde, bestimmt nicht!< Bekommt er gleich darauf als Antwort und blickt auf ein Paar fast beschwörend erhobener Handflächen. Das - und die absolute und über einen solchen Vorwurf fast belustigt klingende Ehrlichkeit in der Stimme des Jungen - überzeugt ihn und Colevar nickt kurz. "Aye, gut."
>Und was den Rest betrifft...< Mit einem ein wenig verlegenen Grinsen und bald darauf auch mit leisem Trotz in der Stimme zählt Morren auf, was er so alles angestellt hatte auf seinem langen Weg bis in die Sieben Schwestern, und Colevar bekommt eine vage Ahnung, wie sein Leben in den letzten Wochen und Monden ausgesehen haben muss. Er würde ihm bestimmt nicht vorwerfen, Essen für sich und den armen Gaul gestohlen zu haben, weil ihm der Magen vor lauter Hunger schon in den Knien gehangen haben musste.

Als er ihm sagt, dass er bei ihm sicher wäre, dass niemand sich an ihm vergreifen würde, so lange er bei ihm ist, meint er es vollkommen ernst – und Colevar weiß genau, was er sagt. Hier geht es nicht um leeres Geschwätz und ein paar edelmütige Worte, die den Jungen nur beruhigen sollen, nicht um ein ritterliches Gelöbnis oder irgendwelche hehren Tugenden, sondern um das schlichte Versprechen, Morrens Sicherheit auf Kosten seiner eigenen zu gewährleisten, wenn es sein muss. Es kann einen teuer zu stehen kommen, wenn man für jemanden (oder etwas) einsteht, Colevar trägt genug Narben am Leib, die das beweisen. Warum er sich darauf einlässt, obwohl er noch nicht einmal weiß, ob er Morren nun eigentlich leiden kann oder eher nicht, kann er selbst nicht wirklich sagen - er hat nicht einmal einen Herzschlag lang darüber nachgedacht. Irgendetwas ist an dem Jungen, etwas... Sonderbares. Es ist verborgen, schwer zu fassen und absolut unergründlich. Colevar glaubt es vage spüren zu können, aber er bekommt es einfach nicht zu fassen. Er kann es nicht benennen - und schon gar nicht den Finger darauf legen. Vielleicht, weil Morren noch so jung ist, kein Kind mehr, aber zumindest noch ein halbes. Vielleicht sieht er auch einfach nur viel jünger aus, als er tatsächlich ist, vor allem, wenn er diesen 'Ich-bin-ein-sechs-Wochen-alter-halbverhungerter-Welpe-Blick' aufsetzt.

>Das ist sehr freundlich von Euch, Sire, und ich danke Euch,< krächzt es nach einem Moment heiser über das Feuer hinweg, doch schon eine Sekunde später ist der brummelnde Tenor des Halbwüchsigen wieder da, als ihm beschieden wird, dass jetzt wirklich genug von ihm, Morren, geredet wurde. So alt kann er noch nicht sein, wenn er noch mitten im Stimmbruch steckt. Der Junge setzt sich ans Feuer, nicht wirklich neben ihn, aber immerhin so, dass sie sich nun gegenseitig sehen können und behält dabei mit wachsamen Blicken das Kaninchen im Auge, von dem allmählich verlockende Gerüche aufsteigen. >Nun hab' ich Euch also den Grund für meine Reise erzählt, und warum ich so weit weg von Zuhause bin, aber was ist Euer Grund? Wenn wir schon dabei sind, die Karten auf den Tisch zu legen, solltet Ihr mir vielleicht auch ein wenig über Eure Reise erzählen, meint Ihr nicht? Inzwischen weiß ich mehr über Euer Pferd als über Euch.<
"Die Karten auf den Tisch zu legen..." murmelt Colevar, doch so leise dass Morren nicht darauf reagieren muss. Der ausgefuchste kleine Schlingel hat dir überhaupt keine Gründe genannt. Oh sicher, er hat gesagt, was er tut... eine Truppe Söldner nach Süden verfolgen... aber er hat mit keinem Wort erwähnt, warum. Er wird nicht so recht schlau aus dem Jungen, der so gar nicht über sich selbst reden will. Was Colevars Erfahrung nach das ist, was die meisten Menschen am besten können – oder zumindest am häufigsten tun.

Die 'Karten auf den Tisch zu legen' ist so ziemlich das Letzte, das er tun will. Nicht, weil Morren keine Antwort verdient hätte oder Colevar Gründe hätte, ihm etwas vorzumachen. Aber an Lía zu denken ist, als würde man eine offene Wunde berühren und er schreckt davor zurück. Irgendwann wirst du nicht länger ausweichen können. Es kann also genauso gut jetzt sein wie an irgendeinem anderen Tag. Und so zwingt er sich, sich zu erinnern – es ist ein Gefühl, als hätte er Glasscherben im Bauch. "Da gibt es nicht viel zu erzählen. Es ist auch keine sehr schöne Geschichte und ich fürchte, sie wird kein gutes Ende haben. Ich war im Auftrag eines Freundes in Immerfrost, um einen Mann ausfindig zu machen und nach Talyra zu bringen. Das habe ich getan. Ich fand ihn in Dunkelschein, lockte ihn auf meine Fährte und auf dem Weg zurück nach Süden traf ich in den Wäldern Savos ein Schwesternpaar, Sorisgesegnete. Sie waren ganz allein unterwegs, reisten mit zahllosen Tieren in einem bunten Wagen und kreuzten zufällig meinen Weg, ohne zu wissen, wer hinter mir her war, also..." er zuckt mit den Schultern. "Ich musste sie irgendwie in Sicherheit bringen, denn der Mann, der mich verfolgt hat, war kein sehr... angenehmer Zeitgenosse, aye?

Es war einerseits Glück, das ich sie traf, denn ich war verwundet und eine der beiden Frauen war eine Heilerin, andererseits war es natürlich Unglück, denn durch mich waren sie in Gefahr. Ich brachte die beiden nach Falkenwacht und ließ sie dort zurück." Mit deinem Packpferd, deinem letzten Silber und Mistress Grau, was warst du nur für ein Trottel. "Dann ritt ich nach Süden und meine Verfolger ebenfalls, aber als ich in Talyra ankam war es tiefster Winter, ich war verwundet und brauchte eine Weile, um mich zu erholen." Du meinst, du warst halbtot und wochenlang besinnungslos im Wundfieber. "Sobald im Frühjahr die Straßen wieder passierbar wurden, kehrte ich nach Norden zurück und habe sie gesucht, aber... sie wollte wohl nicht gefunden werden." Er zuckt sacht mit den Schultern und bemerkt überhaupt nicht, dass er von der Mehrzahl in die Einzahl gewechselt ist und eigentlich nur noch von Lía spricht. "Vor ein paar Monden erhielt ich eine Nachricht von einem Botenraben, dass sie in ihre alte Heimat, die weiten Graslande der östlichen Steppen zurückgekehrt sei. Und nun bin ich auf dem Weg nach Hause – allein. Jedenfalls war ich das bis heute Morgen. Du siehst also, es ist die Geschichte eines Mannes, der sich gründlich zum Narren gemacht hat..." endet er mit einem ziemlich windschiefen, unfrohen Lächeln, "und obendrein einen verdammt langen Weg dafür gebraucht hat."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 01. Juni 2011, 21:15 Uhr
Zuerst lauscht sie einfach nur gespannt Colevars Geschichte, die ihn - zumindest für ihre Begriffe - ziemlich weit herumgebracht hat, immerhin zweimal nach Immerfrost und wieder zurück, also eine so gewaltige Strecke, dass Morian sie sich kaum vorstellen kann. Ihr selbst kommt schon die Entfernung von der Silbermeerküste bis hierher zum Frostweg wie eine wahre Weltreise vor, und das sind ihrer groben Schätzung nach vielleicht sieben- oder achthundert Tausendschritt. Die Reise des Ritters scheint aber nicht nur lang, sondern auch ziemlich abenteuerlich gewesen zu sein, immerhin enthält sie die Zutaten für ein bardentaugliches Heldenepos: einen edlen Ritter mit güldenem Haar auf einem feurigen Ross, einen schaurigen Bösewicht, wilde Verfolgungsjagden, Kämpfe auf Leben und Tod, und obendrein zwei holde Schönheiten, die es vor dem Schurken zu retten galt. Hach... fehlt nur noch der feuerspeiende Drache. Sicher hätte Colevar die ganze Erzählung noch wunderbar ausschmücken und haufenweise Details berichten können, aber je weiter er kommt, desto schleppender wird seine Stimme, desto mehr sucht er nach den passenden Worten und druckst herum wie eine Jungfer bei der Beichte. Morian kommt er in diesem Moment vor wie ein Schiffskapitän, der seinen Segler durch ein tückisches Labyrinth von Felsriffen steuern muss und dabei verzweifelt einen Schlenker nach dem anderen macht, um allen allzu gefährlichen Klippen auszuweichen. Und sie ahnt vage, dass der wirkliche Grund und Inhalt seiner Reise sich in den Worten verbirgt, die er vor ihr tunlichst nicht ausspricht. Anfangs kann sie sich gar keinen Reim auf seine Geheimniskrämerei machen, aber sie drängt ihn nicht, und als dann die Sprache auf besagtes Schwesterpaar kommt und Colevar schließlich mit rauer Stimme erzählt: >Sobald im Frühjahr die Straßen wieder passierbar wurden, kehrte ich nach Norden zurück und habe sie gesucht, aber... sie wollte wohl nicht gefunden werden.<, wird ihr klar, worum es hier im Grunde geht: um Liebe und Sitzengelassen werden und um ein gebrochenes Herz.

Nach Norden zurückkehren, das sagt er so beiläufig, als wenn es nichts wäre. Dabei müssen das fast zweitausend Tausendschritt sein - das ist einfach unglaublich. Mir müsste jemand schon SEHR am Herzen liegen, wenn ich wegen ihm eine so riesige Strecke auf mich nehmen würde. Und so wird es bei Colevar wohl auch gewesen sein, vermutet sie. Bei der Frau dagegen wohl eher nicht, ansonsten hätte sie sicher auf ihn gewartet. Morian versucht sich vorzustellen, wie es sich anfühlen muss, wenn man am Ende einer so gewaltigen Reise feststellt, dass sie völlig umsonst war, dass derjenige, wegen dem man sie überhaupt gemacht hat, ohne ein Wort des Abschieds auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist, und es gehört wirklich nicht viel Fantasie dazu, um zu ahnen, dass es mehr als nur niederschmetternd gewesen sein muss. Kein Wunder, dass er mit einer so griesgrämigen Miene durch die Gegend schleicht. Und erst recht kein Wunder, dass er sich nicht gern daran erinnert. Dafür, dass es eine so traurige Geschichte ist, noch dazu ohne ein gutes Ende, wirkt Colevar jedoch sehr gefasst und er bemüht sich sogar um ein Lächeln - das allerdings etwas kläglich ausfällt -, als er seinen Bericht mit den Worten beendet: >Du siehst also, es ist die Geschichte eines Mannes, der sich gründlich zum Narren gemacht hat, und obendrein einen verdammt langen Weg dafür gebraucht hat.< Obwohl seine Worte so leichthin klingen sollen, hat sie das Gefühl, dass all seine Beherrschung nur ein dünner Schutzschild ist, hinter dem Enttäuschung, Schmerz und Bitterkeit brodeln, und dass er diese Erlebnisse noch lange nicht verdaut hat.

Morian wagt nicht, weiterzubohren und in nicht verheilten Wunden herumzustochern, aber sie würde ihm gerne etwas Nettes sagen, etwas Tröstliches, das ihn ein bisschen aufheitern würde. Jedoch fürchtet sie, vielleicht die falschen Worte zu wählen und damit alles bloß schlimmer zu machen - in punkto Taktgefühl erwischt sie nämlich stets mit untrüglicher Zielsicherheit jeden wunden Punkt und jedes nur erreichbare Fettnäpfchen. Mit gerunzelter Stirn und nachdenklicher Miene dreht sie den Bratspieß über dem Feuer, aber dann kommt sie zu dem Schluss, dass sie das Gesagte trotzdem nicht einfach wortlos so stehen lassen kann. "Das tut mir sehr leid", murmelt sie, "also, das mit Euch und dieser Frau. Ihr hattet sie bestimmt ziemlich gern. Es ist schlimm, jemanden zu verlieren, das musste ich auch selbst schon erfahren. Aber irgendwie muss man ja trotzdem weiterleben. Und ab und zu hat man ja auch tatsächlich mal Glück, gerade wenn man am wenigsten damit rechnet. So wie ich, als ich Euch getroffen habe. Manchmal hat man aber auch Pech. So wie Ihr - Ihr habt nämlich mich getroffen und auch noch als Knappen aufgenommen", wagt Morian ein halbes Grinsen. "Das wird eines Tages ganz gewiss Euer Ruin sein. Schon mein Vater hat immer gesagt, dass ich bei meinem Mundwerk keine Waffen bräuchte, ich könnte problemlos jeden Gegner zu Tode quatschen. So, das Karnickel ist fertig." Während sie den Eisenspieß vom Feuer nimmt und damit beginnt, den duftenden, brutzelnden Braten zu zerteilen, wirft sie Colevar einen schnellen Seitenblick zu. "Ihr seid also auf dem Weg nach Hause, nach Talyra am großen See, richtig? Was werdet Ihr dort tun, wenn Ihr angekommen seid? Habt Ihr dort eine Unterkunft und eine Arbeit? Oder was tut ein Ritter so, wenn er nicht gerade holde Jungfrauen oder klatschnasse Bauernjungen rettet?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 02. Juni 2011, 20:20 Uhr
Morren unterbricht ihn nicht ein einziges Mal, während er erzählt, und auch als er endet, herrscht noch eine ganze Weile Schweigen. Die Stille am Feuer dehnt sich aus, doch sie hat merkwürdigerweise nichts Unangenehmes an sich. Colevars Erfahrung nach können – oder wollen - nur die wenigsten Menschen wirklich zuhören. Entweder ihre Gleichgültigkeit lässt sie sich sofort langweilen, wenn es einmal nicht um sie selbst geht, ihre eigene Unruhe zieht sie aus dem Gespräch oder aber sie überlegen sich ihren Auftritt für den Moment, in dem man selbst den Mund hält, damit sie sich ihrerseits in rechte Bild rücken können. Mit dem Jungen vor ihm scheint das anders. >Das tut mir sehr leid,< ist zunächst alles, was er irgendwann sagt - und obwohl er es vermutlich aus Höflichkeit ausspricht, klingt es dennoch aufrichtig. >Also, das mit Euch und dieser Frau. Ihr hattet sie bestimmt ziemlich gern. Es ist schlimm, jemanden zu verlieren, das musste ich auch selbst schon erfahren. Aber irgendwie muss man ja trotzdem weiterleben.<
"Aye, ich hatte sie... gern." Wenn das Weiterleben nur ein bisschen einfacher wäre. Sich ein bisschen weniger falsch und leer anfühlen würde.

"Ich weiß genau, was du meinst. Die Welt ist noch da, aber sie ist einfach nicht mehr dieselbe." Colevar streckt die Beine aus, was die Ziege hochscheucht, und lehnt sich mit dem Rücken an einen der moosbewachsenen Steine. Zora schüttelt sich kurz und wackelt dann bähend in die Nacht davon, zweifellos um sich noch mehr von den Gräsern und Kräutern rund um ihren Lagerplatz einzuverleiben. >Und ab und zu hat man ja auch tatsächlich mal Glück, gerade wenn man am wenigsten damit rechnet. So wie ich, als ich Euch getroffen habe. Manchmal hat man aber auch Pech. So wie Ihr - Ihr habt nämlich mich getroffen und auch noch als Knappen aufgenommen.<
"Ah-ja?" Angesichts dieser unbestreitbaren Logik kann er sich eines weiteren Lächelns nicht erwehren, auch wenn es ein wenig halbherzig ausfällt. Morren mag eine fürchterliche Nervensäge sein, aber sein manchmal aufblitzender Humor gefällt Colevar gut. "Und was bedeutet das nun für mich? Sieben Jahre Pech?" Ein eifriges Nicken antwortet ihm. >Das wird eines Tages ganz gewiss Euer Ruin sein. Schon mein Vater hat immer gesagt, dass ich bei meinem Mundwerk keine Waffen bräuchte, ich könnte problemlos jeden Gegner zu Tode quatschen.<

"Dein Vater ist ein weiser Mann, Knappe Morren." Der Junge erklärt das Kaninchen für fertig, löst es behutsam von dem eisernen Spieß und zerteilt mit glühenden Fingern und seinem Messer das Fleisch auf einem flachen Stein. Bei seinen Worten meint Colevar einen Schatten über Morrens Gesicht huschen zu sehen, aber er ist so rasch wieder fort, dass es auch Einbildung gewesen sein kann oder ein Wechselspiel der Flammen, die Licht und Dunkel zum Tanzen bringen. Bei den Düften von gebratenem Fleisch mit Kräutern und Speck klebt Colevar die Zunge kurz am Gaumen, aber, von den Knochen gelöst, wäre das Kaninchen kaum mehr als zwei oder drei Handvoll für jeden. Also beschließt er im Stillen, nicht allzu hungrig auf Morrens Essen zu starren und kaut stattdessen an einem ziemlich zähen, wenn auch erträglich schmeckenden Streifen Dörrfleisch herum und lehnt dankend ab, als ihm großmütig etwas angeboten wird. Er ist hungrig, aber der Junge ist noch viel hungriger als er - und außerdem hatte er keine gute Zeit hinter sich. "Ein Knappe braucht seine Kraft, schon vergessen? Iss ruhig und -" '...dann geh schlafen, wir haben morgen einen langen Ritt vor uns.' Will er eigentlich sagen, doch der Junge schießt schon wieder Fragen auf ihn ab wie Erbsen aus einem Blasrohr. >Ihr seid also auf dem Weg nach Hause, nach Talyra am großen See, richtig? Was werdet Ihr dort tun, wenn Ihr angekommen seid? Habt Ihr dort eine Unterkunft und eine Arbeit?<

Colevar angelt nach dem Wasserschlauch an seinem Sattel, spült sich den Mund, spuckt aus und trinkt dann ein paar kleine Schlucke. Es schmeckt schal, er würde die Wasserflaschen morgen früh am Bach auffüllen. "Richtig", bestätigt er und Morren kaut geräuschvoll knusprigen Speck. "Der 'große See' heißt Ildorel. Was ich dort tun werde... " Gute Frage – mit meinem Vater sprechen, falls er mich noch sehen will. Meinen Dienst wieder aufnehmen, mich in mein Schicksal fügen und irgendein dummes Ding heiraten, das eine ordentliche Mitgift bringt und ein breites Becken hat. Irgendwann die Garde verlassen und Lord von Lyness werden, vermutlich. Und sterben, jeden Tag ein kleines bisschen mehr. "Das hängt von vielen Wenn's ab, Morren. Kommt darauf an, wie die Dinge jetzt zu Hause liegen, ich war lange nicht mehr dort, aye? Aber ich habe eine... ahm Unterkunft und ich war Offizier der Stadtgarde, bevor ich fortging, ich werde es auch wieder sein. Und wenn doch nicht..." er zuckt mit den Schultern. "Mein Vater ist Lord von Lyness und die Ländereien meiner Familie im Sarthetal liegen unweit der Stadt. Wenn alle Stricke reißen, kann ich mir also immer noch eine Hütte in meine eigenen Wälder bauen und da..." er zieht eine Braue hoch, als Zora meckernd ans Feuer zurückkehrt und sich mit einem vernehmlichen kleinen Plumps neben ihn fallen lässt. "Ziegen züchten oder so. Liebe kleine Zora, du bist ein wirklich hübsches Mädchen, aber du bist immer noch eine Bucca, also runter von meinen Schlafpelzen, aber auf der Stelle."

Die Ziege trollt sich höchstbeleidigt und trippelt an Morrens Seite, nur um ihre neugierige kleine Nase prompt erst in den Hemdkragen des Jungen zu stecken, ein bisschen an seinem Nacken herum zu schnobern und dann begehrlich nach seiner Mütze zu schielen, die sich in so unerwartet großer Nähe zum Ziegenmaul befindet, da er auf dem Boden im weichen Gras sitzt. Während er sich noch gegen Zoras lange, kitzelnde Zunge und die knabbernden Zähnchen wehrt, fragt Morren, ein wenig atemlos von seinem Gerangel mit der Bucca um die Mütze, noch danach, wie denn das Tagwerk eines Ritters so aussähe, wenn er nicht gerade mit der Rettung holder Jungfern oder nasser Bauernlümmel beschäftigt sei. Colevar kann in seiner Stimme das schwache Echo all der unsinnigen Bardenlieder über Ritter, Ruhm, Ehre, edelmütige Heldentaten und die Verruchtheit seidener Strumpfbänder hören, und schüttelt mit einem unfrohen Grinsen den Kopf. "Hmpf. Wenn es darum dabei ginge, ein Ritter zu sein, dann könnte man sich vor Anwärtern vermutlich kaum noch retten. Holde Jungfern, aye? Wo gehören die denn zum Ritteralltag, da will ich auch hin... und wenn wir schon dabei sind, wir töten auch nicht jeden Siebentag einen Drachen.

Der einzige, von dem man sicher weiß, dass er je einen Drachen erschlug, war euer großer Sigfaðir – ein einfacher Krieger, kein Ritter. Und selbst er hatte dreihundert Männer bei sich, als er gegen Fafner kämpfte, die der Drache, nebenbei bemerkt, alle erledigt hat. Tut mir leid, wenn dich das enttäuscht, Junge, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Wenig Ruhm, noch weniger Ehre, kaum Jungfrauen, keine Drachen. Es sind nur die Lieder der verdammten Barden, die das Ritterdasein mit Rauschgold überpinseln." Sein schmales Lächeln wird eine Spur breiter. "Seidene Strumpfbänder fliegen einem allerdings hin und wieder um die Ohren." Er erinnert sich an den Buhurt vor einigen Jahren. Der arme Olyvar, der Tronjer und der Sturmlord hatten sich gar nicht retten können vor Spitzenunterwäsche, genauso wenig wie der Rosenritter Lorean Rascoyne oder der Falke von Sûrmera. "Wenn man das ein oder andere Turnier bestreitet und halbwegs passabel aussieht. Aber sonst... Ritter stehen vielleicht für bestimmte Tugenden, Morren, aber am Ende sind sie auch nur Krieger, die zum Töten da sind. Sie tun es nur besser, als andere." Er angelt nach einem weiteren Streifen Dörrfleisch. "Iss' dein Kaninchen und dann geh schlafen. Wenn wir morgen eine gute Wegstrecke schaffen, erreichen wir bei Einbruch der Nacht Isernthorn, ein Dorf am Frostweg, und schlafen in richtigen Betten." Er hatte mit dem Gedanken gespielt, das Kettenhemd abzulegen, aber angesichts der Dinge, die Morren über mögliche Verfolger gesagt hat, wird er es anbehalten und sein Schwert in Reichweite halten. "Ich sehe noch einmal nach den Pferden und decke das Feuer dann für die Nacht ab."



Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 06. Juni 2011, 11:04 Uhr
Morian hat eigentlich nicht vor, das ganze Kaninchen alleine zu verspeisen, deshalb reicht sie wie selbstverständlich einen Anteil an dem Langohr zu Colevar hinüber. Doch der lehnt dankend ab und holt sich stattdessen aus seinem Proviantbeutel die übriggebliebenen Streifen Dörrfleisch, was sie verwundert eine Braue hochziehen lässt. Sie bietet ihm ein zweites Mal von dem Karnickel an, und sogar noch ein drittes Mal, aber alles, was sie aus ihm herauskitzeln kann, sind ein großmütiges "Iss ruhig" und "Ein Knappe braucht seine Kraft." Colevar tut so, als würde ihn der knusprige Braten kein bisschen interessieren, dabei zuckt seine Nase in einem fort in Richtung des köstlichen Duftes wie die eines Bluthundes, der eine Fährte gewittert hat. Mit einer wahren Märtyrermiene mümmelt er unterdessen an den zähen, ausgedörrten Schuhsohlen von Trockenfleisch herum. Nun ist's aber genug! Das ist Morian jetzt eindeutig zu viel Ehrenhaftigkeit und Aufopferung, so viel heldenmütige Selbstlosigkeit auf einmal kann sie gar nicht ertragen. "Aha. Und Ihr nennt mich also stur, ja?", schnaubt sie und wirft ihm einen funkelnden Blick aus zusammengekniffen Augen zu, wobei sie die Hasenkeule, die sie gerade in der Hand hält, wie einen gezogenen Degen auf ihn richtet. "Nehmt Ihr jetzt endlich etwas von diesem verdammten Karnickel oder muss ich Euch erst füttern, Sire? Ich schwöre, ich tu's. Das ist jetzt mein letztes Angebot, und wenn Ihr jetzt wieder nein sagt, dann werde ich hier direkt vor Euren Augen, mit Genuss und Wonne und ohne dabei auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, diesen absolut köstlichen, knusprigen, wohlschmeckenden, fetttriefenden, brutzelnden, unwiderstehlich duftenden Braten verspeisen, und zwar ganz allein." Dabei wedelt sie mit einem Stück ebendiesen absolut köstlichen, knusprigen, wohlschmeckenden, fetttriefenden, brutzelnden, unwiderstehlich duftenden Bratens genau vor Colevars Nase herum. "Ich werde so mit leckerem Kaninchen vollgestopft sein, dass ich nicht einmal mehr papp sagen kann, wobei Ihr dagegen heute nacht vermutlich von Eurem knurrenden Magen aufwachen werdet. Aber das geschähe Euch ganz recht. Also nehmt jetzt endlich diese verfluchte Hasenkeule!"

Und genau das, oh Wunder, tut er dann auch. Stures Mannsvolk ... dass man immer erst schwere Geschütze auffahren muss, tzz. Hungrig macht sich nun auch Morian über den Braten her und eine Weile herrscht am Feuer zufriedenes Schweigen, nur unterbrochen von geräuschvollem Krustenzerbeißen und dem Lodern des Feuers. Zora kommt zwischenzeitlich angetrippelt, lässt sich mit einem wohligen Seufzer auf Colevars Schlaffelle plumpsen, als hätte er diese eigens zu ihrer Bequemlichkeit ausgerollt, wird von ihm aber umgehend wieder davongescheucht, so dass sie sich beleidigt zu Morian trollt und sich als Entschädigung für das entgangene Ritterbekuscheln über deren (wenigstens für Ziegen) schmackhafte Lederkappe hermacht. Während Morian versucht, die knabberwütige Geiß in Zaum zu halten und ihre Kopfbedeckung vor deren gierigen kleinen Zähnen in Sicherheit zu bringen, erzählt Colevar von Talyra und seinem Leben dort, und sie erfährt, dass er der Nachkomme eines Lords ist und zudem ein Soldat der talyrischen Stadtgarde. Ihre scherzhaften Worte von holden Jungfern und Bauernlümmeln, mit denen sie sich dann nach seinem Alltagsleben abseits von seinen mehr oder weniger freiwilligen Reisen erkundigt, hat sie eigentlich nur als Spaß gemeint - denn sie geht trotz ihrer relativen Unwissenheit, was Ritter betrifft, nicht wirklich davon aus, dass deren Leben nur aus Heldentaten und Jungfrauenrettungen besteht -, aber Colevar nimmt sie gleich zum Anlass, ihr eine ausführliche Unterweisung in den Ritteralltag angedeihen zu lassen, die sie brav über sich ergehen lässt.

>Tut mir leid, wenn dich das enttäuscht, Junge, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Wenig Ruhm, noch weniger Ehre, kaum Jungfrauen, keine Drachen.<, bemerkt er trocken, woraufhin Morian zu dem Schluss kommt, dass es wohl besser ist, wenn sie lieber doch kein Ritter wird. Eigentlich hat sie das sowieso nicht vor, aber wenn es die einzige Möglichkeit ist, ungeschoren nach Süden zu kommen, so wird sie eben einstweilen wenigstens so tun, als ob sie ein Knappe wäre. Den Umgang mit Waffen zu lernen kann ja gewiss nichts schaden, auch wenn ich nicht vorhabe, jemals in meinem Leben jemanden umzubringen. Schon allein deshalb kann ich gar kein Ritter sein. Ein Krieger, der nur zum Töten da ist, wie Colevar es so blumig umschreibt, will sie ganz bestimmt nicht werden. Nicht in diesem Leben, und nicht im Nächsten. Und mit Strumpfbändern will ich mich schon gar nicht bewerfen lassen! Bei der Erwähnung von Strumpfbändern im Zusammenhang mit passablem Aussehen wird Colevars Grinsen ziemlich breit (und wenn sie sich nicht allzu sehr täuscht, auch ziemlich selbstgefällig), Morians Augen dagegen verengen sich zu Schlitzen. Götter im Himmel, sollte ich jemals so tief sinken, dass ich einem Mann meine Strumpfbänder oder sonstige Unterwäscheteile nachschmeiße, dann schüttelt mich bitte einmal kräftig, damit ich wieder zu Verstand komme. Einstweilen spielt sie das Spielchen aber mit, um kein Misstrauen zu erwecken. Sie schenkt ihrem Sitznachbarn also das anerkennende Grunzen eines Geschlechtsgenossen, der einem Bruder im Geiste für sämtliche jemals bei Ritterturnieren gefangenen Fluggeschosse höchsten Respekt zollt, und tut so, als gäbe es auf der Welt nichts Großartigeres als eine willige Weibsperson, die einem zuerst ihre Strumpfhalter und dann sich selbst an den Hals wirft. Vielleicht wird das von einem jungen Burschen im frühen zeugungsfähigen Alter ja einfach erwartet - so genau kennt sie sich mit den Gepflogenheiten von Rittern und halbwüchsigen Bauernlümmeln nun auch wieder nicht aus.

Zum Glück geht Colevar dann zu weniger verfänglichen Themen über, wie etwa ihrer morgigen Weiterreise, dem nächsten Etappenziel und der Aussicht auf richtige Betten. Es klingt alles sehr verlockend, aber bei der Erwähnung von Betten in einem Gasthof wird Morian dann doch etwas plümerant zumute. Ich kann nie im Leben ein Zimmer in einem Wirtshaus bezahlen, wie soll ich das denn machen? Ich hab' allerhöchstens noch ein paar Kupferlinge in meiner Geldkatze. Na, vielleicht kann ich ihm das wieder ausreden. Oder ich schlaf' einfach bei den Tieren, irgendetwas wird mir schon einfallen. Während der Ritter dann die Pferde für die Nacht versorgt und sich um das Feuer kümmert, breitet Morian im Schutz der grünbemoosten Felsen ihre Schlaffelle aus, bringt alles Fressbare im Umkreis von zwei Schritt sicherheitshalber außer Reichweite von Zoras Zähnen, streift sich die Stiefel von den Füßen und das Lederwams von den Schultern, und schlüpft dann zum Umfallen müde unter ihre dünne Wolldecke. Colevar behält zwar sein Kettenhemd an und sein Schwert in greifbarer Nähe, aber die Nacht über abwechselnd Wache zu halten, hält er offenbar nicht für nötig. Soll mir recht sein. Dann hoffen wir eben einfach, dass alles Gesindel, das sich am Frostweg herumtreibt, einen großen Bogen um uns macht. Vermutlich werden sie das sowieso tun, denn die Ziege stinkt so fürchterlich, dass sich kein Mensch mit einem halbwegs normalen Geruchssinn auch nur in unsere Nähe trauen würde. Sie selbst hat sich mittlerweile an Zoras überaus dezente Duftnote gewöhnt, so dass sie den Geruch kaum noch bemerkt, selbst wenn sie genau neben ihr liegt wie in diesem Augenblick. Sie schafft es sogar, ihren Kopf auf den weichbefellten grauen Ziegenrücken zu betten wie auf ein Federkissen, als sie sich zum Schlafen zusammenrollt - auch ohne dass sie einen bleibenden Nasenschaden zurückbehält.

Zwischen halbgeschlossenen Lidern hindurch beobachtet sie noch eine Weile den leise am Feuer herumhantierenden Colevar, von dem nur die hochgewachsene Silhouette im rötlichen Schein der Flammen zu sehen ist. Er bewegt sich wie ein Krieger, still und lautlos, immer wachsam, immer auf der Hut. Morian stellt fest, dass es ein ziemlich beruhigendes Gefühl ist, jemanden wie ihn in der Nähe zu haben, vor allem wenn dieser Jemand auch noch im Besitz eines gut gepflegten Langschwerts ist. Wirklich viel weiß sie über ihn noch nicht, aber immerhin so viel, dass sie meint, ihm halbwegs trauen zu können. Er hat gesagt, ich sei bei ihm sicher, und das glaub' ich ihm auch. Es klang aufrichtig, und er macht mir auch nicht den Eindruck, als würde er sich an Schwächeren vergreifen. Aber vertraut sie ihm genug, um ihm die ganze Wahrheit zu sagen? Sie weiß es einfach nicht. Hm, wie würde er sich wohl verhalten, wenn er wüsste, dass ich gar kein Junge bin? Ob er mit einer Weibsperson auch so ehrenhaft umgehen würde? Morian möchte das nur zu gern glauben, aber sicher ist sie sich absolut nicht, dazu kennt sie diesen Mann zu wenig - gerade einmal einen Tageslauf. Und wenn sie eines auf ihrer Reise gelernt hat, dann dass der äußere Schein trügerisch sein kann und dass hinter einer freundlichen Maske oft etwas ganz anderes steckt. Na schön, was weiß ich also über ihn? Er ist der Sohn eines Lords, er ist ein Ritter, und er reist seit einer Ewigkeit allein umher. Er ist schweigsam, aber er spricht mit seinem Pferd wie mit einem Freund. Er ist sehr ruhig und bedächtig in seiner Art. Er ist schrecklich ordentlich. Er ist sehr pflichtbewusst. Er hält seine Versprechen. Er hat ein gebrochenes Herz. Und er hat absolut kein Schamgefühl. Er ... Während sie darüber nachsinnt, was Colevar noch alles ist oder nicht ist, fallen ihr auch schon die Augen zu, denn der lange, anstrengende Tag fordert seinen Tribut. Sie kuschelt sich an Zoras tröstliche Wärme und liegt einen Herzschlag später schon im Tiefschlaf, zum ersten Mal seit langen Monaten mit der Gewissheit, in Sicherheit zu sein und sich eine Nacht lang nicht fürchten zu müssen.

Als sie am nächsten Nachmittag dem Frostweg durch die felsigen Höhen der Sieben Schwestern folgen und in einem grünen, sonnenbeschienenen Tal zu ihren Füßen das malerische Städtchen Isernthorn auftaucht, kann Morian der Aufzählung von Colevars Eigenschaften noch eine weitere hinzufügen: er kennt den Frostweg offenbar in- und auswendig und scheint hier schon mit jedem Kieselstein per du zu sein. Der bärtige Schmied am Ortseingang lässt den Hammer sinken und hebt die Hand zum Gruß, als sie vorüberreiten - und er ist nicht der einzige, wie Morian verwundert feststellt. Sie werden zudem von einem Bauern mit einem Eselskarren gegrüßt, von einem Stallburschen mit Stroh im Haar, der eilig an ihnen vorbeiflitzt, und zwei dralle Mägde, die schwatzend am Rand eines Brunnens sitzen, erröten bei Colevars Auftauchen bis zu den Haarwurzeln und fangen hinter vorgehaltener Hand aufgeregt zu flüstern und zu kichern an. Hmpf, schnaubt Morian und wirft den beiden Mädchen einen finsteren Blick zu. Kaum taucht ein blonder Kerl in Rüstung auf, verwandeln sie sich in schnatternde, hirnlose Gänslein. Ich möchte wetten, die würden ihm liebend gern noch ganz andere Sachen nachwerfen als nur ihre Strumpfbänder. Kopfschüttelnd lenkt sie ihren alten Klepper hinter besagtem blonden Kerl her, der sich hier tatsächlich auszukennen scheint wie in seinen Hosentaschen, und versucht sich unterdessen ein Bild von dem Ort zu machen, in dem sie gelandet sind.

Isernthorn ist ein größerer Marktflecken, der durch den Frostweg zu einigem Wohlstand gekommen ist und von den Handelskarawanen und den vielen Reisenden profitiert, die hier jahraus, jahrein ihres Weges kommen. Die schmucken, mit Schindeln oder Stroh gedeckten Häuser sind gepflegt, die geschäftige Hauptstraße mit Kopfsteinen gepflastert und zudem mit Rinnsteinen versehen, so dass selbst ausgiebige Regenfälle sie nicht in eine Schlammwüste verwandeln können wie in manch anderen, weniger wohlhabenden Dörfern. In der Ortsmitte verbreitert sich die Straße zu einem geschäftigen kleinen Marktplatz, auf dem die Bauern aus den umliegenden Hügeln ihre Waren feilbieten und man vom gerupften Huhn bis zum Reisigbesen alles nur Erdenkliche kaufen kann. Sie passieren eine Bäckerei, aus der ihnen ein verführerischer Duft nach frischgebackenem Brot entgegenweht, einen Hufschmied, einen Viehhändler und eine Sattlerei, einen Stellmacher und einen Tuchhändler, die Werkstätten von Korbflechtern und Bürstenbindern, das Haus eines Alchemisten mit einem kunstvoll geschmiedeten Namensschild, einen Fischhändler, der mit lautem Geschrei frische Forellen und Flusskrebse aus dem Svalt anbietet, und einen Tempel zu Ehren Amitaris - und Morian kann sage und schreibe vier Wirtshäuser allein entlang der Hauptstraße zählen, den "Roten Mann", den "Wanderfalken", den "Nargentod" und den "Keifenden Kobold". Sie schließt zu Colevar auf, der im Schatten einer doppelt mannshohen Statue des Götterboten Ama'aut, des Schutzherrn der Wanderer und Reisenden, seinen Grauschimmel gezügelt hat und löchert ihn wieder einmal mit tausend Fragen auf einmal: "Ihr kennt hier ja wohl wirklich jeden, scheint mir .... kennt Ihr vielleicht auch eines der Wirtshäuser? Wo kriegen wir denn etwas billiges zu essen? Und Futter für die Pferde? Und ... ohje!" Aus den Augenwinkeln hat sie Zora erspäht, die sich gerade begehrlichen Blickes und mit einem verzückten Meckern dem gut bestückten Marktstand eines Riemenschneiders nähert - einem Marktstand mit vielen leckeren Lederschnüren, Gürteln, Zügeln und Riemen. Offenbar steht ihr der Sinn gerade nach einem knackigen Rindslederimbiss, so dass Morian sich hurtig aus dem Sattel schwingt, um ihre verfressene Geiß wieder einzusammeln. "Und vielleicht auch Futter für die Ziege, wenn wir es uns nicht gleich mit allen Händlern hier verscherzen wollen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 13. Juni 2011, 15:01 Uhr
Colevar überlässt es Morren, die lederverliebte Ziege wieder einzusammeln, was dem Jungen nach einem kleinen Tanz mit einer äußerst ungehalten meckernden, Bocksprünge vollführenden Bucca auch gelingt – aber erst, nachdem er sie an den sprichwörtlichen (wenn auch im übertragenen Sinne) Hörnern gepackt hat: da Klein-Zora keine hat, fasst Morren die Ziege irgendwann an Halsband und Nackenfell, und schleift und zerrt sie mit sanfter Gewalt zurück zu den Pferden. Die Anstrengung hat ihn atemlos werden lassen, aber offenbar nicht atemlos genug, denn für ein halbes Dutzend Fragen reicht es allemal. "Fast, ja und ja." Erwidert Colevar zwar kurz und knapp, aber keineswegs unfreundlich, als er aus dem Sattel steigt. Kaum berühren seine Stiefelsohlen den Boden, gibt sein Magen ein vernehmliches Knurren von sich und der des Jungen schließt sich solidarisch gleich mit an. Sie sind beide rechtschaffen erledigt, denn sie haben einen langen Tagesritt hinter sich und sie haben beide Hunger – dank der abendlichen Kaninchenschlemmerei, hatten sie zum Frühstück nur noch ein bisschen Getreidebrei und Dörrfleisch gehabt, das so zäh war wie Schuhleder. Und jetzt? Der Wortwechsel gestern Abend am Feuer war das erste Mal gewesen, dass er sich tatsächlich mit Morren unterhalten hatte und als der Junge endlich eingeschlafen war, hatte Colevar sich nicht der Illusion hingegeben, dass dieser Ausflug in die Gefilde der Freundlichkeit den Tagesanbruch überdauern würde. Zu seiner Überraschung war aber genau das geschehen. Natürlich hatte der Junge fast den ganzen Tag lang vor sich hingeplappert – über das Wetter, ihren Weg, die Götter und die Welt, die Ziege und wie er zu ihr gekommen war, mit der Ziege (und wie sie beide zu einem waschechten Ritter gekommen waren), über die verschiedenen Tagelöhnerarbeiten, mit denen er sich über Wasser gehalten hatte (Kälber zur Welt bringen, Fischabfälle schaufeln, Mehlsäcke schleppen, Schafe hüten, Torfstechen, Treideln und wissen die Götter was noch alles) und so fort. Colevar hatte ihn reden lassen. Es war nicht einmal unangenehm gewesen, ihm zuzuhören - Morren hat eine angenehme Stimme und ist ein guter Erzähler, und nun, am Ende ihrer Wegstrecke, stellt Colevar mit leisem Erstaunen fest, dass er den ganzen Tag lang nicht einmal ans Trübsal blasen gedacht hat. Der Gedanke bringt prompt so etwas wie ein schwaches Lächeln auf sein Gesicht, auch wenn es nicht viel mehr ist als ein Zucken seiner Mundwinkel.

"Wir kehren im 'Keifenden Kobold' ein. Die Zimmer sind sauber und erschwinglich, das Essen ist gut und reichlich, und unsere Tiere werden dort bestens versorgt. Ich kenne den Wirt, er ist ein Raubein, aber ein guter Kerl. Außerdem hat sein Bruder den Bauernhof direkt neben dem Gasthaus und hält selbst jede Menge Ziegen, dort wird Zora sicher sein... und Isernthorn sicher vor ihren Zähnen. Komm, ich sterbe vor Hunger." Morren folgt ihm und sie führen die Pferde durch das Gewühl am Rand des belebten Marktplatzes entlang, teilen Gruppen aufgeregter Klatschmäuler, die ihnen hastig Platz machen und sich dann hinter ihnen wieder schließen, zweifellos um augenblicklich irgendwelche Spekulationen anzustellen. Sie weichen Fuhrwerken und Handkarren aus, die mit dem behäbigen Gleichmut von Handel und Wandel durchs Gedränge rattern und halten selbst abrupt an, um eine Reihe Soldaten der Flamardgarde passieren zu lassen, die sich im Laufschritt vom anderen Ende des Ortes nähern. Der Rhythmus ihrer Stiefeltritte auf dem buckligen Kopfsteinpflaster klingt im Lärmen des Marktes wie der Klang einer gedämpften Trommel. Der 'Keifende Kobold' ist ein großer Gasthof und liegt ganz am Südrand Isernthorns, direkt neben einem nicht minder stattlichen Gehöft, umgeben von ein paar mächtigen, uralten Kastanien. Aus dem Inneren des Gasthauses dringen Stimmengewirr, Geschirrklappern und Gelächter bis auf die Straße und im Hof herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Reisenden, Stallburschen, Mägden, Knechten und anderen. Colevar pfeift nach einem der überall herumwuselnden Jungen und es dauert keine drei Herzschläge, ehe einer bei ihnen erscheint, so plötzlich, als wäre er direkt aus dem Boden gewachsen. Der Bengel grinst Colevar an, verbeugt sich leicht und begrüßt ihn wie einen vielleicht nicht alltäglichen, aber gut bekannten und gern gesehenen Gast. "Willkommen zurück im Kobold, Sire. Ich nehme Euer Pferd und das Eures..." sein Blick schweift zu Morren, weitet sich für die Dauer eines halben Herzschlags und wird dann in rasend schneller Abfolge erst skeptisch, dann spöttelnd, dann spekulativ, dann ein wenig listig und anschließend sofort wieder nichtssagend freundlich,"... äh, Knappen. Master Grugwyn wird erfreut sein, Euch zu sehen. Der Kobold ist recht voll, M'lord, aber ich denke, für Euch hat er auf jeden Fall ein Plätzchen frei. Euer Gepäck lasse ich dann hineinbringen."

Sie übergeben Filidh und Hühnchen der Obhut des Jungen, der außerdem auch noch Zora mitnimmt und verspricht, sie bei Master Grugwyns Bruder Bracken auf dem Hof nebenan gut unterzubringen. Im Gasthaus selbst, dessen windschiefes, uraltes Schild über der Tür tatsächlich einen schreiend bunt gekleideten, wild lamentierenden Kobold zeigt, ist es warm und brechend voll. Es hätte angenehm sein können, wenn weniger Gäste dagewesen wären, doch die Tische und Bänke sind mit allerlei Reisenden, fahrenden Händlern und Kaufleuten, ortsansässigen Zaungästen, Karawanenwächtern, verwegen aussehenden (oder wenigstens um diesen Eindruck bemühten) Abenteurern, und, um die Mischung abzurunden, auch dem einen oder anderen Trunkenbold dicht besetzt. Und obwohl die Räume großzügig sind, und alle breiten Fenster und Türen nach draußen sperrangelweit offen stehen, herrscht eine Atmosphäre wie in einem azurianischen Hamam. "Mmpf!" knurrt Colevar, wenig begeistert, und bleibt abrupt stehen, was Morren fast in ihn hineinlaufen lässt. Er kommt jedoch nicht mehr dazu, noch irgendetwas anderes zu sagen, denn in diesem Augenblick werden sie von Master Grugwyn, dem Wirt, erspäht. Er ist ein ziemlich kleiner, aber auch ziemlich vierschrötiger Mann, der ein blaues Baumwolltuch als Kopfputz trägt und - neben breiten Ringerschultern und einem gewaltigen Stiernacken - auch noch einen beträchtlichen Bauchumfang besitzt. Sein breites Gesicht ziert ein steifer, haselnussbrauner Backenbart, und unter dichten Brauen liegen kleine, blitzblaue Augen, die bei Colevars Anblick noch ein wenig kleiner und blitzender werden. Seine piratenhafte Erscheinung (obwohl er nachweislich nie weiter nach Westen als Wolfsgrimm kam und das Silbermeer noch nie im Leben gesehen hat) wird abgerundet von einem Holzbein aus Mooreiche. "He, Sithechritter!" Bellt er und erinnert nicht nur der Stimme nach frappierend an eine streitlustige Bulldogge.

"Was treibt Euch denn schon wieder in den Kobold? Könnt  Euch wohl gar nicht mehr losreißen vom alten Rîm, was? Und wer ist der Knirps da bei Euch?" Die Tatsache, dass Morren fast einen Kopf größer ist als der Wirt, scheint Rîm Grugwyn nicht weiter zu stören.
"Halt die Klappe, Rîm", erwidert Colevar trocken, aber er grinst genauso breit wie Grugwyn selbst. "Das einzige, wovon ich mich nicht losreißen kann, ist das Essen deiner Frau. Der Knirps hier ist mein Knappe. Morren - Rîm Grugwyn, Wirt des Keifenden Kobolds, ehemaliger Abenteurer, Schmuggler, Viehdieb, Meldereiter, Frostwegräuber und Faustkämpfer, alles bevor er das ehrbare Leben an den Nagel gehängt hat und halsabschneiderischer Wirt wurde. Rîm, das ist Morren", stellt er vor. "Wir brauchen etwas zu Essen, heißes Wasser zum Baden und Unterkunft für mindestens eine Nacht, ist das zu machen?"
Rîms prächtiger Backenbart beginnt zu zittern wie die Fühler eines großen Insekts, dann kratzt er sich die gefurchte Stirn. "Ja, hm nun... es ist ziemlich voll, wie Ihr sehen könnt. Kaum waren die Regenfälle vorüber, kamen alle auf einmal aus ihren Löchern gekrochen. Ein Zimmer hab ich noch, aber der Junge muss mit einem Strohsack und ein paar Decken vorlieb nehmen. Der Strohsack ist aber sauber, weich und frisch gefüllt. Wenn das in Ordnung geht, dann hab' ich Platz für Euch."
Eine halbe Stunde später haben sie ihr Quartier bezogen, ihre Sachen sortiert, einen raschen Imbiss aus frischem Brot, Butter, geräuchertem Schinken und Rotbier vertilgt und ein Bad für Morren bestellt. Colevar duftet nach einem langen Tag im Sattel zwar auch nicht mehr unbedingt nach Veilchen, aber er hatte sich im Gegensatz zu dem Jungen (jedenfalls hatte er nichts dergleichen gesehen) am Morgen gründlich im Bach gewaschen, bevor sie aufgebrochen waren – und er hatte auch keine Ziege als Kopfkissen benutzt. Er würde also später ein Bad nehmen, denn zuerst hat er noch einige Dinge zu erledigen, die keinen Aufschub dulden. Als er gehen will, fällt der Junge ihm gerade noch rechtzeitig ein und schon halb aus der Tür, dreht er sich noch einmal um – beinahe wäre er gegangen ohne auch nur ein Sterbenswort zu sagen. Er ist es einfach nicht mehr gewohnt, nicht allein zu sein und niemandem Rechenschaft über sein Tun und Lassen ablegen zu müssen. Rechenschaft? Übertreib' es nicht gleich...

Morren sitzt im Schneidersitz auf seinem Strohsack, streicht die letzten Schinkenreste mit einem Stück Brot aus seiner Schüssel und sieht ihn fragend an. Wie auch immer, du bist jetzt nicht mehr allein. "Nimm dein Bad, während ich weg bin, aye? Ich... bringe die Pferde zum Schmied, rede mit einem Sattler und versuche, eine Wäscherin aufzutreiben, die unsere Sachen bis morgen Abend fertig bekommt. Ich bin bald zurück."
Aus dem "bald" werden allerdings mehr als zwei Stunden und die Sonne geht gerade unter, als Colevar den Kobold wieder erreicht. Zuerst war er mit den Pferden auf dem Weg zu Mord, dem Schmied (der eigentlich Morten heißt und ein guter Kerl ist, weswegen kein Mensch sagen kann, wie der Mann zu seinem denkwürdigen Namen kam, den aber trotzdem jeder so nennt), am Rand des Marktplatzes am Stand eines Korbflechters vorübergekommen. Dort waren ihm die großen Schließkörbe ins Auge gefallen und er hatte sich erinnert, wie sie auf ihrer halsbrecherischen Flucht vor Riku damals Calaits und Lías zahllose Tiere transportiert hatten. Er hatte einen stabilen Korb in ausreichender Größe gefunden und nach einigem Suchen und Herumwühlen des Korbflechters sogar ein passendes Gegenstück, hatte beide gekauft, die Pferde zum Schmied gebracht und dann - mitsamt den Weidenkörben - einen Sattler aufgesucht. Der Mann hatte erst ein wenig verständnislos dreingeblickt, und Colevar insgeheim wohl für völlig übergeschnappt gehalten, als der ihm sein Ansinnen erklärt hatte, dann aber anscheinend beschlossen, dass die Münzen eines Irren genauso gut sind, wie die eines geistig gesunden und versprochen, alles bis morgen um die Mittagsstunde fertig zu haben.

Als er zu Mord zurückgekehrt war, um die Pferde abzuholen, hatte jedoch nur Filidh einen Satz neue Eisen bekommen, Hühnchen war nicht angerührt worden. Seine breiten Hufe waren noch genauso lang und ausgefranst, wie sie es gewesen sind, als Colevar ihn hergebracht hatte. Als er wissen hatte wollen, was das solle, hatte Mord erstaunt die Augen aufgerissen und verwirrt nachgefragt, ob M'lord für einen Gaul, der nur noch zum Schlachten tauge, wirklich noch Geld ausgeben wolle – er war wohl der Ansicht, dass M'lord beim Kauf seines vermeintlichen Packpferdes schwer übers Ohr gehauen worden war. Dann hatte der Schmied sich geschäftsmäßig, aber mit angemessen mitleidiger Miene (die zweifellos M'lords mutmaßlichem Verlust, nicht dem Pferd gegolten hatte) erkundigt, ob er es nicht lieber dem Abdecker geben solle, ein paar Münzen wären damit schon noch zu machen, auch wenn nur noch die Hufe für ein wenig Leim taugen würden. Colevar hatte die Augen verdreht - der Schmied war offensichtlich der nächste, der 'M'lord' für nicht mehr ganz klar im Kopf gehalten hatte – und unnachgiebig auf sauber zugerichteten und ausgeschnittenen Hufen für ein steinaltes Pferd bestanden. Als auch das erledigt war, war es wirklich spät geworden und so kehrt Colevar erst mit der sinkenden Sonne zum Gasthaus zurück. Inzwischen stinkt er nach verbranntem Horn, Asche, Rauch und Schmiedefeuer, und sein Magen gibt allmählich Geräusche von sich wie ein verärgerter Branbär. Er hatte von Brot und Schinken nicht allzu viel abbekommen, aber da hatte er auch noch geglaubt, nicht lange zu brauchen und bald vor knusprigem Schweinebraten mit Pflaumenfüllung und Brotauflauf im 'Keifenden Kobold' zu sitzen. Fünf Minuten später ist das Maß dann voll. Gleich hinter der Tür des Kobolds wartet nämlich kein gutes Essen auf ihn, sondern schon der nächste Ärger. Und zwar in Gestalt Morrens, der, kaum dass Colevar den immer noch gut gefüllten Schankraum betreten hat, auf ihn zuschießt wie ein Korken aus einer Amphore mit Perlwein, rot vor rechtschaffener Empörung und dabei ein fast schon komisch verzweifeltes Gesicht macht - verfolgt von einer jungen Frau, deren Kleid ein ganzes Stück kürzer ist, als das der Schankmägde - ihr Ausschnitt ist dafür um einiges tiefer. Morren fliegt förmlich auf ihn zu und drängt sich beinahe an ihn. "Sire ich hab der blöden Kuh schon hundert Mal gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen, aber..."

Colevars erstaunter Blick fällt auf die recht anhängliche Verfolgerin seines Knappen. Die ist auch rot, und zwar vor Zorn, so wie es aussieht. Sie hat allerdings leichte Schwierigkeiten, geradeaus zu schauen, ihre Standfestigkeit scheint auch nicht mehr die allerbeste und auf ihrer linken Wange prangt ein Handabdruck. Außerdem riecht sie kräftig nach billigem Duftwasser und mindestens drei verschiedenen Sorten Bier, aber nicht einmal das kann ihren penetranten Schweißgeruch überdecken. "Widerling! Lump!" Schrillt sie hysterisch und fuchtelt dabei mit dem Finger in der Luft vor Morrens Nase herum, als wolle sie einen Chor dirigieren. "Du kannst mich nicht schlagen! Das kannst du nicht!"
"Kann ich wohl", zischt Morren an seiner Seite zurück und die hellen Augen des Jungen sprühen dabei Funken. "Wenn du deine Finger nicht bei dir behalten kannst, du blöde Schlampe, dann geschieht dir das nur recht! Sie hat mein Hemd zerrissen, Sire! Und sie wollte... sie wollte... mmmpf!"
"Aye, das sehe ich." Er streckt die Hand aus, um die kleine Hure davon abzuhalten, mit der Stirn voran gegen ihn oder Morren zu kippen, weil sie inzwischen bedenklich schwankt, aber sie weicht zurück, stolpert über ihre eigenen Füße und in ihren Augen leuchtet Verachtung. "Abartig bist du! Kannst wohl gar nicht, was? Schlappschwanz, Schlappschwanz, Schlapp..." Colevar erwischt Morren gerade noch am Hemdkragen, als der sich auf die Hure stürzen will. Im selben Augenblick steht einer der Zaungäste, ein recht bulliger Kerl mit langen, schmutzigen roten Haaren an einem der Tische in der Nähe auf. Seine Augen glänzen vor Angriffslust und Branntwein. "Hast du Ärger, Kaja? Soll ich den Kerl abstechen?"
Colevar schnaubt hörbar und durch den Schankraum weht ein eisiger Hauch, als ströme kalter Nachtwind durch die offenen Fenster herein. "Das würde ich nicht versuchen", erklärt er gefährlich ruhig. "Trink dein Bier und verschwinde."
"Ach ja? Und wer bist du? Der Herr und Meister von dem kleinen Milchbart, der sich so ziert?" Morren schnaubt ebenfalls hörbar, aber alles andere als ruhig und offenbar drauf und dran sich auf Rothaar, auf die Hure oder gleich auf beide zu stürzen, doch Colevar hält ihn eisern fest. Inzwischen ernten sie ringsum neugierig-spekulative Blicke, doch niemand scheint sich am heraufziehenden Ärger groß zu stören.

Das gibt auch Rothaar Auftrieb und der Kerl grinst höhnisch, was ihm nicht gerade steht. "Ist ja ein richtiges Zuckerschnütchen, der Bengel. Ein bisschen mager, aber mit einem hübschen Arsch. Sieht auch ziemlich rosig aus. Ist der überall so?" Meckerndes Lachen ertönt und Rothaars Kumpane stimmen branntweinselig mit ein, bis der ganze Tisch von ihrem dröhnenden Gelächter wackelt. "Gib es auf, Kaja. Wer so einen Knappen hat, der braucht keine Hure, eh?" Die Temperatur in der Schankstube sinkt schlagartig um mehr als zehn Grad, als Colevar sich aus Morrens Griff windet, einen Schritt zur Seite macht, ausholt und Rothaar die Faust mitten ins Gesicht schlägt. Der Kerl geht zu Boden. Keiner der Anwesenden muss großartige Kenntnisse des Tamaraeg haben, um zu erraten, was Colevar zu ihm sagt. 'Steh auf und sag das nochmal!' Sieht in jeder Kaschemme, auf jeder Straße und in jeder Gosse Rohas gleich aus. Rothaar lässt sich auch nicht zweimal bitten. Er wiederholt seine Beleidigung zwar nicht, aber er rappelt sich zornspuckend auf, springt über den Tisch und stürzt sich auf Colevar, der umsichtig einen Schritt zur Seite tritt, so dass sein Angreifer mit dem Gesicht voran gegen den Türstock knallt. Allgemeine Anerkennung wird ringsum laut, doch Rothaars Kumpane können eine solche Schmach natürlich nicht auf sich sitzen lassen und Colevar verschwindet fast augenblicklich unter einer Lawine schmutziger Kleidung, als der Tisch sich unter dem Gewicht von Grünkittel und Braunbart, Rothaars nicht minder branntweinumnebelten Freunden, der Schwerkraft ergibt und mit lautem Krachen umkippt. Die unbeteiligten Beobachter des folgenden Spektakels rücken derweil Bänke und Stühle zurecht  oder treten an die Wände zurück, und bereiten sich recht ungeniert darauf vor, das Schauspiel zu genießen. Morren flüchtet sich zu Grugwyn und einem seiner Knechte an den Tresen, die fasziniert die raufende Masse aus Armen und Beinen beäugen, in der dann und wann Colevars helle Haare auftauchen. Falls irgendjemandem die inzwischen ziemlich frostige Kälte in der Gaststube des 'Keifenden' Kobolds auffällt, geht das in der allgemeinen Aufregung unter. Durch all das Fluchen, Keuchen, Grunzen und Ächzen um ihn her kann Colevar kurz Morren hören, der sich liebenswürdig bei Grugwyn erkundigt, ob man ihm denn nicht vielleicht helfen wolle.
"Nein, warum?" Ertönt die Stimme des Wirts und klingt erstaunt. "Wenn er wirklich Hilfe braucht, wird er schon darum bitten."
Colevar selbst ist sich durchaus nicht sicher, ob er um Hilfe rufen könnte, wenn er welche bräuchte. Im Augenblick wird er nämlich von dem ziemlich kräftigen Kerl in Grün gewürgt was das Zeug hält und bekommt kaum noch genug Luft, um auf den Füßen zu bleiben.

Überhaupt scheint das Chaos im 'Keifenden Kobold' niemanden sonderlich aufzuregen. Einige Wetten werden abgeschlossen, doch insgesamt herrscht eher die erwartungsvolle Atmosphäre über kommende, amüsante Kurzweil. Colevar ist schon froh, als er aus den Augenwinkeln bemerkt, wie Morren und Grugwyn ein paar Männern in die Quere kommen, die offensichtlich mit dem Gedanken spielen, ebenfalls ein wenig mitzumischen. Während sie sich nähern, stolpert sein nichtsnutziger Knappe nämlich gar nicht nichtsnutzig dazwischen, stellt einem ein Bein und weist dann grinsend auf den Wirt, der scheinbar zerstreut neben ihn schlendert, die Hand an einem langen Messer. Die Männer weichen zurück und beschließen klugerweise, es gut sein zu lassen und lieber noch ein paar Rotbier zu trinken. Trotzdem ist man allgemein wohl der Meinung, drei gegen einen sei ein absolut angemessenes Verhältnis. Und da dieser eine ziemlich groß, ziemlich kräftig, ein ausgebildeter Kämpfer und obendrein – zumindest im Augenblick – auch von einer ziemlichen Berserkerwut erfüllt ist, liegen sie vielleicht nicht einmal so falsch damit. Da Colevar sich dem Würgegriff von Grünkittel nicht entziehen kann, weil Braunbart inzwischen mit den Fäusten kräftig seine Rippen bearbeitet und auch Rothaar wieder da ist und irgendwo an seinem rechten Bein hängt (vermutlich um gleich beherzt zuzubeißen oder etwas ähnliches), beugt er Hals und Schultern so weit vor wie nur irgend möglich und lässt seinen Kopf dann mit voller Wucht zurückschnellen. Die Nase des Kerls in Grün hinter ihm bricht mit einem hässlichen Knirschen und er lässt Colevars Hals augenblicklich los, weil ihm das Blut aus Mund und Nase spritzt und ihm binnen eines Herzschlags die Augen zuschwellen. Der Kampf wird noch ein wenig ausgeglichener, als auch Braunbart ausscheidet, weil er nach einem gut platzierten Knie pfeifend in sich zusammenklappt, sich die Leistengegend hält und stöhnend unter einen Tisch davonrollt. Colevar und Rothaar prügeln sich allerdings verbissen weiter, doch unter den Zuschauern werden schon die ersten Wettgewinne eingesammelt. Ein ordentlicher Kinnhaken und zwei rasche, heftige Nierenschläge hintereinander überzeugen dann schließlich auch Rothaar, dass es besser ist, sich in die rettende Besinnungslosigkeit zu flüchten. Für einen so stämmigen Mann, fällt er auch recht anmutig. Colevar richtet sich im allgemeinen Applaus und dem Gejohle der versammelten Gäste wieder auf und stolpert Richtung Tresen, wo eine umsichtige Schankmagd ihn erwartet und zu einer leeren Bank in einer Art Nebenraum zwischen Küche und Schankstube führt. Morren ist nirgendwo zu sehen.

Colevar lässt sich schwer atmend auf die Bank fallen, um vom feixenden Grugwyn einen Krug Bier entgegenzunehmen und blinzelt durch das Blut, das ihm ins linke Auge läuft, ob er seinen verflixten Knappen nicht irgendwo entdecken kann. Alles, was er sieht, ist die füllige Gestalt von Bessa, Grugwyns Weib, die ihm mit einem Korb voll Verbandslinnen, Essig und Ringelblumensalbe in kleinen Tontöpfen entgegensegelt, wohl um erste Hilfe zu leisten. "Zieht Euer Hemd aus, Sire. Es ist ohnehin nur noch ein Fetzen, der für Lumpen taugt. Dann lasst mich mal sehen." Er schält sich aus den Resten seines Hemdes und Bessa nimmt ihn sorgenvoll in Augenschein. Colevar wünscht sich, sie würde kein solches Aufheben um ihn machen - es tut zwar hier und da weh, doch trotz seiner zahlreichen Blessuren fühlt er sich so entspannt, wie schon seit Tagen nicht mehr. Er kennt Grugwyns Frau allerdings schon gut genug, um keinen Widerstand zu leisten. Jetzt müsstest du nur noch wissen, wo Morren steckt. Hoffentlich ist er nicht wieder der Hure in die Finger geraten...
"Ein verstauchter Daumen, zwei angeknackste Rippen, eine aufgerissene Braue, eine geplatzte Lippe, fünf geprellte Knöchel an Eurer rechten Hand und mehr blaue Flecken als ich zählen kann," beendet Bessa ihre Bestandsaufnahme und beginnt, die zahlreichen Risse und Kratzer mit Essig auszuwaschen, was Colevar leise nach Luft schnappen lässt. "Au!" Beschwert er sich, erntet aber nur ein ungehaltenes Zungenschnalzen. "Jetzt jammert Ihr wegen ein bisschen Essig, aber gerade wolltet Ihr Euch noch grinsend zu Brei schlagen lassen. Sitzt still!"
"Aye. Bessa, sei ein Schatz und sieh nach, ob..."
"Still, M'lord. Steht auf und streckt die Arme aus, ich muss Eure Rippen bandagieren. Sie sind nicht gebrochen, nur geprellt, glaube ich, aber sicher ist sicher." Sie zieht die Leinenstreifen so fest um seine Brust, dass er ganz sicher keinen einzigen Atemzug mehr tun kann und begutachtet dann kritisch ihr Werk.
"Ich werde ersticken, Bessa."
"Wenn Ihr atmet, tut es weh. Rührt Euch nicht. Woraus glaubt Ihr eigentlich, dass Ihr gemacht seid, eh? Aus Eisen?"
Colevar lächelt reumütig, was dank seiner aufgeplatzten Unterlippe allerdings schnell zur Grimasse gerät. "Nein. Ich wünschte, es wäre so. Bessa, bitte. Mir fehlt nichts. Ich muss nur nach..."
"Papperlapapp! Ihr müsst etwas Essen und dann ein schönes, heißes Bad nehmen, M'lord. Ich habe für Euch einen..."
Ein leises Räuspern in der Tür verrät, dass sie nicht mehr allein sind, doch es ist nicht Grugwyn, der nach seiner Frau sieht, sondern Morren. Der Junge betrachtet Colevars bandagierte Rippen mit leiser Erheiterung und wirft ihm einen kleinen Lederbeutel zu. Es gibt ein klimperndes Geräusch, als er ihn fängt - und er ist überraschend schwer. "Was ist das?"
Morren zieht grinsend eine Braue hoch und rückt die Mütze auf dem dunklen Strubbelhaar zurecht. "Euer Anteil an den Wetten, Sire."
"Ich habe nicht gewettet."
"Nein, Sire. Ihr nicht - aber ich."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 17. Juni 2011, 10:58 Uhr
Colevars vollkommen verdatterter Blick, als er den Beutel mit den Münzen auffängt, ist wirklich jedes einzelne Kupfer- und Silberstück wert, das sich darin befindet, und Morian weidet sich grinsend an seiner Verblüffung. Obendrein ist sie im Augenblick auch ziemlich stolz auf sich, weil sie in kürzester Zeit eine (zumindest für ihre bescheidenen Verhältnisse) recht ansehnliche Summe Geld verdient hat, die ihre dürftige Reisekasse erheblich aufbessert. Dass es ja eigentlich Colevar war, der mit der Rauferei für das Klimpern der Münzen gesorgt hat, ist angesichts seines lädierten Zustands kaum zu übersehen, aber mit solch unwichtigen Details will sie sich in ihrer Großmütigkeit gar nicht erst aufhalten. Ihr Feixen nimmt dann allerdings mitfühlende Züge an, als sie ihren ramponierten Ritter betrachtet, der gerade von der Frau des Wirts energisch in die Mangel genommen wird, wobei sie sich nicht so ganz entscheiden kann, wofür er mehr Mitleid verdient: für die zahlreich vorhandenen und bestimmt schmerzhaften Blessuren oder für die Rosskur, derer er gerade von Bessa unterzogen wird. Die Wirtsfrau, eine an sich überaus mütterliche und fürsorgliche Person, fuhrwerkt gerade mit einem Arm voll flatternder Leinenbinden um ihn herum wie ein azurianischer Mumifizierer um einen einzubalsamierenden Leichnam, wobei sie in einem fort Kommandos ausstößt wie "Nicht bewegen!", "Stillhalten!" und "Jetzt hört endlich auf zu jammern!". Ihr Patient protestiert zwar nach Kräften gegen die medizinische Behandlung, die sie ihm angedeihen lässt, aber letztendlich bleibt Bessa Sieger und ihm gar nichts anderes übrig, als stillzusitzen, brav ihren Befehlen zu folgen und alles geduldig über sich ergehen zu lassen, bis sie ihn schließlich als ausreichend verarztet erklärt und wieder in die Gaststube verschwindet.

Während Morian mit schiefgelegtem Kopf und skeptisch gerunzelter Stirn ihren ziemlich verbeulten Beschützer betrachtet, meldet sich irgendwo in ihrem Hinterkopf eine Stimme zu Wort, die sie jetzt eigentlich absolut nicht hören will, die sie in ihrer Penetranz aber trotzdem nicht ignorieren kann: Du solltest dich wenigstens bei ihm bedanken, wenn er deinen Hintern schon aus der Scheiße zieht! Sieh ihn dir an, wegen dir hat er mehr blaue Flecken als ein Igel Stacheln. Woraufhin sich sofort die Trotzabteilung ihres Hirns einschaltet und meutert: Er hat ja von ganz allein angefangen, sich zu prügeln. Schließlich hat ihn niemand gezwungen, dem Kerl gleich eine reinzuhauen! Aber die Gewissensbisse, die sie bei seinem Anblick überfallen, lassen sich nicht einfach so beiseite schieben. Gewissensbisse deswegen, weil im Grunde ja sie der eigentliche Urheber dieses Streits war - genauer gesagt, die saftige Ohrfeige, die sie der aufdringlichen Hure verpasst hat. Wer weiß, wie alles ausgegangen wäre, wenn Colevar nicht just zu genau jenem Zeitpunkt in die Wirtsstube geplatzt wäre. Morian hätte es nicht gewundert, wenn der rothaarige Maulheld, der sich so plötzlich als Beschützer der unverschämten Dirne aufgespielt hatte, in diesem Fall auf sie losgegangen wäre. Dass sie mehr als einen Kopf kleiner ist und vermutlich kaum halb so viel auf die Waage bringt wie dieser Riesenkerl, hätte ihn angesichts seines Alkoholpegels vermutlich wenig gestört. Wäre Colevar erst ein wenig später aufgetaucht, hätte er vermutlich nur noch die kläglichen Überreste vom Fußboden kratzen können, die der bullige Rothaarige von ihr übrig gelassen hätte. Schon allein deswegen solltest du dankbar sein .... also los, nun sag' schon endlich was!

Einen Augenblick lang ringt Morian heftig mit sich, hin und her gerissen zwischen Trotz und Verlegenheit, zwischen "Ich sollte..." und "Ich will aber nicht!", dann räumt sie seufzend die ganze Batterie von Salbentöpfen und Tiegelchen beiseite, die Bessa um ihr Opfer herumdrapiert hat, und lässt sich neben Colevar auf die Holzbank plumpsen. Aber gerade in dem Moment, als sie schließlich götterergeben den Mund aufklappt, um endlich loszuwerden, was sie loszuwerden hat, tönt es neben ihr mit unüberhörbarer Belustigung: "Besten Dank übrigens."
"Hä?", ist alles, was ihr spontan dazu einfällt, und ihr Gesicht nimmt leicht verwirrte Züge an. Herrje, er hat wohl einen Schlag auf den Schädel abbekommen ...
"Besten Dank?", echot sie stirnrunzelnd, derweil sie unauffällig auf dem scheinbar ziemlich durcheinandergeratenen Ritterhaupte in einem Wust aus zerrauftem Blondhaar und eingetrocknetem Blut nach irgendwelchen Kopfwunden sucht, die die Wirtsfrau vielleicht übersehen hat. "Für das Geld oder wofür?"
So aus der Nähe betrachtet sieht Colevar tatsächlich aus, als hätte ihn jemand durch den Fleischwolf gedreht, über und über mit Blutergüssen bedeckt und mit Bandagen umwickelt, mit blaugeprügelten Fingerknöcheln, aufgeplatzter Braue und geschwollener Lippe - aber ungeachtet dessen antwortet er im Brustton der Überzeugung: "Nein, für die Prügelei". Und das mit einem so unübersehbar zufriedenen Grinsen im Gesicht, dass er aussieht wie ein Kater, der gerade die Maus seines Lebens gefressen hat. Morians Brauen zucken überrascht in die Höhe und sie kann ihn einen Herzschlag lang nur so entgeistert anstarren, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich glaub's einfach nicht, er hat das tatsächlich auch noch genossen!

Die Überraschung währt allerdings nicht lange. "Och", frotzelt sie, praktisch veranlagt, wie sie nun einmal ist, "ich kann Euch gern öfter zu so einer Rauferei verhelfen, wenn Euch das glücklich macht. Ich gerate sowieso andauernd in irgendwelche Schwierigkeiten ... Ihr werdet Euch praktisch gar nicht mehr retten können vor lauter Raufereien." Ihre Feixen wird noch ein wenig breiter und in ihren Augen beginnt der Schalk zu funkeln. "Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit einem Kneipenschläger unterwegs bin, hätte ich Euch gleich heute Mittag bei unserer Ankunft eine zünftige Prügelei besorgt." Colevar grinst nur (was angesichts seiner geschwollenen Lippe reichlich schief ausfällt), hebt in einer gespielten Abwehrgeste die Hände und versichert ihr glaubwürdig, dass sein Bedarf an derartigen Vergnügen so groß nun auch wieder nicht sei. Aber es scheint ihm tatsächlich gutgetan zu haben ... so aufgekratzt hab ich ihn ja überhaupt noch nicht erlebt.. "Ich hoffe nur, dass ich jetzt nicht jedes Mal einen Streit mit irgendwelchen Wirtshausschlägern vom Zaun brechen muss, nur um Euch zum Lachen zu bringen", spöttelt sie, aber dann wird ihre Miene wieder ernst. "Denen habt Ihr's aber ganz schön gegeben", muss sie neidlos anerkennen, und dann quetscht sie tatsächlich ein ehrlich gemeintes "Danke" zwischen den Zähnen hervor. "Ich glaube, Ihr habt mir den Arsch gerettet, als Ihr aufgetaucht seid. Wer weiß, was der mit mir angestellt hätte, wenn Ihr nicht gekommen wärt ... wenn mich einer schon Zuckerschnütchen nennt, kann der ja nichts Gutes im Schilde führen. Dabei kann ich überhaupt nichts dafür, wenn mir nun mal kein Bart wachsen will. Das Geld nehm' besser wieder ich, was?"

Sie rupft dem sprachlosen (weil einfach nicht zu Wort kommenden) Colevar den klimpernden Lederbeutel wieder aus den Händen und stopft ihn sich unter dem Wams in den Hosenbund, ohne ihren Wortschwall auch nur zum Luftholen zu unterbrechen. "Und dann war da auch noch dieses dämliche Weibsbild, wegen dem hat das alles überhaupt erst angefangen - die wollt' mich einfach nicht in Ruhe lassen. Ich hab ihr dreimal gesagt, sie soll mich nicht so abschlecken und gefälligst ihre Finger bei sich behalten, aber sie wollt' ja nicht hören. Die klebte an mir dran wie eine Klette, und jetzt ..." - Morian lüpft stirnrunzelnd ihren Hemdausschnitt und schnüffelt angewidert an sich herum - "...jetzt stinke ich wie frisch aus dem Hurenhaus. Riecht Ihr das? Widerlich. Dabei hab' ich gerade erst frisch gebadet. Wenn's nicht so'ne Plackerei für das arme Mädel wäre, würde ich der Magd ja glatt noch mal einen Zuber voll Badewasser abschwatzen, aber die hat nachher bestimmt genug damit zu tun, für Euch die Wassereimer 'reinzuschleppen. Ihr braucht doch sicher 'ne Menge mehr als ich, ich bin ja nur so'n Floh, dass es für mich auch'n Kochkessel voll getan hätte. Der blaue Fleck hier auf Eurem Arm sieht übrigens lustig aus, der hat 'ne Form wie'n Katzenpfötchen." Sie hat die Hand schon ausgestreckt, um fasziniert den besagten Katzenpfotenfleck zu betasten, aber dann hält sie mit einem Mal erschrocken inne und zieht die Finger blitzartig wieder zurück, als habe sie sich verbrannt. Bist du verrückt geworden? Bleib bloß weg von ihm, sonst merkt er irgendwann doch noch, dass du kein Junge bist....

Schon die Hure hat sie arg in Bedrängnis gebracht mit ihrem Getatsche und Gegrabsche - hätte die nur einmal die Hand an die falsche Stelle gelegt, wäre es mit Morians Tarnung aus und vorbei gewesen. Du musst besser aufpassen, sonst bringst du dich wirklich in Gefahr, mahnt sie sich, wobei sie eifrig damit fortfährt, den armen Colevar mit einem Wortschwall nach dem anderen zu überschütten. "Können wir jetzt vielleicht auch endlich was essen? Ich hab' einen Bärenhunger, und Ihr bestimmt auch, Ihr habt ja den ganzen Tag noch nix Ordentliches in den Magen gekriegt - na ja, außer den Fausthieben, die Euch der Kerl verpasst hat. Aber die zählen ja wohl nicht. Was habt Ihr denn überhaupt so lange gemacht? Ihr wart so lange fort, dass ich schon dachte, Ihr hättet Euch mit meinem edlen Streitross davongemacht und mich allein in diesem götterverlassenen Kaff sitzen lassen. Ich glaub', ich werd' Euch erst mal ein Hemd holen, was? So könnt Ihr ja nicht unter Leute gehen -", spricht's nach einem kritischen Blick auf den blutverkrusteten Stoffhaufen neben Colevar, der früher einmal ein Teil seiner Bekleidung gewesen ist, und ist im gleichen Atemzug auch schon durch die Tür nach draußen verschwunden - nur um ein paar Augenblicke später mit einem zerknüllten Hemd aus seinem Gepäck keuchend wieder aufzutauchen. "Hier. Das wird einstweilen reichen müssen. Ist zwar ein bisschen schmuddelig", sagt sie schulterzuckend, schnuppert daran und stellt dann naserümpfend fest: "Und riechen tut's auch nicht mehr ganz taufrisch. Aber Ihr habt kein Sauberes mehr. Ihr habt unterwegs nicht zufällig eine Wäscherin gefunden, nein? Na, macht nichts, wir können die Sachen auch hier waschen lassen. Los jetzt, hoch mit Euch Faultier - ich hab' Hunger!"

Als sie zurück in die Wirtsstube kommen, sind die drei Raufbolde verschwunden und auch von der Hure, die vermutlich irgendwo in einem stillen Eckchen ihren Rausch ausschläft, ist nichts mehr zu sehen, so dass sie sich in aller Ruhe ihrem Mahl widmen können. Das Schankmädel bringt ihnen zwei Teller mit sämiger Gerstensuppe und danach zwei gewaltige Portionen saftigen Bratens, mit Zwiebeln und gelben Rüben in dunklem Bier geschmort und mit einer so knusprig gebratenen Schwarte gekrönt, dass Morian allein schon vom Anblick das Wasser im Mund zusammenläuft. Sie spachtelt den ganzen Teller leer, ratzeputz bis auf den allerletzten Krümel, und wischt noch mit einem Brotkanten die letzten Soßenreste auf, um sie sich einzuverleiben, bis sie sich schließlich vollkommen satt und randvoll abgefüllt zurück gegen die Wand lehnt, einmal herzhaft gähnt und dann übergangslos und ohne Vorwarnung in einen völlig entkräfteten Schlaf sinkt, wobei sie sich weder von Colevars Grinsen noch vom Lärm in der Gaststube stören lässt. Wenig später reißt ihr treusorgender Arbeitgeber sie allerdings wieder von der Bank und vorübergehend auch aus ihrem Erschöpfungskoma, und dirigiert sie zu der Schlafkammer, die der Wirt ihnen zugeteilt hat, wo die Mägde ihm einen kupfernen Badezuber mit heißem Wasser gerichtet haben. Morian kann allerdings nur noch ihr gemütlicher Strohsack locken. Undeutlich registriert sie noch Colevars Geschäker mit den Mägden und dass er ihrer beider Gepäck nach schmutziger Wäsche durchwühlt, um sie den beiden Mädchen zum Waschen mitzugeben, doch darüber hinaus interessiert sie einfach gar nichts mehr, außer sich zum Schlafen zusammenzuringeln.

Als sie irgendwann am Morgen die Augen aufschlägt, ist es bereits hell in der Kammer und der Badezuber ist verschwunden - ebenso Colevar. Weit kann er nicht sein, wie Morian beruhigt feststellt, denn all seine Sachen sind noch da und das Bettzeug ist noch warm. Und tatsächlich findet sie ihn wenig später in der Wirtsstube, wo er gerade mit Grugwyn zusammen an einem Tisch sitzt, Neuigkeiten austauscht und einen Berg Eier mit Speck in sich hineinschaufelt. Nach einem ausgiebigen Frühstück brechen sie dann auf, um auf dem Markt und in diversen Geschäften noch all die Dinge einzukaufen, die sie vor ihrer Weiterreise besorgen müssen. Dass sie allerdings in aller Götterfrühe das arme Hühnchen aus dem Stall holen müssen, weil sie Colevars Aussage nach "das ganze Zeug unmöglich schleppen können", macht Morian dann doch etwas stutzig. Sie hat keine Ahnung, was er zu besorgen gedenkt, und außer ein wenig Proviant für unterwegs will ihr auch so gar nichts einfallen. Sie hat die letzten Monate immer von der Hand in den Mund leben müssen und praktisch nie Einkäufe gemacht oder anderweitig vorausgeplant, so dass sie schon völlig vergessen hat, dass man so etwas gelegentlich tut. Hühnchens Hufe sehen zwar aus wie neu, wie sie überrascht bemerkt, aber der Rest ist noch ganz der alte, so dass sie den verschlafenen Gaul praktisch wie einen lebenden Leichnam hinter sich herzerren müssen. Am frühen Nachmittag hat er dann tatsächlich ein Bepackungsstadium erreicht, das an ein vollbeladenes azurianisches Lastenkamel erinnert.

Nicht nur, dass sein alter knochiger Rücken jetzt von dicken Schaffellen bedeckt ist, die mit breiten Lederriemen festgeschnallt sind, nein, zu beiden Seiten trägt er nun auch noch riesige Weidenkörbe, von denen einer bis zum Rand mit Proviant und allerlei Kram, und der andere mit einer meckernden Ziege vollgestopft ist. Zora, die nur widerstrebend ihr Nachtquartier verlassen hat (Brackens Bauernhof mit einer ganzen Herde ihrer Artgenossen einschließlich eines prächtigen und sehr fortpflanzungswilligen Ziegenbocks), thront nun so hoheitsvoll in ihrem Schließkorb wie eine Königin in ihrer Sänfte und lässt sich von ihrem -eher wenig königlichen - Reittier durch die Gegend schaukeln. Der zweite Korb ist angefüllt mit frischer Wäsche, mit einem neuen Zunderkästchen, mit Seilen, Lederriemen, Wetzsteinen und Verbandslinnen, mit Salbentöpfchen, Lederflickzeug, festem Zwirn und einer Ahle, zudem mit Proviant wie frischem Brot, Käse, geräucherter Wurst, Dörrobst und getrocknetem Fleisch, einer Speckseite, einem Salzfässchen und verschiedenen Gewürztiegelchen, einem Säckchen verschrumpelter Winteräpfel, Rüben, Kartoffeln, Zwiebeln, Schmalz und Butter, und dazu einen großen Sack Hafer für die Pferde. "Hühnchen sieht aus, als würde er gleich zusammenbrechen", unkt Morian zwischen zwei Bissen Apfel, als sie sich gerade an der steinernen Einfassung eines Brunnens am Rande des Markplatzes niederlassen. "Aber der Ziegenkorb ist wirklich praktisch, jetzt kann dieses Vieh wenigstens nicht mehr alles in Grund und Boden fressen, was ihm in den Weg kommt." Genau in diesem Augenblick erkennt Morian jedoch den Pferdefuß an der ganzen Sache: "Hm. Vermutlich wird sie sich einfach durch den Korb durchnagen und dann in Grund und Boden fressen, was ihr in den Weg kommt." Nachdem sie den restlichen Apfelbutzen an Hühnchen verfüttert hat, wischt sie sich die klebrigen Hände an den Hosen ab. "Haben wir nun alles beisammen oder brauchen wir noch etwas?"  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 19. Juni 2011, 09:36 Uhr
"Wird sie nicht", Colevar schüttelt den Kopf und beendet damit Morrens Spekulationen über die relative Lebensdauer der neuen Ziegensänfte. "Die Körbe sind aus Bitterweide und dürften so scheußlich schmecken, dass sogar Zora sie in Ruhe lassen sollte. Sie flechten hier auch ihre Viehgatter daraus." Insgeheim hofft er, dass die kleine Bucca gestern Nacht nicht allzu vertrauliche Bekanntschaft mit dem stattlichen Ziegenbock auf Master Brackens Hof gemacht hat... das letzte, das sie brauchen können, sind noch weitere vorwitzige Mäuler mit einer Vorliebe für einfach alles in Reichweite, ganz gleich ob essbar oder nicht. Und wenn doch, dann kannst du es auch nicht ändern. Er wirft einen Blick hinauf zu der Ziege, die hochzufrieden in ihrem Korb thront und huldvoll das Marktgeschehen unter sich beobachtet. Ob Zoras Hochstimmung allerdings an der Gesellschaft der gestrigen Nacht oder ihrem luftigen Ansitz liegt, kann er beim besten Willen nicht sagen. Na wenigstens eine, die eine schöne Nacht hatte... Der trockene Gedanke lässt ihn ebenso trocken die Mundwinkel verziehen. Nachdem Bessa seine zahlreichen Blessuren versorgt hatte, war Morren bei ihm aufgetaucht und hatte ihn mit einem Schwall, einem Strom... ach was, einer ganzen Sintflut von Wörtern, Fragen und Erklärungen vollkommen erschlagen. Colevar hatte mehrmals versucht, etwas zu erwidern oder wenigstens ein einziges Mal selbst zu Wort zu kommen, doch dann hatte er es aufgegeben, denn es war absolut zwecklos. Er hätte dem Jungen schon mit Gewalt den Mund zu halten müssen, um auch nur ein einziges "Aye" von sich geben zu können. Und aus Morrens irgendwie zappeligem und ziemlich paradoxem Verhalten war er erst recht nicht schlau geworden. Erst hatte der Junge ihm eine Geldkatze mit klingelnden Münzen zugeworfen, dann postwendend wieder abgenommen, erst hatte er ihm gedankt, dann hatte er ihm fast Vorhaltungen gemacht, wo er so lange gewesen war und schließlich hatte er ihn auch noch ein Faultier genannt, nur weil er für ein paar Augenblicke zum Atemholen und lädiert, wie er war, auf einer Bank gesessen hatte. Und da war dieser Moment gewesen, ein so kurzer, kurzer Augenblick, dass Colevar nun, im Nachhinein, schon glaubt, es sich nur eingebildet zu haben. Aber gestern hatte er sich blitzartig gefragt: Was stimmt hier nicht? Was entgeht mir? Er war nicht darauf gekommen, aber das unsichere Gefühl, etwas essentiell Wichtiges einfach nicht mitbekommen zu haben, war geblieben. Morren hatte den Kragen seines Hemdes gelüftet und an sich herumgeschnuppert, so übertrieben als parodiere er ein angeekeltes Mädchen - und die Geste hatte so gar nicht zu ihm gehört. Es war, als säße für einen Herzschlag lang jemand völlig fremdes neben mir.

Als Colevar jetzt, im hellen Tageslicht, in das gegen die Sonne zusammengekniffene Gesicht des Jungen blickt, der ebenso gedankenverloren über den Markt von Isernthorn sieht, wie er das gerade eben noch selbst getan hat, ist Morren einfach nur Morren: zu klein geraten, schlaksig, wirrhaarig, rosig und sommersprossig, schon wieder dreckig und mädchenwimperngeschlagen wie immer. Sie haben ihre Einkäufe fast alle erledigt und sind eigentlich zum Aufbruch bereit, sitzen aber noch am Brunnen auf dem Marktplatz von Isernthorn und trödeln herum, so als könnten sie sich beide nicht so ganz losreißen – dieses Dorf ist das letzte vor einer langen Wegstrecke durch menschenleeres Bergland und die nächste Herberge ist mehrere Tagesritte entfernt. Der Junge neben ihm überlässt das Kernhaus seines Apfels dem frischgebackenen Packpferd, das sichtlich stolz und mit ungewohnt entspannter Haltung seine neue Pflicht erfüllt, und Colevar nickt zufrieden. Der Sattler hatte seine Arbeit gut gemacht und die dicken, weichen Lammfelle schonen und polstern den durch das Alter gesenkten Rücken Hühnchens, und verteilen das Gewicht der beiden Körbe gut, so dass sie den alten Gaul nicht behindern. Außerdem steht er sehr viel besser da mit seinen frisch ausgeschnittenen und gerade zugerichteten Hufen. "Sieht aus, als fühle er sich zehn Jahre jünger." Dann wäre er jetzt fünfundzwanzig und auch kein Jungspund mehr...
>Haben wir nun alles beisammen oder brauchen wir noch etwas?<
"Nein, wir haben alles. Ich war noch bei diesem Alchemisten, während du dir deine neuen Stiefel gekauft hast, und habe ein paar Heilkräuter und ein wenig Verbandslinnen besorgt." Morren hatte einen Flickschuster mit einem kleinen Handkarren am Rand des Marktplatzes aufgetrieben und er hatte tatsächlich ein Paar nicht besonders elegante, aber bequeme und vor allem passende Schuhe für den Jungen gehabt. Außerdem nennt Morren inzwischen auch weiche, dicke Schlafpelze aus Lammfellen sein eigen, sowie ein neues Hemd. Das schon ziemlich fadenscheinige Leinen des alten hatte den Bemühungen der Wäscherin, es wieder einigermaßen sauber zu bekommen, nämlich nicht mehr standgehalten. Um sie her herrscht buntes Markttreiben - Kindergeschrei, Hundegebell und der Klang zahlloser Stimmen, die lachen und feilschen. Es ist laut, es ist voll und es ist unüberschaubar. Colevar lässt seinen Blick noch einmal schweifen und steht dann seufzend auf. "Komm. Wir verschwenden Zeit und ich will noch ein paar Wegstunden hinter uns bringen, ehe wir unser Nachtlager aufschlagen."

Die nächsten zwei Wochen führt der Frostweg sie durch die südliche Bergwelt der Sieben Schwestern und ihre Reise verläuft weitgehend ruhig, von gelegentlichen Begegnungen mit mehr oder weniger gefährlichen Wildtieren einmal abgesehen, auch wenn sie dank des oft steilen Weges, des alten Pferdes und des Frühlings, der jetzt im Grünglanz auch in den Bergen endgültig Einzug gehalten hat, meistens nur in Schneckengeschwindigkeit vorankommen. Die Schneeschmelze und die anhaltenden Regenfälle der letzten Wochen hatte Hunderte von Wasserfällen genährt, die die Hänge der Berge hinabrinnen und -purzeln, übermütig zu Tal rauschen und mehr als einmal die Straße völlig überschwemmt haben. Als sie einen Tag nachdem sie Isernthorn verlassen haben, an die Furt der Avra kommen, ist vom Frostweg dank eines Erdrutsches und einer Gerölllawine nichts mehr zu sehen. Sie müssen einen weiten Bogen nach Norden die Bergflanke hinauf schlagen und über steile Wildwechsel klettern, was sie zwei Tage kostet, um den reißenden Strom zu überwinden, in den sich das sonst nur sprudelnde kleine Flüsschen verwandelt hatte. Das setzt Hühnchen mehr zu, als Colevar erwartet hat und sie gönnen den angelaufenen Sehnen des alten Wallachs lange Rasten und legen mehrere Tage selbst zu Fuß zurück, was sie noch langsamer macht. "Du brauchst ein Pferd, Morren", entscheidet Colevar irgendwann eines Abends, als er zum dritten Mal Hühnchens Beine untersucht und sie über Nacht mit kühlendem Lehm einschmiert. "Du kannst nicht die ganze Zeit zu Fuß gehen, aber dein Gewicht und das Gepäck sind zu viel für den alten Knaben." Morren protestiert ein bisschen angesichts der auf sie zukommenden Ausgaben, aber er muss irgendwann einsehen, dass Colevar Recht hat. Er hatte dem Jungen inzwischen schon ein Dutzendmal oder öfter angeboten, mit ihm auf Filidh zu reiten, doch das hatte Morren ein ums andere Mal vehement ausgeschlagen. Als Begründung hatte er eine fadenscheinige Ausrede nach der anderen vorgebracht, sich aber eisern mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, so dass Colevar es irgendwann schulterzuckend aufgegeben hatte. Der Junge hat ohnehin ein Problem mit körperlicher Nähe und ist stets darauf bedacht, einen gewissen Sicherheitsabstand zu wahren, etwas, das sich vor allem bei der Kletterei auf pfadlosen Berghängen als ziemlich schwierig erwiesen hatte. Außerdem ist er geradezu übertrieben schamhaft. Wann immer er Wasserlassen muss, verschwindet er im Wald, anstatt einfach gegen den nächsten Baum am Wegesrand zu pinkeln und er wäscht sich zwar täglich (jedenfalls stinkt er nicht sonderlich und wenn, dann nach Ziege), aber anscheinend nie, wenn Colevar wach oder in der Nähe ist. Wer weiß, was er erlebt hat, als er mondelang allein unterwegs war. Wer weiß, welcher Sorte Männern er begegnet ist. Dass Morren ihm offenbar auch nicht weiter über den Weg traut, als der Junge spucken kann, ist trotzdem ein Gedanke, der ihm überhaupt nicht schmecken will. Was seine Vergangenheit und den Grund für seine Reise nach Süden (wie weit auch immer) angeht, darüber schweigt Morren sich immer noch beharrlich aus. Er redet kaum über sich selbst, stellt aber zahllose Fragen nach dem Weg, der noch vor ihnen liegt, durch welche Länder und Städte sie kommen würden, nach den Herzlanden und vor allem nach Talyra.

Colevar antwortet ihm so gut er kann, obwohl er von der schier unerschöpflichen Wissbegier des Jungen bald Löcher im Bauch hat. "Warst du schon einmal in Fa'Sheel?" hatte er erwidert, als Morren sich das erste Mal genauer nach Talyra erkundigt hatte und der Junge hatte genickt. "Talyra ist genauso groß, aber viel älter und ein Freier Stadtstaat. Wir haben keinen Fürsten, sondern einen gewählten Rat, der die Stadt regiert. Das Umland gehört alten Adelssippen. Cobrin der Priester hat Talyra gegründet, an jenem Ort, wo er Asgrim und seine Barbaren besiegt hatte. Während der Herrschaft des Imperiums von Ûr war die Stadt Hauptstadt der imperialen Provinz Ildala... und als das Imperium fiel, rief Talyra sich zur Freien Stadt aus und ist es seither auch geblieben. Es ist außerdem eine Hafenstadt, obwohl sie nicht an einem Meer liegt, sondern an einem See. Aber der Ildorel ist groß wie ein Meer und wird auch von hochseetüchtigen Schiffen befahren." Er erzählt dem Jungen ein wenig von der Steinfaust und der Stadtgarde, den Blaumänteln, von Olyvar von Tarascon, seinem Lord Commander und Freund, von Achim, dem Oger ('Euer Lord Commander hat einen Oger in Dienst genommen Sire? Mit Absicht? Ich meine freiwillig?'), von Vareyar, Rhordri, Cedric und all den anderen, von der seltsamen Eigenart Talyras, alle möglichen Wesen anzuziehen wie ein Magnet, vom tagwandelnden Vampir bis hin zum schweigsamen Zentauren; er spricht von Borgil und der Harfe, von Niniane, der Protektorin des Larisgrüns, von Euron Krähenauge und den Tausendwinkelgassen, den uralten, prächtigen Tempeln, den vielen Elben in Talyra, den Sommerfesten, den Shenrahrennen und vom Platz der Händler, von der gefährlichen Unterstadt, der gewaltigen Festung und vom Haus der Bücher. Was Talyra angeht, scheint Morren hauptsächlich die Unterstadt zu interessieren, aber das ist für einen (vermutlich erst) vierzehnjährigen Bengel wohl auch normal – zwielichtiges Gesindel, verruchte Hurenhäuser, ein Hehlermarkt und Schattentänzer sind ganz sicher spannender, als alte Häuser, in denen Tausende verstaubter Bücher aufbewahrt werden.

Vor allem aber erzählt Colevar vom Larisgrün und vom Sarthetal, von seiner Heimat - fast wehmütig, ohne dass es ihm wirklich bewusst ist. "Es muss wunderschön dort sein", bemerkt Morren schließlich mit merkwürdig weicher Stimme, als er irgendwann endet und Colevar kann nur nicken. "Aye. Das ist es wirklich." Der Junge fragt ihn außerdem beinahe täglich nach seinen Reisen durch die Rhaínlande und durch Immerfrost aus, und Colevar erzählt ihm das ein oder andere von seinen Erlebnissen auf dem langen Weg nach Norden und wieder zurück... und wieder nach Norden, dann nach Westen und wieder zurück. Er erzählt nur oberflächlich von seinen Beweggründen, denn es ist nicht an ihm, Olyvars und Dianthas Geheimnisse auszuplaudern, und er redet kaum über Lía und Calait, auch wenn es weit weniger weh tut, von der Frau zu sprechen, die er für seine gehalten hatte, als er zuerst befürchtet. Manchmal fragt er sich, wo sie jetzt wohl ist, ob Calait sie begleitet hat und ob der alte Luchs noch lebt... aber er denkt mehr an Louan, als an Lía, und ihr Name schneidet auch nicht mehr wie ein Messer in sein Herz. Er erzählt Morren von der ungeheuren Wildnis des Nordens, die etwas in ihm angerührt hat, von dem er gar nicht wusste, dass er es in sich trägt – als habe ihm dort jeder Stein, jede Wurzel, das Wasser und die dunkle, alte Erde etwas zugeflüstert und ihn willkommen geheißen. ('Ihr habt einen Lindwurm gesehen, Sire? Wirklich?' 'Ich habe ihn nicht nur gesehen, ich bin darauf getreten. Es war noch ein junger und sehr kleiner Lindwurm, aye? Oder vielmehr, ich bin darauf getreten und dann habe ich ihn gesehen. Hätte ich ihn zuerst bemerkt, wäre ich schnurstracks in die andere Richtung gelaufen, das kannst du mir glauben'). Als sie am Ende dieses Tages ihr Lager abseits der Straße in einem kleinen Hain aus Silberbuchen aufschlagen, als die Pferde versorgt sind, die Bucca friedlich wiederkäut, das Feuer für die Nacht abgedeckt ist und sie beide in ihren Schlafpelzen liegen und in einen von tausenden und abertausenden Sternen übersäten Himmel blicken, der so dunkel ist wie Mitternachtssamt, bemerkt Morren leise, er müsse das Leben, das zu Hause auf ihn wartet, wohl äußerst langweilig finden, nach all den Abenteuern auf  seinen Reisen. "Ab und zu ein bisschen Langeweile würde mir gar nichts ausmachen", erwidert Colevar so voller Sehnsucht, dass er Morren damit zum Lachen bringt. Aber der Junge nickt auch verstehend - vielleicht geht es ihm ja genauso.

Ihr Plan (oder eher sein Plan), im Verlauf der Reise für Morren so rasch wie möglich ein Reitpferd zu besorgen, erweist sich dann jedoch als schwieriger in die Tat umzusetzen, als zunächst gedacht. Sie kommen zwar - etwa zehn Tage, nachdem sie Isernthorn verlassen haben -, an der Schattenfeste vorüber, doch in der Festung der Flamardgarde am Frostweg herrscht einiges Durcheinander und waffenstrotzende Aufregung. Wie sie von einem aufgebrachten Tuchhändler erfahren, hatte es ganz in der Nähe eine Reihe von Überfällen des berüchtigten Schindermathijs gegeben, eines weithin bekannten Räubers - und die Soldaten schäumen vor Wut, allen voran ihr Kommandant, Sire Deaveorn van Helmbreker, der es als persönliche Beleidigung versteht, direkt vor seiner Nase von ein paar Gesetzlosen genarrt zu werden. Natürlich hat man deswegen weder in der Feste, noch im dazugehörigen Dorf zu Füßen der hohen Steinmauern, Aufmerksamkeit für einen reisenden Ritter und seinen Knappen übrig, und erst recht hat man kein Pferd zu verkaufen, noch nicht einmal ein stämmiges Pony. Das einzige, was sie in Schattenfeste erhalten, sind ein leidlich sauberes Quartier für die Nacht, ein paar magere Vorräte und ein Haufen guter Ratschläge, nur ja nicht allein weiter zu reisen, sondern den Schutz einer gut gesicherten Handelskarawane abzuwarten. Da auch alle verfügbaren Meldereiter der Festung mit Aufträgen ihres Kommandanten unterwegs sind, können sie sich jedoch wenigstens ein paar Münzen verdienen, indem sie einige Nachrichten für die Garnison der Flamardgarde in Venray mitnehmen. Der Wirt des einzigen Gasthofs im Dorf übergibt sie Colevar, ein halbes Dutzend versiegelte Schriftrollen in ledernen Hüllen. Er habe die Order, sie einem vertrauenswürdigen Mann mitzugeben, der auf dem Weg nach Süden durch Venray komme, und was ihn betreffe, sei Colevar zwar fremd und ein Ausländer, aber schließlich ein Ritter und vertrauenswürdig genug. Die Bezahlung ist gut und Venray liegt ohnehin auf ihrem Weg, also nimmt er an und erkundigt sich bei der Gelegenheit auch gleich noch nach anderen, ähnlichen Aufträgen. Er hat zwar noch ein wenig Silber bei sich, aber er ist nicht mehr allein unterwegs. Das Geld, das er noch besitzt, wird er für Morrens Pferd brauchen und so ist ihre Reisekasse bedenklich geschrumpft. Der Wirt hat einen ganzen Stapel verblichener und frischer Pergamentfetzen und Wachstafeln in einem kleinen Korb, den er hervorzieht und vor Colevar auf den Tresen stellt, damit er ihn selbst durchsuchen kann.

Er findet tatsächlich noch zwei weitere Angelegenheiten, die ihnen ein wenig Geld einbringen können: ein Schmuggler war so dumm gewesen, das Erbstück einer Witwe aus Venray in Schattenfeste an einen Soldaten der Garde verkaufen zu wollen. Der Anhänger an einer langen Kette ist zwar an sich nicht von großem Materialwert, für die Dame, eine wohlhabende Kauffrau, besitzt er aber anscheinend einige Bedeutung, da sie demjenigen, der ihn ihr wieder beschafft, eine hübsche Belohnung in Aussicht stellt. Außerdem ist noch ein wundervoller Langbogen aus Eibenholz, verziert mit Schnitzereien bei Master Vindisfare in Venray zu übergeben. Die übrigen "Aufträge" sind eher etwas für Kopfgeldjäger oder Söldner - und Colevar hat weder Zeit noch Lust, hinter irgendwelchen Vogelfreien, Schuldnern oder Wilderern herzujagen. Außerdem sind die meisten Fälle so alt, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Gesuchten noch gefunden werden oder aber sie betreffen überhaupt nicht Gelderlân, sondern ganz andere Gegenden der Rhaínlande. In der Stadt Drakensward wird ein Aufrührer gesucht, der hetzerische Schriften und Pamphlete verteilt haben soll, im Breeland ist man hinter einem Munduskind oder Werwolf oder tollwütigem Bären her (oder hinter allen dreien, die wenigen Zeugen sind sich alles andere als sicher), nach Skjone Swarthéart und seinen Blodhejdern wird immer noch und überall entlang des Rhaín gesucht, und in Noorlân fahndet man nach einer gewissen Morian de Navarre, einer jungen Frau von zweiundzwanzig Sommern, fünfeinhalb Fuß und zwei Zoll Größe, mit dunklem Haar und graugrünen Augen, der flüchtigen Tochter eines Hochverräters – nichts davon für ihn interessant oder in irgendeiner Weise einträglich. Sie warten trotz aller Warnungen nicht auf den Schutz einer größeren Reisegruppe, sondern bleiben nur eine Nacht in Schattenfeste und reiten dann weiter, vorsichtig und misstrauisch wie ein Paar Landstreicher. Colevar behält das Kettenhemd Tag und Nacht an und hält auch Schwert und Axt in Reichweite, nachts lagern sie in sicherer Entfernung von der Straße und sie schüren kein helles Feuer mehr, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Dennoch sehen sie keine Spur von Räubern und sie begegnen nur gelegentlich anderen Reisenden – hin und wieder einem Meldereiter, drei Hausierern, zwei armen Heckenrittern auf klapperdürren Pferden, die ihre Dienste dem Kommandanten von Schattenfeste anbieten wollen und einer lustigen Bardengruppe, die vollkommen unberührt von jeder Räuberwarnung in Richtung Avelin in den östlichen Ausläufern der Sieben Schwestern unterwegs ist.

Am nächsten Morgen kommen sie aus den Bergen in flacheres Land herunter und traben durch den grauen, kühlen Frühnebel. Wildenten steigen aus dem Schilf und kreisen quakend über den Moorwiesen. Hoch über ihnen fliegen Wildgänse in Keilformation über den Himmel und ihr Rufen klingt nach Sehnsucht und Einsamkeit. Es dauert bis Mittag, ehe die Sonne den Nebel lichtet, doch dann wird es überraschend warm und frühlingshaft. Es ist nicht mehr allzu weit bis Venray. Die Stadt selbst liegt zwar nicht direkt am Frostweg, aber ein großer Handelsposten mit einem kleinen Wachtturm der Flamardgarde, mit Gasthöfen, Schmieden, Ställen, Weinschenken und Hurenhäusern tut es... und wenn sie Glück haben, können sie bei Einbruch der Nacht dort sein. Nach beinahe zwei Siebentagen, in denen sie nur einmal ein festes Dach über dem Kopf gehabt und ansonsten abseits der Straße unter freiem Himmel kampiert hatten, ist ihnen beiden der Gedanke an ein Wirtshaus mit Essen und Betten mehr als willkommen. Schon drei Tausendschritt vor ihrem Ziel malen sie sich gegenseitig die absolute Seligkeit von heißen Bädern, kaltem Rotbier, kräftigem Eintopf und weichen Matratzen aus – es müssen noch nicht einmal Federbetten sein, darin sind sie sich einig; alles, was mehr als drei Sekhel Polsterung zwischen ihren Knochen und dem Boden bedeutet, wäre schon himmlisch. Und Colevar bemerkt so beiläufig wie belustigt, dass er in den vergangenen zwei Wochen mehr Worte gesprochen hat, als im ganzen letzten Jahr. Sie erreichen den Handelsposten  am Frostweg vor Venray gerade, als die ersten Sterne am Himmel zum Vorschein kommen. Nicht so strahlend wie die Sterne in jener Nacht, als Colevar  den Jungen mit seiner Sehnsucht nach einem langweiligen Leben so zum Lachen gebracht hatte, aber hell genug und die Nacht senkt sich wie schwarzer Samt herab. Es empfängt sie allerdings ein ziemlich unerwartetes Willkommen, denn der Handelsposten, schlicht 'Venrays Rast' genannt, platzt nicht nur aus allen Nähten vor lauter Menschen und anderen Wesen, sondern ist förmlich illuminiert und glüht aus der Ferne wie eine einziger, leuchtend gelber Lampion. Der Grüne Tanz, das Frühjahrsfest von Venray, ist in vollem Gange und Musik, Stimmengewirr, Gelächter und mindestens vier verschiedene Gesänge unterschiedlichster Art sind schon von weitem zu hören.

Als Colevar, verblüfft von dieser unerwarteten Entwicklung, sein Pferd zügelt und seinen Blick über das Pünktchenmuster aus Lagerfeuern rund um den Handelsposten und den Frostweg wandern lässt, hätte er schwören können, dass sich jeder Rhaínländer zwischen Brugia und Elleswhere hier eingefunden hat – und doch treffen in der Dämmerung  aus allen Himmelsrichtungen noch mehr Besucher und Reisende wie sie selbst ein und der Strom reißt nicht ab. "Reiten wir hinunter und sehen zu, ob wir in diesem wimmelnden Ameisenhaufen noch irgendwo ein Nachtquartier ergattern..."
Sie ergattern nicht, aber immerhin werden sie bei einem Soldaten der Flamardgarde, der einsam und wehmütig an dem kleinen Zollturm am Frostweg die Stellung hält, die Botschaften aus Schattenfeste los und erhalten ihren Lohn dafür. Außerdem treffen sie alte Bekannte - oder vielmehr Colevar trifft, und zwar eine Sippe Rynebéarn vom Clan der Krötenstecher, die er im vergangenen Herbst auf seiner Reise nach Westen flüchtig kennengelernt hatte. Aber sie erinnern sich an ihn und so werden Morren und er in ihr Lager eingeladen und gastfreundlich aufgenommen. Eine halbe Stunde später finden sie sich am Rand des Jahrmarkts von 'Venrays Rast' mitten im Grünen Tanz wieder, am großen Lagerfeuer einer Familie von Flussleuten, die sehr bunt, sehr laut und sehr lustig sind, weil sie mit Wahrsagerei, dem Handel, ein wenig Bardensang und Spielmannskunst (und vermutlich auch mit Taschendieberei) klingelnde Münzen verdient hatten, und Ale, Bier und Wein schon den ganzen Abend in Strömen fließen. Man gibt ihnen ein schreiend buntes Zelt mit weichen Teppichen und Pelzen für die Nacht, und bringt ihnen duftende, aber ziemlich scharfe Krebssuppe, gebackenen Fisch, frisches Brot und kaltes Bier - sie müssen nur mit Geselligkeit bezahlen. Die junge Frau, die ihnen das  Essen gebracht hat, lenkt Colevars Blick einen Moment lang ab. Sie sitzt außerhalb des Feuerscheins im Schatten und beobachtet ihn. Irgendwann legt sie den Kopf zur  Seite und hebt eine ihrer eleganten Augenbrauen. Dann erhebt sie sich, als würde sie von ihrer eigenen, stummen Frage in die Höhe gezogen. Colevar stellt seine hölzerne Essschüssel ab, ohne die vielsagenden Blicke der Männer ringsum zu beachten, dann schüttelt er ganz sacht den Kopf. Die Rynebéarn ist groß - er könnte sie küssen, ohne sich bücken zu müssen, und sie wäre handfest und willig in seinen Armen. Es könnte angenehm sein. Es könnte gut sein. Namenlos, rasch, vielleicht sogar schön. Vielleicht brächte es ihm Vergessen, wenigstens für einen kurzen Moment. Aber die Frau ist weder Wasser, für sein Brennen, noch ist ihm danach, sie zu entflammen. Abgesehen davon sitzt Morren neben ihm und er würde den Dunklen tun und ihn unter lauter Fremden allein lassen. "Morgen ist Viehmarkt", hört er sich stattdessen sagen und reicht dem Jungen einen Becher Bier. "Das hat mir Fæder - der Mann mit dem zitronengelben Hut, der uns ins Lager eingeladen hat, aye? - erzählt. Da sollten wir ein Pferd für dich finden."


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 20. Juni 2011, 13:49 Uhr
Mit vor Staunen aufgerissenen Augen, aber dafür stumm wie ein Fisch stapft Morian hinter Colevar her, der sich mit Filidh am Zügel mitten durch das dichte Jahrmarktsgetümmel drängt. Die Lippen hat sie so fest aufeinandergepresst, dass sie zu einem schmalen Strich geworden sind, aus lauter Angst, dass ihr verräterische und für einen jungen Burschen ziemlich peinliche Ausrufe entfleuchen könnten wie etwa "Oh, seht nur, diese schönen Kleider!" oder "Was für wunderhübscher Schmuck!". Gerade passieren sie eine buntschillernd gekleidete Schaustellertruppe, die lachend und johlend einer improvisierten Bühne aus Bierfässern und darübergelegten Holzbohlen zustrebt, und Morian renkt sich schier den Hals aus, um wenigstens einen kurzen Blick auf die Spielleute zu erhaschen. Zora in ihrer weidengeflochtenen Pferderückensänfte scheint es ähnlich zu gehen, denn sie hört gar nicht mehr auf zu meckern, und dreht ihren Kopf scheinbar in alle Richtungen gleichzeitig und dabei so schnell, dass Morian schon spekuliert, ob die Geiß statt Halswirbeln vielleicht eine Art Schraubgewinde unter dem Fell trägt. Allerdings richtet Zora ihr Augenmerk weniger auf Stoff und Flitter, sondern eher auf fressbare Dinge, und davon gibt es hier gleich haufenweise, so dass Morian alle Hände voll damit zu tun hat, sie davon abzuhalten, kopfüber aus dem Flechtkorb zu klettern. Das schafft die Ziege zwar nicht ganz, aber in ihrer heillosen Aufregung schnappt sie mit ihren überaus beweglichen Lippen und ihren kleinen scharfen Zähnen nach allem, was sich in Beißhöhe an ihr vorbeibewegt. Sie mümmelt einem Passanten die wippende Feder vom Hut und gleich darauf erwischt sie ein verführerisch vorbeischwirrendes Seidenband, dessen Ende ihr förmlich ins aufgesperrte Maul flattert. Besagtes Band allerdings gehört zu einer vorbeihuschenden Moriskentänzerin und ist mit dem anderen Ende, das sich nicht gerade zwischen Zoras gierigen Beißwerkzeugen befindet, an deren Kostüm befestigt. Das ist es nach dem beherzten Zubeißen der Geiß auch immer noch, jedoch ist offenbar das Kostüm, das größtenteils aus losen Tüchern und Bändern besteht, nicht sehr fest an seiner Trägerin befestigt gewesen, so dass das verdutzte Mädel zum Vergnügen der Umstehenden auf einmal in kaum mehr als ihrer Unterwäsche dasteht.

Grollend reißt Morian das Band aus dem Ziegenmaul und der Blick, den sie Zora dabei zuwirft, sagt eindeutig: "Maulkorb!" und "Wir sprechen uns noch!". Dann eilt sie zu der Tänzerin, um ihr händeringend und unter wortreichen Entschuldigungen ihr verlorenes (und nur minimal angekautes) Kostüm zurückzugeben. Wenigstens ist der Trubel auf dem Jahrmarktsplatz so groß, dass Zoras Gefräßigkeit kaum Aufmerksamkeit erregt und Morian mitsamt Pferd und Geiß wieder zu Colevar aufschließen kann, ohne dass sie gleich eine Lynchjustiz fordernde Meute an den Fersen hat, die sie an den Pranger stellen will. Wenn sie Glück hat, ist es ihm nicht einmal aufgefallen, denn er ist vollauf damit beschäftigt, sich so ungerührt wie ein Eisbrecher durch die ausgelassene Menge zu pflügen und ihrer kleinen Kavalkade einen Weg zu bahnen. Morian folgt ihm eilig, wobei sie versucht, alles um sich herum mit sämtlichen Sinnen aufzunehmen, ohne dabei die Ziege aus den Augen zu lassen. Und sie muss ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten (von der sie ohnehin nicht viel hat) und sich mit aller Gewalt zusammenreißen (was ihr wirklich nur mit Müh und Not gelingt), um nicht vor jedem jonglierenden Gaukler, vor jedem Spielmann oder vor jedem einzelnen Marktstand mit glitzerndem Kram stehenzubleiben und mit offenstehendem Mund alles anzugaffen wie eine schwachsinnige Idiotin. Aber genau so fühlt sie sich im Moment - und nach der wochenlangen Einsamkeit in den Gelderlâner Bergen ist sie von all dem bunten, lauten Trubel wie erschlagen. Angestrengt ringt sie mit sich und muss sich zurückhalten, um nicht einfach vor Begeisterung überzusprudeln. Das fehlt gerade noch, dass sie ausgerechnet jetzt wild zu plappern anfängt, so wie es zu ihrem Leidwesen immer dann passiert, wenn sie aufgeregt oder wütend oder einfach nur von irgendetwas überrascht und entzückt ist. Plappern wie ein Mädchen, wie sie nur zu gut weiß. Verdammtes loses Mundwerk, schimpft sie sich und tut einen tiefen Stoßseufzer. Irgendwann wird es dich bestimmt verraten.

Dabei gibt es hier so viel zu sehen, was einen eingehenden Blick und einen begeisterten Ausruf wert wäre. Rings um den Platz flackern lustig die Lagerfeuer und die Leute feiern und tanzen, trinken und lachen, während zwischen ihnen die Gaukler ihre Kunststücke vorführen. Sie sehen einen Feuerspucker, der gewaltig lodernde Flammen in den abendlichen Himmel faucht, sie sehen Tänzerinnen mit Schellenarmbändern und bunten Röcken, einen Jongleur, der brennende Fackeln durch die Luft sausen lässt, sie sehen Seiltänzer und buntgewandetes Flussvolk, plärrende Kinder und grellgeschminkte Huren, Stelzenläufer, Bauchladenkrämer und Händler, die billigen Schmuck, Stoffe, Lederwaren und allerhand nützlichen und noch viel mehr unnützen Tand feilbieten. Morian fühlt sich schlagartig zehn, zwölf Jahre in der Zeit zurückversetzt, erinnert sich an einen großen Jahrmarkt in Drakensward, den sie zusammen mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder besucht hatte, beide fest und sicher an der Hand ihres Vaters, mit großen Augen und staunend aufgerissenen Mündern. Sie erinnert sich an den Lärm, an die Stimmen, an die Farben, die Menschen, die vielen aufregenden Gerüche, und die Erinnerung ist so überwältigend stark, die Sehnsucht nach ihrer Familie auf einmal so übermächtig, dass sie von alledem überrollt wird wie von einer gewaltigen Welle und ihr beinahe die Tränen in die Augen schießen. Heftig blinzelnd stapft sie hinter Colevar her und ist heilfroh, dass er sie in diesem Moment nicht sehen kann. Gerade hat er wieder irgendwelche bekannten Gesichter erspäht und hebt die Hand zum Gruß, der fröhlich erwidert wird. Vor zwei Siebentagen hätte Morian sich vielleicht noch darüber gewundert, dass sie hier in einem unwichtigen Städtchen nahe des Frostwegs tatsächlich jemanden treffen, den Colevar kennt, aber mittlerweile entlockt ihr das kaum mehr ein Staunen, denn er scheint mit der Bewohnerschaft der halben Rhaínlande bekannt zu sein. Beinahe in jedem Dorf, in jeder Feste, durch die sie während ihrer Reise gekommen sind, hatte er alte Bekannte wiedergetroffen, Soldaten, Herbergswirte, Händler und noch allerlei Volk mehr.

Doch über das bunt zusammengewürfelte Grüpplein, auf das er in diesem Augenblick zustrebt, muss Morian nun doch staunen, denn es sind tatsächlich Rynebéarn, die Flussnomaden des Westens. Vieles hat sie von ihnen schon gehört und es kursieren die abenteuerlichsten Geschichten über dieses fahrende Volk, aber noch nie hat sie es zu Gesicht bekommen. Colevar kennt offenbar die ganze Meute und sie werden mit überschäumender Freundlichkeit und viel Hallo empfangen. Man nimmt ihnen hilfsbereit die Tiere ab, überlässt ihnen ein Zelt, einen wahren Palast aus farbenfrohen Stoffbahnen, Fellen und buntgewebten Teppichen, verfrachtet sie dann ans Feuer und versorgt sie mit Speis und Trank, ohne auch nur den Hauch eines Widerspruchs zu dulden. Abgesehen davon würde Morian auch gar nicht widersprechen wollen, denn etwas Besseres als ein prasselndes Feuer, einen Haufen leckeres Essen und eine Menge fröhlicher Gesichter um sich herum kann sie sich im Moment kaum vorstellen. Sie sitzen auf weichen bunten Kissen rund um die Feuerstelle, plaudern und lachen und tauschen den neuesten Klatsch aus, und sie lauscht fasziniert den munteren Stimmen, die von einer Welt erzählen, die sie bislang nur vom Hörensagen kennt. Als sie gerade hingebungsvoll in ihrer dritten Schale Krebssuppe herumlöffelt, bemerkt Morian aus den Augenwinkeln eine junge Rynebéarnfrau, die ein wenig abseits in den Schatten sitzt und über das Feuer hinweg auffällig oft in ihre Richtung zu blicken scheint. Sie kann zunächst im flackernden Schein der Flammen nicht so recht erkennen, worauf genau sich die Aufmerksamkeit des Mädchens richtet, und glaubt schon, sich getäuscht zu haben, aber dann wird sie gewahr, dass es nicht sie selbst ist, die von der Rynebéarn so eingehend in Augenschein genommen wird, sondern Colevar, der neben ihr sitzt.

Als ihr das klar wird, vergisst sie mit einem Mal ihren Hunger, und der suppengefüllte Löffel bleibt auf halbem Wege zu ihrem Mund reglos in der Luft hängen. Hmmpf. Was hat dieses Weib denn so zu glotzen? Morians Augen werden schmal, während sie die junge Frau argwöhnisch mustert. Zweifellos ist sie sehr hübsch, rothaarig, hochgewachsen und mit verführerischen Rundungen genau an den richtigen Stellen - Rundungen, von denen sie selbst mit ihrem abgemagerten Knochengestell im Moment höchstens träumen kann. Ja, genau das wolltest du doch, oder nicht? Aussehen wie ein Junge? Warum ärgert es dich denn dann, dass du mit solchen Kurven nicht mithalten kannst? Insgeheim kennt sie die Antwort, auch wenn sie sie nicht wahrhaben will: weil nämlich auch Colevar diese Rundungen zur Kenntnis genommen hat, und dies auch noch überaus wohlwollend, wie sie seiner Miene entnehmen kann. Die beiden scheinen sogar irgendwie und auf geheimnisvolle Weise miteinander zu kommunizieren, denn der Blick der rothaarigen Schönen wirkt auf einmal wie ein Versprechen, und Colevars Augen kleben wie angeleimt an ihr. Morians bis dahin recht heitere Stimmung sackt sofort auf Halbmast. Als sie den Suppenlöffel sinken lässt und ihm einen überaus grimmigen Blick zuwirft, bemerkt er dies noch nicht einmal, sondern ignoriert sie so gründlich, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden. Und die Rynebéarnfrau hat ohnehin nur Blicke für ihn und scheint Morians Anwesenheit noch nicht einmal registriert zu haben. Ein gemeiner Stich völlig aberwitziger Eifersucht bohrt sich in Morians Herz, und am liebsten würde sie aufspringen und diesem rothaarigen Luder an die Gurgel gehen. Hallo? Ich bin auch noch da!, möchte sie schreien. Und außerdem ist das MEIN Ritter, verstanden?

Herrje, komm bloß mal wieder auf den Teppich, muss sie sich dann selber zur Ordnung rufen, obwohl ihr das wahrhaftig schwer fällt. Was erwartest du denn? Sie ist ein hübsches Mädchen und er ein Kerl, der schon ziemlich lange allein unterwegs ist. Er weiß ja noch nicht mal, was unter deiner Verkleidung steckt - und wenn er es wüsste, würde es ihn vermutlich nicht kümmern, jedenfalls nicht SO. Es würde überhaupt niemanden kümmern, schau dich doch an .... abgerissen, mager und verdreckt wie du bist, dazu Haare wie ein Flederwisch. Kein Mann mit Verstand würde dich auch nur anschauen, und das ist auch besser so, denn du willst ja unerkannt bleiben. Und außerdem ist er nicht DEIN Ritter, was kümmert es dich also, was er tut? Es kann dir völlig egal sein, mit wem er die Nächte verbringt und was er sonst so treibt. Aber seltsamerweise kümmert es sie doch, und das ist etwas, was sie nun absolut gar nicht versteht. Seit fast drei Siebentagen ist sie nun mit Colevar unterwegs und im Lauf der Zeit haben sie sich sogar halbwegs angefreundet und ihr anfängliches Misstrauen ein wenig abgelegt, auch wenn sie bei ihren Plaudereien um allzu private Themen noch immer einen riesigen Bogen machen. Er ist immer noch verschlossen, manchmal mürrisch, oft melancholisch, fast traurig, aber dennoch beginnt sie allmählich seine Maske zu durchschauen und hat dabei festgestellt, dass er im Grunde seines Herzens freundlich ist, geduldig und fürsorglich, und dass er auch fröhlich sein kann, wenn auch nicht sehr oft. Vor allem hat sie festgestellt, dass sie ihn ganz gern mag, auch wenn sie tunlichst versucht, das nicht zu zeigen. Bislang hat sie Colevar allerdings eher als ihren Beschützer gesehen, als ihren Reisebegleiter, ihren neuen Dienstherrn, ihren Retter aus der Not, und ein bisschen vielleicht wie einen älteren Bruder. Auf die Art, wie das Rynebéarnmädchen ihn gerade betrachtet, hat sie ihn jedoch nie gesehen. Bis jetzt wenigstens. Und das soll auch so bleiben!

Aus den Betrachtungen der Rynebéarn wird gerade in diesem Moment jedoch eine handfeste Aufforderung, denn sie erhebt sich mit einer fließenden, verheißungsvollen Bewegung, den schmelzenden Blick unmissverständlich auf den Ritter an Morians Seite gerichtet. Der jedoch schüttelt kaum merklich den Kopf, und das verblüfft Morian eigentlich noch mehr, als wenn er aufgestanden und der Rothaarigen gefolgt wäre. Als sie ein wenig beleidigt abzieht - mit einem Hüftschwung, der zu sagen scheint: Du weißt ja nicht, was dir entgeht! - wendet Colevar sich wieder seinem eigentlichen Begleiter zu und drückt Morian einen Becher Bier in die Hand. >Morgen ist Viehmarkt<, teilt er ihr zu ihrer völligen Verwunderung dann so ungerührt mir, als hätte er nicht eben das höchst verlockende Angebot einer schönen Frau ausgeschlagen, sondern sich den ganzen Abend lang gedanklich mit Pferden und Kühen beschäftigt. >Das hat mir Fæder - der Mann mit dem zitronengelben Hut, der uns ins Lager eingeladen hat, aye? - erzählt. Da sollten wir ein Pferd für dich finden.< "Ein Pferd, ja", antwortet sie einigermaßen verdattert und stürzt einen halben Becher Bier auf einmal in sich hinein, um ihre Überraschung zu verbergen. "Ja, ein Pferd ist gut. Aber kein Teueres, Ihr wisst ja, dass ich kaum Geld habe und dass unsere Reisekasse schon ziemlich leer ist. Vielleicht kriegen wir eins, das sonst zum Abdecker müsste", fügt sie noch hinzu und ignoriert geflissentlich Colevars Schnauben und seinen Blick, der ihr deutlich zu verstehen gibt, dass sie kein zweites Hühnchen kaufen werden, sondern ein anständiges Reittier, mit dem sie auch vorwärts kommen. Irgendetwas in Morian sträubt sich dagegen, sich von ihm ein Pferd bezahlen zu lassen, auch wenn sie in seinen Diensten steht und er für sie sorgen wird, wie er ihr schon des öfteren erklärt hat. Andererseits würden mit einem solchen Kauf sicher seine fortwährenden Angebote aufhören, sie solle endlich zu ihm aufs Pferd steigen, damit sie schneller voran kämen.

Dutzende Male hatte Colevar sie während der letzten Tage dazu aufgefordert, vor allem dann, wenn er mit dem kräftigen, trittsicheren Filidh über steile und völlig verschlammte Bergpfade problemlos vorausgeritten war und sie erschöpft und mit dem fußlahmen Hühnchen am Zügel nur noch hinterherkriechen konnte. Aber zu ihm aufs Pferd zu steigen und vor oder hinter ihm im Sattel zu sitzen, ist wirklich das letzte, was Morian will, denn es würde bedeuten, dass sie sich wohl ziemlich nahe kommen würde - so nahe, wie man sich mit Kleidern am Leib überhaupt nur kommen kann. Es war während ihres Weges ohnehin schon schwierig genug gewesen, ihre Verkleidung aufrecht zu halten, ohne Verdacht zu erregen. Und am Schlimmsten war der Moment gewesen, als sie neben ihm in dem Wirtshaus am Fuß der Schattenfeste gestanden und ihm über die Schulter geblickt hatte, während er den Korb mit den Aufträgen durchgesehen hatte, die sie vom Wirt bekommen hatten. Colevar hatte sich durch die ganzen Pergamentfetzen und Wachstäfelchen gekämpft, halblaut vor sich hin gemurmelt, und dann war auf einmal ihr Name gefallen. Ihr richtiger Name. >Morian de Navarre<, hatte er vorgelesen, junge Frau von zweiundzwanzig Sommern, fünfeinhalb Fuß und zwei Zoll Größe, dunkles Haar, graugrüne Augen, flüchtige Tochter eines Hochverräters. Alle Farbe war mit einem Mal aus ihrem Gesicht gewichen und ihr war vor Schreck eiskalt geworden. Jetzt weiß er es, hatte sie gedacht. Götter, steht mir bei. Diese Beschreibung, das ist so deutlich, dass es ihm doch förmlich ins Gesicht springen muss. Aber er hatte den Zettel ohne erkennbare Regung beiseite gelegt und sich mit dem nächsten befasst, während sie ihr Glück kaum hatte fassen können.

An diesen Augenblick denkt sie gerade zurück, als Colevar vom morgigen Pferdemarkt spricht, und so sehr sie sich auch anstrengt, die Fassung zu wahren, so überkommt sie doch eine Welle der Niedergeschlagenheit und der Verzweiflung, hier inmitten dieser fröhlichen Schar ausgelassen feiernder Flusskinder. Alles schlägt mit einem Mal über ihr zusammen, ihre ganze verdammte, ausweglose Situation, die anstrengende Reise, das Verkleiden, das Verstecken, das Schwindeln und das Lügen und die vielen, vielen haarsträubenden Ausreden, die sie sich Tag für Tag einfallen lassen muss. Das ist nicht ihr Leben - es ist ein fremdes Leben, das sie sich aus Not übergestülpt hat, um ihr eigenes zu retten. Sie weiß, dass es sein muss, aber sie hat es so schrecklich satt. Ihr Blick schweift wehmütig über den festlichen Platz, über die vergnügten Gesichter, die lachenden Menschen, die Paare, die sich beim Tanz vergnügen, über die jungen Mädchen in ihren hübschen Kleidern, mit geröteten Wangen und Kränzen aus Frühlingsblumen im wehenden Haar. Es ist noch nicht einmal einen Jahreslauf her, dass sie selbst bei einem solchen Fest gewesen ist, fröhlich und ausgelassen, dass sie mit den Dorfjungen getanzt und gescherzt und hinter der hohen Weißdornhecke am Rande des Festplatzes den stattlichen Alester Swann mit seinen blitzenden Augen geküsst hatte. Und doch scheint es eine ganze Ewigkeit her zu sein, ein ganzes Weltalter. Auf einmal ist ihr elend und irgendwie zum Weinen zumute, und sie schilt sich eine verdammte Närrin, weil sie sich so gehen lässt, gerade jetzt, wo sie eigentlich fröhlich sein sollte. Sie holt tief Luft und versucht, all den nach oben sprudelnden Kummer wieder nach unten zu verdängen, wo er hingehört, dann hält sie Colevar ihren inzwischen leeren Becher hin. "Kann ich noch was von dem Bier haben?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 20. Juni 2011, 16:10 Uhr
>Ein Pferd, ja...< murmelt es ziemlich lahm neben ihm und der Junge klingt so geistesabwesend, als wäre er in Gedanken gerade irgendwo am anderen Ende Rohas. Colevar kann Morrens Gesicht im warmen Feuerschein nicht sehen, weil der seine Nasenspitze augenblicklich bis zum Rand der Mütze in seinem Becher vergräbt, doch als er endlich wieder daraus auftaucht, klingt er immer noch alles andere als begeistert. >Ja, ein Pferd ist gut. Aber kein Teures, Ihr wisst ja, dass ich kaum Geld habe und dass unsere Reisekasse schon ziemlich leer ist.< "Mmpf," schnaubt Colevar, zieht eine Braue nach oben und leert seinen eigenen Becher. Natürlich können sie sich weder ein kostbares Feuerblut, noch ein edles Schlachtross leisten, aber der Junge braucht trotzdem ein ordentliches Reittier, das den Strapazen ihrer Reise auch gewachsen ist und einigermaßen Schritt halten kann. Abgesehen davon versetzt es ihm dann doch einen nadelfeinen, kleinen Stich, dass Morren sämtliche seiner Bemühungen, ihm wundgelaufene Füße und faustgroße Blasen an den Fersen ersparen zu wollen, anscheinend so gar nicht zu schätzen weiß. >Vielleicht kriegen wir eins, das sonst zum Abdecker müsste.< "Auf gar keinen Fall", er schüttelt entschieden den Kopf. "Wir werden dir ein anständiges Pferd kaufen, sonst kommen wir nie in Talyra an, aye? Kein weiteres Hühnchen, in Ordnung?" Der Junge murmelt irgendetwas in seinen Becher, das er nicht versteht, aber er glaubt trotzdem zu ahnen, wo der Stiefel drückt: es widerstrebt Morren einfach, das Gefühl zu haben, ihm etwas schuldig zu sein. "Du bist mein Knappe", erklärt er also geduldig und bestimmt zum zehnten Mal in den letzten zwei Wochen. "Das bedeutet, dass ich für dich zu sorgen habe. Ich bin dafür verantwortlich, dass du nicht hungern musst, dass du anständige Kleidung trägst und eine Ausbildung bekommst." Das mit der Ausbildung hatten sie vorerst hintangestellt, da der Junge erst einmal wieder zu Kräften kommen und ein wenig Gewicht zulegen sollte, aber Colevar hatte eigentlich vorgehabt, in den nächsten Tagen damit zu beginnen (und ehrlich gesagt nicht recht gewusst wie, angesichts von Morrens Schwierigkeiten mit dem noch so unschuldigsten Körperkontakt). Die letzten zwei Siebentage waren anstrengend gewesen, für sie alle, auch für die Tiere. Aber regelmäßiges Essen und ausreichend Schlaf in den Nächten zeigen bereits erste Wirkung: Morren ist nicht mehr so mager, wie er es gewesen war, als sie in jener verregneten Nacht in der Höhle in den Sieben Schwestern übereinander gestolpert waren, er ist nicht mehr so blass und hat auch keine dunklen Schatten mehr unter den Augen.

Höchste Zeit, dir anzuschauen, was für eine Art Kämpfer er werden könnte. Morren ist nicht sehr groß und alles andere als stämmig, aber ein Schwächling ist er auch nicht. Nun ja... gemessen an Colevars Maßstäben vielleicht schon, aber er weiß auch, dass der Junge zäh und für seine schmale Statur durchaus kräftig ist. Dolch oder Kurzschwert also... oder wir machen einen Schützen aus ihm. Zielen kann er jedenfalls. Und schnell ist er auch. Mehr als einmal war es Morren mit seiner Schleuder gewesen, der Abendessen für sie beide erlegt hatte – Wildhühner, Hasen und Kaninchen, einmal sogar ein fettes Eichhörnchen. Morren nickt nur schicksalsergeben und allein schon die Tatsache, dass er seinen Worten kein einziges Mal widerspricht, lässt Colevar stutzig werden. Er sieht stirnrunzelnd auf den Jungen neben sich hinunter. Morren ist so verdächtig still und... irgendwie bedrückt? Er hockt neben ihm im Schneidersitz auf einem dicken Lammfell, die schmalen Hände halten untätig den leeren Becher auf seinem Schoß und die hellen Augen wandern verräterisch groß und blank über die Menge. Eigentlich hätte Morren längst sprudeln müssen wie der sprichwörtliche Wasserfall, hätte ihm mit Händen und Füßen – und zahllosen Worten - von diesem oder jenem erzählt, dass er auf dem Weg über durch das bunte Festtreiben ins Lager der Rynebéarn alles gesehen hatte, hätte Fragen über Fragen gestellt und die Zunge nicht einen Herzschlag lang still gehalten. Colevar hat längst herausgefunden, dass der Junge immer anfängt zu schnattern wie ein Gänschen, wenn er irgendetwas aufregendes erlebt, hört oder sieht. Einmal waren sie unterwegs auf eine Bärenspur gestoßen, ganz frisch, auch wenn das Tier nicht mehr in unmittelbarer Nähe gewesen war – das Harz war noch aus den Kratzern der mächtigen Pranken an einer hohen Föhre gelaufen, deren Rinde in Fetzen hing. Morren hatte den halben Tag lang von nichts anderem mehr gesprochen. Nun sitzt er neben ihm, die schmalen Schultern gesenkt, als drücke ihn irgendeine unsichtbare Last nieder und sagt kein einziges Wort. Er sieht so verloren aus, dass Colevar das spontane Bedürfnis unterdrücken muss, sich umzudrehen und dem Jungen tröstend die Hand auf die Schulter zu legen. "Morren?" Fragt er leise und erhält weder Antwort noch Reaktion. Wo immer der Junge gerade mit seinen Gedanken ist, was immer er vor seinem inneren Auge sieht, es ist nicht das Hier und Jetzt.

"Geht es dir nicht gut?" Alarmiert beugt Colevar sich ein wenig vor, um dem Jungen ins Gesicht sehen zu können und Morren zuckt prompt zusammen – und von ihm fort, wenn auch kaum merklich. Dann holt er tief und hörbar Luft, vermeidet es aber, seinen Blick zu erwidern und spielt stattdessen, plötzlich rastlos geworden, mit dem leeren Becher in den Fingern herum. >Kann ich noch was von dem Bier haben?< Sein tapferes Bemühen um Gleichmut wird durch seine belegte Stimme vereitelt und das versuchte Lächeln gerät gründlich zur Grimasse. "Hier." Colevar nimmt ihm den Becher ab, füllt ihn aus dem Krug neben sich und schenkt sich selbst auch noch etwas ein. Dann steht er auf und streckt die Hand aus, um auch Morren auf die Füße zu helfen. "Komm, gehen wir ein Stück. Hier ist es so laut und ich will mir ein wenig die Beine vertreten, ehe wir schlafen gehen." Sie schlendern ein Stück in die Nacht hinaus, immer am Rand der verschiedenen Lagerstätten entlang, mal außerhalb, mal innerhalb des Feuerscheins im Grenzland zwischen Licht und Dunkel. Hier ist es sehr viel ruhiger, wenn auch nicht wirklich still, da überall um 'Venrays Rast' Lärm, Fröhlichkeit, Gesang und Gelächter herrschen, aber der Junge sagt immer noch kein einziges Wort. "Hmpf", schnaubt Colevar irgendwann, klingt aber überhaupt nicht missmutig. Er verfügt über eiserne Selbstbeherrschung, wenn er will, aber ein guter Schauspieler war er noch nie. "Wer von uns beiden bläst jetzt Trübsal, hm?" Versucht er es ein wenig später noch einmal mit sanfter Beharrlichkeit, doch Morren schweigt und wirft ihm nur einen Blick zu, der wohl bitterböse sein soll, dem Jungen aber kläglich misslingt. Eine weitere Viertelstunde später geht der Mond auf und scheint rund und pfirsichgelb über die kleinen Felder, beschaulichen Wiesen, Äcker und Wäldchen des Venrayer Landes. "Also wir haben jetzt fast das Ufer des Bree erreicht und wenn du mir nicht bald sagst, wer du bist und was du mit Morren gemacht hast, werfe ich dich in den Fluss, aye?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 20. Juni 2011, 19:28 Uhr
Sie schlendern am Rand des Festplatzes entlang, gemächlich und ohne Ziel, und obwohl inzwischen der Mond aufgegangen und der Abend schon weit fortgeschritten ist, ist es noch kein bisschen ruhiger geworden. Überall wird gefeiert und gesungen, gelacht und getanzt, irgendwo in der Nähe findet eine zünftige Rauferei statt, begleitet vom Gejohle und den Anfeuerungsrufen der Zuschauer, an anderer Stelle wetteifern ein paar junge Kerle schwitzend und prustend beim Armdrücken, während die Spielleute dazu fröhlich ihre wilden Melodien auf Fiedeln und Flöten und Handtrommeln spielen. Colevar hat wohl gemerkt, dass ihr etwas auf den Nägeln brennt, aber er übt sich in Geduld und drängelt Morian kein einziges Mal, sondern wirft ab und an allerhöchstens eine aufmunternde Bemerkung ein - doch das macht es auch nicht besser, im Gegenteil. Morian hadert mit sich, grübelt und überlegt, und je mehr Zeit er ihr dabei lässt, desto wirrer werden ihre Gedanken und die Sätze, die sie sich zurechtlegt. Sonst, wenn es schnell gehen muss und sie sich aus dem Stegreif schleunigst faule Ausrede ausdenken muss, da sprudeln die Wörter und Sätze ohne Unterlass und sie hat absolut keine Probleme damit, die wildesten Geschichten zu erfinden. Doch jetzt, wo sie herzlich gern mit der Wahrheit herausrücken würde - oder zumindest mit einem Teil davon - fehlen ihr einfach die passenden Worte und sie bringt nicht einen Laut über die Lippen, weil ihr die Kehle wie zugeschnürt ist. Was soll ich ihm denn sagen? Wie soll ich bloß anfangen? Sie weiß nicht so recht, wie viel sie preisgeben und wie weit sie ihm vertrauen kann, sie weiß nur, dass sie dieses elende Versteckspiel und all die Lügengeschichten bis obenhin satt hat und nicht mehr lange wird durchhalten können. So lange sie allein unterwegs war und sich nur ab und zu verstellen musste, war das alles nicht besonders schwierig. Aber es ist etwas völlig anderes, wochenlang mit jemandem so eng zusammenzuleben, sich dabei so grundlegend verstellen zu müssen und ihm nichts als eine einzige große Lüge aufzutischen.

Als sie dann an dem kleinen Flüsschen entlangwandern, das in der Nähe der Festwiese durch die Felder plätschert, wird es selbst dem geduldigen Colevar offensichtlich zu bunt mit der Warterei. Er bleibt stehen wie festgewurzelt, baut sich vor ihr auf und sagt völlig unvermittelt: >Also wir haben jetzt fast das Ufer des Bree erreicht und wenn du mir nicht bald sagst, wer du bist und was du mit Morren gemacht hast, werfe ich dich in den Fluss, aye?< Einen Moment glaubt Morian allen Ernstes, das Herz müsse ihr stehen bleiben und eiskalter Schrecken fährt ihr so heftig in die Glieder, dass ihre Knie sich auf einmal weich wie Hafergrütze anfühlen.
"Wer ich bin?", echot sie kläglich und muss sich erst einmal einen gewaltigen Frosch aus der Kehle räuspern, bevor sie weitersprechen kann. "Und was ich mit Morren gemacht habe? Götter, Ihr wisst es also doch!"
Woraufhin sie von Colevar nur einen vollkommen verständnislosen Blick erntet und die irritierte Frage: "Ich weiß also was?"
"Nun tut doch nicht so!", schnaubt sie, halb verzweifelt, halb empört. "Ihr wisst genau, was ich meine, also haltet mich nicht zum Narren!" Spricht's, macht auf dem Absatz kehrt und stapft in die Dunkelheit davon. Dann fällt ihr ein, dass es ja eigentlich sie ist, die ihn zum Narren hält, nicht umgekehrt, also rammt sie in einer abrupten Vollbremsung die Fersen in den Boden, kreiselt einmal um die eigene Achse und kommt wieder zu dem ziemlich verwirrt dreinblickenden Colevar zurück. "Also ... ich, ähm ... also ...", stottert sie hervor und ihre gerade noch so rechtschaffen empörte Stimme klingt auf einmal ziemlich kleinlaut. "Also, wenn Ihr es ohnehin schon wisst, dann ... dann ... aber seit wann? Also, ich meine, seit wann wisst Ihr das denn schon? Warum habt Ihr denn nichts gesagt? Und wieso ... womit ... woran habt Ihr es überhaupt gemerkt?"

Colevar starrt sie nur an, als hätte sie völlig den Verstand verloren und scheint nicht den blassesten Schimmer zu haben, wovon sie überhaupt redet. Dass er so absolut gar nichts erwidert und nicht einen einzigen Piep von sich gibt, macht Morian ganz zappelig, und sie befürchtet schon das Schlimmste, also fährt sie eilig fort, bevor er noch auf den Gedanken kommt, irgendetwas Dummes zu tun wie beispielsweise ein Donnerwetter loszulassen oder ihr den Hintern zu versohlen oder ähnlichen Unfug. "Hm, ähm, also ... ich bin Euch wohl eine Erklärung schuldig", beginnt sie zerknirscht. "Wo fange ich bloß an ..." Einen verzweifelten Augenblick lang versucht Morian sich zu sammeln, bevor sie weiterspricht - wobei die Worte natürlich wie immer viel schneller aus ihr herausblubbern, als ihre Gedanken folgen können. "Ihr habt Euch sicher schon gefragt, weshalb ich eine Bande Söldner verfolge ... ähm, nun ja, die Sache ist die, dass diese Söldner meine Eltern umgebracht und meinen kleinen Bruder verschleppt haben ... also, es sind gedungene Mörder, die von jemandem dafür bezahlt wurden, das zu tun, also hat ja genaugenommen eigentlich derjenige sie auf dem Gewissen, und ... äh, es ist ziemlich kompliziert zu erklären ... weil, also ehrlich gesagt bin ich gar kein Bauernjunge, aber das wisst Ihr ja jetzt schon ..." Colevar schweigt noch immer und allmählich fängt sie unter seinem intensiven Blick gehörig an zu schwitzen. "Aber ich bin wirklich aus Duisterhaven, wir haben dort gelebt, meine ganze Familie, also mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich. Meine Eltern treiben  ... nein, sie trieben Handel mit den Zwergen von Arkon im Eisenkammgebirge, vielleicht habt Ihr von den Meisterschmieden dort schon einmal gehört. Meine Familie unterhält schon seit vielen Generationen Handelsbeziehungen nach Arkon, sie kaufen und verkaufen Waffen und Rüstungen und allerlei Schmiedewaren. Wie Ihr seht, bin ich also nicht auf einem Bauernhof groß geworden, sondern ich bin die Toch-" Noch im gleichen Augenblick, in dem das Wort aus ihr hervorsprudeln will, ahnt Morian, dass sie gerade einen gravierenden Fehler begangen hat, denn in Colevars Augen glimmt für die Dauer eines halben Herzschlags etwas auf, das ihr auf der Stelle den Atem raubt. Erschrocken schlägt sie sich die Hand vor den Mund, aber es ist schon zu spät und sie kann nicht mehr zurücknehmen, was zur Hälfte angefangen in der Luft hängt. Götter im Himmel, er hat es gar nicht gewusst....

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 21. Juni 2011, 11:13 Uhr
>Nun tut doch nicht so!<
"Was? Ich tue doch überhaupt n..."
>Ihr wisst genau, was ich meine, also haltet mich nicht zum Narren!<
"Was?! Zum Narren?" Inzwischen ist Colevar vollkommen verwirrt und vor lauter Bestürzung steht ihm sogar der Mund offen – was Morren allerdings nicht mehr sehen kann, denn kaum hat der Junge ihm den Satz vor die Füße geschleudert, schnappt er zu wie eine beleidigte Auster, dreht sich um und marschiert geräuschvoll in die Dunkelheit davon, nur um gleich darauf – nicht minder empört - wieder zurückzukommen. Genauer gesagt stampft er sogar. Colevar kann nur verständnislos blinzeln und fragt sich verzweifelt, in welches Wespennest er nur geraten ist oder wer von ihnen beiden eigentlich unbemerkt etwas Schweres über den Schädel gebraten bekommen hat, Morren oder vielleicht doch er selbst. Nun spuckt der Junge alle möglichen Worte hervor und bombardiert ihn förmlich mit Erklärungen und Fragen - aber sie ergeben überhaupt keinen Sinn. Außerdem klingt er merkwürdigerweise ganz anders als sonst, irgendwie heiser. Es ist zweifellos Morrens Stimme... und doch auch wieder nicht. >Also ... ich, ähm ... also...<
"Also was?"
>Also, wenn Ihr es ohnehin schon wisst, dann ... dann ... aber seit wann?<
"Also wann was? Morren, wovon beim Dunklen..."
>Also, ich meine, seit wann wisst Ihr das denn schon?<
"Wissen? Was wissen?"
>Warum habt Ihr denn nichts gesagt?<
"Morren, bei allen Göttern im Himmel, ich schwöre dir, wenn..."
>Und wieso ... womit ... woran habt Ihr es überhaupt gemerkt?<
Da ist es wieder, das totsichere Gefühl, dass er entweder a) irgendetwas wirklich, wirklich Wichtiges vollkommen übersehen hat, etwas, das er ganz sicher wissen sollte (er hat nur leider nicht den allerleisesten Schimmer, wovon der Bengel überhaupt spricht oder was dieses irgendetwas sein könnte) oder aber b), dass er hier gerade gründlich zum Narren gehalten wird. Verständlicherweise gefallen ihm beide Möglichkeiten nicht im Geringsten.

"Morren, hast du vielleicht den Verstand verloren?" Erkundigt er sich also und verschränkt die Arme vor der Brust. >Hm, ähm, also ... ich bin Euch wohl eine Erklärung schuldig. Wo fange ich bloß an...<
"Nun hör schon auf, herumzuzappeln wie Röstmais in der Pfanne und sag etwas, zum Kuckuck!"
Und Morren sagt etwas. Er redet, und zwar so hastig und verworren, dass Colevar ihm kaum folgen kann, erzählt wild durcheinander irgendeine haarsträubende Geschichte von Söldnern und gedungenen Mördern, von Bauernjungen aus Duisterhaven, die gar keine Bauernjungen sind, von Handel mit Zwergen aus Arkon und ihren Schmiedewaren, von toten Eltern und verschleppten Brüdern. >Wie Ihr seht, bin ich also nicht auf einem Bauernhof groß geworden, sondern ich bin die Toch-< Morrens Wortschwall verstummt so schlagartig, als habe ihn jemand mit einem Messer abgeschnitten. Er... sie!... starrt ihn an und schlägt die Hände vor den Mund, im selben Moment, als sich seine... ihre, verdammt nochmal!... Augen entsetzt weiten. Die Erkenntnis trifft Colevar wie ein Schwerthieb. Sein Mund bewegt sich, aber der Schock hat ihm wohl die Sprache verschlagen, denn es kommt einfach kein Laut heraus. Mit einiger Mühe klappt er den Mund wieder zu und schnappt vernehmlich nach Luft. Dann erstarrt er, das Herz kalt in seiner Brust. "Toch? 'Toch' wie in Tochter?!" Knurrt er heiser und im gleichen Augenblick überschlagen sich seine Gedanken. Ohne eine Antwort abzuwarten, streckt er die Hand nach Morren... oder wem auch immer... aus, packt das Zugband ihres Hemdkragens, reißt es auf und blickt hinein. Hastig lässt er los. Morren... oder wer auch immer... quietscht vor Entrüstung und hüpft vor lauter Schreck mindestens einen Schritt weit zurück, die Hände schützend vor ihre... ja, ihre... Brüste gepresst. Sie sind zwar mit festen Leinenbinden eng an den Oberkörper geschnürt, aber unleugbar vorhanden. "Oh du... du..." Colevars Augen werden schmal, dann macht er einen Schritt auf Morren zu, die hastig zurückweicht.
Er kann kaum atmen vor lauter Wut und Schreck. "Du durchtriebenes kleines... oh... "
Noch ein Schritt.
"Aber Sire, Ihr werdet doch nicht!"
Noch ein Schritt.

"Du Biest. Du hinterlistiges..."
"Aber ich musste es tun!" Morren stolpert mit jedem Wort weiter rückwärts. "Mich verkleiden, meine ich. Ich war ganz allein unterwegs und... Ihr hättet an meiner Stelle bestimmt genau das gleiche getan!"
"Wie..." knurrt er gefährlich ruhig (noch ein Schritt), "um Himmels Willen hätte ich mich..." (noch ein Schritt) "...als Mädchen ausgeben sollen? Ich bin über zwei Schritt groß und wiege zweihundertachtzig Pfund, falls dir das noch nicht aufgefallen ist du kleine Heuchlerin!"
"Ahm..." Morren ist immer noch beim mehr oder weniger geordneten Rückzug, und erwürgt mit beiden Händen das weit aufklaffende Hemd vor ihrer Brust. Colevar stapft unbeirrbar auf sie zu und treibt sie vor sich her. "Äh... Himmel hilf... vielleicht als Oger? Ich meine als Ogermädchen... ja, mit äh... mit blonden Zöpfen? Also das wäre doch... Sire?!" (Ganz viele schnelle Stolperschritte rückwärts). "Nicht! Nein! I-ich warne Euch! Ich werde schreien. Ganz bestimmt schreie ich. Ihr äh... Ihr werdet doch wohl kein Mädchen schlagen?" Spricht's und klimpert seharimgleich mit den Wimpern. Mädchenwimpern. Mädchenwimpern, Mädchenbeine, Mädchenhände, Mädchenhaut, Mädchengeschnatter. Direkt vor seiner Nase. Die ganze Zeit. Die ganze Zeit, himmelgötterverdammtnochmal! Wie hatte er nur so ungeheuer blind sein können? Oder so ungeheuer dämlich? Jetzt fällt es ihm wie Schuppen von den Augen – das sieht auch Morren, die im Krebsgang das Weite sucht. "Sire, nicht! Nicht, hab ich gesagt! Ihr müsst die Schwachen und Hilflosen beschützen, Ihr müsst..." Als er sie erreicht und an den Schultern packen will, um sie, wie sie sehr richtig vermutet, einfach übers Knie zu legen und ihr (endlich und wohl verdienterweise) den frechen kleinen Hintern zu verhauen, erstarrt sie. Er erstarrt auch, denn fatalerweise hat sie Recht. Sie ist unbestreitbar ein Mädchen und Mädchen schlägt man einfach nicht. Dann bleibt im Fliegenfänger seiner wild durcheinander rasenden Gedanken eine weitere Erkenntnis hängen, eine, die etwas mit einem gewissen vergilbten Steckbrief in einer Taverne zu tun hat. 'Fünfeinhalb Fuß und zwei Zoll, dunkles Haar, graugrüne Augen'. Colevar, du bist ein Riesenrindvieh. Ein Volltrottel. Ein Idiot. "Morian de Navarre nehme ich an?" Zweiundzwanzig?! Für einen halben Herzschlag stehen sie so und ihre Blicke kreuzen sich in. Der Moment währt allerdings wirklich nur eine einzige Schrecksekunde, dann taucht sie flink wie ein Wiesel ab und rennt durchs hohe Gras was ihre Beine hergeben.

Sie kommt nicht weit - er erwischt sie am Arm und holt sie fast von den Füßen, als er sie zu sich umdreht. Sie landet mit einem heftigen Ruck direkt an seiner Brust und einmal, ein einziges Mal - und es ist ein sehr denkwürdiger Augenblick - erlebt er sie tatsächlich sprachlos. Bestimmt vor Schreck, ihre Augen sind jedenfalls riesengroß in dem schmalen Gesicht. Colevar wartet keine weiteren Argumente ab, die er nicht hören will und ignoriert ihr auf der Stelle loszeterndes Protestgeschrei, hebt sie einfach hoch und wirft sie sich über die Schulter. Morren... Morian... quietscht vor Zorn, kreischt, faucht und spuckt wie eine aufgebrachte Katze, jault, flucht, zappelt und windet sich wie eine gestrandete Forelle, aber sein Griff ist fest wie ein Schraubstock. Sie grapscht nach ihrer Mütze, die sie zu verlieren droht und trommelt dann mit der freien Faust auf seinen Rücken was das Zeug hält. Er solle sie gefälligst sofort und auf der Stelle loslassen, was ihm eigentlich einfalle, er habe wohl den Verstand verloren, sie hätte ihm doch gerade lang und breit erklärt, warum sie einfach keine andere Wahl gehabt habe, oder sie habe es zumindest versucht, aber er höre ihr ja nicht zu und so weiter und so weiter und so fort. Colevar hört jedes Wort und hat keine Ahnung, was er mit ihr anstellen soll. Schlagen kann er sie nicht, aber bei allen Göttern, irgendetwas will er ihr antun. Vor ihm liegt der Fluss, trügerisch dunkel und still in der mondhellen Nacht, mit silbernem Schimmer auf den ruhigen, sanften Strömungen und ein sardonisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Der Bree ist nicht allzu tief und ein recht gemütliches Flüsschen, sie wird also schon nicht gleich ertrinken, auch wenn er sich für das kleine Gör in diesem Moment eher ein Eisloch irgendwo im Lumpensammlerhafen von Dunkelschein wünscht. Aber er ist zweifellos nass und kalt. Morian schreit und lamentiert. Colevar hingegen sagt kein Wort, hebt sie hoch und wirft sie in hohem Bogen ins Wasser. Er wartet exakt so lange, bis sie wasserspuckend und fluchend wie ein Kesselflicker wieder auftaucht, hastig nach ihrer davonschwimmenden Mütze angelt und dann vor lauter Wut mit der flachen Hand aufs Wasser schlägt, dass es nur so spritzt. "Geschieht dir ganz recht", informiert er sie gelassen. Dann dreht er sich um und geht. Was dann hinter ihm losbricht, lässt ihn allerdings nach kaum vier Schritten wieder stehen bleiben und einen Beistand heischenden Blick zum dunklen Nachthimmel werfen. "Götter, helft mir sie nicht umzubringen..."


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 21. Juni 2011, 20:23 Uhr
Prustend wie ein Walfisch taucht Morian aus den eisigen Fluten des Bree auf, schimpfend und wasserspuckend und eine Vielzahl höchst unfeiner Flüche von sich gebend, wobei sich die meisten des geschluckten Flusswassers wegen eher wie gurgelnde "Hrhggrrhhh!!"s und "Hrrmpff!!"s anhören. Sie niest und hustet und schlackert an allen Gliedern, nasse Haare klitschen ihr am Kopf und der Bree rinnt in wahren Kaskaden aus ihren durchweichten Kleidern. Zu dieser Jahreszeit ist das aus dem Eisenkamm herabfließende Wasser noch kalt wie die Gletscher der Eisigen Öden. "Ihr seid wohl nicht ganz gescheit!", schreit sie zornig, während sie nach ihrer davonschwimmenden Kappe angelt, und dann putzt sie ihren Rachen mit einem ganzen Schwall herzhafter, durch und durch môrlandischer Schimpfwörter, von denen Colevar allerhöchstens ein paar wenige versteht. Der Sinn dürfte ihm allerdings nicht entgehen, denn Morians wutentbrannte Miene spricht Bände und braucht bestimmt nicht wortwörtlich übersetzt werden. Allerdings erweicht nicht der kleinste Anflug von Mitgefühl Colevars Granitmaske von Gesicht, sondern er bescheidet ihr nur ungerührt: >Geschieht dir ganz recht<, macht auf dem Absatz kehrt und lässt sie einfach stehen.
"Mwoaah .... geschieht dir ganz recht? Ich hör' wohl nicht richtig!" Sie schüttelt sich wie ein nasser Hund und watet eilends aus dem Fluss, triefend, schlotternd, und in wutschnaubender Entrüstung lauthals vor sich hin schimpfend. "Was fällt Euch überhaupt ein! Mich einfach ins Wasser zu schmeißen! Ihr könnt nicht ganz bei Trost sein - wisst Ihr überhaupt, wie kalt das ist??" Nur mit Mühe kann sie das Klappern ihrer Zähne unterdrücken, als sie schließlich die Uferböschung hinaufklettert und hinter ihm herstapft, brodelnd wie ein kleiner Dampfkessel kurz vor dem Explodieren.

"Erst reißt Ihr mir die Kleider vom Leib, dann schleift ihr mich durch die Gegend wie einen Kartoffelsack, und dann versucht Ihr auch noch, mich zu ersäufen - und jetzt wollt Ihr mich einfach so hier zurücklassen? Nass wie eine getauchte Katze? Bei dieser Kälte? Der edle Ritter Colevar lässt eine hilflose Frau einfach mitten in der Wildnis sitzen - wie passt das denn zu Eurem ach so ausgeprägten Ehrenkodex, häh?" Der edle Ritter Colevar vor ihr bleibt auf einmal so abrupt stehen, dass Morian ihn beinahe über den Haufen rennt in ihrer wassertropfenverspritzenden Wut. >Götter, helft mir sie nicht umzubringen<, hört sie ihn halblaut murmeln, und das ist genau der Tropfen, der das ohnehin schon bis über den Rand gefüllte Fass vollends zum Überlaufen bringt. "Grrmpf!", sprudelt sie hervor. "Heißt es nicht, ein Ritter würde Tapferkeit schwören? Sein Herz kennt nur die Tugend? Seine Klinge verteidigt die Hilflosen oder so ähnlich?" Bei diesen Worten dreht sich Colevar um und in diesem Moment sieht er weniger nach Ritter aus als nach einer wandelnden Drohgebärde, als er auf sie hinabblickt, gut zwei Schritt groß, grimmig, mit bulligen Schultern und der Präsenz eines ausgewachsenen Büffels. Morian baut sich vor ihm auf, schlotternd, pfützend, triefend wie ein löchriges Sieb, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und sie bringt es tatsächlich fertig, ihn von oben herab anzusehen, obwohl sie ihn von unten herauf ansieht. "Seine M...m...macht stärkt die Schwachen", schnaubt sie, flammend vor rechtschaffener Empörung und mit klappernden Zähnen. "Sein Z...z...zorn vernichtet die B....b...bösen. Seine Worte sind st...t...tets die reine Wahrheit, Sire. Wahrheit, pfff  ... T...t...tugend ... pah! Sehr t...t...tugendhaft von Euch, ein armes, hilfloses W...w...waisenkind in der Wildnis auszusetzen, das muss ich schon sagen.... hatschi! Jetzt gebt mir schon Euer Hemd!"

"Mein was?"
"Euer Hemd, Sire, oder soll ich mir hier den T...t...tod holen? Soll ich vielleicht so ins Lager zurückgehen, Sire?" Ostentativ blickt sie an sich hinunter, während sie vor sich hin tropft. Das Hemd klebt an ihr wie eine zweite Haut, und die lederne Hose ebenfalls. Einen Herzschlag lang starrt Colevar sie aus schmalen Augen an. In trockener Kleidung, in Hemd, Wams und ausgebeulten Hose mag ihre wahre Gestalt vielleicht nicht zu sehen sein, in diesem Moment und in den klatschnassen Sachen ist sie es aber. Und zwar deutlich.
"Auf keinen Fall!", blafft er und furcht böse die Stirn.
"Na, würdet Ihr dann vielleicht auch bitte die G...g...güte haben, mir das Hemd z...z...zu geben, bevor ich hier f...f...festfriere?" Morian streckt die Hand aus und macht mit den Fingern eine Her-mit-dem-Ding-Geste, und tatsächlich rupft er sich sein Hemd aus dem Hosenbund, streift es ab und reicht es ihr, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen.
"V...v...verbindlichsten Dank, Sire. Würdet Ihr Euch jetzt bitte umdrehen?"
Der Blick, den ihr daraufhin schenkt, hätte einen glühenden Lavastrom schockfrosten können und vermutlich wäre jeder andere davon auf der Stelle tot umgefallen. Nicht so Morian, die das nicht die Bohne beeindruckt. "Das dachte ich mir schon", meint sie spitz, während sie ihre Stiefel auszieht und wasserfallartig den halben Bree aus ihnen kippt. Selbst in ihren Socken blubbert das Wasser. "Dass ihr absolut  k...k...kein Schamgefühl habt, das weiß ich ja inz...z...zwischen. .....'tschi! Verzeihung. Na, dann d...d...dreh' eben ich mich um, wenn Ihr nicht wollt."

Genau das tut sie dann auch, wobei sie ihren Redeschwall auch weiterhin völlig atem- und satzzeichenfrei gestaltet und noch nicht einmal zum Luftholen unterbricht. "Ich hab' im Übrigen sch...sch...schon mehr von Euch gesehen, wie Ihr Euch vielleicht erinnert. Meine G...g...güte, ist das kalt, ich hab schon Gänsehaut auf meiner G...g...gänsehaut!" Zitternd wie Espenlaub kehrt sie ihm den Rücken zu, schält sich aus ihrem nassen Hemd, pellt die aufgeweichten Leinenstreifen von ihrer Haut und flüchtet sich dann eiligst in das Kleidungsstück, das Colevar ihr gereicht hat. Es ist trocken, es ist warm, und es reicht ihr bis zu den Knien. Nachdem sie auch noch ihre tropfnassen Hosen und die zu filzigen Klumpen zusammengeschrumpften Socken ausgezogen hat, rafft sie all ihr durchweichtes Hab und Plunder zusammen und wendet sich wieder zu Colevar um, der noch immer reglos wie eine Salzsäule dasteht, die Arme vor der nackten Brust verschränkt, und sie unter grimmig gesträubten Brauen hervor aus schmalen Augen anstarrt.

"W...w...wollt Ihr da die ganze Nacht so st...t...tehenbleiben?", spöttelt sie, und dann fühlt sie sich plötzlich von einer blitzschnell vorschnellenden Hand am Kragen gepackt. Für einen so großen und breitschultrigen Mann ist Colevar erstaunlich flink in seinen Bewegungen, wie Morian mit verblüfft aufgerissenen Augen feststellen muss. Allerdings ist er auch ziemlich kräftig und seine gewaltige Faust liegt wie eine eiserne Klammer um ihren Hemdkragen, so dass sie kaum noch Luft bekommt. "Hrhggrrhhh", röchelt sie und bringt nur ein paar unverständliche, gurgelnde Laute hervor, während sie versucht, sich seinem Griff zu entwinden. "Gehen wir", knurrt er nur. Als er sie dann endlich loslässt, sieht er ungefähr so freundlich aus wie ein schlechtgelaunter Normander Bluthund und es ist ihm deutlich anzusehen, dass er sie am liebsten verprügeln würde - oder alternativ wenigstens ein bisschen erwürgen.
"Schon gut, schon gut!" Wutschnaubend entreißt ihm Morian ihr Hemd (oder besser gesagt sein Hemd) und richtet sich zu ihrer vollen Größe auf - was etwa so groß ist, dass ihre Augen sich wohlwollend geschätzt ungefähr auf Colevars Brusthöhe befinden. Sie nimmt ihre ganze Würde zusammen, oder wenigstens so viel, wie ein ziemlich nasses, ziemlich spärlich bekleidetes Mädchen aufzubringen in der Lage ist, wendet sich hoch erhobenen Hauptes um, muss so heftig niesen, dass es sie schüttelt, und marschiert dann mindestens so hoheitsvoll davon wie eine (leicht verschnupfte) azurianische Prinzessin.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 23. Juni 2011, 20:16 Uhr
Als sie nach 'Venrays Rast' zurückkehren, ist Colevar schon froh, dass sich das Lager der Rynebéarn und damit auch das Zelt, das man ihnen gegeben hatte, ziemlich am Rand des Grünen Tanzes und des Marktgeschehens befinden, denn auch so ist der Aufruhr, den ihr Auftauchen (in ihrem Zustand) in der kleinen Zeltstadt verursacht, schon groß genug. Er selbst ist halb nackt und er schiebt Morian barfuß, schlotternd, ziemlich feucht, mit nassem Haar und in seinem Hemd vor sich her, die ein Bündel tropfender Kleidung in den Armen hält. Die Menge teilt sich vor ihnen wie der Ildorel dereinst vor Tymeon Silberschild, aber sie ernten ringsum verblüffte Blicke, vor Staunen offenstehende Münder, allgegenwärtiges Feixen – und natürlich auch das unvermeidliche Getuschel. Morian, die angesichts dieser Phalanx aus Gaffern und grinsenden Gesichtern kurzzeitig die Fersen in den Boden rammt, und drauf und dran scheint, der Menge etwas wenig hilfreiches wie etwa ein "Was glotzt ihr denn so?" oder ein "Das hier ist überhaupt nicht so, wie es vielleicht scheint!" entgegen zu fauchen, wird sanft, aber bestimmt von ihm weitergeschoben. Colevar will gar nicht wissen, wonach das hier vielleicht aussieht. "Lächeln und nicken", raunt er. "Einfach lächeln und nicken." Als sie die Feuerstellen der Flussleute erreichen, wird das Willkommen, das ihnen entgegenschlägt schon etwas wärmer und die Anzüglichkeiten werden weniger. Vielleicht einfach weil sie hier nicht ganz so fremd sind, vielleicht auch, weil die Rynebéarn allgemein ein wesentlich freizügigeres kleines Völkchen sind, als die Rhaínländer. Vielleicht auch, weil es hier gar nichts Besonderes ist, wenn ein Mann sein Mädchen... Sie ist nicht dein Mädchen!... irgendein Mädchen taucht, seiner Frau den Hintern öffentlich und unter lautem Geschrei versohlt oder eine erboste Rynebéarn mit dem Nudelholz hinter ihrem Göttergatten (oder sonstigen Gefährten, Bruder, Vater, Sohn) her ist, um ihm ordentlich eins überzuziehen. Dafür hagelt es gutgemeinte Ratschläge, was zu tun sei um allerlei üble Krankheiten zu vermeiden, die einen gemeinhin befallen, wenn man in eisiges Flusswasser gefallen ist (was anscheinend alles sein kann, vom Abszess bis zum Zwerchfellbruch) und feixende Andeutungen, dass es für derlei Vergnügen wirklich bessere Orte gäbe als den Bree im Grünglanz. Nur eine scheint nicht zu feixen, die rothaarige Frau, die ihnen das Essen gebracht und ihn in ihr Bett eingeladen hatte. Als sie an ihr vorüberkommen, hält sie inne, setzt den Weidenkorb, den sie trägt, auf einer Hüfte ab und starrt erst ihn, dann Morian vor ihm und schließlich ihrer beider Aufzug mit ziemlich entgeisterter Miene an. Colevar kann Morians Gesicht nicht sehen und schiebt sie zielstrebig weiter, ohne der Rynebéarn auch nur einen Blick zu gönnen. Aber was immer auch die Frau in Morians Gesicht sehen kann, es lässt sie den Kopf zurückwerfen, einen Schmollmund ziehen, auf dem Absatz umdrehen und beleidigt davonrauschen.

Als sie ihr Zelt endlich erreichen und Morian gebückt darin verschwinden kann, hält die Sippenälteste, eine faltige, kleine Vettel mit schreiend bunten Holzperlen in ihren dünnen, grauen Zöpfen Colevar noch einmal auf, drückt ihm einen glühend heißen Tonkrug mit dampfendem Tee in die eine, und einen kleinen Tiegel aus Holz in die andere Hand. Einen ganzen Schwall komplizierter Anweisungen gibt es - radebrechend in der Allgemeinsprache und untermalt mit ausschweifenden Gesten vorgetragen - noch gleich dazu. Lächeln und nicken, lächeln und nicken... Colevar zwingt sich zur Geduld. Es würde ihn nicht wundern, wenn Morian die Gelegenheit nutzt, um mit ihrem Dolch die rückwärtige Zeltbahn aufzuschlitzen und sich aus dem Staub zu machen. Das könnte ihr so passen... "Entschuldigt mich", knirscht er schließlich, entschlossen diese geschwätzige Urgroßmutter aller Rynebéarn loszuwerden. "Der Tee wird kalt und ich habe da noch ein Hühnchen zu rupfen..." Und zwar mit einem kleinen Biest, das an meinen Nerven zerrt, seit ich es zum ersten Mal getroffen habe. Die Alte gurrt etwas, lacht glucksend und tätschelt ihm tatsächlich grinsend den Arm, nur um ihn dann mit überdeutlichen Gesten ins Zelt zu scheuchen. Zu seiner allergrößten Überraschung thront Morren, inzwischen in ihrem eigenen, trockenen Zweithemd, auf ihren Schlafpelzen. Hosen hat sie nach wie vor keine an, sie bibbert immer noch und unter den weichen Fellen schlagen ihre Knie aneinander wie ein Tamburin. Sie schmollt zwar nach wie vor, das ist deutlich in ihrer Miene zu lesen (jedenfalls glaubt er das, aber ihre Zähne klappern so, dass er nicht sicher sein kann), doch sie macht keine Anstalten, davonzulaufen, im Gegenteil. Sie reckt mit funkelnden Augen das Kinn und als allererstes klatscht ihm sein durchfeuchtetes Hemd entgegen und die unmissverständliche Aufforderung, sich gefälligst wieder anzuziehen und nicht länger halbnackt herumzustolzieren, folgt ihm auf dem Fuß. Der heiße Tee schwappt über seine Finger, als er sein Hemd auffängt und Colevar stößt einen halblauten Zischlaut aus. Dann sieht er Morian böse an. "Verd..." Gleich darauf wird er gerügt, gefälligst nicht zu fluchen und merkt, wie sich seine Kinnlade schon wieder der Schwerkraft ergeben will. "Ich hab mein Lebtag noch keine Frau so fluchen hören, wie dich vorhin und jetzt halt die Klappe", schnappt er, worauf ihm kühl beschieden wird, das würde sie ja, aber es sei so unbequem und man verstehe dann ganz schlecht, was sie zu sagen habe. "Eben", knurrt er zurück und einen Moment lang duellieren sich tatsächlich nur ihre Blicke.

"Hier. Tee. Die Sippenälteste hat ihn gebracht. Er ist heiß." Er reicht ihr den Krug, wirft einen verärgerten Blick auf seine verbrühten Finger und streift sich ungehalten das Hemd wieder über. Dann fällt ihm der Tiegel ein. Was hatte die Alte nochmal gesagt? Auf Brust und Rücken einreiben? Er nimmt den Deckel ab und ein überwältigend scheußlicher Geruch nach scharfem Kampfer und ranzigem Fett erfüllt schlagartig das kleine Zelt. "Igitt!" Morian rümpft die Nase und will wissen, wofür um Himmels Willen das denn gut sein solle, sie würde das auf gar keinen Fall essen. Colevar sieht ihren argwöhnischen Blick, wiegt das Tiegelchen abschätzend in der Hand und lächelt diabolisch. "Sie hat gesagt, ich soll dich damit einfetten wie ein Spanferkel. Von Kopf bis Fuß."
Morian schießt wie ein geölter Blitz unter ihren Pelzen hervor. "Wagt es ja nicht! Denkt noch nicht einmal daran auch nur einen einzigen Finger an mich zu legen!" Wäre sie eine Katze, hätte sie jetzt ihr Fell gesträubt, die Ohren angelegt  und ihn angefaucht was das Zeug hält. So faucht sie nur ihr kleines Katzengefauche (ohne Ohren, Fell und geringeltem Schwanz) und sieht so urkomisch aus in ihrem zornigen Schrecken, dass er beinahe gelacht hätte. "Nicht für alles Geld der Welt", versichert er. "Und jetzt zurück unter die Pelze und hör auf mit dem Katzenjammer. Du hast immer noch Gänsehaut. Genaugenommen siehst du aus wie ein gerupftes Huhn!"
"Ich bin kein Huhn! Und ich habe auch keine Hühnerbeine! Und ich bin auch kein Ferkel für den Grillspieß, also stellt den Tiegel weg!"
Hühnerbeine? Was bei allen Neun Höllen haben ihre Beine jetzt damit zu tun? "Hier bitte, siehst du? Er ist weg! Und jetzt halt' endlich die Luft an, ich habe nicht vor, mich mit dir zu streiten!"
Sie starrt ihn an und will wissen, was bei allen Neun Höllen er denn dann vorhabe. "Ich habe nicht die allerleiseste Ahnung", grollt er. "Irgendetwas wird mir schon einfallen. Vielleicht trage ich dich zum Fluss zurück und werfe dich noch einmal hinein. Offenbar war das Wasser bei Weitem noch nicht kalt genug, um dein Mütchen zu kühlen."
Morren fletscht die Zähne und klappert demonstrativ mit selbigen, dann wühlt sie in ihrem Jutesack nach irgendetwas, findet aber nicht, was sie sucht und presst wütend die Lippen zusammen. Das Wasser war kalt. Sie zittert wie Espenlaub und ihre Zähne schlagen Stakkato. "Mmpf." Colevar rupft ein Ledertuch aus seinen Satteltaschen und lässt es ihr auf den Kopf fallen. Ihre erfolglosen Versuche, mit ihren vor Kälte steifen Fingern das Tuch festzuhalten, sieht er sich genau drei Herzschläge lang an, dann nimmt er es ihr ab. "Halt still!" Rügt er, als sie hastig von ihm abrücken will und erklärt, sie könne das ganz allein, besten Dank auch. "Hinsetzen. Den Dunklen kannst du", erwidert er ungerührt und beginnt mit großen, festen Händen ihr Haar trockenzureiben. Seine Berührungen sind sicher und sanft, seine Worte sind es nicht. "Sei froh, dass ich dich nur in den Fluss geworfen und dich nicht wirklich übers Knie gelegt habe, sonst könntest du die nächsten fünf Tage nicht sitzen, das verspreche ich dir!"

Morian klappt den Mund auf, zweifellos um ihm zu sagen, dass er sie nicht schlagen kann, schließlich sei sie ein Mädchen, doch diesmal ist er es, der sie nicht zu Wort kommen lässt. "Sei still, hab ich gesagt. Ich weiß schon, du bist ein Mädchen. Und nein, ich werde dich nicht schlagen. Du hättest dich wenigstens... was weiß ich... einmal Räuspern können, als ich splitterfasernackt in diese Höhle marschiert bin, götterverdammtnochmal!" An all die peinlichen Situationen der letzten zwei Wochen wollen wir gar nicht denken. Da bekommt ihre angeblichen Schüchternheit eine ganz neue Bedeutung, aye? Und es erklärt so einiges. Während Morian nämlich äußerst bedacht auf ihre Privatsphäre gewesen war, war er es... nun ja, nicht gewesen. Da hast du auch geglaubt, mit einem Jungen unterwegs zu sein! Morian zieht fassungslos die Brauen hoch. "Wie bitte? Ich kannte Euch doch gar nicht! Was hätte ich denn tun sollen? Meine ganze Tarnung in den Wind schießen, nur weil mir ein nackter Mann über den Weg läuft? Was hättet Ihr denn erwartet? Dass ich mir das Hemd vom Leib reiße und ein Schild hochhalte auf dem steht:  'Seht her, ich bin eine Frau?' Wie hätte ich denn wissen sollen, ob Ihr mir etwas antut oder nicht?"
Einen Moment lang ist er wirklich sprachlos. "Besteht irgendeine Möglichkeit, diese Bemerkung anders zu verstehen, als sie gemeint ist?"
"Häh? Wie... wie... welche Bemerkung?"
"Du glaubst also ernsthaft, dass ich gleich jeder Frau irgendetwas antue, die sich das Hemd vom Leib reißt?"
"Jetzt natürlich nicht mehr, aber damals wusste ich das doch noch nicht!"
"Dann bildest du dir aber ziemlich viel ein auf das, was du unter deinem Hemd hast!"
Morian niest heftig, verkündet, sie müsse sich "bi Dase butz'n" und wühlt nach einem Taschentuch. Sie tut wie geheißen, doch nachdem sie aufgehört hat, Geräusche von sich zu geben wie eine strangulierte Gans, macht sie einen höchst erstaunlichen Vorschlag: "Warum schimpft Ihr nicht in Eurer komischen Muttersprache? Ihr wisst schon 'Grrr! Wuff! Grr!' Ich schimpfe auf Môrfrysk. Es erleichtert uns beide und wir verstehen kein Wort von dem, was der andere sagt."

Für einen Moment ist er so verdutzt, dass er sogar vergisst, wütend auf sie zu sein. "Es ist Tamaraeg und nicht Hundesprache. Aber der Gedanke ist gar nicht mal so schlecht. Llongyfarchiadau", fügt er hinzu, "ich fange an." Er stülpt das Handtuch wieder über ihr wild in alle Richtung abstehendes Haar und legt los - im drohenden Tonfall eines aufgebrachten Priesters, der von der Tempelbalustrade aus die Sünden seiner Schäflein verdammt. Er kommt keine drei blumigen Schimpfwörter weit, als Morian auch schon einfällt und zusammen ergibt ihr tamaraegisch-môrfryskisches Schimpftiraden-Duett ein absolut unverständliches (und falls sie außerhalb des Zeltes Zuhörer haben, auch höchst lächerliches) Heckenkauderwelsch. Aber sie hatte Recht – es hilft. Sie hatte überhaupt mit vielem Recht. Zum Beispiel damit, sich zu ihrer eigenen Sicherheit als Junge auszugeben. Der Gedanke ist durch seinen Kopf gegangen, noch bevor er ihn sich verbieten kann. Während er sie ein einfältiges Frauenzimmer und einen unmöglichen, verlogenen, eingebildeten, arroganten Fratz heißt, dem man dringend den Mund mit Kernseife auswaschen sollte, und der weniger Verstand besitzt als eine Stubenfliege, nennt sie ihn im Gegenzug díofolséoc, môdblind, einen horic sôt und einen scêapiter, aber er hat zu ihrem und seinem großen Glück keine Ahnung, was sie ihm da an den Kopf wirft. Außerdem spürt er, wie mit jeder Beleidigung, die sie tauschen, die Wut aus ihm herausrinnt wie das Wasser aus einem umgestürzten Eimer. Eigentlich ist er schon eine geraume Weile gar nicht mehr wirklich wütend auf sie. Höchstens auf sich selbst und seine eigene Blindheit. Oder hatte er es... gar nicht sehen wollen? Wie Hund und Katz, im wahrsten Sinne des Wortes. Irgendwann fällt ein Ausdruck namens wyrmæten miexen, aber hervorgenuschelt unter dem ledernen Handtuch klingt es eher wie 'vermaledeite Mieze' und das lässt ihn dann doch vernehmlich durch die Nase schnauben. "Mieze? Mieze wie Katze?"
"Mi-ex-en", wird er belehrt.
"Ah. Und das heißt?"  
"Äh... nun... Dunghaufen."
"Dunghaufen?! Du Mistkäfer!" (Nein, er will nicht darüber nachdenken, was Mistkäfer und Dunghaufen gemeinhin für ein inniges Verhältnis haben, es ist ihm einfach so herausgerutscht.)
Einen Moment lang herrscht Schweigen – Phantasielosigkeit kann man ihnen nicht gerade vorwerfen. Doch gerade als er sie fragen will, ob ihr jetzt die Beleidigungen ausgegangen sind oder sie ihre Zunge verschluckt hat, zuckt sie plötzlich mit den Schultern. "Jaja, schimpft nur mit mir, ich hab es verdient. Und nur für's Protokoll: ich habe keine Angst vor Eurem Pferd. Ich wollte nur nicht... dass Ihr es merkt. Ihr wisst schon", fügt sie gespreizt hinzu.
"Nur für's Protokoll: wenn du mich einen wyrm-was-auch-immer Dunghaufen nennen kannst, dann kannst du auch du und Colevar sagen, anstatt Ihr und Sire."
"Schätze schon. Ihr... du... willst mich jetzt sicher auch nicht mehr als Knappen haben."

"Ich..." er verstummt und ihre Frage lässt ihn auch noch für eine ganze Weile schweigen, denn daran, wie es jetzt weitergehen soll, hat er bis jetzt gar nicht gedacht – er hatte noch überhaupt keine Zeit nachzudenken oder das Durcheinander in seinem Kopf auch nur ansatzweise zu ordnen. Was gibt es da denn noch zu denken? Bist du eigentlich noch ganz bei Trost? Meldet sich die aufgebrachte Stimme seiner rechtschaffenen Wut zurück. Setz sie gefälligst am Straßenrand aus, gib ihr ein wenig Silber und schick sie ihres Weges! Sie hat dich belogen und benutzt. Erinnere dich an ihre Worte in der Höhle – sie hat 'beschlossen, großzügigerweise dein Leben zu retten, indem sie dein Knappe wird', so war es doch, oder? Allerdings. Alles, was sie gewollt hat, war etwas zu Essen und einen Leibwächter. Und genau das hat sie auch bekommen! Er grollt leise, doch kaum hat er einmal Atem geholt, meldet sich eine ganz andere Stimme: Hast du ihr nicht gerade noch beigepflichtet? Es war klug, sich als Junge auszugeben. Ja, sie hat dich belogen und dir etwas vorgemacht. Aber sie hatte schließlich ihre Gründe. Sie wird gesucht, er wird es nicht. Abgesehen davon war sie mutterseelenallein und mittellos. Wie hätte sie sich über Wasser halten sollen, ohne früher oder später die Beine breit machen zu müssen? Sein Blick ruht immer noch nachdenklich und dunkel auf Morian, die ziemlich still geworden an ihrem Hemdsärmel herumspielt. Sein Zorn ist längst verraucht, dennoch klammert er sich daran fest, um wenigstens ein vertrautes Gefühl in dem ganzen Durcheinander in seinem Inneren nicht zu verlieren. Er darf schließlich auch wütend sein. Er sollte zumindest wütend sein, Himmel, und nicht auch noch Argumente zu ihrer Verteidigung anführen. Wut? Sei ehrlich, du bist doch nur noch auf dich selbst und das verflixte Schicksal zornig. Eigentlich bewunderst du sie sogar. Morian besitzt Schneid, Durchhaltevermögen, einen schlagfertigen Verstand und ein ebensolches Mundwerk - und eine ganz besondere Art von Humor, den sie anscheinend auch dann nicht verliert, wenn es wirklich hart auf hart kommt. Und sie bietet dir ohne mit der Wimper zu zucken die Stirn, vergiss' das nicht. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und hätte es sich am liebsten gerauft. Vorsicht, dünnes Eis. Sie ist ein Mädchen! Eine Frau, verbessert eine wenig hilfreiche (und neunmalkluge) Stimme sofort. Ja, genau. Und Narren werden nicht geboren, hübsche Frauen stellen sie in ihrer freien Zeit her! Die nächste Stimme, die er in seinen Gedanken hört, ist nicht seine – sie gehört Morian, und ihm klingeln jetzt noch die Ohren von ihrem Zorngeschrei am Breeufer: >Der edle Ritter Colevar lässt eine hilflose Frau einfach mitten in der Wildnis sitzen - wie passt das denn zu Eurem ach so ausgeprägten Ehrenkodex, häh?<

Er ist bestimmt kein 'edler Ritter', weder sieht er sich so, noch würde er sich je so nennen. Aber er ist auch kein solcher Hurensohn, dass er das tun würde, was sie ihm da vorgeworfen hat. Außerdem hatte er ihr ebenfalls etwas versprochen: 'Du bist bei mir sicher. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten - so lange du bei mir bist, wird niemand Hand an dich legen.' Oh nein, du hattest es Morren versprochen, schon vergessen? Vielleicht, aber... er ist sie. Und sie ist er. Mit einem abgrundtiefen Seufzen schüttelt er langsam den Kopf. "Du kannst kein Knappe sein, Morian. Denn du bist ein Mädchen und es gibt keine Knappinnen. Aber eine Schildmaid." Er hatte Morren den althergebrachten Vasalleneid zwischen Knappe und Ritter bisher noch nicht abgenommen - ein Knappe schwört ihn seinem Ritter, der Ritter seinem Lehnsherren, der Lehnsherr seinem Lord, der Lord dem König. Es ist mehr als nur eine Tradition, sondern ein Pakt gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Unterstützung, der Männer und Frauen des Schwertes schon seit Jahrhunderten verbindet. Colevar greift nach dem Kurzschwert hinter ihm an der Zeltwand und es gibt ein zischendes Geräusch, wie eine Schere, die durch Seide schneidet, als er es aus der ledernen Scheide zieht. Da sie ohnehin schon sitzt, ist es wohl sinnlos, sie sich hinknien zu lassen. "Hände vor." Einen Augenblick lang kann er in ihren Augen den wilden Einfall sehen, dass er vorhaben könnte, ihr mit dem Schwert einen Finger (oder auch zwei) oder möglicherweise die Hände (oder die Nase) abzuschlagen, oder ihr vielleicht die Zunge herauszuschneiden, und Colevar muss sich gegen ein Lächeln wehren. "Morian, Hände vor." Sie tut es. Er legt seine schwieligen Handflächen um ihre Finger und schließt ihrer beider Hände um das harte, kalte Metall des Schwertgriffs. "Sprich den Vasalleneid."
Zu seiner allergrößten Überraschung tut sie es ohne zu Zögern. "Ich, Morian de Navarre, gebe mich in Eure Obhut. Ich schwöre bei den Göttern und ihren Archonen und bei allen Heiligen, dass ich treu und gewissenhaft meine Pflichten als Schildmaid erfüllen werde um an Eurer Seite gegen all Eure Feinde zu stehen."
"Morian de Navarre, ich nehme Euren Eid an. Ich schwöre bei den Göttern und ihren Archonen und bei allen Heiligen, dass ich Euch schützen und für Euch sorgen werde. Ich werde Euch lehren. Ich werde Hunger, Kälte und Schaden von Euch fernhalten und Euch meine Loyalität und mein Vertrauen geben wie Ihr mir das Eure."

Sie nicken beide gleichzeitig, um ihre Worte zu bekräftigen und stoßen über dem Schwertknauf fast zusammen. Morian zuckt zurück, ebenso wie er selbst, um den drohenden Zusammenprall zweier ausgesuchter Sturschädel zu vermeiden. Einen Moment lang bemüht sie sich noch um Fassung, aber der erhabene Ernst des Vasalleneides ist dahin und er hört das Kichern in ihrer Kehle aufsteigen, einen Herzschlag ehe sie losprustet.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 26. Juni 2011, 00:08 Uhr
Als Colevar sie mit grimmigem Blick und gezogenem Schwert auffordert, ihm ihre Hände entgegenzustrecken, würde Morian sich auf diese am liebsten draufsetzen oder sie sonst irgendwie schleunigst aus der Reichweite der gemeingefährlich blitzenden Klinge bringen. Einen Herzschlag lang ist ihr wirklich ziemlich mulmig zumute, vor allem wenn sie bedenkt, mit welch knurrender Inbrunst ihr Gegenüber ihr gerade noch alle möglichen Schimpfworte an den Kopf geworfen hat. In ihren Augen funkelt einen Moment lang wildes Misstrauen auf und ihre wie immer üppig blühende Fantasie präsentiert ihr prompt eine bunte Auswahl von Körperteilen, die sich mit einem Kurzschwert recht bequem von ihrem Besitzer trennen ließen, wie etwa Finger oder ganze Hände oder gar der Kopf auf ihren Schultern. Und sei ehrlich - du hättest es ja fast verdient, so wie du ihn genarrt hast, den armen Kerl. Aber sie sieht in Colevars Mundwinkeln ein Lächeln zucken und in seinen Augen etwas, das sie davon überzeugt, dass sie ihm wirklich trauen kann, so etwas wie Aufrichtigkeit und einen stillen Ernst. Ein bisschen wundert sie sich allerdings schon über seine Entscheidung, sie trotz allem als Knappen - oder eben als Schildmaid - in seine Dienste nehmen und damit noch länger ertragen zu wollen, denn immerhin hat sie sich ihm mit unwiderstehlicher Impertinenz aufgedrängt, obwohl er sie zunächst gar nicht mitnehmen wollte, sie hat sich an ihn gehängt wie eine Klette, ihm ein klappriges Pferd und eine verfressene Ziege aufgehalst, ihn tage- und nächtelang ohne Punkt und Komma vollgeplappert, ihn in eine Schlägerei verwickelt, ihn belogen, beleidigt, bestohlen, gekränkt, genervt, beschwindelt und zum Narren gehalten, sie hat ihn mit einer Bratpfanne und einem Hühnchen am Spieß bedroht, ihn splitterfasernackt gesehen und ihn einen Wyrm-was-auch-immer-Dunghaufen genannt. Aber sie wird den Dunklen tun, und ihm das gerade jetzt in diesem Augenblick unter die Nase reiben.

Stattdessen tut sie wie geheißen und streckt ihm ihre Hände entgegen, die er mit seinen dann um den Schwertgriff legt. Einen klitzekleinen Moment lang regt sich noch ein winziges Zögern in ihr, aber als Colevar dann beginnt, die Worte der Eidesformel zu sprechen, mit einem geradezu rührendem Ernst in der Stimme, da weiß Morian, dass es richtig ist, was sie tut. Die Stimmung in dem kleinen, schreiend bunten Zelt, die vor wenigen Augenblicken noch so aufgeladen gewesen ist wie bei einem Gewitter, angefüllt mit haarsträubenden Beschimpfungen und Beleidigungen, hat sich von einem Moment auf den anderen völlig gewandelt und Morian ist auf einmal ganz feierlich zumute. Wenigstens so lange, bis sie nach den letzten Worten gleichzeitig die Köpfe heben und es über dem Schwertknauf beinahe eine krachende Dickschädelkollision gibt, die sie gerade noch um Haaresbreite verhindern können. Einen Moment lang ringt Morian um Fassung und bemüht sich mit aller Macht, das Kichern, das unaufhaltsam in ihr aufsteigen will, wieder hinunterzuschlucken, aber es ist schon zu spät und die ganze Aufregung der letzten Stunde entlädt sich in einem haltlosen Prusten. Selbst Colevar kann seine Belustigung nicht verbergen und ein leises, dunkles Lachen entringt sich seiner Kehle. Eine Weile kichert Morian noch vor sich hin, und stellt dabei fest, dass von Herzen lachen mindestens ebenso sehr verbindet wie von Herzen streiten - und komischerweise hat sie das Gefühl, dass es ihm genauso geht. Während sie von dem glühend heißen Tee schlürft, der sofort ein angenehmes Gefühl wohliger Wärme in ihrem Inneren verbreitet, verstaut Colevar das Schwert wieder an seinem Platz. Er lässt sich auffallend viel Zeit dafür, so dass Morian sich schon fragt, ob er vielleicht doch noch wütend ist oder ob er seinen Entschluss vielleicht jetzt schon wieder bereut. Seine Miene ist ernst und alles Lächeln ist aus ihr verschwunden, als er sich zu ihr umdreht und fragt, ob sie von den Dingen weitererzählen will, von denen sie vorhin draußen am Fluss zu reden begonnen hat.

"Ja, das sollte ich wohl", erwidert sie. "Wenn Ihr schon ... ähm, wenn du schon so verrückt bist, jemanden wie mich als deinen Knappen anzuheuern, dann solltest du auch wissen, mit wem du es zu tun hast." Ihre Finger umklammern den heißen Teebecher, als müsse sie sich daran festhalten und erst ihren ganzen Mut zusammensuchen, bevor sie mit der Sprache herausrückt. "Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, hm ... na ja, meinen Namen kennst du ja jetzt. Morian de Navarre. Bis zum letzten Herbst habe ich in Duisterhaven gelebt, oben ganz im Norden an der rhaínländischen Küste. Meine Familie hat da ein Stück außerhalb der Stadt einen hübschen kleinen Gutshof .... das heißt, sie hatte." Ein kaum hörbarer Anflug von Trauer und Wehmut schleicht sich in ihre Stimme, als sie ihre Worte korrigiert. So vieles ist für immer verloren ... "Dort hatten wir unser Zuhause, meine Eltern, mein Bruder Eldrin und ich. Unsere Vorfahren lebten dort schon, als das alles noch Westmoorland hieß und das Königreich der Rhaínlande noch in weiter Ferne lag, also schon wirklich sehr lange. Die De Navarres betreiben schon seit einer halben Ewigkeit Handel mit dem Zwergenreich von Arkon, das liegt im Eisenkamm, tief unter dem Gebirge zwischen Immerfrost und den Rhaínlanden. Die Schmiede dort sind berühmt für ihre Kunst, und die Waffen und Rüstungen, die sie anfertigen, sind legendär. Aber sie treiben nicht mit jedem Handel, und es ist schwer, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Sie sind ein bisschen, hm ... eigen. Vater nannte sie kauzig." Bei der Erinnerung huscht ein flüchtiges Lächeln durch ihre Mundwinkel, aber es erlischt im gleichen Augenblick auch schon wieder. "Ich plappere hier .... du fragst dich bestimmt, wozu ich das alles erzähle, nun ja ... diese Handelsbeziehungen zu den Zwergen waren der Grund für all die Dinge, die passiert sind."

Geistesabwesend dreht Morian den Teebecher in ihren Händen und scheint einen Moment lang irgendwo ganz anders zu sein, bevor sie weiterspricht. "In Ravensward jedenfalls gibt es eine Adelssippe, die van Houtens, die seit langem versuchen, sich in das Geschäft mit den Zwergen von Arkon zu drängen und Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Der alte van Houten und sein Sohn scheinen sich vorgenommen zu haben, nach und nach alle Partner der Zwerge auszubooten, um am Schluss als einziges Handelshaus kräftig abzukassieren. Da die Zwerge aber kein Interesse daran haben und sie nicht einmal in die Nähe Arkons lassen, geschweige denn mit ihnen verhandeln wollten, haben sie nun versucht, sich anderweitig da einzuschleichen. Erst wollten sie meinen Vater beschwatzen, sie als Teilhaber anzunehmen, und als er das abgelehnt hat, wollte der alte Lord ihm den jungen als Schwiegersohn andrehen. Ich hätte ihn heiraten sollen. Also zumindest, wenn es nach ihm gegangen wäre. Naja, auch daraus ist nichts geworden, zum Glück." Selbst jetzt noch, viele Monde nach diesem Angebot, schüttelt es Morian schon allein beim Gedanken daran. "Aber diese zweimalige Ablehnung konnten die van Houtens wohl nicht auf sich sitzen lassen", fährt sie dann fort und ihre Stimme wird leiser und leiser. "Nachdem es im Guten nicht funktioniert hat, haben sie dann schärfere Geschütze aufgefahren. Sie wollten uns kleinkriegen und zum Aufgeben zwingen. Es fing damit an, dass eine Scheune brannte, dann ein Lagerhaus, dann wurde ein Wagenzug mit Waren überfallen, und es ging immer so weiter. Zuletzt haben sie eine hinterhältige Intrige angezettelt und Beweise gefälscht, die belegen sollen, dass meine Eltern sich an einem Verrat am Königshaus beteiligt und geplant hätten, König Leodegar zu stürzen. Und sie haben Verträge vorgelegt, nach denen mein Vater dem jungen Lord angeblich die Ehe mit mir zugesichert hätte, so dass er als alleiniger Erbe in Frage käme, für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Familie etwas zustoßen sollte. Und wie zufällig kam dann eine bezahlte Söldnerbande durch Duisterhaven, die zufällig genau über unseren Hof herfiel und zufällig von Van Houten dafür bezahlt worden ist, dass sie dort alles niederbrennen und niedermetzeln. Und das haben sie auch getan. Ziemlich gründlich sogar."

Morians Stimme ist bitter geworden bei den letzten Worten und sie senkt den Kopf und starrt auf ihre Hände, während sie versucht, die Fassung nicht zu verlieren. Seit sie im vergangenen Herbst ihre Heimat verlassen hatte, war sie darauf bedacht gewesen, die Erinnerungen an jene Nacht irgendwo tief in ihrem Inneren zu verbergen, in einer stillen Kammer ihres Herzens, an die niemand rühren konnte, an die sie selbst kaum je zu rühren wagte, weil es viel zu weh tat, auch nur daran zu denken. Manchmal aber war doch etwas aus diesen tiefen Verliesen nach oben gekrochen, Trauer, Wut, Schmerz und Ohnmacht, Angst, und immer wieder diese Bilder, Fetzen von Rauch und Feuer, brüllende Flammen, ein glühender Himmel, das schrille Kreischen einer Magd, das Wiehern eines sterbenden Pferdes, das Gesicht ihres Bruders, die verkohlten Leichen ihrer Eltern. Bilder und Gerüche und Geräusche, die Morian ihrer Lebtag nie wieder vergessen wird und die sie manchmal in unbedachten Momenten heimsuchen. So wie jetzt in diesem Augenblick. Es dauert eine Weile, bis sie weitersprechen kann, und dann kommen die Worte zögernd und stockend. "Sie kamen kurz vor Einbruch der Nacht. Sie haben den Hof angezündet und alles niedergebrannt. Meine Eltern sind beide umgekommen, ebenso die Knechte, die Mägde, viele der Tiere, der Pferde, der Hunde. Meinen Bruder haben sie mitgenommen. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Als sie kamen, war ich zusammen mit Reyk, einem Knecht, und dem Pferdekarren in der Stadt, um am Hafen etwas abzuholen. Als wir wieder zum Hof kamen, brannte alles lichterloh und wir sahen diese Kerle, die ... es war einfach schrecklich. Ich kann es nicht erzählen, nicht hier und jetzt."

Für die Dauer einiger Herzschläge scheint sich das schützende Rynebéarn-Zelt mit den farbenfrohen Planen, den bunten Decken und Teppichen in schreienden, brennenden Wahnsinn zu verwandeln, der sanfte Feuerschein, der von draußen durch die Zeltleinwand dringt, wird zu einem flammenden Inferno, und nacktes Entsetzen kriecht in Morian hoch, als sie weiterspricht. "Es war nichts mehr zu retten, nichts. Am nächsten Tag fuhren wir in die Stadt, und hörten schon die ersten Gerüchte über diesen angeblichen "Verrat" meines Vaters, die van Houten sorgsam ausgestreut hat. Reyk und ich, wir reisten bis nach Ravensward, ich dachte, wenn ich bei Herzog Harthacnut vorspreche und erzähle, was ich gesehen habe und dass Van Houten diese Söldner bezahlt hat, würde sich alles aufklären. Wir hatten ja gehört, dass sie seinen Namen nannten und davon sprachen, dass sie sich gleich ihr Gold bei ihm abholen würden. Ich kann bei sämtlichen Göttern und Archonen beschwören, dass mein Vater niemals irgendwelche Heiratsverträge unterzeichnet hat, und er war auch ganz gewiss kein Verräter! Aber der Herzog wollte mich nicht einmal anhören." Allmählich schwinden der Schmerz und die Bitterkeit aus ihrer Stimme und weichen einer wilden, ohnmächtigen Wut und blanker Verzweiflung. "Aber er wird mich anhören, er wird mich anhören müssen. Ich werde nicht zulassen, dass van Houten damit durchkommt. Dieser elende Verbrecher hockt jetzt auf den Überresten dessen, was einmal mein Elternhaus gewesen ist, spielt sich als legitimer Erbe der De Navarres auf und lacht sich ins Fäustchen. Und er versucht mich zu finden, denn er weiß inzwischen, dass ich noch am Leben bin, und er weiß, dass ich ihn ans Messer liefern kann, wenn ich Beweise für seine Schandtaten auftreiben kann. Und diese Beweise werde ich finden, und wenn ich so lange suchen muss, bis ich schwarz werde. Als erstes muss ich diese Söldner kriegen. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich sie dazu bringen werde, ihren Auftraggeber ans Messer zu liefern, aber mir wird schon etwas einfallen. Mir muss einfach etwas einfallen. Und ich muss auch meinen Bruder finden. Diese Kerle haben ihn mitgenommen, also müssen sie auch wissen, was aus ihm geworden ist."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 27. Juni 2011, 16:41 Uhr
Die ganze Anspannung und der Ernst, die sich eben noch in Gelächter und haltlosem Kichern aufgelöst hatten, kehren augenblicklich zurück, als er noch einmal auf die Geschichte ihrer Eltern und die Geschehnisse ihrer Vergangenheit zurückkommt, die sie ihm am Flussufer in so wirren, hastig hervorgesprudelten Worten entgegengeschleudert hatte. Im allerersten Moment glaubt er schon, sie würde den Kopf schütteln oder seiner Frage ausweichen, und ihr Gesicht ist eine wahre Studie, hin und her gerissen zwischen Sorge, Zweifel, Auf-der-Hut-Sein, Trauer und dem verzweifelten Bedürfnis sich etwas von der Seele zu reden... mit irgendjemandem zu reden, weil man schon viel zu lange geschwiegen hat. Aber dann gibt Morian sich doch einen Ruck und beginnt zu erzählen und sie, die sonst nie um Worte verlegen ist, tastet sich eine ganze Weile beinahe vorsichtig an den Silben entlang. >Meinen Namen kennst du ja jetzt. Morian de Navarre. Bis zum letzten Herbst habe ich in Duisterhaven gelebt, oben ganz im Norden an der rhaínländischen Küste. Meine Familie hat da ein Stück außerhalb der Stadt einen hübschen kleinen Gutshof... das heißt, sie hatte...< Er kann den Kummer in ihrer Stimme hören, auch wenn sie sich sichtlich bemüht, so gefasst wie nur irgend möglich zu erzählen. Colevar lässt sie reden, lässt sie ihren eigenen Rhythmus finden, das zu berichten, was wie ein Mühlstein um ihren Nacken zu liegen scheint und unterbricht sie kein einziges Mal - obwohl sie immer wieder lange schweigt, in Gedanken weit fort und in schrecklichen Erinnerungen gefangen scheint, und er selbst sich hin und wieder auf die Zunge beißen muss, um keine Fragen zu stellen. Aber was immer er letztlich auch an Erklärungen und Gründen für ihr Verhalten und ihre Reise nach Süden erwartet hat, das ganz bestimmt nicht... oder wenigstens nicht in diesem Ausmaß: eine ganze Familie ermordet, der Bruder verschleppt und vielleicht ebenfalls tot, die Heimat, das Elternhaus und alle geliebten Menschen zerstört und vernichtet, der Name des Vaters nicht nur in den Dreck gezogen, sondern in Ungnade gefallen und geächtet, aller Besitz verloren und das eigene, gewohnte Leben auf einen Schlag unwiederbringlich vorbei, alle Träume, alle Pläne, alle Wünsche in tausend Stücke zerschlagen - für die Habgier einer anderen Sippe und die Rache eines zurückgewiesenen Mannes.  

>Es war nichts mehr zu retten, nichts. Am nächsten Tag fuhren wir in die Stadt, und hörten schon die ersten Gerüchte über diesen angeblichen "Verrat" meines Vaters, die van Houten sorgsam ausgestreut hat...< Fährt Morian fort und ihr Gesicht ist so weiß wie das einer Gefangenen im Schatten des Galgens, auch wenn allmählich ihr Zorn wieder die Oberhand gewinnt. > Mir muss einfach etwas einfallen. Und ich muss auch meinen Bruder finden. Diese Kerle haben ihn mitgenommen, also müssen sie auch wissen, was aus ihm geworden ist.<
"Es tut mir Leid um deine Familie, Morian." Colevar meint was er sagt und das ist seiner Stimme auch anzuhören – auch wenn kein Wort des Trostes, der Hoffnung oder des Bedauerns ihr wiedergeben können, was sie verloren hat oder ihren Schmerz zu lindern vermögen. Das kann nur die Zeit und vielleicht nicht einmal die. Aber er kann etwas anderes tun - und das wird er auch. Er war noch nie ein Mann, der sich von einer Aufgabe, die er als seine ansieht, abgewandt hätte - und er hat die Worte des Vasalleneides von eben noch deutlich im Ohr: 'Ich schwöre bei den Göttern und ihren Archonen und bei allen Heiligen, dass ich Euch schützen und für Euch sorgen werde. Ich werde Hunger, Kälte und Schaden von Euch fernhalten...' Er hat ihr versprochen, auf sie aufzupassen, damals, als sie noch ein Junge namens Morren gewesen war, und auch ihr wahrer Name und die Tatsache, dass sie eine Frau ist, ändern nichts daran, dass er sich für sie verantwortlich fühlt. Sie hat ihm einen Eid geschworen und er hat sie als Schildmaid angenommen. Ob zum Guten oder zum Schlechten, jetzt gehört sie zu ihm. Wollen wir doch mal sehen, wie dieser van Houten und seine Kopfgeldjäger das wohl finden... Eine Weile – eine lange Weile – herrscht Schweigen in dem kleinen Zelt. So lange, dass sich die Schatten ausdehnen, als das große Feuer der Rynebéarn bis auf die Glut niederbrennt und es draußen allmählich ruhiger wird. Auch Morian, aufgewühlt und mitgenommen von ihrer Erzählung und den Erinnerungen, die mit jedem Wort auf sie eingestürmt sein mussten, beruhigt sich. Etwas entfernt können sie immer noch schwach hören, wie ringsum weiter gefeiert wird, aber Musik, Tanz und Gelächter sind inzwischen weiter gezogen und haben sich an anderen Feuern niedergelassen. "Wir finden deinen Bruder, Morian. Wenn er noch am Leben ist und die Söldner ihn nach Süden verschleppt haben, muss es irgendwo Spuren geben.

Aber als allererstes müssen wir dir ein Pferd besorgen, aye? Wenn wir weiter so langsam vorankommen, wie bisher, sind die Söldner und alle Spuren, die sie möglicherweise hinterlassen haben, längst verschwunden und kalt, ehe wir auch nur in die Nähe der Herzlande kommen. Es war klug von dir, dich als Junge zu verkleiden und ahm... es ist auch ziemlich überzeugend. Du solltest es vielleicht beibehalten. Und wir werden mit den Klingenübungen beginnen, sobald wir wieder unterwegs sind. Ich will, dass du mit einem Dolch oder einem Kurzschwert umgehen kannst, wenn wir sie aufspüren." Er hätte ihr gern die Hand auf die Schulter gelegt, ihren Unterarm oder eine ihrer Hände kurz gedrückt oder eine ähnliche Geste gemacht, die unverfänglich und tröstlich zugleich ist, irgendetwas, das ihr auch ohne viele Worte sagen würde, dass sie nicht mehr allein ist. Aber er tut es nicht. Vielleicht, weil sie sich so um Tapferkeit bemüht hat - nicht ein einziges Mal ist ihre Stimme gebrochen, sie hat die Fassung nicht verloren und sie hat nicht auch nur eine Träne geweint. Stattdessen hat sie sich an ihre Wut geklammert, um den Schmerz flach zu halten und der Verzweiflung keinen Raum zu geben, da hat sie es verdient, dass er ihr ihren Stolz lässt. Seine Worte lassen sie noch einmal nicken und sie versucht sich sogar an einem zaghaften Lächeln, doch auch wenn die Linien der Anspannung in ihrem Gesicht sich wieder geglättet haben, der Kummer ist immer noch deutlich in ihren Augen zu lesen. "Versuch ein wenig zu schlafen, wenn du kannst. Wir müssen mit der Sonne aufstehen, denn der Viehmarkt beginnt  mit dem ersten Hahnenschrei und die guten Pferde werden bald weg sein, wenn wir uns nicht beeilen. Ich gehe nur kurz und... sehe nach den Pferden und hole die Ziege, bevor sie wer weiß was anstellt."
Er findet Filidh und Hühnchen in friedlicher Eintracht vor einem wahren Berg Heu in einem leeren Viehgatter, dass die Rynebéarn umsichtig irgendwo organisiert hatten, doch es dauert eine Weile, bis er Zora aufspürt – hinter einem kleinen Stapel inzwischen leerer Weinfässer und bis über die langen Ohren in den traurigen Überresten eines Lumpenkorbes verschwunden. Sie hat mindestens vier verschiedene, völlig zerkaute Fetzen undefinierbarer Lappen im Maul, die wohl einmal bunte Stoffreste waren. Wenigstens hat sie keine teuren Gewänder oder gutes Leder angefressen. Er nimmt ihr die Beute ab und zerrt sie - anstandshalber mit ihr schimpfend - am Halsband zu ihrem Zelt zurück, wo er sie für die Nacht an einem langen Strick aus Bitterweidenfasern anpflockt, den sie sich klugerweise unterwegs beschafft hatten... Bitterweide ist auch das einzige, das selbst dieser maulfixierten Ziege absolut nicht zwischen die Zähne kommt.

Als er selbst, rechtschaffen erledigt und in Gedanken immer noch mit den Ereignissen des Tages, den unerwarteten Entwicklungen und Morians Geschichte beschäftigt, ins Zelt zurückkommt, schläft sie tatsächlich... oder tut zumindest so, als ob. Colevar glaubt nicht, dass er so schnell Ruhe finden wird, dennoch bewegt er sich leise, um sie nicht zu stören, schnallt den Waffengurt ab, schlüpft aus seinen Stiefeln und kriecht in seine Schlaffelle. Die Nacht ist nicht kalt, aber auch alles andere als lau und er ist froh über die weichen Teppiche, Felle und Decken, die sie vom klammen Boden trennen. Es ist kein Federbett mit einer Rosshaarmatratze oder weichem frischem Stroh in einem Gasthof, aber es ist besser, als die Nacht unter freiem Himmel irgendwo am Straßenrand zu verbringen. Der Nachtwind bewegt die bunten Stoffbahnen der Zeltwand und Colevar schließt die Augen, lauscht der Stille und Morians langsamen, gleichmäßigen Atemzügen. Er entspannt die Muskeln seiner Arme und Beine, seines Hinterns und seines Rückens und atmet selbst ruhig und tief – nicht um zu schlafen, an Schlaf ist nicht zu denken und er hat nicht vor, ihn zu erzwingen. Kaum jemand schläft heute in 'Venrays Rast', geistert es ihm durch den Kopf. Aber wohl kaum aus denselben Gründen wie du. Das Geräusch des Nachtwindes übertönt inzwischen das Murmeln der Stimmen und das Rascheln der Bewegungen der nimmermüden Gäste des Grünen Tanzes, aber seine Kriegersinne registrieren die Unruhe hier und da, erkennen mit halbem Ohr gehörte Dinge, ordnen bewegte Schatten ihren Besitzern zu. Ein paar Töne einer Melodie treiben mit dem Wind heran – Trommeln und Geigen von denen, die immer noch keine Lust verspüren, die seltene Gelegenheit zum Feiern der Müdigkeit zu opfern, obwohl es weit nach Mitternacht sein muss. Colevar lässt seine Gedanken wandern und eine Weile schweifen sie ziellos hierhin und dorthin... er muss all das gehörte erst einmal verdauen und einiges davon liegt ihm wie ein Stein im Magen. Noch immer fällt es ihm schwer, von Morian als Mädchen zu denken, die Wahrheit mit seiner Vorstellung zu vereinen. Du wolltest noch nicht einmal einen Knappen. Genaugenomen war das allerletzte, das du wolltest, irgendeine Frau in deiner Nähe. Jetzt hast du eine Schildmaid. Noch dazu eine mit einem ganzen Rattenschwanz von Schwierigkeiten im Schlepptau. Und vor sich. Und weil sie ist, was sie ist und du bist, was du bist, sind es jetzt auch deine Schwierigkeiten.

Er sollte wirklich wütend sein. Auf sie, auf sich, auf das Schicksal - und auf Sithech selbst. (Die meisten halten den Herrn von Tod und Winter für vollkommen humorlos, aber Colevar weiß es besser.) Aber alles, was er fühlt, ist Verwirrung. Selbst jetzt, mit der Wahrheit vor der Nase und all dem Gehörten im Ohr, fällt es ihm schwer, sie als die junge Frau zu sehen, die sie nun einmal ist. Nicht weil sie so knabenhaft, derb oder hässlich wäre, im Gegenteil. Sei ehrlich, mahnt er sich. Filidh kann ihn zwar nicht hören, aber er ist nahe genug - und Colevar ist sich keineswegs so sicher, ob der Hengst nicht vielleicht auch noch Gedanken lesen kann oder etwas ähnliches. Es kommt ihm jedenfalls oft genug so vor. Morren ist fort. Was in Wahrheit an dir nagt, ist das Gefühl, einen Freund verloren zu haben. "Mmpf." Mit einem leisen Schnauben wälzt er sich auf den Rücken und starrt aus dem Spalt des Eingangs in die Nacht hinaus. Es spielt keine Rolle. Sie ist er und er ist sie. Sie ist immer noch derselbe Mensch! Das ist nicht gelogen. Aber es ist auch nicht ganz die Wahrheit. Es ist alles in Ordnung, beruhigt er sich und reißt das Unkraut der Zweifel entschlossen aus seinen Gedanken. Leider ist es recht hartnäckig. Wem versuchst du, etwas vorzumachen? Dir oder ihr? Du magst sie und genau das ist dein Problem. Wechsle das Thema, warnt ihn sein Verstand. Sofort! Dummerweise hört sein eigener Kopf im Augenblick wenig auf ihn. Ist es das? Es wäre einfacher, wenn ihm nichts an ihr liegen würde, das ist wahr. Er hatte Morren gemocht und irgendwo in seinem Inneren rumort tatsächlich das Gefühl, einen Freund verloren zu haben. Oder jemanden, der mit der Zeit ein wirklich guter Freund hätte werden können. Dann ist doch alles bestens. Du hast Morren gemocht, du kannst auch Morian mögen. Was soll daran so schwierig sein? In Wahrheit ist nichts mehr in Ordnung. Es sollte vielleicht nichts ändern, aber das tut es doch. Es ändert alles und er weiß es auch.  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 05. Juli 2011, 17:12 Uhr
"Wir treffen uns also zur zehnten Stunde dort drüben bei den Viehgattern?", vergewissert Morian sich und weist mit dem Daumen vage in Richtung der plattgetrampelten Wiese, auf der der Viehmarkt schon im Gange ist, obwohl die Sonne noch nicht einmal richtig aufgegangen ist. Bereits vor dem Morgengrauen waren sie verschlafen aus den Fellen gekrochen und hatten bei einem kargen Frühstücks dann vereinbart, dass Colevar in die Stadt reiten würde, um dort seine Aufträge zu erledigen und den zu überbringenden Langbogen sowie die Brosche bei ihren jeweiligen Besitzern abzuliefern, während sie sich auf dem Markt einstweilen schon nach einem geeigneten Reittier umsehen könnte. Nun nickt er zu ihrer Frage nach dem Treffpunkt, schwingt sich auf Filidhs Rücken und hebt die Hand zu einem kurzen Abschiedsgruß, um sich dann nach Venray aufzumachen. Morgengrauen ist eindeutig viel zu früh zum Aufstehen, konstatiert Morian blinzelnd und muss so herzhaft gähnen, dass sie sich fast den Kiefer ausrenkt, als sie ihm nachsieht. Wie soll ich denn ein passendes Pferd finden, wenn ich zu dieser nachtschlafenden Zeit noch nicht einmal die Augen offen halten kann? Zwar hatte sie nach den ganzen Anstrengungen und Aufregungen des vergangenen Tages - einschließlich ihrer Begegnung mit den gastfreundlichen Rynebéarn, des heftigen Disputs mit dem schockierten Colevar, einem unfreiwilligen Bad im eiskalten Bree und einer reichlich erschöpfenden Generalbeichte - geschlafen wie ein Stein, aber die Nacht war einfach viel zu kurz gewesen. Colevar dagegen scheint die ganze Nacht kein Auge zugetan zu haben und sieht mit stoppeligen Bartschatten und dunklen Ringen unter den Augen noch weitaus schlimmer aus als sie.

Meine Offenbarung hat ihn wohl doch mehr mitgenommen, als er zugeben will, mutmaßt Morian, als sie gemächlich in Richtung der Viehgatter schlendert. Wobei ich glaube, dass er sich dabei mehr darüber ärgert, dass er wochenlang nicht gemerkt hat, dass ich gar kein Junge bin, als über die Tatsache an sich. Aber deswegen hätte er mich trotzdem nicht gleich in den Fluss werfen müssen, meine Güte. Ich verstehe ja, dass er sich an der Nase herumgeführt fühlt, aber dass er gleich so hysterisch reagiert? Immerhin bin ich ja trotz allem noch die selbe Person. So ganz versteht sie seine Aufregung wirklich nicht, denn im Grunde kann es ihm doch eigentlich egal sein, welchen Geschlechts das Kerlchen ist, das sich um die Pferde, das Essen und das Feuerholz kümmert. Und die Gelegenheit, es ihm zu sagen, hatte sich bislang eben einfach nicht ergeben gehabt. Das heißt, wenn man es ganz genau nehmen will, hat sie sich wohl auch ein wenig davor gedrückt - auch wenn es irgendwann ja doch herausgekommen wäre. Naja, und wenn er gar so harsch reagiert ... vielleicht ist er wegen seiner verflossenen Liebe zur Zeit einfach schlecht auf Frauen zu sprechen, oder er will keine bei sich haben, oder wie auch immer. Wenn mich ein Kerl so schmählich hätte sitzen lassen, würde ich bestimmt auch einen großen Bogen um jeden Mann machen. Zum Glück ist er wenigstens nicht allzu nachtragend, sonst hätte er mich vermutlich nicht nur in den Bree segeln lassen, sondern mich gleich so lange mit dem Kopf unter Wasser getaucht, bis ich keinen Mucks mehr von mir gegeben hätte. Oder mich bei Van Houten abgeliefert und die Belohnung kassiert. Also ist es schon ziemlich nett von ihm, mich trotz allem weiterhin mitzunehmen. Er will ja sogar mit mir nach meinem Bruder suchen! Und das muss sie ihm wirklich hoch anrechnen: dass er sie nicht einfach hängen lässt, sondern wirklich hält, was er versprochen hat. Auch wenn er es im Moment mit reichlich Zähneknirschen tut. Am allermeisten aber erleichtert es sie, dass Colevar jetzt die ganze Geschichte und auch ihre Identität kennt, so muss sie ihm wenigstens nichts mehr vorspielen und auch keine wirren Lügengeschichten mehr erfinden, was ihr einen wahren Mühlstein vom Herzen plumpsen lässt. Als er sich eben verabschiedet hat, war er zwar ein wenig wortkarg gewesen, aber sie hat nicht das Gefühl, dass er ihr noch sehr zürnt, nachdem sie sich am Abend zuvor völlig leergeschimpft haben. Der Tag lässt sich also im Grunde ganz gut an, frohlockt sie. Jetzt muss ich nur noch ein Pferd finden.

Der Viehmarkt ist schon in vollem Gange, als sie die Wiesen mit den unzähligen Gattern und Pferchen erreicht. Es wimmelt vor Frühaufstehern, vor Bauern in derben Stiefeln und speckiger Arbeitskleidung, reichen Viehzüchtern aus dem Umland, vor Schafhirten und durcheinanderrennenden Rossknechten, und natürlich vor allen nur erdenklichen Vierbeinern, die hier zum Verkauf angeboten werden. Das Gewimmel, das auf dem Gelände herrscht, ist trotz der frühen Stunde unbeschreiblich, und der Lärm ist wahrhaft ohrenbetäubend. Es wiehert, schnaubt und meckert, blökt, mäht, muht, brüllt, i-aht und grunzt, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Gemächlich bummelt Morian über die Wiese, vorbei an den Schafsgehegen, in denen sich eine schier unüberschaubare Menge an Tieren in mindestens zehn verschiedenen Rassen tummelt, vorbei an Ziegen in allen Größen einschließlich eines wirklich beeindruckenden Bucca-Geißbocks mit ausladenden Hörnern und einem Kinnbart, der ihm beinahe bis auf die Hufe hinabreicht (Zora wäre bestimmt begeistert und würde kaum noch mit dem Augenklimpern nachkommen), struppigen Eseln und vor sich hin dösenden Milchkühen, und schließlich auch an einem prächtigen Godinbullen, der bestimmt eineinhalb Quader auf die Waage bringt und zehn stämmige Knechte braucht, um ihn in Anwesenheit der vielen Kuhdamen zu bändigen. Der Bulle scheint nicht nur die Helfer nervös zu machen, die ihm schwitzend im Nacken hängen, sondern obendrein auch noch seine ganze Umgebung. Ein Pulk Feuerblutpferde, die gerade von zwei ziemlich überforderten Rossknechten an dem Bullengatter vorbeigeführt werden, geraten angesichts dieses riesigen, schnaubenden Untiers so in Panik, dass sie Hals über Kopf die Flucht ergreifen und wiehernd und augenrollend über den Platz davonrasen, mit flatternden Mähnen und schleifenden Halfterstricken, an deren hinteren Enden die beiden Knechte mehr oder weniger hilflos herumbaumeln. Die heißblütigen Rösser reißen einen Flechtzaun nieder und zerren gut fünfzig Schritt Absperrseil hinter sich her, dann sprengen sie mitten in eine Schafherde, die blökend auseinanderstiebt und in alle Himmelsrichtungen davongaloppiert.

Es dauert bestimmt eine halbe Stunde und braucht etliche Helfer, viel Geschrei und noch mehr Gezeter, bis alle Tiere wieder eingefangen sind und sich beruhigt haben. Währenddessen schlendert Morian zum hinteren Teil des Geländes, wo am Flussufer unter Eschen und ausladenden Weiden die zu verkaufenden Pferde Quartier bezogen haben. Eine Weile bummelt sie ziellos zwischen den Rössern umher, die entweder an den Bäumen angebunden, angepflockt oder in provisorisch errichteten Gattern stehen, und lässt den Blick unentschlossen über die Tiere schweifen. Sie weiß nicht so recht, nach was genau sie suchen soll. Ein Arbeitspferd am besten. Gesund muss es sein, kräftig, brav und trittsicher. Auf keinen Fall ein zweites Hühnchen - sagt Colevar. Und viel kosten soll es natürlich auch nicht - sage ich. Den Pferch mit den Feuerblutpferden gleich zu Anfang lässt Morian links liegen (viel zu zickig und nervös), ebenso die Ponys (zu klein), eine Gruppe prächtiger Rháinländer Riesen (zu groß), und auch die Abteilung mit den Schlacht- und Streitrössern (zu teuer). Aber sie lässt es sich dennoch nicht nehmen, die schönen Tiere ausgiebig zu bestaunen und zu bewundern, bevor sie sich den Arbeitspferden zuwendet, die ihr für ihre Zwecke am geeignetsten erscheinen. Gut zwei Stunden lang besieht sie sich alle in Frage kommenden Reittiere, hebt Hufe und Schweife, tastet sorgfältig Beine ab und inspiziert kritischen Blickes bestimmt zwei Dutzend gebleckte Pferdegebisse. Am Schluss dieser eingehenden Besichtigungstour bleiben schließlich drei Pferde übrig, die sie für halbwegs geeignet hält. Ihr Liebling darunter ist ein robustes, kleines Skjernpferdchen mit freundlichen braunen Augen, in das sie sich gleich verguckt hat, bei dem sie aber vermutet, dass Colevar es wegen seiner geringen Größe nur auslachen und für ungeeignet erklären würde. Dann gibt es noch einen großen Gelderlâner Fuchswallach, ein ehemaliges Kutschenpferd, der recht interessant aussieht, aber er hat etwas Verschlagenes im Blick, das Morian nicht gefällt, und außerdem ist er mit annähernd zwanzig Lebensjahren auch fast schon zu alt.

Und dann hat Morian auch noch eine schwere Cardosser Stute entdeckt, die sie nun mit argwöhnisch gefurchter Stirn umkreist. Sie sucht den berühmten Haken an dem Pferd, hat bislang aber noch keinen finden können, obwohl sie sich sicher ist, das es einen geben muss. Der Besitzer, ein kleiner, feister Mann mit rotem Gesicht und breitem Grinsen, preist die Stute an wie Sauerbier und ist bereit, sie für einen Spottpreis abzugeben. Also muss sie ja wohl irgendeinen Fehler haben. Der Kerl würde sie doch sonst nicht so billig hergeben, das gibt's doch nicht! Die Stute ist groß, sehr groß sogar, oder eigentlich fast schon riesig, hat bestimmt über eindreiviertel Schritt Schulterhöhe und eine Brust so breit wie der Ginnungagap. Ihre Beine sind kräftig und schön gerade, die Hufe gesund und die gewaltigen Hinterbacken würden sogar einem Mammut alle Ehre machen. Das Pferd schaut rundum gesund und wohlgenährt aus, und es scheint zudem ruhig und fügsam zu sein, denn es lässt sich ohne auch nur mit der Wimper zu zucken die Beine hochheben und ins Maul schauen. Ich kapier' das nicht! Irgend etwas muss mir doch hier entgehen... "Und sie lässt sich auch wirklich reiten?", bohrt Morian nach und umkreist ungefähr zum siebenundzwanzigsten Mal die Stute, die an ihren Hosentaschen herumschnobert und sanft wie ein Lämmchen dreinschaut. "Aber natürlich lässt sie sich reiten, wo denkst du hin! Ihr letzter Besitzer war ein Ritter aus Wolfsgrimm, der hat sie sogar beim Lanzenstechen geritten. Und sie geht auch vor einer Kutsche oder einem Karren oder meinetwegen auch einem Pflug, ganz wie du's brauchst. Einen schlafenden Säugling könntest du auf ihren Rücken setzen und der würde nicht einmal beim Galopp aufwachen. Jaja, so sanftmütig wie ein Schaukelpferdchen. Und Sattel und Zaumzeug gibt es noch dazu. Ja, sie ist wirklich ein Goldstück, die gute Snerra." Argwöhnisch hebt Morian eine Braue.

"Snerra?" Irgendwie kommt ihr das Wort bekannt vor, aber ihr fällt gerade beim besten Willen nicht ein, was es bedeutet, so angestrengt sie auch überlegt. Morfrysk ist es jedenfalls nicht, vielleicht irgendeine andere nordische Sprache. "Hm, und Ihr sagt, sie ist erst sieben Jahre alt?" Der Händler nickt eilfertig, zieht der Stute die Lippen auseinander und präsentiert Morian zum wiederholten Male Snerras lange, gelbe Zähne. Sie ist nun wirklich kein Experte im Begutachten von Pferdegebissen, aber selbst sie kann anhand der gefletschten Beißerchen der erkennen, dass die Stute wirklich noch kein altes Pferd sein kann. "Hmmm", macht sie zweifelnd und tritt zwei Schritte zurück, um das Pferd noch einmal aus einiger Entfernung zu studieren. Der Händler hat offenbar Angst, dass Morian das Interesse und er einen potentiellen Kunden verlieren könnte, denn er setzt sofort nach und tut mit schmeichlerischer Stimme kund: "Ich kann ja mit dem Preis noch ein wenig heruntergehen ... was meinst du? Schlag ein, Junge!" Das geht Morian jetzt doch ein wenig zu schnell, also hebt sie die Hand, als wolle sie auf einem überfüllten Wegkreuzung den Durchgangsverkehr regeln, und gebietet dem Händler Einhalt. "Da muss ich aber zuerst meinen Herrn fragen. Wartet hier, ich bin gleich wieder da!" Schon im Laufen dreht sie sich noch einmal um und ruft über ihre Schulter zurück: "Und verkauft sie bloß nicht an jemand anderen, bevor ich wieder zurück bin, habt Ihr gehört?" Im Laufschritt eilt sie dann quer über das Gelände und zu den Viehgattern am Rand der Wiese, wo sie mit Colevar verabredet ist. Hoffentlich kommt er bald, nicht dass die Stute doch einen anderen Käufer findet. So ein feines Pferdchen ist bestimmt schnell weg.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 09. Juli 2011, 14:30 Uhr
Als Colevar Venray - eine eher kleine, aber schmucke Stadt mit zahlreichen Fachwerkhäusern, einem schier unüberschaubaren Gewirr verwinkelter Gässchen, wenigen, kleineren Tempeln, aber endlos vielen Wirtshäusern und einer sagenhaft beeindruckenden, kaum sechs Schritt hohen Wehrmauer -, wieder verlässt, herrscht schon reges Treiben auf der gepflasterten Straße von Venray zum Frostweg. Alles, was Beine hat und ein wenig freie Zeit sein Eigen nennt, scheint zum Viehmarkt und dem Grünen Tanz unterwegs zu sein. Seine Aufträge waren rasch und sehr zu seiner Zufriedenheit erledigt – er hatte den Bogen, den Köcher und den Anhänger abgeliefert, und war tatsächlich recht gut für das bisschen Mühe entlohnt worden. Seine letzten Gold- und Silberreserven würden für das neue Pferd draufgehen, aber mit den Münzen, die er sich gerade durch simple Botenarbeit verdient hatte, würden sie immerhin bis Brugia nicht hungern müssen und mit Glück auch in richtigen Betten schlafen. Die zehnte Stunde ist schon nahe. Er hatte lange suchen müssen, bis er die Witwe mit ihrem vermaledeiten Anhänger ausfindig gemacht hatte - und noch einmal so lange gebraucht, um ihre endlose Abfolge von Dankbarkeitsbezeugungen abzuwehren  - und Colevar ist hungrig, müde und weiß immer noch nicht so recht, wie er sich fühlen soll. Oder warum er eigentlich Schwierigkeiten mit der Tatsache hat, dass Morian eine Frau ist. Oder warum er sich überhaupt den Kopf darüber zerbricht. Oder was es ihn eigentlich angeht. Nun ja, das tut es schon. Er... sie... ist schließlich deine Schildmaid. Oder warum... Grrmpf!

Colevar ist so damit beschäftigt, mit sich selbst und seinen in drei Dutzend Richtungen abschweifenden Gedanken zu hadern, dass er den Mann am Straßenrand, der ihn mit dem Arm zum Halten auffordert, erst  sieht, als Filidh den Kopf hochwirft und schnaubt. Er reitet langsam auf ihn zu, doch neben ihm selbst sind noch einige andere in unmittelbarer Nähe auf der Straße unterwegs und die Pflastersteine grenzen an wohlgeordnete Weiden und offenes Ackerland, nicht an Dornendickichte und undurchdringliche Wälder – es ist kaum wahrscheinlich, am helllichten Tag auf dem Weg von Venray zu Venrays Rast von einem einsamen Alten angegriffen zu werden. Alt ist der Mann allerdings; sein Gesicht sieht aus wie der Schlackenteich einer Zinnmine, er stützt sich auf einen schweren Speer und sein langes Haar ist zu einem dicken, eisengrauen Zopf geflochten. Aber seine Schultern sind breit, seine Arme sehnig, seine Haltung ist stolz und seine Gewänder sind abgetragen, wenn auch von guter Qualität. Beunruhigenderweise baumeln von seinem breiten Waffengurt neben zwei Jagdmessern auch mehrere dünne Lederriemen und ein Paar kurzer, eiserner Fußfesseln.
"Den Göttern zum Gruß", beginnt der Alte, als Colevar in etwa zwei Schritten Entfernung sein Pferd zügelt. Colevar entspannt sich ein wenig, ist aber nach wie vor auf der Hut. "Kann ich irgendetwas für Euch tun?"
"Das hängt davon ab, was Ihr mir erzählen könnt, Sire." Der Alte ist ein Môrlander, auch wenn seine Allgemeinsprache gut und fließend ist. "Ich bin auf der Suche nach einer jungen Frau namens Morian de Navarre. Kennt Ihr sie vielleicht?"

"Sollte ich das denn?" Colevar lässt sein Gesicht zur Maske werden, um seinen Schrecken zu verbergen. Die Frage des Alten bringt ihn aus der Fassung, aber er lässt sich nichts anmerken und die Lügen kommen leicht und flüssig von seinen Lippen. So viel zu 'Sein Mund spricht nur die Wahrheit'...
"Möglicherweise", erwidert der Fremde kryptisch und mustert ihn scharf. "Ihr seid doch den Frostweg von Norden herunter gekommen. Ihr habt in Schattenfeste Halt gemacht. Und Ihr habt die Anschlagtafel des Wirtes durchgesehen, sonst hättet Ihr weder die Witwe aufgesucht, noch den Bogen abgeliefert, nicht wahr? Ich gehe also davon aus, dass Ihr auch den Steckbrief gelesen habt." Ein Kopfgeldjäger, der mich für einen ungelegen kommenden Kameraden der eigenen Zunft hält...
"Vielleicht würde ich mich daran erinnern, wenn nur die Belohnung ein wenig höher gewesen wäre", erwidert Colevar gelassen und der Alte lacht. "Wer ist diese Morian und warum sucht Ihr nach der Frau?"
"Aus Liebe, warum sonst?"
"Aus Liebe?" Colevar legt die Stirn in Falten und hebt verwundert eine Braue.

"Oh ja, aus Liebe zum Gold. Ihr wisst doch, wer Halfdan van Houten ist, hoffe ich? Der Lord hat einen weiteren dicken Beutel Gold ausgelobt, eben für dieses Mädchen, von dem Ihr noch nie gehört habt. Ihr bringt ja lieber Anhänger und Langbögen zu irgendwelchen Witwen und Möchtegernbogenschützen. Nun... ich bin nicht mehr der Jüngste und kein habgieriger Mann. Wenn Ihr, Sire, mir helfen würdet, dieses ungezogene Kind zu finden, damit die Kleine van Houtens Eheweib werden kann, wie es vereinbart wurde, würde ich die Münzen des Lords mit Euch teilen."
"Ich kenne keine Morian de Navarre," beharrt Colevar und schafft es tatsächlich, ziemlich gelangweilt zu klingen. "Und ich erinnere mich auch nicht an einen Steckbrief auf diesen Namen. Abgesehen davon, alter Mann", fügt er hinzu und nimmt die Zügel wieder auf. Soll der argwöhnische Kerl doch glauben, dass er selbst ein Menschenfänger ist. Konkurrenz belebt das Geschäft oder wie war das? Götter im Himmel, ich muss Morian finden. Lasst sie ein Pferd aufgetrieben haben, irgendeines, "...jage ich immer allein. Gehabt Euch wohl." Sein Gruß klingt allerdings ungefähr so freundlich wie: Fallt vom Pferd und brecht Euch den Hals!, soll der Alte davon doch halten, was er will. Das Gesicht des Mannes verkrampft sich, genau wie seine Hand um den Speerschaft, als Colevar davon reitet und ihn am Straßenrand stehen lässt. Im ersten Moment glaubt er, dass der Kopfgeldjäger aufsteigen und ihm folgen könnte, doch als er sich umsieht, steht der Mann noch reglos an der Straße und sieht ihm nach.

Allen Göttern sei Dank wartet Morian am vereinbarten Treffpunkt bereits auf ihn, und Colevar ist sich sicher, dass ihm niemand gefolgt ist – jedenfalls hat er den Fremden im Gewühl des Viehmarkts nirgendwo entdecken können. So ungeduldig wie Morian aussieht und von einem Bein aufs andere tritt, hat sie tatsächlich ein Pferd gefunden. Venray mag klein sein, aber es ist eine bedeutende Stadt in unmittelbarer Nähe des Frostweges, um diese Jahreszeit ist bereits einiges los auf der großen Handelsstraße und die Geschäfte blühen – entsprechend viele Leute sind zum Grünen Tanz und dem Viehmarkt gekommen, es sollte eigentlich nicht schwierig sein, in der Menge unterzutauchen. Hmpf. Du bist ja auch eine so unauffällige Erscheinung... und dein Pferd erst... Filidh sticht selbst unter dieser Menge an guten Pferden hervor und Colevar beeilt sich, aus dem Sattel zu steigen, Morians Arm zu nehmen und sie alle schleunigst vom Präsentierteller neben dem Viehgatter herunter und hinein ins allergrößte Getümmel zu bugsieren, das sich auf die Schnelle gerade erreichen lässt. "Sag mir, dass du ein Pferd gefunden hast, aye?" Morian, ein wenig verwirrt über seine Dringlichkeit, nickt, fügt aber gleich hinzu, dass es da wohl irgendeinen Haken geben muss, denn es sei ein wirklich großes, junges, gesundes Pferd, das zu einem Spottpreis zu haben wäre. Colevar hält ihren Arm fest und schiebt sich durch die Menschenmenge, die ihnen – vor allem Filidh samt seinen angelegten Ohren (er kann sehr überzeugend einen wirklich gefährlichen, äußerst übellaunigen Hengst schauspielern, wenn es sein muss), aber auch seiner eigenen, unmissverständlichen Miene – eilig Platz macht. "Hat es vier Beine, kann geradeaus laufen und wird nicht nach einem Tausendschritt zusammenbrechen? Aye? Dann nehmen wir es. Wo entlang?"

Morian wäre nicht Morian, würde sie nicht augenblicklich die Fersen in den Boden rammen und wissen wollen, was los sei, warum er es auf einmal so verflixt eilig habe und wieso er ein Gesicht mache 'wie Sieben Tage Regenwetter' (nicht, dass es heute Morgen besser gewesen wäre). Colevar schnaubt leise und wirft einen Blick über die Schulter, aber es ist kein speerschwingender Alter in Sicht. 'Lieber übervorsichtig, als Bruder Leichtfuß'... Colevar weiß nicht, wie oft er diesen Satz als Junge von Rhordri oder Vareyar in der Steinfaust zu hören bekam, aber Gefahr im Verzug oder nicht, er würde weder Morians Tarnung, noch ihre Sicherheit aufs Spiel setzen. "Wir haben keine Zeit für Erklärungen, Morren", erwidert er und sieht ihr lange genug in die Augen, um ihr klar zu machen, dass sie jetzt besser stur an ihrer Verkleidung als Junge festhält und zwar möglichst überzeugend. Obwohl sie noch keine Ahnung hat, worum es eigentlich genau geht, reagiert sie sofort, wenn auch etwas anders, als erwartet. Morian flucht höchst unmädchenhaft etwas auf Môrfrysk, das er nicht versteht, aber ein Viehhändler hinter ihnen offenbar schon, denn er macht ein reichlich schockiertes Gesicht. "Verdammt", schimpft sie weiter, diesmal eine halbe Oktave tiefer und wechselt wieder in die Allgemeinsprache. "Sowas blödes!" Sie nimmt die Mütze ab, fährt sich mit der Hand über die Augen und durch das ehemals wohl recht kurzgeschorene, inzwischen aber wieder kinnlange Haar, so dass die dunklen Strähnen in alle Richtungen abstehen. Sie wirkt erhitzt, zerzaust und durch und durch verärgert - und Colevar bekommt zum ersten Mal eine vage Ahnung, wie sie aussehen könnte, wenn sie nicht mehr Morren der vorlaute Knappe mit dem Hackebeil-Haarschnitt sein müsste, der ein Milchbart ist, Mädchenwimpern hat und ein paar Pfund mehr auf den mageren Rippen vertragen könnte. Denk nicht daran. Denk noch nicht einmal darüber nach!

"Kopfgeldjäger", raunt er, als er sie weiterdrängt und Morian vage in Richtung Flussufer wedelt und irgendetwas von "dort unten bei den Weiden" murmelt. "Er sucht nach dir. Aus irgendeinem  Grund hält er mich anscheinend für einen ahm... Arbeitskollegen und glaubt ich kenne deinen Steckbrief. Aber er hatte Spendierhosen an, denn er hat mir glatt angeboten, das Kopfgeld mit mir zu teilen, wenn ich ihm helfe, dich zu finden und zu van Houten zurück zu schleppen. Oder er wollte auf diese Art herausfinden, ob ich irgendetwas weiß. Offenbar hat dein liebender Bräutigam das Kopfgeld um eine schöne Summe erhöht. Wo entlang jetzt?"
Morian dirigiert ihn zwischen einem Dutzend Pferdegattern oder mehr hindurch, vorbei an Feuerblutpferden, Rhaínländer Riesen, stämmigen Skjernponys und feinnervigen Gelderlânern,  doch sie müssen nicht sehr weit gehen, ehe sie vor einer wunderschönen, grauweißen Stute aus Cardossa Halt machen – die im Übrigen ganz nach Filidhs Geschmack ist, auch wenn sie für seine prompten Avancen kaum einen müden Blick übrig hat. "Sithechs Knochenhintern", murmelt Colevar leise und für einen Moment sind sämtliche Kopfgeldjäger Rohas vergessen. Es ist ein wirklich gutes Pferd und genau wie Morian, sucht er in Gedanken sofort nach dem Haken – falls das mit dem Spottpreis denn stimmen sollte. Er kann jedoch vorerst nur einen kurzen Blick auf die Stute werfen, dann ist er gezwungen Filidh erst einmal außer Reichweite zu bringen und ein Stück weit entfernt anzubinden, da der Fryslâner das desinteressierte Blinzeln der grauweißen cardosser Schönheit gleich für eine Einladung hält. Kaum ist Colevar zurück bei Morian und ihrem - möglicherweise - neuen Pferd, ist auch der Händler schon zur Stelle... und hat es scheinbar ziemlich eilig, das Tier loszuwerden.  

Sie haben keine Zeit zu feilschen oder der Stute wirklich auf den Zahn zu fühlen, denn auch wenn sie nicht in unmittelbarer Gefahr sind, sie wollen es doch vermeiden, dem Kopfgeldjäger in die Arme zu laufen oder vielleicht von ihm entdeckt und beobachtet zu werden. Colevar mustert Morians Gesicht von der Seite, während sie das Pferd beobachtet und ein paar Worte mit dem Händler wechselt. Der Alte sollte sie wirklich nicht zu Gesicht bekommen. Nicht jeder ist ein so blinder Narr wie du. "Er sagt, sie heißt Snerra", hört er Morian flüstern, während der Händler derweil so viele angebliche Vorzüge der Stute herunterbetet, dass man meinen könnte, sie wäre das Pferd Blaerans des Seligen. Ob er wisse, was das heißt. Colevar schüttelt den Kopf. "Klingt wie ein nordischer Name. Beornspakk der Barbaren vielleicht... vielleicht auch das Landsmål der Normander." Dank der barbarischen Wurzeln seiner Sippe hatten sich im Sarthethal und auf Burg Lyness selbst über die Jahrhunderte einige ziemlich nordische Eigennamen und Bezeichnungen erhalten (von den für die Herzlande manchmal seltsam anmutenden Bräuchen ganz zu schweigen), so dass Colevar ein gewisses Ohr für die Klänge der nordischen Sprachen hat, aber er kann es nicht genau sagen und er weiß auch nicht, was Snerra bedeuten könnte. Der Händler ist inzwischen dazu übergegangen mit blumigen Beschreibungen die Gänge der Stute in den Himmel zu loben, die so weich wie ein azurianischer Diwan und so raumgreifend wie die von Vendis' Windrössern persönlich wären, aber dabei sei sie doch immer sanft wie eine Sommerbrise und so fügsam, dass sie sich selbst am Zwirnsfaden lenken ließe.

Colevar schaut ihr ins Maul, was sich Snerra anstandslos gefallen lässt, aber bis auf die Tatsache, dass ihre rosa Zunge und das Zahnfleisch einen Hauch blasser sind, als üblich, fällt ihm rein gar nichts auf. Das Gebiss sieht gut aus und was ihr Alter angeht hat der Händler schon einmal nicht gelogen. Ihre Brust ist breit, die Gurttiefe hervorragend, der Hals gut bemuskelt und schön angesetzt, der Rücken stark und gut geschwungen, die Kruppe kräftig, die Beine gerade, das Fundament trocken und die Hufe sind hart, groß und, was das Beste ist, unbeschlagen und in einwandfreiem Zustand. Er entdeckt auch keinerlei Anzeichen von Mauke oder Raspe an den Röhrbeinen oder Fesselgelenken, obwohl die Stute seidigen Behang an den Beinen hat. "Sattel und Zaumzeug sind dabei, aye?" Hakt er nach, und während der Händler eilfertig versichert, dass alles gut gepflegt, passend und im Preis inbegriffen wäre, lässt Colevar Snerra an der Hand ein paar Schritt rückwärts treten, zur Seite weichen und antreten. Sie tut alles brav, wenn auch nicht unbedingt sehr prompt. Hm. Reaktionsschnell ist sie nicht gerade, scheint eher stoischer Natur zu sein. Sein Blick kehrt zu Morian zurück - über die man viel sagen kann, aber beim besten Willen nicht, dass sie ein gemächliches Naturell hätte. Hmm, vielleicht gar nicht so schlecht. Sattel und Zaumzeug passen wirklich, wie sich herausstellt, als der Händler mit beidem zu ihnen zurückgekehrt ist, und Snerra lässt sich tatsächlich lämmergleich sanft und mit einer geradezu unerschütterlichen Gelassenheit auftrensen und satteln.

Colevar und Morian umkreisen die Stute inzwischen wie zwei verliebte Pferdebremsen, aber der sprichwörtliche Wurm im vermeintlich faulen Apfel ist einfach nicht zu finden. Sie scheinen tatsächlich schlicht und ergreifend wirklich Glück mit diesem Pferd zu haben... oder besser mit dem geringen Preis, denn sie wird weit unter Wert verkauft. Da sie keine Zeit haben, sich auf das auch in den Rhaínlanden - und gerade unter Pferdehändlern -, so beliebte Feilschen einzulassen, und damit am Ende vielleicht noch Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, kauft Colevar die Stute wie besehen und sie machen so rasch wie möglich, dass sie fort kommen. Zurück im Lager der Rynebéarn verabschieden sie sich wortreich, aber ohne Zeit zu verlieren, sammeln ihr Gepäck, Hühnchen und die Ziege ein, und verlassen dann Venrays Rast und den Grünen Tanz auf dem Frostweg Richtung Süden.  Sie sehen keine Spur mehr von dem Alten, obwohl Colevar hin und wieder das unheimliche Gefühl hat, beobachtet zu werden, wenn sie Rast machen. Folgt ihnen der Mann? Sehr wahrscheinlich, denn sein plötzliches Auftauchen war gewiss kein Zufall. Aber ist er unmittelbar in der Nähe? Wohl kaum. Er mag ein Kopfgeldjäger und ein guter Fährtenleser sein, aber auf dem Frostweg sind allerlei Reisende unterwegs und er ist ihnen nicht direkt nachgeritten, das hätten sie bemerkt. Sie kommen gut voran, aber nicht schnell genug. Von Venray bis Brugia sind es zwei Tagesritte, Colevar ist die Strecke auch schon an einem geritten, aber da hatte er auch kein steinaltes, Ziegen schleppendes Packpferd bei sich... und keine cardosser Stute, die zwar wunderschön aussieht, aber leider ungefähr so viel Gehwillen zu besitzen scheint wie ein Becher Baldriantee. Morian stöhnt und schimpft und versucht wirklich alles, Snerra ein bisschen Feuer unter dem Hintern zu machen: gut zu reden, treiben, in die Tiefe reiten, versammeln, am langen Zügel, mit aufgenommenen Zügeln, sie schneidet sich sogar eine Weidenrute am Wegesrand und kitzelt, traktiert und drangsaliert die Stute damit, doch die Reaktionen, die sie hervorruft, sind bestenfalls gelangweilt zu nennen.

Als sie am Abend ihr Lager aufschlagen – gut dreihundert Schritt entfernt vom Frostweg auf einem kleinen Hügel, auf dem die verwitterten Überreste eines uralten Steinkreises Wind und Witterung trotzen, steigt Morian völlig gefrustet und mit schmerzenden Beinen aus dem Sattel. "Ich weiß, wo der Haken an diesem vermaledeiten Pferd ist. Ich hab ihn gefunden. Sie geht keinen Schritt von allein vorwärts. Die ganze Zeit musste ich treiben, die ganze Zeit! Hätte ich auch nur einmal aufgehört, wäre sie auf der Stelle stehen geblieben und wenn man ihr die Zügel lang lässt, fällt sie um. Sie ist getorkelt wie eine Betrunkene, ich schwöre es! Sie ist noch langsamer als Hühnchen!" Ein wenig später, als sie essen – Morian hat mit ihrer Schleuder und einer gehörigen Portion Frust  eine fette Trappe geschossen, und Colevar hatte den Vogel mit Brot und den letzten schrumpeligen Winteräpfeln gefüllt und gebraten – stellen sie immer noch Mutmaßungen über Snerra an. Inzwischen liegt die Stute platt auf der Seite neben Filidh, hat noch nicht einmal ihre Heuration ganz aufgefressen und schnarcht wie ein ganzes Rudel Gossenzwerge nach einem ordentlichen Besäufnis. "Vielleicht ist sie krank... aber sie sah in Ordnung aus. Und sie hat auch kein Fieber."
"Vielleicht ist sie einfach nur stinkfaul."
"Vielleicht. Aber Muskeln wie ihre bekommt ein Pferd nicht vom stinkfaul sein. Wie auch immer, wir sehen sie uns morgen bei Tageslicht noch einmal an, aye? Fürs erste sollten wir es ihr vielleicht einfach gleich tun und uns schlafen legen. Oder wenigstens einer von uns." Nicht zum ersten Mal vermisst er Mistress Grau. Die Rotatkissa war besser als jeder Wachhund gewesen. "Ich übernehme die erste Wache und wecke dich um Mitternacht."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Atevora am 10. Juli 2011, 19:12 Uhr
Nach Inari 511,
irgenedwo in der relativen Nähe des Frostweges



Gleichmäßig rattert die Kutsche die Straße entlang. Atevora schiebt mit ihren bleichen Fingern den Vorhang zurück und beobachtet die vorbeihuschende Landschaft. Wie flüssiges Gold fließt das Licht der frühen Morgensonne über die Gräser der Weiden, welche die Straße teilt. Besonders die Blüte des goldgelben Löwenzahns auf der grünen Flur zieht den Blick auf sich und schenkt dem Betrachter ein freundlich grüßendes Lächeln. Würde das knirschen der Räder über den mit Steinen übersäten Boden und das Knarzen und Klappern des Holzes der Kutsche nicht alle Geräusche rings verschlucken, könnte sie vermutlich das Summen und Brummen der emsigen Bienen und Hummeln hören, die den Blumen auf den Weiden ihren morgendlichen Besuch abstatten. Auch die dumpfen Geräusche der beschlagenen Hufe der Pferden auf dem festgetretenen Erdboden sind nicht zu vernehmen
Wie idyllisch das Bild der Landschaft doch wirkt, sodass es jedem das Herz erwärmen und ein zufrieden, verträumtes Seufzen entlocken würde. Nicht so Atevora. Viel zu sonnig. Stellt sie fest und zieht den Vorhang wieder zu.

So wenig auch immer sie den langen Reisen abgewinnen konnte, zumindest etwas gutes brachten sie mit sich: Sie kam auf den langen Strecken endlich dazu sich den vielen Schriften zu widmen, die sie sich so gerne vornahm zu lesen, und doch nie ausreichend dazu Zeit fand. Heute würde sie noch die Möglichkeit dazu finden, bevor sie wieder ihren Pflichten nachzugehen hatte. Genaugenommen könnte sie jetzt schon an ihrem Ziel sein, doch auf der letzten Etappe des Weges befand sich keine Pferdewechselstelle, für die Kutschengäule und auch die Tiere ihrer Mitreitenden, die ihre ihnen scheinbar heiligen Huftiere niemals zu tauschen gedachten, brauchten dringend Rast. So kehrten sie am späten Nachmittag in einem Gasthof ein. Es roch dort schwer nach gebratenem Federvieh, Kohlrabi und nach dem Essig verschiedener Sülzchen die offenbar als Spezialität dieser Taverne galten.

Schweigsam schlägt die Magierin ihre Lektüre auf und beginnt darin zu lesen. Es ist ein dicker Ledereinband mit einer Sammlung verschiedener Abschriften, Kopien und Originalschriftstücke diverser Abhandlungen magischer Themen, allem voran behandelt es die Reisen durch das magische Geflecht.
Sie hat die letzten Jahre natürlich nicht damit zugebracht sich auf ihren Lorbeeren auszurasten und ihre Übungen und Studien der Magie schleifen zu lassen. Sie zeigte schon immer sehr hohes magisches Potential, fühlte sich in der Magieschule oft unterfordert, was ihr nicht wenige Neider einbrachte, und wurde damals nicht grundlos sogar mit den Mondtoren zu anderen Magierschulen für weitere Lektionen geschickt. Ihre hohe Begabung war vermutlich als eine Art Ausgleich zu ihren körperlichen Schwächen zu sehen und zumindest dieses Geschenk wusste sie zu würdigen.
Atevora war zudem schon immer ein äußerst ehrgeiziges Naturell, zumindest auf Gebieten die sie wirklich interessierten, und ihre Magie zählte sicherlich dazu. Darum nutzte sie auch jeden Tag geflissentlich um ihre Fähigkeiten zu schulen und auszuweiten. Dies gehört wohl einfach zum Leben eines Magieres dazu, und ihr nächster Meilenstein auf ihren magischen Wegen, den sie zu erlernen gedachte, war, sich durch das magische Geflecht zu bewegen. Sie würde diese Hürde meistern, egal wieviel Schweiß, Mühen, Konsequenz und Entschlossenheit es auch kosten möge.

Unterdessen ihre Augen über die Zeilen aus einer engen, gestauchten, kleinen aber äußerst sauberen Schrift, gleiten, denkt sie immer wieder an die Worte ihres alten Lehrmeisters zurück. Die Geheimnisse, die um Anrakis weben begannen sich für Atevora langsam anfzuklaren. Um so mehr sie sich mit den alten Büchern, den alten Schriften darin und den wertvollen Statuen und anderen Besitztümern beschäftigt, die der Mann hinterlassen hat, um so mehr keimt eine Vermutung, oder eher eine Gewissheit um die Fragen, weshalb er Sprachen beherrschte in Wort und Schrift die sonst niemand mehr kannte, soviel über die Magie und andere Dinge wusste und lehren konnte und sich mit seinem Geist doch immer in der Unendlichkeit verlor, als sei er nur ein debiler alter Greis. Seine Worte stießen ihr oft vor den Kopf und zwangen sie dazu ihren Horizont zu erweitern und so manches, das sie glaubte zu wissen, umzuwerfen. Wie oft er erwähnte, Magie sei nicht die Summe an alten Folianten die man liest, ihre wahre Natur wäre nicht in staubigen Büchern zu finden, sondern mit Gefühl. Ein Standbein ist die Wahrnehmung schulen und das Verständnis zum Gefüge der Welt. Oft erwähnte er eindringlich: um so mehr einer die Vorgänge hinter den Dingen versteht, sie im Geiste verinnerlicht hat und erspüren kann mit allen Sinnen, um so besser und gezielter kann er auf diese Einfluss nehmen. Ebenso eindringlich wies er sie oft darauf hin, dass nichts für sich alleine steht sondern alles auf seine Weise miteinander verwoben und in Verbindung steht, Wellen im großen Teich des Lebens schlägt die an Andere branden, oder wie ein kleiner Stein der gelockert einen ganzen Abhang ins rollen bringt. All das sollte sie nie außer Acht lassen bevor sie unbedacht nur der Bequemlichkeit wegen vor sich hin zaubert. Dieser achtlose und übermütige Umgang mit der Magie und der Welt war seiner Ansicht der Grund weshalb beispielsweise einige nie aus den Gewirr der Magie zurückkehren, wenn sie sich dorthin begeben.

Sie konnte viele seiner Reden nicht nachvollziehen, beispielsweise wie ein einfacher Flügelschlag eines Schmetterlings auf den Sommerinseln einen Sturm in Fa’Sheel auslösen sollte, aber mit einem stimmte sie zusehens, auch durch eigene Erfahrung, mit ihm überein: Es brauchte nicht unbedingt großer Kraft um eine große Wirkung zu erzielen. Es bedurfte nur den effektivsten Weg zu finden.
Ihn zu finden erforderte allerdings nicht nur Wissen und Erfahrung, sondern zu großen Teilen Gefühl und Intention.
Genau diese Hinweise und Überlegungen zu weiterführenden übergreifenden und teilweise offensichtlichen Verknüpfungen, oder Zusammenhänge, fehlten ihr in den derzeitigen Unterlagen. Alles war in sich abgeschlossen, als wäre es ein einfacher Holzspielzeugkarren der mittels einer Anleitung einfach zusammengebaut wurde und schließlich funktionierte. Eine in sich abgeschlossene Handlung die keine Auswirkungen nehmen konnte, als wäre Ringsum nichts, das die Räder überrollen, oder die Holzkanten anstoßen könnten.

Mit einem Seufzen lässt Atevora ihre vorliegende Dissertation auf ihren Schoß sinken und starrt stumm ins Nichts vor sich. Bald schon beginnt das gleichmäßige Rattern und Schaukeln der Kutsche die Gedanken einzulullen und fortzureißen.
Es wäre schön Yasraena als angenehme Reisebegleitung bei sich zu haben.
Seit dem Treffen in der Harfe nach der Nacht an den Quellen, haben sich die beiden Frauen öfter getroffen. Zuerst nur äußerst unregelmäßig, doch bald schon suchte Atevora jede verfügbare Möglichkeit die sich ihr bot. Dies führte bald zu einem brodelnden neuen Gerüchtebrei, und sie kam sich eine Zeit lang auf den Straßen, sogar auf unbelebten Straßen, beobachtet vor, ganz so als starrten die Leute selbst aus den Fenstern heraus auf sie herab, doch glücklicherweise verflog diese unangenehme Wahrnehmung nach einigen Wochen.
Die Zeit die sie mit der Elbe verbringen konnte war immer sehr erholsam. Die Frau brachte ihr kein Unverständnis, und auch keinen stillen Tadel entgegen, wenn sie sich reserviert verhielt. Vielmehr achtete sie vornehm die höfliche Distanz und schien sie sogar auch noch zu begrüßen. Es war behaglich wahrzunehmen, dass der Gegenüber nicht auf mehr drängte oder insgeheim mehr verlangte, oder wünschte als sie ihm bieten konnte. Es schien als würde sie es nicht nur nicht hinterfragen oder resignierend hinnehmen, sondern schlicht einfach willkommen hinnehmen. Sie brauchte sich nicht zu verstellen, keinen irritierenden Hürdenlauf riskieren, wie ansonst immer an allen Ecken und Enden, wenn sie einige Personen öfter treffen musste ohne sich mit ihnen zu überwerfen. Es könnte so einfach und unkompliziert sein, wenn die Welt immer so gestrickt wäre. Doch das war sie nicht, nur Yasraena bot hier beruhigenden Frieden, und Ruhe, als säße sie in ihrer Gegenwart unter einer Silberweide mit ihrem herabneigendem leicht im Winde wiegendem Blätterdach.
Es ist schon seltsam wie sehr man sich an eine Person gewöhnt. Die Shin vermisste Yasraena, die gemeinsame Zeit, die ungezwungenen und manchmal doch tiefgründigen Unterhaltungen die mehr von ihrem Leben durchscheinen ließen. Ihr fehlten der Glanz ihrer Augen, das seidige Haar, ihre weiche haut und die gemeinsamen kleinen Freuden, ihre Worte die sie zu den Ereignissen sprach, ihre Stimme und ihr Humor der mit ihrem eigenen etwas anzufangen wusste.
Wie es der Elbe wohl erging? Sie wirkte die letzten Stunden des Inarifestes so niedergeschlagen. Das Inarifest..
Die Magierin hatte es zusammen mit Yasraena verbracht,
Es war ein wirklich sehr schöner Tag, obwohl, oder vielleicht sogar vielmehr, weil er etwas verhangen war und für die Elbe war es sogar ein sehr erfolgreiches Fest. Die Magierin hätte nie gedacht, dass sie jemals dem an diesem Tag veranstaltetem Pferderennen als Zuschauerin beiwohnen würde. Genaugenommen interessierten sie das Rennen nicht, nicht zuletzt desshalb, weil sie mit den Tieren nicht viel anzufangen wusste, doch der Elbe war es wichtig, sie nahm an dem Rennen teil, und so beschloss auch Atevora ihm mit den anderen Gaffern beizuwohnen. Es war ein elendes Gedränge und Gestoße, schlimmer und roher als an den Marktständen an denen sich ein zäher, relativ geregelter Strom an den Ständen vorbeibewegte. Die Schwüle des in der Luft hängenden Gewitters und die Ausdünstungen der vielen Menschen rings zog sich in ihre Kleider und klebte an ihrer Haut. Es stank nach Schweiß, schlecht gepflegten Mundräumen, und billigem Fusel. Atevora verachtete große Menschenansammlungen, oder sich in ihnen aufhalten oder durch sie durchkämpfen zu müssen, noch immer. Wahrscheinlich war der Elbe nicht bewusst welch innere Gefasstheit, Stetigkeit und Durchhalt es Atevora abverlangte im Pulk an stoßen und drängenden Leibern auszuharren, und nicht einfach auszubrechen, oder den nächstbesten unbesonnenen Tölpel neben sich kurzum zu erstechen um sich mehr Platz zu verschaffen und den zuckenden sterbenden Leib alsdann als neues Podest zu verwenden um das Rennen vor ihr, oder eher eine der Teilnehmerinnen, besser betrachten zu können.

Atevoras Beharrungsvermögen wurde belohnt, als Yasraena tatsächlich als Erste mit ihrem Feuerblutpferd über die Ziellinie hetzte. Ein wenig bedauerlich war es allerdings, dass sie fortan von allerhand Unbekannten umschwärmt wurde, die der Elbe gratulierten, oder danach trachteten mit ihr Geschäfte anknüpfen zu können, und sie so ihrer gemeinsamen Zeit fernhielten, und das obwohl sie die Frau für lange Zeit nicht wieder sehen würde.
Atevora hätte es ihr vermutlich schon zuvor berichten können, doch sie wollte mit der wehmütigen Information nicht den Tag trüben bevor er noch begann.
Sie musste wieder den Gutshöfe unangekündigt einen Besuch abstatten um nach dem Rechten zu sehen. Die Gutshöfe waren in Besitz einer verwitweten Dame. Bereits im Frühling letzten Jahres ist die adelige Dame vertrauensvoll, mit ihrem letzten kümmerlichen Habe an sie herangetreten. Seit dem Tod ihres Gemahles ging es mit der Familie stetig bergab, denn es mag wohl sein, dass Frauen in Talyra ihren Wert besaßen, doch Anderorts nehmen sie eine vollkommen andere gesellschaftliche Rolle ein, ganz gleichgültig ob adelig oder nicht. Sie hatte zu dem Zeitpunkt schon lange versucht vergeblich zu ihrem Recht zu gelangen, die Gelder ihres Gatten, bereits 8 Monatsverdienste eines königlichen Schreibers, und jene Einkommen aus ihren Gutsbesitzen, die nicht unter Talyras oder der Herzlande Gerichtsbarkeit fielen, blieben aus. Ihr Heim, die ehemalige Schenkung des Königs, ein kleines Turmhaus, wurde angezweifelt und unterschlagen, da die Urkunde zur Schenkung auf unerklärlichem Weg über die Behördengänge verschwand und sie zog sich mit ihrer Familie in ihre kleinen Besitz, nicht mehr als ein schmuckes verträumtes Stadthaus am Rande des Hafenviertels als kleine Urlaubsresidenz, zurück. Ihre Anliegen wurden nicht ernst genommen, sofern sie überhaupt dazu kam diese Vorzutragen. Nur mit reichlich Barer Münze am Weg durch die Abteilungen wurde sie zu den zuständigen arroganten Beamten vorgelassen, wo sie stundenlang in dunklen prunkstarrenden Vorzimmern zum Warten angehalten und schließlich doch abgewimmelt wurde. Die Anwälte, die sie mit ihren Sorgen beauftragte, boten ihr - mit etwas mehr Finesse - das selbe Spiel: Sie steckten das Geld in ihre Taschen, das scheinbar nicht genügend Prämien beinhaltete um sich der Probleme auch wirklich mit vollem Ernst anzunehmen. Das Ganze schon damals vor Ort und nun aus der Ferne war es um so schlimmer.
Schon bald war sie nichts weiter als eine außenstehende der Gesellschaft, die selbst von den hiesigen Adeligen dieser Stadt nur mit einem herablassenden Blick bedacht wurde. Verarmt und dem Gezeter der bürgerlichen Weiber ausgeliefert, denen sie die Gelder für die Nahrungsmittel schuldig blieb und zum Schluss erkrankte noch die jüngere ihrer beiden Töchter, welche nach kurzem Leidensweg verstarb.
Damals hat sie ihr letztes Habe verscherbelt, oder kam auf anderem Weg zu etwas barer Münze und so stand sie gebrochen, voller Verbitterung und Hass vor ihr mit dem Wunsch all die Betrüger leiden und für ihre Vergehen bluten zu sehen. Es war weit weniger als Atevora für solche Dienste zu verlangen pflegt, was die Frau aufbringen konnte und ihr entgegenstreckte, so bot sie ihr ein drittel der ausständigen Gehälter, wenn sie es schaffte diese zur Auszahlung zu bringen, und eine Beteiligung an den Gewinnen der Ländereien an, wenn diese wieder welchen abwarfen.
Atevora liebt Herausforderungen und so willigte sie ein.
Nachdem Atevora bereits letztes Jahr die Veruntreuer der Ländereien durch List und guter Recherche ihres Ranges enthoben und eigene Getreue in ihre Position als Veralter ersetzte, schrieben die Besitztümer der Frau tatsächlich wieder schwarze Zahlen, und auch in anderen Gebieten kam die Witwe zu ihrer Rache und ihrem Recht. Die Magierin wird nie ihren gönnerischen Gesichtsausdruck vergessen, als sie mit ihr in der Menschentraube vor dem Pranger stand. Genugtuung Loderte in ihren Augen und mit ihm entflammte neuer Lebensmut. War es Gerechtigkeit oder Rache? Vermutlich beides, und Atevora begann zu überlegen ob Rache, entgegen ihrer bisherigen Ansicht, in manchen Fällen wirklich die Wunden der Vergangenheit zu kitten vermochte.
Mit dem neuen Lebensmut und den in Fluss gekommenen finanziellen Mitteln, gelang es der Frau bald sich ihren gesellschaftlichen Platz wieder zurückzuerobern. Seither zählte die Frau zu Atevoras vorrangigsten Unterstützern und Gönnern, wobei sie diesen Rückhalt offiziell auf andere Gründe schob als die tatsächlichen.
Diese Dame lieh Atevora auch das grüne Kleid für Lyall. Es gehörte ihrer ersten Tochter, die es nach der Tragödie um ihre kleine Schwester in das Gotteshaus zog. In gewisser Weise könnte es einen voll Mitleid stimmen: Die erste Tochter verloren an den Todesgott, die Zweite ebenso auf andere Weise.

Atevora hängt mit ihren Gedanken noch in der Vergangenheit. Sie sieht die traurigen Augen Yasraenas vor sich, als sie ihr vom baldigen Aufbruch berichtet. Sie hatte keine Möglichkeit die Frau zuvor noch einmal wiederzusehen.  Die Vorbereitungen verschlangen ihre Zeit. Die Rute musste mit dem Kutscher abgesprochen werden, Vorräte besorgt und die Söldner angeheuert werden, die ihre Kutsche zu begleiten hatten. Es waren jene Drei mit denen sie schon öfter zusammengearbeitet, beziehungsweise ihnen den Schutz für manch Warentransporte überantwortet hatte. Sie waren immer zu Dritt unterwegs. Der Erste der Gruppe ist ein grobschlächtiger Hüne, er glich bis auf die Frisur ein wenig Borgil, nur eben in Menschengröße. Er war unschlagbar und ein unerbittlicher Feind mit seinem Streitkolben. Der Zweite war ein relativ schmal gebauter junger Mann, dem seine Hackennase die Bezeichnung Schönling verweigerte. Er verstand sich eher mit dem Umgang mit Pfeil und Bogen, auch wenn er auf seinen Kampfstab zurückzugreifen pflegte und damit auch umzugehen wusste, wenn er in den Nahkampf verwickelt wurde, und der Dritte war der Anführer dieser Bande. Bei ihm handelte es sich um einen bereits älteren Mann, denn die ersten Haare seines Bartes färbten sich bereits Silbergrau. Ein Auge verbarg sich unter einer Augenklappe, aus dessen ledernem Rand eine verräterische Narbe hervor lugte, und das andere Auge blickte aufgrund einer tiefen Falte zwischen Stirn und Nase immer grimmig auf einen herab. Er sprach nicht viel, schon gar nichts über seine bittere Vergangenheit, was ihn Atevora gerwissermaßen, sofern sie auf diese Weise werten würde, sympathisch machen könnte. So würde sie jedenfalls wohl nie restlos erfahren weshalb er mindestens zwei Sprachen in Wort und Schrift beherrschte, und manch Züge aufwies die ihn wie einen verstoßenen Aristokraten, oder Hauptmann einer Delegation Wappner wirken ließ, doch das war auch nicht wichtig, denn sein Vorausblick - aufgrund jahrelanger Erfahrung - war berüchtigt und geschätzt und die Shin hatte noch niemanden erlebt der mit den Schwertern besser umzugehen wusste als er.
Doch Atevoras Gedanken gelten nicht ihm, oder den anderen ihrer Begleiter. Sie hat Yasraenas Augen vor sich, als sie ihr den baldigen Aufbruch beichtet und wie sich in jene ein verräterischer Glanz legt, der ihr vor dem heutigen Tag entgangen war. Wie gern hätte sie die Hand der Elbe noch einmal berührt, bevor sie in die Kutsche stieg und abfuhr.

Mit einem Mal hält die Kutsche und die Tür wird geöffnet.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 17. Juli 2011, 12:26 Uhr
Von Venray nach Brugia

Als Morian sich aus dem Sattel und zu Boden plumpsen lässt, ist sie so erschöpft, dass sie sich am liebsten einfach ins Gras fallen lassen würde, um dann nie wieder aufstehen zu müssen. Ihrem Allerwertesten geht es zwar blendend, denn ihr neuer reitbarer Untersatz hat wirklich einen butterweichen und äußerst hinternschonenden Schaukelgang - alles andere aber schmerzt zum Göttererbarmen. Ihre Arme fühlen sich an wie ausgeleierte Bogensehnen, die Beine sind so schwer wie bleigefüllte Baumstümpfe, und sie stakst so steif und o-beinig herum wie eine Frostweghure nach dem Durchzug der Frühjahrskarawane. Selbst die Kehle tut ihr weh von den unzähligen Flüchen, Beleidigungen und erfolglosen Anfeuerungsversuchen, mit denen sie ihr neues Reittier in den letzten Stunden überschüttet hatte. Kaum dass ihre Stiefelsohlen den Boden berühren, geben ihre Beine nach wie weichgekochte Hafergrütze, und das Pferd versucht es ihr prompt gleichzutun und knickt mit einem abgrundtiefen Seufzer in den Knien ein. "Nein! Nicht! Halt!", schreit Morian und wirft sich so unsanft gegen Snerras Schulter, dass die Stute einen Ausfallschritt zur Seite machen muss, um nicht völlig den Halt zu verlieren und einfach umzufallen. "Warte wenigstens, bis ich dir den Sattel abgenommen hab', bevor du mir hier zusammenbrichst, du dummer Gaul!" Vorerst wird wohl nichts aus ihren Wunschträumen werden, sich gemächlich im Gras liegend von den Strapazen des Rittes zu erholen, denn Morian hat alle Hände voll damit zu tun, Snerra genau daran zu hindern. Hastig löst sie die Riemen und Gurte, und hievt das schwere Sattelungetüm, das allein schon so viel wiegen muss wie das halbe Pferd, von dessen Rücken, während sie wutentbrannt ihre Meinung durch die Gegend schnaubt.

"Ich weiß, wo der Haken an diesem vermaledeiten Pferd ist", grollt sie Richtung Colevar, der sich neben ihr um Filidh und Hühnchen kümmert. "Ich hab ihn gefunden. Sie geht keinen Schritt von allein vorwärts. Die ganze Zeit musste ich treiben, die ganze Zeit! Hätte ich auch nur einmal aufgehört, wäre sie auf der Stelle stehen geblieben und wenn man ihr die Zügel lang lässt, fällt sie um. Sie ist getorkelt wie eine Betrunkene, ich schwöre es! Sie ist noch langsamer als Hühnchen. Und ihr Kopf muss mindestens dreihundert Stein wiegen - das weiß ich genau, denn zufällig war ich es, die ihn die ganze Zeit schleppen musste, weil dieses Faultier von Pferd sich ja mit seinem ganzen Gewicht in die Zügel gehängt hat!" Während sie wie ein Rohrspatz vor sich hin schimpft, bugsiert Morian die Stute unsanft neben Filidh und Hühnchen in den Schatten der verwitterten, moosbewachsenen Steinriesen. "Ich glaub' ja allmählich, wir sind einem Rosstäuscher aufgesessen", knurrt sie und nimmt Snerra das Zaumzeug ab. Knickbeinig und bammelohrig steht die Stute da, mit halb gesenkten Lidern und hängender Unterlippe, und sie sieht aus, als würde sie auf der Stelle einschlafen wollen. "Denn wenn dieser Gaul hier tatsächlich einem Ritter gehört hat, dann fresse ich einen Besen mitsamt seinem Stiel. An einem Lanzenstechen teilgenommen - dass ich nicht lache. Als was denn? Als Platzbegrenzung vielleicht. Oder als Sattelablagebock. Aber doch nicht als Turnierpferd, das glaub' ich nie und nimmer. Der Kerl hat uns beschissen, fürchte ich."

Morian zieht dem angeblichen Turnierpferd das Halfter über die schlackernden Ohren und bückt sich, um ihm nach dem langen Ritt auf der staubigen, steinigen Straße auch die Hufe zu säubern, wobei sie ihre heiser krächzende Schimpftirade noch nicht einmal zum Luftholen unterbricht. "So ein edles Ross!", äfft sie wütend die schmeichlerische Stimme des Pferdehändlers nach. "Ein richtiger Turnierrenner. Reinrassige Cardosser Zucht. Wir sind ja so was von blöd. Ich möchte wetten, der Händler lacht sich immer noch ins Fäustchen. Wirst du jetzt wohl deine Füße hochheben, du armselige Jammergestalt, und lehn' dich gefälligst nicht so auf mich drauf!" Nachdem sie Snerra versorgt hat, hilft sie Colevar mit Filidh und Hühnchen, nimmt dem alten Wallach das Gepäck vom Rücken und befreit Zora aus ihrem Gefängnis aus Bitterweidenzweigen. Kaum dass die Geiss aus dem Korb ist, saust sie auch schon mit wilden Bocksprüngen und lautstarkem Gemecker über die Wiese davon - was offenbar die ziegische Art ist, sich nach dem endlosen Geschaukel in dem engen Korb die Beine zu vertreten. Sie rast dreimal um die Überreste des Steinkreises, die wie abgebrochene Zähne aus dem samtig grünen Untergrund des Hügels ragen, dann trabt sie brav zu ihrem Rudel zurück und senkt ohne weitere Umschweife die Nase in das zarte Frühlingsgras, von dem sie in den nächsten Stunden nichts und niemand mehr abhalten kann (es sei denn, dieser Niemand hätte ein Käsebrot, ein paar schmackhafte Lederriemen, einen Topf sorgsam gepflegter Geranien oder irgendwelche anderen Ziegenleckereien anzubieten).

Später, als die Pferde versorgt, gefüttert und getränkt sind, sitzt die frischgebackene Schildmaid mitsamt ihrem Ritter im letzten Abendlicht an einem kleinen Feuer und tut sich an der kross gebratenen Keule einer Waldtrappe gütlich. Während sie mit den Zähnen das zarte Fleisch von der Vogelkeule reißt und dabei versucht, sich möglichst wenig mit tropfendem Fett zu bekleckern, blickt Morian finster zu den Pferden hinüber. Filidh und Hühnchen stehen einträchtig Seite an Seite, dösen vor sich hin und schlagen gelegentlich mit den Schweifen ein paar aufdringliche Stechmücken davon - so wie es sich für ein anständiges Pferd eben gehört. Snerra dagegen liegt platt im Gras wie ein gestrandeter Wal und schnarcht und schnorchelt so lautstark vor sich hin, dass dagegen das Tröten eines ausgewachsenen Waldelefanten wie ein leises Lüftchen klingt. Filidh neben ihr wendet ab und zu den Kopf und äugt zu ihr hinunter, und Morian könnte schwören, dass er entnervt die Brauen hochziehen würde, wenn er denn solche sein Eigen nennen könnte. "Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dieses Pferd schläft gerade einen gewaltigen Rausch aus", tönt sie zwischen zwei Bissen gegrillter Trappe und wirft Colevar einen vielsagenden Blick zu. "Ich weiß zwar nicht, wie das möglich sein soll, aber vielleicht ist sie ja wirklich besoffen. Sie sieht zumindest ganz danach aus. Ein entfernter Onkel von mir macht nach zwei Flaschen Moorbrand auch solchen Lärm ... na ja, möglicherweise ist der sogar noch ein wenig lauter." Morian wirft den abgenagten Knochen in die Glut und angelt nach dem nächsten Fleischstück. "Vielleicht hat sie heute morgen auf dem Viehmarkt ihre Nase in irgend etwas reingesteckt, in das sie sie nicht hätte reinstecken sollen, in ein Bierfass zum Beispiel. Wer weiß, was da so alles herumsteht."

Eine Weile stellen sie noch die verschiedensten abenteuerlichen Mutmaßungen darüber an, was wohl der Grund für Snerras merkwürdiges Verhalten sein könnte, während sie gemütlich am Feuer sitzen, sich auch noch die allerletzten Überreste des gebratenen Vogels einverleiben und dem abendlichen Grillenkonzert lauschen. Doch dann fordern der lange Tag und der anstrengende Ritt doch ihren Tribut, zumindest bei Morian, der jeder einzelne Knochen im Leib weh tut. Götter im Himmel, ich werde morgen keinen einzigen Schritt mehr tun können. Verflucht sei diese faule Schnecke von Pferd! Einen leisen Schmerzenslaut unterdrückend reibt sie sich verstohlen das Kreuz und wirft einen neidischen Blick auf Colevar, der zufrieden und völlig entspannt (und offensichtlich auch absolut schmerzfrei) auf der anderen Seite des Feuers sitzt. Gerade als sie aus lauter Verzweiflung schon überlegt, ihm für den morgigen Tag einen Pferdetausch aufzuschwatzen, beweist er allerdings ein Herz für seinen geschundenen Begleiter und erklärt sich gutmütig bereit, die erste Wache zu übernehmen. "Na, da wär' ich schön blöd, wenn ich nein sagen würde", grinst sie und rappelt sich vom Feuer auf. "Ich bin gleich wieder da, ich gehe nur noch kurz zum Bach hinunter, um mich zu waschen und ... na, du weißt schon." Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr den schamhaften Jüngling spielen und mir dumme Ausreden einfallen lassen.

Das Bächlein ist kaum mehr als ein schmales Rinnsal, das irgendwo in den Wiesen entspringt und unterhalb des Hügels gemächlich über die Steine plätschert, aber er reicht vollkommen, um die Wasserflaschen zu füllen, die Pferde zu tränken, und sich den Staub der Landstraße abzuwaschen. Nachdem sie sich gesäubert hat, setzt Morian sich noch ein Weilchen ins weiche Gras am Ufer und kühlt ihre Füße und die schmerzenden Waden, aber als die Schwärze der Nacht auch noch die letzten Reste Tageslicht gefressen hat, schlendert sie wieder den Hügel hinauf und zu ihrem Nachtlager zurück. Der rotgoldene Schein der Flammen leuchtet auf den uralten, verwitterten Überresten des Steinkreises und tanzt über die Flanken der Pferde, die mit halb geschlossenen Augen friedlich vor sich hin dösen. Snerra liegt immer noch platt wie eine Flunder da, aber wenigstens hat sie inzwischen mit ihrem schrecklichen Geschnarche aufgehört. Von ihr ist nur der graugesprenkelte, ziemlich fassförmige Bauch zu sehen, der aus dem hohen Gras ragt wie eine Insel aus dem Meer. Als Morian näher kommt, sieht sie Colevar auf den Fellen sitzen, die langen Beine überkreuzt und den Rücken bequem an einen der moosbewachsenen Steine gelehnt. Er stochert mit einem langen Ast im Feuer herum, so dass Kaskaden roter Glutfunken in den Nachthimmel sprühen, und sagt irgend etwas zu Zora, die sich neben ihm niedergelassen hat. Als die Ziege ihm dann mit einem leisen Meckern antwortet, als würden sie eine ernsthafte Unterhaltung führen, muss Morian unwillkürlich lächeln und ein warmes Gefühl durchströmt sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Es fühlt sich fast ein bisschen an wie Nach-Hause-Kommen. Tatsächlich betrachtet sie diesen wild zusammengewürfelten Haufen dort im Schatten der Steine inzwischen fast als eine Art Familie - ein Gedanke, über den sie grinsend den Kopf schütteln muss. Schöne Familie - drei Pferde, von denen eines ein alter Tattergreis ist und ein anderes sich für einen unbeweglichen Felsblock hält, eine verfressene Ziege und ein melancholischer Ritter mit gebrochenem Herzen, der kaum ein Wort spricht. Wirklich toll.

Aber es ist besser als alles, was sie in den letzten Monaten hatte, und als Morian unter ihre Decke kriecht und ein müdes "Gute Nacht" nuschelt, fühlt sie sich zutiefst zufrieden. Und sie fühlt sich sicher, weil sie weiß, dass jemand über sie wacht. Selbst der Gedanke, dass ihnen der Kopfgeldjäger, dem Colevar in Venray begegnet ist, vielleicht auf den Fersen ist, macht ihr nicht viel Angst, denn sie ist ja nicht mehr allein. Natürlich müssen sie vorsichtig sein und es ist bestimmt auch nicht unbedingt wünschenswert, diesem Kerl direkt in die Arme zu laufen, aber zu zweit würden sie ihn schon irgendwie abwimmeln können, sollte er tatsächlich auftauchen, da ist Morian ganz zuversichtlich. Es wird schon alles gut werden, ist ihr letzter Gedanke, bevor ihr die Lider zufallen. Als Colevar sie dann weit nach Mitternacht weckt, damit er wenigstens noch eine kleine Mütze voll Schlaf abbekommt, bevor der Morgen graut, fühlt sie sich, als hätte sie gerade eben erst die Augen zugemacht. Es kostet sie eine ganze Menge wehleidiger Aah's und Ooh's und Aua's, bis sie mit schmerzverzerrtem Gesicht aus den Fellen krabbelt, aber sie tritt tapfer ihre Wache an, fest entschlossen, keinesfalls wieder einzuschlafen und alles und jeden in die Flucht zu schlagen, der es wagen sollte, sich dem Lager zu nähern.

Selbstverständlich schläft sie trotz aller guten Vorsätze wieder ein, und statt zu wachen und aufmerksam die Umgebung zu beobachten, lehnt sie wie angenagelt an einem der Steinungetüme, mit offenem Mund, den Kopf gegen den rauen Fels zurückgesunken, und schläft den Schlaf der Erschöpften. Einmal zuckt sie zusammen, weil sie glaubt, dass der Boden sich irgendwie bewegt habe - Götter, ist das ein Erdbeben? -, aber sie dämmert sogleich wieder weg. Kurz darauf schreckt sie wegen einem grauenhaft schrillen Quietschen auf, aber ihr schlaftrunkenes Hirn baut das irritierende Geräusch einfach in ihren aktuellen Traum ein und überlässt sie wieder ihrem süßen Schlummer. Dann aber klatscht ihr mit voller Wucht ein riesiges Grasbüschel mitten ins Gesicht - mitsamt Wurzelballen, einem halben Zentner fetter, schwarzer Erde und einer verdutzt dreinschauenden Regenwurmfamilie. "Wuääähbrrr..... was ist ...." Morian kann den Satz noch nicht einmal ansatzweise zu Ende sprechen, denn schon fliegt ihr der nächste Erdbrocken um die Ohren - beziehungsweise in ihr offenstehenden Mundwerk. "Himmelnochmal ...pffffttppfffft ...aufhören!" Dreck und Grashalme spuckend kommt sie taumelnd auf die Füße und versucht schlaftrunken blinzelnd, sich zu orientieren und den Angreifer auszumachen, der sie hier mit Dreckbrocken bewirft. Zunächst sieht sie nichts weiter als eine idyllische und völlig harmlos anmutende Wiesenlandschaft, über der noch frühmorgendliche Nebelfetzen hängen. Doch dann fängt wieder der Boden an zu beben, dass die Baumkronen erzittern, und dem Dröhnen nach erwartet Morian mindestens eine Herde ausgebrochener Waldelefanten, die gleich den Hügel erstürmen werden.

Das erste, was in ihr Sichtfeld kommt, ist dann jedoch ein riesiges weißgraues Schlachtross, das in vollem Galopp mit wild flatternder Mähne und aufgestelltem Schweif herandonnert wie die fleischgewordene Apokalypse, wobei es riesige Erdklumpen aufwirft, die in alle Richtungen davonspritzen. Und es ist nicht etwa Filidh, nein, denn der galoppiert etwas langsamer hinter diesem wildgewordenem Ungetüm her - es ist Snerra, die lahme Schnecke, die sie am Abend zuvor schon beinahe für scheintot gehalten haben. Morian fallen fast die Augen aus dem Kopf. Völlig entgeistert klappt ihr die Kinnlade auf die Brust und sie kann nur sprachlos dieser polternden Urgewalt auf vier Beinen hinterher starren, die unaufhaltsam wie eine Lawine schon wieder hügelabwärts rast, gefolgt von Filidh und einem keuchendem, aber sichtlich vergnügtem Hühnchen, der sich völlig verausgabt, um mit den beiden mitzuhalten. Was um Himmels willen ist denn mit der los? Das kann unmöglich das Pferd sein, dass wir gestern gekauft haben! Vollkommen perplex wischt sie sich die Erdkrümel aus dem Gesicht und entfernt einen verirrten Käfer aus ihrem Haar, dann ist ihr noch im Tiefschlaf liegendes Hirn zumindest so weit aus seinem Schlummer erwacht, ihr zu signalisieren, dass jetzt nicht die Zeit ist, über diese wundersame Verwandlung nachzudenken, sondern dass sie jetzt schleunigst die Beine in die Hand nehmen und versuchen sollte, diese Ausgeburt der neun Höllen mitsamt ihrem Gefolge wieder einzufangen, bevor sie über alle Berge verschwunden sind. Sie fragt sich, wie die Pferde es überhaupt geschafft haben können, sich zu befreien, denn sie waren die Nacht über (zumindest ihrer Meinung nach) sicher angebunden gewesen. Die Antwort darauf läuft ihr im gleichen Moment auch schon vor die Füße, und zwar in Gestalt einer vollkommen arglos dreinschauenden Ziege.

"Warst du das?", blafft Morian und wirft Zora einen finsteren Blick zu, woraufhin die Geiß sofort die Ohren hängen lässt und ihre vielfach erprobte Unschuldsmiene aufsetzt: "Ich? Ich hab' überhaupt nix gemacht!" Da aus ihrem Maul das Beweismaterial in Form eines zerkauten Halfterstrickes ragt, findet Morian ihre Unschuldsbeteuerungen allerdings nicht gerade sehr überzeugend. Wie genau diese nächtliche Befreiungsaktion vonstatten ging, kann ihr armes, schlafumnebeltes Gehirn zwar im Augenblick nicht rekonstruieren, aber dass es etwas mit lecker aussehenden Stricken und verfressenen Ziegen zu tun haben muss, kann sie sich an fünf Fingern ausrechnen. "Wir sprechen uns noch!", droht sie der Geiß grimmig an und reißt ihr das corpus delicti aus dem Maul, dann nimmt sie schnurstracks die Verfolgung der Ausbrecher auf und rennt den Hügel hinab hinter den Pferden her. Schon im Laufen wirft sie noch einen hastigen Blick über ihre Schulter, wo Colevar - dem das ohrenbetäubende Getöse natürlich auch nicht entgangen ist - sich gerade aus seinen Schlaffellen arbeitet und nach seinen Stiefeln angelt. "Beeil dich lieber", ruft sie ihm zu und schliddert auf bloßen Füßen durch das taufeuchte Gras den flachen Abhang hinunter. "Sonst sind die einstweilen ohne uns in Brugia!" Das erste Pferd, das sie gleich am Fuß des Hügels erwischt, ist das altersschwache Hühnchen, was aber auch kein Wunder ist, denn der greise Wallach pfeift praktisch schon aus dem letzten Loch. Und auch Filidh ist schnell wieder eingefangen, denn auf einen Pfiff Colevars hin legt er einen so abrupten Stopp hin, dass er sich dabei fast auf die Hinterhand setzt, macht eine scharfe Kehrtwendung und kommt dann brav zu seinem Herrn getrabt, ohne dass der auch nur einen Finger krumm machen muss.

Aber Snerra ist weder altersschwach, noch reagiert sie auf Pfiffe oder sonstige Kommandos, also bleibt Ritter und Knappe nichts weiter übrig, als hinter dem durchgedrehten Gaul herzuhetzen, bis sie ihn schließlich unten am Bach in die Zange nehmen und stoppen können. Allerdings vermutet Morian, dass die Stute nicht unbedingt deswegen angehalten hat, weil Colevar und sie selbst sie mit ihrem überaus gebieterischen Auftreten (müde durch die Gegend blinzelnd, nur halb angezogen und mit schlafwirren Haaren) beeindruckt haben, sondern einfach deswegen, weil sie einen mordsmäßigen Durst hat. Schwer atmend bleibt die Stute am Wasserlauf stehen, senkt die Nase in das kühle Nass und säuft in atemberaubender Geschwindigkeit derartige Mengen, dass man glauben könnte, sie hätte gerade im Alleingang die Wüste Hôth durchquert. "Die muss ja einen mörderischen Brand haben", diagnostiziert Morian und beeilt sich, die zerkauten Überreste des Stricks wieder an Snerras Halfter zu knoten. Als besagter Brand gelöscht ist, taucht der gewaltige graue Schädel wassertriefend wieder auf, die Stute schüttelt sich, wankt ein wenig hin und her und glotzt ihre neuen Besitzer dann mit blutunterlaufenen Augen an. "Meine Güte, was hat dieses Pferd gestern bloß gesoffen?" Während Colevar und sie, den vierbeinigen Delinquenten sicher zwischen sich, den Hügel hinaufstapfen, kommen sie zu dem Schluss, dass Snerra entweder a.) tatsächlich einen Vollrausch gehabt haben muss, oder b.) sie jemand mit Mohnblumensaft oder einer ähnlichen Substanz ruhiggestellt und betäubt haben muss - wobei letzteres dann wohl doch die wahrscheinlichere der beiden Möglichkeiten ist.

"Wir müssen dieses Pferd zurückbringen, Colevar! Wir können doch diesen verrückten Gaul nicht behalten! So ein hinterhältiger Betrüger aber auch - was denkt der sich eigentlich!", schimpft Morian entrüstet und hält die Stute am Halfter fest, während Colevar Snerra zur Sicherheit eilig aus Stricken geknotete Fußfesseln anlegt. "So ein elender Rosstäuscher, so ein ... so ein ... mmpf!" Ihr fällt gar keine passende Vokabel mehr ein für diesen gemeinen Gauner, der sie so geprellt hat. "Wenn dieses Pferd sich immer so aufführt, dann wundert es mich auch nicht, dass sie ihr vor dem Verkaufen ein Betäubungsmittel eingeflößt haben. Ansonsten würde sich ja allerhöchstens ein Selbstmörder so einen Höllengaul zulegen." Ihr kommt siedend heiß der Gedanke, dass es nun ja sie ist, die sich mit besagtem Höllengaul herumplagen muss - und spontan wünscht sie sich die lahme Schnecke von gestern zurück, die zwar langsam und anstrengend gewesen war, aber immerhin nicht lebensgefährlich. Na, das kann ja heiter werden... Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube beäugt sie ihr so rasant verwandeltes Reittier. Jetzt ist keine Spur mehr von Faulheit an Snerra zu sehen, nicht ein klitzekleines Fünkchen mehr von 'sanftem Lämmchen'. Zwar wirkt sie jetzt, nachdem sie sich gehörig ausgetobt hat, nicht mehr wie ein gerade explodiertes Pulverfass, aber sehr vertrauenerweckend sieht sie trotzdem nicht aus. Und jetzt kann Morian sich auch durchaus vorstellen, dass dieses Pferd vielleicht doch schon einmal bei einem Lanzenstechen geritten worden ist. Vermutlich hat das Schiedsgericht sie ein für alle mal von solchen Ritterturnieren ausgeschlossen, weil sie ihre Gegner einfach plattgewalzt hat. Götter im Himmel, worauf haben wir uns da nur eingelassen....

Was sie sich mit dem Kauf der Stute eingebrockt haben, merkt Morian schon, als sie nach einem kargen Frühstück ihr Lager abbrechen und sich auf den Weg nach Brugia machen - genauer gesagt, sie merkt es ungefähr zweieinhalb Herzschläge nach dem Aufsitzen. Zu diesem Zeitpunkt hockt sie nämlich bereits wieder mit dem Hintern im Dreck und Snerra glotzt zu ihr herunter, als wolle sie sagen Was willst du halbes Hemd auf meinem Rücken? Wutschnaubend rappelt Morian sich wieder auf, putzt sich den Staub von der Hose und schickt sich an, sogleich wieder in den Sattel zu klettern. "Jetzt stell' dich bloß nicht so an. Gestern hast du mich auch den ganzen Tag durch die Gegend getragen, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, dann sollte das ja wohl auch heute möglich sein." Snerra scheint da aber anderer Meinung zu sein, denn kaum hundert Schritt weiter liegt Morian erneut im Dreck. "Du blödes Pferd, jetzt reicht's mir aber!" Mit schmerzverzerrtem Gesicht reibt sie sich das Hinterteil, als sie aus dem schmalen Graben neben der Straße krabbelt. "Und du hör gefälligst auf, so dämlich zu grinsen!", schnaubt sie mit einem bösen Blick auf Colevar, der sichtlich erheitert auf Filidhs Rücken thront. Zornig steigt sie wieder in den Sattel, wild entschlossen, sich nicht wieder absetzen zu lassen. Diesmal hat sie die Stute ein wenig besser in Griff, auch wenn sie das Gefühl hat, auf einem brodelnden Vulkan zu sitzen. Snerra schnaubt und schlägt mit dem Kopf, legt sich auf das Gebiss und tänzelt hierhin und dorthin, versucht sich wie ein Brummkreisel zu drehen und schafft es irgendwie, im Schritt zu galoppieren. Morian hat alle Hände voll zu tun und gibt wirklich ihr Bestes, mit diesem verrückten Schlachtross fertig zu werden, aber als sie schließlich mit dem letzten Abendlicht Brugia erreichen, tut ihr jeder Knochen im Leib weh und ihr Hintern besteht nur noch aus blauen Flecken (insgesamt nicht weniger als dreizehn unfreiwillige Abstiege), ihre Gesicht ist zerkratzt (eine innige Bekanntschaft mit einem Dornengestrüpp), ihre Arme und Hände sind mit roten Pusteln übersät (eine weitere innige Bekanntschaft, diesmal mit einem Brennnesselgebüsch), und ihre Kehle ist so heiser, dass sie kaum noch ein Wort herausbringt und klingt wie ein Reibeisen (ausgiebiges Fluchen und Beschimpfen Snerras, der Mitreisenden im Allgemeinen und Colevar im Besonderen wegen schadenfrohen Feixens).

Morian wünscht sich nur noch irgendetwas zu essen, ein weiches Bett, einen Eimer Wundsalbe für sich und einen kräftigen Eichenholzknüppel für diese Pferd. Noch nicht einmal der herrliche Anblick Brugias, dessen Dächer im goldenen Abendlicht förmlich zu glühen scheinen, als sie über den letzten Hügel reiten und das weite Rhaíntal vor ihnen liegt, kann sie für diesen Ritt entschädigen. Sie reiten von Norden her in die Stadt, passieren die mächtigen Mauern und das Tuchmachertor mit den wuchtigen Wachtürmen zu beiden Seiten, dann tauchen sie ein in ein buntes Gewirr aus Straßen, Gassen und gepflasterten Plätzen, aus kleinen Handwerkerhäuschen, Tempeln, Hafenkais, Weinschänken und Geschäften, aus Marktständen, schmucken Villen und imposanten Gildenhäusern mit hohen Giebeln, ein Meer aus Dächern und Fassaden, aus Holz, aus Stein, aus Marmor, buntbemalt oder mit hölzernem Fachwerk. Trotz der späten Stunde herrscht noch lebhafte Geschäftigkeit auf den Straßen und alle Welt scheint gerade auf den Beinen zu sein. Als sie absitzen und Colevar einen vorbeieilenden Botenjungen am Hemdsärmel festhält, um ihn nach dem Grund für all dieses Treiben zu fragen, erfahren sie, das sie gerade mitten hinein in das alljährlich stattfindende Tuchmacherfest mit seinen Feierlichkeiten und großen Märkten geraten sind. Sogar die große Frühjahrskarawane, die sich wie jedes Jahr vom eisigen Immerfrost bis hinab zum Ildorel wälzt, kampiert gerade innerhalb der Mauern. "Hier in der Stadt hat nicht einmal mehr ein Mäuschen Platz. Ihr werdet bestimmt kaum mehr ein Zimmer für die Nacht finden", orakelt der Junge. "Wenn überhaupt, dann vielleicht noch unten am Flusshafen oder im Färberviertel. Hier rund um den Marktplatz platzt schon alles aus den Nähten. Ich muss weiter, viel Glück!" Und schon ist er wieder in der Menge verschwunden, während sie ziemlich ratlos mitsamt den Tieren und dem Gepäck zurückbleiben. "Und nun?" fragt Morian ein wenig verwirrt. "Wir brauchen ja einen Platz zum Schlafen. Sollen wir es dort an diesem Flusshafen versuchen, den der Junge genannt hat? Was meinst du?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 18. Juli 2011, 17:25 Uhr
Als Colevar den Botenjungen, der ihnen im Gewühl hinter dem Tuchmachertor Brugias direkt vor die Füße läuft, nach einem halbwegs guten und halbwegs erschwinglichen Gasthaus fragt, blinzelt der Bengel für einen Moment so überrascht, als wolle er sie gleich auslachen, reißt sich dann aber doch zusammen: >Hier in der Stadt hat nicht einmal mehr ein Mäuschen Platz. Ihr werdet bestimmt kaum mehr ein Zimmer für die Nacht finden,< wird ihnen beschieden. Und in einem guten Gasthaus schon gar nicht. Sie könnten es ja am Flusshafen oder im Färberviertel versuchen, und viel Glück dabei auch, nichts für ungut. Damit ist der Junge weg und Colevar unterdrückt einen halblauten Fluch. Er ist bei seinen Reisen auf dem verdammten Frostweg schon so oft durch Brugia gekommen, dass er sowohl den Flusshafen der Stadt als auch das Färberviertel gut genug kennt, um zu wissen, dass er beide garantiert nicht wiedersehen will. >Und nun?< Tönt es ratlos neben ihm und er blickt auf Morian hinunter, die zweifelnd dem straßenköterbraunen Haarschopf des Botenjungen mit den abstehenden Segelohren hinterherblickt. Sie ist zum Umfallen erschöpft. >Wir brauchen ja einen Platz zum Schlafen. Sollen wir es dort an diesem Flusshafen versuchen, den der Junge genannt hat? Was meinst du?< Colevar will die junge Frau in keinem der beiden Stadtteile wissen, noch nicht einmal in ihrer Nähe. Andererseits hat Morian Recht: sie brauchen eine Unterkunft und einen Stall für die Pferde - sie sieht ohnehin aus, als könne sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie muss inzwischen von Kopf bis Fuß ein einziger blauer Fleck sein. Sie hatte sich tapfer gehalten, war aber dennoch den ganzen Tag lang immer wieder von der cardosser Stute abgesetzt worden. Snerra, längst aus dem Traumweinrausch erwacht, ist zwar am Führzügel, so wie jetzt, ein leidlich braves Pferd, will aber anscheinend niemanden auf ihrem Rücken dulden, ganz gleich, wie gut er reitet oder wie sanft er mit ihr umgeht. Morian ist definitiv keine schlechte Reiterin. Sie hat auch keine harte Hand. Und es liegt auch nicht am Sattel, der passt – du hast das viermal überprüft. Colevar war nicht ganz so oft aus dem Sattel gestiegen, wie Morian an diesem Tag und er hatte es – im Gegensatz zu ihr – immer freiwillig getan: entweder um sie aus einem Gestrüpp Schlehdorn zu pflücken, sie aus einer Brennnesselhecke einzusammeln oder eine quietschend davonbuckelnde Snerra zu fangen, wenn Morian doch einmal die Zügel verloren hatte (was nur zweimal der Fall gewesen war).

Die Stute hatte ein einziges Mal versucht, ihn zu beißen, mürrisch, weil er sie doch erwischt hatte. Colevar hatte ihr aus reinem Reflex heraus einen schnellen, harten Fausthieb verpasst und ihr die Zügel fest auf die Nase geklatscht, worauf hin sie überrascht schnaubend zurückgefahren war und dann prompt kauend den Kopf gesenkt hatte. Seine Knöchel waren nicht minder prompt angeschwollen und pochen auch jetzt noch leise vor sich hin, aber Snerra hatte seitdem nicht einmal mehr versucht, sich ihm zu widersetzen. Du hast ja auch nicht versucht, sie zu reiten... "Wenn sie dich beißen will, gib ihr einen Kinnhaken. Das hilft", hatte er gesagt, als er die Stute zu Morian zurückgebracht hatte, die mitten auf dem Weg (und in der einzigen Pfütze weit und breit) gesessen hatte und gerade dabei war, sich den Schlamm aus den Augen zu wischen. Morian hatte erst ihn, dann ihre kleine Faust, dann den mächtigen Pferdeschädel und wieder ihre Faust angeblickt - und irgendetwas Unverständliches in Môrfrysk geprustet, von dem er gar nicht hatte wissen wollen, was es heißt. Zweifellos irgendeine haarsträubende Verwünschung. In den nächsten Stunden war sie noch viermal abgeworfen worden... einmal hatte Snerra sogar versucht, sie an einem tiefhängenden Pappelast abzustreifen, und als sie gefallen war, war sie so hart gelandet, dass er schon befürchtet hatte, sie habe sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Er war (bestimmt zum sechsten Mal) aus dem Sattel gestiegen und besorgt zu ihr geeilt, gerade als Morian sich ein wenig aufgerichtet und reichlich benommen nach Luft geschnappt hatte. "Wie viele Colevars siehst du?" Hatte er wissen wollen und sie hatte sich stöhnend hingesetzt. "Vier. Ich nehm' den in der Mitte, ja? Wo ist das verdammte Pferd?"
Er hatte sich umgesehen. "Frisst in Allerseelenruhe vier Schritt weiter den Löwenzahn am Wegesrand. Willst du wirklich wieder aufsteigen? Du kannst auch mit mir auf Filidh reiten und... " er hatte mit den Schultern gezuckt und sich ein Lächeln abgerungen, "...ich erschlage dieses Mistvieh einfach."
"Nein", hatte sie mühsam hervorgeknurrt und sich von ihm auf die Füße helfen lassen. "Ich reite dieses Mistvieh. Bis nach Brugia. Dann ertränke ich sie und mich im Rhaín. Hilf mir in den Sattel, ja?"

Sie hatte Wort gehalten und war das Mistvieh bis nach Brugia geritten und Morians sture Hartnäckigkeit ringt Colevar ein gehöriges Maß an Bewunderung ab. Von "im-Rhaín-ertränken" ist auch keine Rede mehr, doch selbst wenn - sie kämen gar nicht an den Fluss, weil die Straßen der Stadt so mit Reisenden verstopft sind. Flusshafen oder Färberviertel also... Wäre er allein, hätte er nicht einen halben Herzschlag lang gezögert, aber er ist nicht mehr allein. Der Gedanke hat eigentlich etwas wirklich Wärmendes an sich, aber im Augenblick krabbelt er eher mit kleinen, eisigen Füßen über Colevars Nacken. "Wir haben nur die Wahl zwischen Fegefeuer und Scheiterhaufen, aye... versuchen wir es im Hafenviertel in der 'Schwatzhaften Elster'. Aber du bleibst dicht bei mir, Morian. Ich meine es ernst, es ist keine sichere Gegend. Keine Wachen, kaum Laternen und eine Menge Gesindel. Entfern dich um Himmels Willen nicht weiter als eine Armlänge von mir." Er nickt in Richtung einer wenig einladenden, dunklen Straße. "Dort entlang." Sie bahnen sich ihren Weg zwischen Fuhrwerken, Stadtgardisten im Laufschritt, Kinderhorden die Stock-und-Ball spielen oder um ein paar Münzen betteln, Straßenhändlern, die ihre Waren feilbieten, anderen Reisenden jeden Standes und grimmig dreinschauenden Karawanenwächtern hindurch, während die Nachtwächter bereits die Laternen entzünden und das letzte Tageslicht schwindet. Der Flusshafen liegt am äußersten Südrand Brugias, mitten in den Eingeweiden der Stadt - und genauso riecht es auch: ein penetranter Gestank nach Brackwasser, verdorbenem Fisch, abgestandenem Bier, heißem Pech und anderen Gerüchen, die ihnen der Wind zuträgt. Die Straßen bleiben gepflastert, zumindest die Hauptwege, aber sie werden enger und verwinkelter, je weiter sie ins Hafenviertel vordringen. Weiter südlich, an den Kais und Anlegestellen östlich und westlich des Fährhafens, erheben sich hohe, feste Speicherhäuser und Lagerhallen, ist der Fischmarkt mit seinem weiten Rund und reihen sich hölzerne Docks flussauf- und flussabwärts aneinander, auf denen stämmige Flussschiffer und Scheuerleute unablässig Schiffe, Boote und Kähne be- oder entladen. Doch abseits der Häfen ist das Viertel eher schäbig, stehen die Häuser der Hafenarbeiter, Tagelöhner und Fischer dicht an dicht und sie sehen kaum Gardisten, von hell brennenden Nachtfeuerkörben ganz zu schweigen – auch wenn hin und wieder an den größeren Kreuzungen trübe Laternen von gespannten Seilen über der Straße baumeln, so niedrig, dass Colevar sich fast unter jeder hindurchbücken muss.

Dafür finden sich an jeder Ecke Huren in gestreiften Umhängen, ganze Horden betrunkener  Scheuerleute vor den Weinschänken und aus einem Hinterhof dringen johlender Lärm, lautes Geschrei und darunter das wütende Knurren zweier großer Hunde, die in einer Kampfgrube aufeinander gehetzt werden, grollend wie ferner Donner. Dank Colevars Größe, seiner Waffen, seines absolut unmissverständlichen Gesichtsausdrucks und Snerras beständig angelegter Ohren und rollender Augen bleiben sie unbehelligt, bis sie die 'Schwatzhafte Elster' fast erreicht haben. Vor zwei Jahren hatte es Colevar schon einmal in das Gasthaus verschlagen – auf der Flucht vor Riku und seinen Männern, die ihm hart auf den Fersen gewesen waren – weil es dort vor Fischern und Matrosen wimmelt, die Passagiere auch abseits des Frostwegs, der Fähren und der Zolltürme über den Rhaín schmuggeln, wenn der Preis stimmt. Er hätte schwören können, dass sie auf dem richtigen Weg sind, doch die Gasse vor ihnen macht abrupt eine Biegung und sie landen in einem kleinen, schlammigen Hof, in dem leere Aalreusen um einen niedrigen Steinbrunnen liegen. Eine alte Frau, die Wasser holt, blickt auf und beäugt sie misstrauisch. "Was wollt Ihr?"
"Wir suchen die 'Schwatzhafte Elster'."
"Ihr müsst zurückgehen. Am Tempel links."
Sie drehen um, doch sie finden in dem engen Gewirr aus Höfen, Wegen und Durchgängen noch nicht einmal den Amurtempel wieder, dafür gelangen sie in eine dunkle Seitengasse, in der sich fünf Söldner oder Karawanenwächter, vielleicht auch einfach nur Hafenschläger, einen Spaß daraus machen, einen kleinen, schmächtigen Mann in einer dunklen Robe zwischen sich hin und her zu stoßen wie einen Brummkreisel. Schriftrollen und kleine Wachstafeln purzeln dabei aus den weiten Falten seiner Robe und verteilen sich im Dreck und das Gesicht des armen Tropfs ist so verschwollen von Faustschlägen, dass er kaum noch blinzeln kann. Blut tropft aus seiner Nase und seinem zerschlagenen Mund. Die Männer sind schäbig gekleidet und eher ärmlich bewaffnet und gerüstet, aber sie stinken nach Grausamkeit. Colevar unterdrückt einen verärgerten Fluch, wirft Morian Filidhs Zügel zu, löst die Lochaberaxt vom Sattel und tritt einen Schritt weiter in die Gasse, die Axt in der rechten, das Langmesser in der linken Hand. Kälte senkt sich in der lauen Frühsommernacht herab. "Bleib bei den Pferden."

Noch ein Schritt weiter und die Schatten der Hauswände haben ihn völlig verschluckt. Der erste Mann sieht ihn nicht einmal kommen. Er ist zu sehr damit beschäftigt, sein Opfer zu verspotten, das sich schweigend und ohne jede Gegenwehr im Kreis herumstoßen lässt und Colevar bewegt sich lautlos in der Dunkelheit. Vielleicht spürt der Mann noch einen eisigen Hauch, als er in seinen Rücken tritt und ihm mit dem Langmesser die Kehle aufschlitzt, vielleicht auch nicht, aber Colevar ist schon wieder mit den Schatten verschmolzen, als der Kerl gurgelnd vornüberkippt und seinen Kameraden vor die Füße fällt. Die vier anderen erstarren, vollkommen verwirrt, dann fummeln sie hastig nach ihren Waffen, brüllen erschrocken durcheinander und formieren sich wild zu einem losen Kreis – oder wenigstens versuchen sie es. Die Lochaberaxt zischt aus der Dunkelheit, beschreibt einen tiefen, schnellen Bogen und das Knie des nächststehenden Mannes zerbirst in einer Gischt aus Blut und Knochen. Der Mann klappt zusammen wie ein gebrochenes Scharnier, windet sich auf dem Boden und umklammert die die Trümmer seines Beines. Ein zweiter starrt wild in die Finsternis entlang der Hauswände, wirft sein ohnehin rostzerfressenes Schwert fort und rennt in Richtung Gassenausgang. Dort erwartet ihn jedoch Morian, die zwar mit drei Pferden an den Zügeln absolut keine Hand für ihre Schleuder frei hat, dem Kerl aber geistesgegenwärtig ein Bein stellt und ihm dann einen kräftigen Tritt gegen die Schläfe versetzt. Es reicht nicht aus, um ihn endgültig Sterne sehen zu lassen, aber es macht ihn benommen, und als er grunzend vor Zorn wieder auf die Beine kommt und versucht, nach Morian zu greifen, beißt Snerra ihn mitten ins Gesicht. Die übrigen zwei Straßenschläger glotzen wie versteinert auf Morian und die drei schnaubend herumtänzelnden Pferde, und Colevar nutzt die Zeit, um den Mann, dem er das Knie zertrümmert hatte, endgültig zu erledigen. Zwei sind tot und der dritte, dem Snerra das Gesicht zerbissen hatte, wird es bald sein, zwei sind noch übrig. Der Gelehrte kriecht in seiner zerrissenen Robe im Schlamm herum und tastet nach Schriftrollen und Wachstafeln. Die beiden übrigen Männer ziehen Schwerter und Dolche, einer hält einen kurzen, dicken Wurfspieß.
"Erledige den Burschen. Erledige ihn, Shag, und wir schnappen uns die Pferde! Erledige ihn!"
"Erledige ihn doch selber!" Gibt der Kerl mit dem Wurfspieß zurück. "Der hat Dyk und Willas nicht getötet, wo ist der verdamm..."
Colevar tritt hinter ihnen aus den Schatten. "Hier. Ihr seid die nächsten."

Sie wirbeln zu ihm herum und verlieren keine Zeit mit weiteren Reden, sondern stürzen sich augenblicklich auf ihn, einer von links, einer von rechts. Colevar hat keinen Schild, nur die lange Axt um zu parieren, aber unter dem ledernen Hemd trägt er guten Kettenstahl, also lässt er sie kommen, weicht zurück, weicht aus, bis er die Häuserwand hinter sich hat. Gleichgültig wie er sich drehen und wenden würde, einen von beiden hätte er im Rücken. Der Wurfspieß wirbelt nach links und rechts, sticht Finten hier und dorthin in die Luft. Entscheide dich für einen. Entscheide dich, und töte ihn rasch. Dann kommt aus dem Nichts eine Wachstafel geflogen und trifft den Wurfspeerträger am Kopf. Colevar zögert nicht, sondern wirft sich auf den anderen. Er ist besser als seine schlechte Ausrüstung, aber er hat nur ein Kurzschwert und einen Dolch, und Colevar eine zweihändige Axt und die viel größere Reichweite. Die Dolchklinge zischt an seinem Gesicht vorbei, als er auf ihn losgeht. Er spürt rotes Blut über seine Wange laufen, doch die Schnittwunde fühlt er kaum. Der Mann reißt seine Schwertklinge hoch, um das eigene Gesicht zu schützen, doch noch während er die Waffe hebt, holt Colevar mit beiden Händen aus, schlägt tief und wuchtig zu, legt seine ganze Kraft in den Schlag und spürt wie sich das massive Axtblatt durch Leder, Wolle, Haut und Muskeln tief in den Leib seines Gegners gräbt. Der Mann kippt nach vorn, so langsam, als könne er gar nicht begreifen, dass es zu Ende ist, fällt fast kopfüber über den Schaft der Axt und rutscht dann knochenlos geworden zu Boden. Colevar muss die Axt loslassen, da er sie nicht gleich wieder frei bekommt und wirbelt herum, nur noch mit dem Langmesser bewaffnet, doch der letzte Schläger liegt schon auf den Knien und starrt mit beinahe komischem Gesicht in die Nacht. Um ihn her liegen inzwischen ein halbes Dutzend Wachstafeln und Schriftrollen, mit denen ihn der Gelehrte in Ermangelung von Steinen oder anderen Wurfgeschossen bombardiert hatte. Der kleine, dünne Mann in der mitgenommenen, schmutzfleckigen Robe steht hinter ihm und zittert wie Espenlaub, und als der Schläger mit dem Gesicht voran in den Dreck fällt, sieht Colevar auch, warum: ein Dolchgriff ragt aus seinem Rücken. In der Gasse ist es so kalt, dass der keuchende, abgehackte Atem des Gelehrten als weiße Wolken vor seinem übel zugerichteten Gesicht zu sehen ist.  "I-i-i...ich h-ha-ha-ha..b.. hab...hab..."

"Es ist vorbei. Sie sind tot. Kommt her. Kommt hierher, Mann, wir tun Euch nichts. Wer seid Ihr?"
"Ff...Fo-Folpert van Arkel. Bitte, Sire. Ich habe keine Münzen, Sire. Ich habe kein Silber, Sire und erst recht kein Gold. Ich bin Advokat, Sire. Ich habe es ihnen gesagt, Sire, aber sie wollten nicht... und dann haben sie... und dann...und ich konnte nicht... "
"Seid nicht albern, Meister Arkel. Ich raube Euch nicht aus." Die Kälte verschwindet so plötzlich, wie sie aufgekommen war und die Nacht ist wieder lau und voller kupfrigem Blutgeruch. "Könnt Ihr stehen? Kippt jetzt bloß nicht um. Ich muss nach Mo... meinem Knappen sehen, Meister Arkel, aye? Ich bin gleich wieder bei Euch."
Morian fehlt zu Colevars Erleichterung nichts, aber auch sie wirkt ein wenig blass um die Nase... vielleicht ist es aber auch nur der schwache Mondschein, der die Hälfte der Gasse inzwischen in silbrigen Dunst taucht. "Alles in Ordnung? Du bist nicht verletzt - oder doch?" Er muss den plötzlichen, heftigen Impuls unterdrücken, sie nach verborgenen Wunden abzutasten um sich eigenhändig von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen - und das erstaunt ihn für einen Augenblick so, dass er fast den Advokaten vergessen hätte. "Der Mann heißt Meister Arkel. Sie haben ihm das Gesicht zerschlagen und wollten ihn wohl noch ein wenig Schreien lassen, bevor sie ihm die Kehle durchgeschnitten hätten. Kannst du... dich vielleicht ein wenig um ihn kümmern, während ich... die Leichen aus dem Weg schaffe? Ich kann euch hier nicht allein lassen, um der Wache Bescheid zu geben, aber vielleicht finden wir auf dem Weg zur Elster irgendjemanden, den ich mit einer Nachricht schicken kann."
Morian nickt nur, und während Colevar die blutige Schweinerei beseitigt, so gut es eben geht, die Männer in ihre Umhänge wickelt, soweit sie welche haben, ihre Waffen einsammelt und die Leichen beiseiteschafft, um sie an entlang den Hauswänden aufzureihen, hört er die junge Frau leise auf den immer noch schlotternden Advokaten einreden, der sich an Hühnchens Seite lehnt, als suche er Trost bei dem großen, warmen Pferdekörper. Der alte Wallach hält auch geduldig still und selbst Snerra benimmt sich für den Moment. Als Colevar zu den beiden zurückkehrt, hat Meister Arkel sich wieder einigermaßen gefangen, auch wenn er noch immer bleich wie Milch ist. Im Mondlicht kann Colevar den Mann zum ersten Mal genauer in Augenschein nehmen und muss fast lächeln angesichts der Tatsache, dass er noch nie einen gelehrten Advokaten zu Gesicht bekommen hat, der das Klischee vom weltfremden, vergeistigten Gelehrten mehr erfüllt hätte, als dieser.

Folpert van Arkel ist klein und von zarter Gestalt, sein Haar unter der schwarzen Kappe ist kurzgeschoren und grau, sein Gesicht erinnert ein wenig an das eines verschreckten Mäuschens und seine Hände sind langfingrig, schmal, gepflegt und so blass und weich wie Frauenhände. Seine Schriftrollenbündel und Wachstafeln umklammert er wie geliebte Kinder und er hebt den Saum seiner Robe fast geziert aus dem Straßenschmutz. Außerdem drückt er sich umständlich, gewählt und ausgesucht höflich aus, stottert er nicht gerade entsetzt über sein eigenes Tun vor sich hin. Sie erfahren, dass er, wie sie selbst auch, in diesem elenden Viertel gelandet war, weil – er habe geschäftlich in Brugia zu tun gehabt – kein besseres Gasthaus der Stadt mehr auch nur einen Strohsack im Stall frei gehabt habe. Er sei ausgeraubt worden (nein, nicht von diesen Männern, schon vorgestern auf dem Frostweg), weswegen er keine Börse mehr gehabt habe, die er dem Pack hätte geben können, diese Männer hatten ihn töten wollen, das hätten sie ihm gesagt, nein versprochen, geschworen. Was er denn jetzt nur tun solle? Colevar tauscht einen Blick mit Morian. "Erst einmal kommt Ihr mit uns in ein Gasthaus. Dann sehen wir weiter."
Das sei sehr nett, wirklich sehr liebenswürdig, und die Götter mögen ihn und den Jungen segnen, aber er habe doch gar kein Geld für ein Zimmer und...
"Wir können für drei bezahlen. Jetzt kommt. Es kann nicht mehr weit sein." Die Schwatzhafte Elster hat kein Schild mehr. Sie brauchen fast eine halbe Stunde, um das Gasthaus zu finden, das zwischen einer für die Nacht vollkommen verrammelten Schmiede und einer windschiefen Scheune steht. Für ein paar Kupferlinge können sie die Pferde in der Scheune unterbringen und bekommen sogar halbwegs gut aussehendes Heu und Stroh für sie, auch wenn Colevar die Tiere lieber selbst versorgt, als sie in die Hände des einzigen Küchenjungen der Elster zu geben, der Filidh und Snerra anglotzt, als wären sie azurianische Dreihörner und keine Schlachtrösser.

In das Gasthaus führt eine wurmstichige Holztreppe, Elstern sind keine zu sehen. Die Schankstube ist düster, die Decke so niedrig, dass Colevar sich den Kopf beinahe an den Balken stößt. Sägemehl bedeckt den Holzboden, es riecht nach Hopfen, Rauch und Fisch. Ein paar Schemel und grobe Bänke stehen herum, die Tische bestehen aus alten Weinfässern, grau und voller Flecken, die ebenso gut von rotem Wein wie von etwas anderem stammen können. Trotzdem ist die Elster gut besucht: in einer Ecke trinken drei Zwerge und knurren sich durch graue Bärte hindurch an und an einem halben Dutzend Tische sitzen Reisende wie Einheimische. Die Wirtin steht hinter einer Planke, die quer über zwei hohen Fässern liegt. Die Frau sieht aus, als hätten die Götter sie aus rohem Teig erschaffen - sie ist rund und bleich, hat ihr Haar unter einem schmuddeligen Kopftuch zusammengebunden und unter ihrem fleckigen Überwurf schaukeln riesige Brüste. Sie beäugt Colevars blutiges Gesicht, seine Waffen und den reichlich üblen Aufzug des Advokaten. "Wenn Ihr jemanden umbringen wollt, tut es woanders. Wir wollen hier keinen Ärger mit der Garde", erklärt sie fest, aber die Angst in ihrer Stimme klingt dabei lauter, als die Entschlossenheit.
"Wir hatten schon genug Ärger und suchen nicht noch mehr. Schickt euren Jungen zur Wache, in einer Gasse nicht weit von hier hinter dem Tempel liegen ein paar tote Straßenräuber. Habt Ihr noch freie Zimmer, gute Frau?"
"Nicht vor morgen früh, des Nachts sind die Straßen zurzeit nicht sicher mit all den Fremden in der Stadt. Nicht, dass sie es hier im Hafenviertel sonst wären. Ich habe vielleicht ein Zimmer oder zwei. Für diejenigen, die Münzen haben. Könnt Ihr bezahlen?"
Eine halbe Stunde später ist ihr Gepäck verstaut und Meister Arkel hat die Wirtin mit wahrer Seharimzunge sogar dazu gebracht, die Kessel anzuschüren, um heißes Wasser zu bekommen. Als Badezuber gibt es allerdings nur ein altes Weinfass, in das zwar der Advokat und auch Morian hineinpassen, wenn sie sich klein machen, Colevar aber beim besten Willen nicht. Sie bekommen leidlich trinkbares Bier, aber das Essen ist derart abscheulich, dass Colevar lieber Maden geschluckt hätte, als auch nur noch einen Löffel von dem Eintopf anzurühren, in dessen trüber Brühe ein paar Fleischbrocken schwimmen, die halbroh sind und von Ratten stammen könnten... oder Straßenhunden. Oder unglücklichen Katzen. Vielleicht ist es auch nur Schwein. Je weiter die Nacht fortschreitet, desto lauter und voller wird der Schankraum, so dass es sie nicht lange unten hält.

Morian nimmt ihr Bad im Weinfass, während Colevar mit dem Advokaten spricht und auf dem Gang wartet, dann zieht sich Meister Arkel in die winzige Kammer zurück, die sie von der Wirtin für ihn ergattern konnten, und Colevar und Morian teilen sich ein karges Nachtmahl aus ihren eigenen Vorräten in ihrem Zimmer. Ein Bett, in dem sechs Männer hätten schlafen können, ist der einzige Einrichtungsgegenstand im Raum, abgesehen vom Stumpf einer Talgkerze auf dem Fensterbrett. Das Fenster hat keine Scheiben und ist nur mit einer dünnen Ölhaut verhängt. Colevar zündet das Licht mit dem Wachsstock an, den die Wirtin ihnen gegeben hat, hängt seine Waffen an die Bettpfosten, schält sich aus seinen Kleidern, dem Kettenhemd und dem gepolsterten Gambeson, und wäscht sich über Morians Badewasser so gut es geht Blut und Schweiß von der Haut. Der Schnitt in seinem Gesicht ist allen Göttern sein Dank nicht tief und würde höchstens eine schmale Narbe hinterlassen. Trotz seiner Breite ist das Bett nicht lang genug für ihn, so dass er sich gern quer hineingelegt hätte, aber dann wäre kein Platz mehr für Morian, außerdem halten ihn das Klappern der Krüge von unten, die grölenden Stimmen und die Flöhe wach, die ihnen bald ihre Aufwartung machen. Als er sich schnaubend umdreht, um eine halbwegs bequeme Lage zu finden und dabei die durchgelegene Matratze bewegt, die bestimmt zwanzig Sekhel tief nachgibt, bewegt er damit auch Morian, die prompt in die entstandene Kuhle rutscht und einen halb unterdrückten Schmerzlaut von sich gibt. "Oh, tut mir leid. Bist du sicher, dass du dir nichts getan hast bei deinen Abstürzen heute? Du klingst, als hättest du mindestens zwei angeknackste Rippen. Ich habe noch Zaubernussalbe in meiner Satteltasche, wenn du welche willst." Sie hat definitiv Blasen an den Fingern, wo die Zügel ihr die Haut aufgerissen haben - er hatte sie gesehen, auch wenn sie sie hastig vor ihm versteckt hatte. Sie brummt ein "Hmmhmm", doch egal ob das nun ein Ja oder Nein gewesen sein soll, steht er auf, froh dieser Bettfalle zu entkommen und holt das kleine Päckchen mit Arzneien und Heilkräutern aus seinen Satteltaschen. Die Zaubernussalbe würde zumindest ihre Blasen, Striemen, Dornenkratzer und Prellungen ein wenig lindern. "Zeig mir deine Hände, Morian. Komm, mach die Augen auf, Mädchen. Erst müssen wir das hier versorgen, dann kannst du schlafen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 21. Juli 2011, 19:15 Uhr
Das dunkle Labyrinth aus Hinterhöfen und schmutzigen Gässchen, durch das Colevar sie führt, ist wirklich mehr als zwielichtig und lässt Morian unwillkürlich dichter an ihren Begleiter und die Pferde heranrücken. Die heruntergekommenen Häuser stehen so eng beisammen, dass ihre Giebel sich beinahe berühren und mehr einen düsteren Tunnel als eine Gasse bilden. Noch nicht einmal das fahle Licht des aufgehenden Mondes schafft es durch das klaustrophobische Gewirr aus Dächern, Giebeln und Erkern bis hinab zum Pflaster, und so etwas wie Feuerkörbe, Laternen oder eine andere halbwegs vernünftige Straßenbeleuchtung scheint man in diesem Viertel noch nicht einmal zu kennen. Das ist wahrscheinlich auch gut so, sonst würde man sich bloß über den Dreck und die vielen Ratten erschrecken. Was um Himmels willen stinkt denn hier nur so göttererbärmlich? Wieder huscht einer dieser kleinen quiekenden Schatten direkt vor ihnen über das schmierige Pflaster und verschwindet im Schutz eines dunklen Kellerlochs, als sie vorüberkommen. Es sind aber weniger die zahllosen Ratten, die Morian beunruhigen, sondern eher das untrügliche Gefühl, aus dem Verborgenen heraus beobachtet zu werden - von wem oder was, das will sie lieber gar nicht erst wissen. Sie mag zwar ein recht forsches Auftreten und vor allem eine schrecklich große Klappe haben (zumindest bei Tageslicht), aber im Grunde ihres Herzens ist sie doch ein ziemlicher Hasenfuß, auch wenn sie das niemals zugeben würde - und vor Colevar schon gleich dreimal nicht. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube und ziemlich schlotternden Knien stapft sie hinter ihm her und muss sich arg zusammenreißen, um sich nicht fortwährend mit gehetzten Blicken umzusehen. Hier ist niemand, du dumme Gans, schimpft sie mit sich selbst und ärgert sich über ihre Furchtsamkeit. Du siehst wirklich schon Gespenster. Auf ihrer Reise von der Silberküste bis hierher nach Brugia hatte sie durchaus schon Bekanntschaft mit allerhand weniger schönen Orten gemacht, aber so ein derart heruntergekommener und grausliger Flecken war ihr bestimmt noch nie begegnet. Dabei hat sie sich eigentlich für ziemlich abgebrüht gehalten - eine Meinung, die sie angesichts dieses schmutzstarrenden und gänsehautverursachenden Stadtviertels dringend revidieren muss.

Gerade will sie Colevar fragen, wie lange sie denn noch hier in dieser Mördergrube herumschleichen müssen, da bleibt er so jählings stehen, dass sie ihn fast umgerannt hätte und ihre Nase förmlich in seiner kettenhemdgepanzerten Rückseite stecken bleibt. Weswegen er so abrupt anhält, kann sie gar nicht erkennen, denn das einzige, was sie im Moment sieht, sind sein breites Kreuz und haufenweise ineinander verflochtene Stahlringe. "Was ist denn?", schnaubt sie unwirsch, aber statt einer Antwort bekommt sie nur ein paar Zügel in die Hand gedrückt, während Colevar hastig seine Axt aus der Halterung an Filidhs Sattel löst - ein mörderisch aussehendes Monstrum, das sie noch nicht einmal hochheben, geschweige denn schwingen könnte. "Bleib bei den Pferden", raunt er, tut zwei, drei Schritte in die Düsternis und ist dann auf einmal so plötzlich verschwunden, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. "Tja, wo sollte ich wohl auch sonst hin?", kontert sie schnippisch, aber dann werden ihre Augen schmal und ihr bleibt förmlich das Wort im Halse stecken, denn jetzt sieht sie, was ihn so jäh zum Halten gebracht hat. In der Düsternis der Gasse erkennt sie in einiger Entfernung gerade eben noch eine Handvoll bewaffneter Männer, die irgend etwas zu umkreisen scheinen - und ausgerechnet jetzt hat ihr tapferer Ritter sich augenscheinlich in Luft aufgelöst. Prompt plumpst ihr das Herz in die Hosen - ach was, bis in die Stiefelspitzen. "Herrje, woisserdennjetzthin? Wasmachichdennbloß ... Götterstehtmirbei!" Angestrengt späht sie in die Dunkelheit, aber Colevar scheint in einem Mauseloch verschwunden zu sein, denn sie kann ihn nirgends entdecken. Irgendwie fühlt sie sich im Moment ziemlich verlassen. Soll sie um Hilfe rufen? Nach der Stadtwache schreien? Sich umdrehen und davonrennen? Sie weiß ja noch nicht einmal, was überhaupt los ist oder wer diese Kerle dort vorne sind. Bevor sie jedoch auch nur einen klaren Gedanken fassen oder realisieren kann, was hier im Gange ist, geht alles drunter und drüber, und die Gasse vor ihr verwandelt sich von einem Herzschlag zum anderen in eine kreischende, blutspritzende Apokalypse.

Morian glaubt fast, sich in einem Alptraum zu befinden, als sie sieht, wie Colevar urplötzlich wie aus dem Boden gewachsen hinter einem der Männer auftaucht und ihm mit seinem Messer die Kehle durchschneidet. Einfach so, ohne Vorwarnung, ohne dass der Kerl ihn überhaupt bemerkt hätte. Blut spritzt heftig pumpend aus der klaffenden Wunde, sprenkelt die verfallenen Mauern, sprüht über das Pflaster, dann kracht der Mann zu Boden und die übrigen flattern auseinander wie eine Schar Hühner, in die der Fuchs gefahren ist - verwirrt, bestürzt und immer noch völlig ahnungslos. Morian ist mindestens genauso sehr bestürzt und weiß überhaupt nicht, wie ihr geschieht. Schockiert schnappt sie nach Luft und umklammert mit schweißnassen Fingern die Zügel der Pferde. Ich glaub' das nicht ... was ist hier los? Was um Himmels Willen tut er denn da?? War das gerade eben wirklich Colevar, der sich heimlich wie ein Assassine an einen wildfremden Kerl angeschlichen und ihm die Kehle aufgeschlitzt hat? Sie ist vollkommen fassungslos und kann nichts weiter tun, als entsetzt die Augen aufzureißen und zur Salzsäule erstarrt dazustehen, unfähig, auch nur einen einzigen Muskel im Leib zu rühren. Jetzt bemerkt sie zwar auch den kleinen, schmächtigen Mann, der sich vor Angst schlotternd an eine Mauer presst, doch die Zusammenhänge begreift sie in dem Durcheinander und dem Geschrei, das nun losbricht, noch immer nicht. Colevar, der eben noch verschwunden war, taucht auf einmal wieder völlig unvermittelt aus der Dunkelheit auf und zerschmettert einem der herumstehenden Männer mit einem einzigen Schlag seiner Monsteraxt das Bein zu einem blutigen Brei aus Fleisch und Knochen. Der Kerl kreischt wie am Spieß, als er hilflos zu Boden geht und sich von wilden Schmerzen gepeinigt auf dem schmutzigen Pflaster herumwälzt.

Morian kann einfach nicht glauben, was sie da sieht - sie kann es nicht glauben und sie will es nicht glauben. Ist das wirklich der Colevar, den sie kennt, oder von dem sie das zumindest gedacht hat? Sie ist zutiefst schockiert über die Kaltblütigkeit und die Brutalität, mit der er zu Werke geht. Ohne mit der Wimper zu zucken metzelt er einen Menschen nach dem anderen nieder. Warum macht er das? Warum? Tut er das, um dem Kerlchen da zu helfen? Wir hätten doch auch die Wache rufen können .... Wie gelähmt steht sie da und sieht erst im allerletzten Moment den flüchtenden Kerl, der schnurstracks auf sie zurennt - und das Herz bleibt ihr beinahe stehen. Scheiße! Weglaufen? Ihm den Weg versperren? Er hat nicht mal eine Waffe.... Sie will ihm nichts tun, aber sie hat gar keine Zeit mehr, lange herumzuüberlegen oder sich für irgend etwas zu entscheiden. Diese Aufgabe übernehmen in diesem Moment einfach ihre Instinkte, und die sorgen dafür, dass ihr Fuß blitzartig nach vorne schnellt, gerade als der Kerl an ihr und den Pferden vorbeistürmen will, die sie ohnehin kaum noch halten kann. Ihr Stiefel landet an der Schläfe des Mannes, als sie nach ihm tritt, doch der rappelt sich wieder hoch und macht mit ausgestrecktem Arm einen hastigen Satz auf sie zu. Und dann beißt ihm Snerra buchstäblich den Kopf ab. Aus den Augenwinkeln sieht Morian noch ihren gewaltigen Schädel mit aufgerissenem Maul und gebleckten Zähnen an sich vorbeiwischen, dann kracht und knirscht es, und eine Fontäne Blut regnet auf sie nieder, als der leblose Körper des Mannes nach hinten fällt, so abrupt wie eine Marionette, der man die Fäden durchschneidet. Für den Bruchteil eines Herzschlags sieht Morian mit aufgerissenen Augen das, was einmal sein Gesicht gewesen ist: einen blutigen Klumpen rohen Fleisches mit gesplitterten Knochen, die weiß aus der roten Masse hervorleuchten, einen zerfließenden Augapfel, einen halb weggerissenen Schädel. Der Mann lebt noch, als er fällt, und er streckt die Hand nach ihr aus, als er stirbt. Und das ist eindeutig zu viel für eine arglose, in geordneten Verhältnissen aufgewachsene Händlerstochter, die den Mund zwar gern ein bisschen zu voll nimmt und ansonsten nur zufällig auf Abwege geraten ist. Viel zu viel.

Morian wirft Snerras Zügel so schockiert und entsetzt von sich, als hätte sie statt der Stute den Dunklen persönlich am Zaumzeug gehalten. Und dann übergibt sie sich so heftig in den Rinnstein, als wolle sich ihr Magen von innen nach außen stülpen. Das krampfhafte Würgen hört erst wieder auf, als sich nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr in ihm befindet und sie nur noch bittere Galle schmeckt. Völlig ausgepumpt (und zwar im wahrsten Sinn des Wortes) lehnt sie sich an Hühnchens tröstlich warme Flanke und wischt sich mit dem Hemdsärmel über das Kinn. Sie fühlt sich elend und benommen und hätte sich am liebsten irgendwo unter den Pferden verkrochen. Zu dem Schauplatz des Kampfes und den verstümmelten Leichen wagt sie gar nicht mehr hinzusehen, und sie bekommt auch kaum mit, dass sich zu den dreien, die dort schon liegen, noch zwei weitere gesellen. Sie kommt erst wieder aus ihrer Schockstarre zu sich, als Colevar sich zu ihr hinabbeugt, sie mit einem prüfenden Blick inspiziert und dann fragt: >Alles in Ordnung? Du bist nicht verletzt - oder doch?< Morian kann ihn nur aus entsetzt aufgerissenen Augen anstarren, bleich wie ein Leichentuch. Verletzt? will sie schreien. Verletzt? Du hast gerade eine Handvoll Männer niedergemetzelt und dieses Höllenpferd hat beinahe jemanden gefressen und du fragst, ob ich verletzt bin?? Colevar redet auf sie ein, sagt etwas von einem Meister Arkel, von Leichen wegschaffen und von kümmern, und sie nickt zu allem nur, aber er hätte genauso gut auf Zaryxnorix auf sie einsprechen können, denn sie versteht zunächst absolut gar nichts und es dauert ein Weilchen, bis der Sinn der Worte sich durch ihre schreckensstarren Gehirnwindungen kämpft.

Mit zitternden Fingern nimmt sie dann Filidh und Hühnchen am Zügel und stapft zu dem schmächtigen Männlein hinüber, das am ganzen Körper schlotternd an einer zerbröckelnden Hauswand lehnt. Das Mörderpferd hinter ihr, das unaufgefordert fremden Menschen die Köpfe abbeißt, würdigt sie keines Blickes. Nie wieder will sie etwas mit diesem Vieh zu tun haben, geschweige denn, es anfassen. Snerra sieht das aber offenbar etwas anders. Es scheint, als hätte die Stute beschlossen, Morian als ihre neue Herrin zu akzeptieren, nachdem sie sie nun schon so aufopferungsvoll verteidigt und zu ihrem Schutz einen Straßenräuber buchstäblich enthauptet hat. "Geh weg!", herrscht Morian das Pferd böse an, das bis über die Nüstern mit Blut verschmiert ist, und wirft ihm einen angeekelten Blick zu, aber Snerra denkt gar nicht daran, sondern klebt wie eine Klette an ihren Hacken. Mit einem Schlenker ihres Riesenschädels schubst sie das verdatterte Hühnchen beiseite und trottet dann brav wie ein neugeborenes Lämmlein hinter ihr her, als Morian zu dem Gelehrten hinübergeht. Kümmern, hat Colevar gesagt, und obwohl ihr das Herz noch immer bis in die Kehle klopft, schafft Morian es, beschwichtigend auf den kleinen, schmächtigen Mann einzureden. Sie plappert wirr etwas von "nicht so schlimm" und "in Sicherheit" und "alles wird gut", und hilft ihm dabei, seine ganzen Täfelchen und Papiere aufzusammeln, aber hätte man sie hinterher gefragt, was sie ihm da alles erzählt hat, hätte sie vor lauter Aufregung keinen blassen Schimmer mehr gehabt. Das weitere Geschehen erscheint ihr fast wie ein unwirklicher Traum, und sie bekommt kaum mit, dass Colevar sich wieder zu ihnen gesellt, nachdem er was auch immer getan hat.

Auch ihren spektakulären Aufmarsch in der Schwatzhaften Elster, die sie in dem düsteren Gassengewirr schließlich doch noch finden, registriert sie kaum, ebenso wenig wie sie die Gäste der Schänke, die barschen Worte der Wirtin oder die hervorgesprudelten Erklärungen von Meister Arkel wahrnimmt. Das Essen, das ihr irgendjemand hinstellt, rührt sie ebenso wie Colevar nicht an. Abgesehen davon, dass ihr der Appetit bis auf weiteres absolut vergangen ist, sieht der Frass so aus, als würde er gleich aus dem Napf krabbeln wollen - und riechen tut er noch viel schlimmer. Nach einem notdürftigen Bad in einem morschen Weinfass liegt sie nun in einem schmuddeligen Zimmer in einer noch viel schmuddeligeren und bestimmt wanzenbewohnten Bettstatt auf einem durchhängenden, fleckigen Etwas, das sich vor Urzeiten vielleicht einmal Matratze geschimpft haben mag - aber an Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Einerseits wegen des nervtötenden Herumgewälzes des Zwei-Schritt-Hünens neben ihr, der sein Gardemaß offenbar nicht bequem genug auf dieser Zumutung von Schlafplatz unterbringen kann und jedes Mal, wenn er auch nur einen Zeh bewegt, Morian mittels der federnden Matratze einen viertel Schritt in die Luft befördert und anschließend wieder herunterplumpsen lässt - andererseits wegen all den schrecklichen Dingen, die an diesem Tag geschehen sind. Noch immer bewegt sie sich in einer Art Starre und tut alles, was sie tut, rein mechanisch, ohne wirklich etwas davon wahrzunehmen. In ihrem Kopf schrillen noch immer die grausigen Todesschreie der Männer, sausen fürchterliche Bilder umher von völlig verstümmelten Leichen, von Blut und von Schrecken. Noch niemals in ihrem Leben hat Morian etwas so Brutales und Widerwärtiges mitansehen müssen wie vor wenigen Stunden in dieser düsteren Gasse.

Auf ihrer Reise von der Silberküste bis hierher an diesen Ort hatte sie einiges erlebt, sie hatte Angst erlebt, sie hatte Gefahr erlebt, sie war verfolgt worden, hatte sich verstecken müssen, war Dieben und Halsabschneidern und Kopfgeldjägern begegnet. Natürlich hat sie auch schon Leichen gesehen, sogar die ihrer Eltern, und natürlich hat sie auch schon Menschen gesehen, die gewaltsam und ziemlich unschön zu Tode gekommen sind. Aber sie hat noch nie einen Menschen ernsthaft verletzt oder einem etwas zuleide getan. Und es ist auch ein himmelweiter Unterschied, ob man irgendwo einen Leichnam liegen sieht, oder ob man leibhaftig miterleben muss, wie direkt neben einem jemandem das Gesicht weggefetzt wird oder zusehen zu müssen, wie jemand brutal zu blutigem Brei geschlagen wird. Sie versucht wirklich zu verstehen, was Colevar dazu bewogen hat, kaltblütig drei Menschen umzubringen, wenn sie das ganze doch auch hätten umgehen können. Nicht sie hatten ihn angegriffen, sondern er sie. Vielleicht muss er seinem Ritterschwur getreu ja wirklich Hilflose schützen, aber muss er dazu gleich all diese Männer töten? Hätten wir nicht einfach die Stadtwache rufen können? Oder die Kerle ablenken oder irgendwie vertreiben? Darf man ein Unrecht mit einem anderen Unrecht vergelten? Tausend Gedankenfetzen rasen Morian durch den Kopf und sie ist zutiefst verwirrt und verstört. Als sie dann doch endlich ein wenig ruhiger wird und der Schlaf sich an sie heranschleicht, wälzt sich Colevar in ihrem Rücken von einer Seite auf die andere und katapultiert sie somit zuerst in die Höhe und dann in eine Matratzenkuhle, in der sie prompt bis zur Nasenspitze versinkt.

Der schnaubende Grunzlaut, den sie daraufhin von sich gibt, veranlasst ihn zu der besorgten Frage, ob sie sich bei ihren Abstürzen vielleicht etwas getan habe, und dann faselt er etwas von Zaubernusssalbe und Augen aufmachen und schwingt sich aus dem Bett, woraufhin die Matratze natürlich wieder wilde Bocksprünge macht und Morian sich allmählich vorkommt wie ein Holzfass, das fröhlich auf einen wildrauschenden Fluss umeinanderhüpft. Hoffentlich werde ich nicht seekrank. Mühsam arbeitet sie sich aus den flohverseuchten Niederungen der Bettstatt, aber als Colevar ihr anbietet, sie zu verarzten, wäre sie am liebsten gleich wieder darin versunken. "Mir fehlt nichts", behauptet sie und rutscht ein Stück von ihm weg. "Das ist nichts, was nicht von selber heilt. Ich brauch' keine Salbe." Er, der ansonsten penibelst jeden noch so flüchtigen Körperkontakt mit ihr meidet wie der Dunkle das Weihwasser, er kommt jetzt daher und will sie auf einmal einbalsamieren. Aber jetzt will sie nicht, weder sich von ihm die Finger behandeln, noch sich sonstwie von ihm anfassen lassen. Zu frisch ist die Erinnerung daran, dass er mit seinen Händen Kehlen durchgeschnitten und seine Axt in lebendige Menschen geschlagen hat. "Ich brauch' wirklich keine Salbe", beharrt sie, als Colevar nicht locker lässt. "Die paar Kratzer sind nicht so schlimm. Immerhin bin ich noch am Leben, ganz im Gegensatz zu diesen Männern vorhin. Machst du das öfters, dass du dich wie ein Meuchelmörder anschleichst und wildfremde Menschen umbringst? Ich meine, ich will dem Advokatus ja auch gern helfen, aber vielleicht hätten wir das auch tun können, ohne dass jemand sterben muss, meinst du nicht? Sie ablenken, sie vertreiben, die Wache holen oder was weiß ich - sie auf jeden Fall nicht gleich ohne Vorwarnung umbringen. Und im Übrigen will ich keinen Mördergaul, der anderen das Gesicht wegfrisst, der wird bei nächster Gelegenheit wieder umgetauscht."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 21. Juli 2011, 23:41 Uhr
Colevars Gesicht wird vollkommen ausdruckslos, seine Hand, die Morian eben noch fragend das Tiegelchen mit Zaubernusssalbe hingehalten hat, verharrt einen Herzschlag lang reglos, dann lässt er sie langsam sinken. Er hört ihre Worte und er hört auch die Angst in ihrer Stimme – und den Vorwurf, auch wenn sie sich noch so sehr um einen möglichst lockeren Tonfall bemüht. Beides trifft ihn, mehr als gut für seinen Seelenfrieden ist - und weit, weit mehr, als er bereit wäre, sich selbst einzugestehen. 'Machst du das öfters, dass du dich wie ein Meuchelmörder anschleichst und wildfremde Menschen umbringst?' Einen Moment, einen sehr langen Moment, sieht er sie nur an. Ihr Gesicht ist ruhig und obwohl ihr Herz so laut schlägt, dass er es hören kann, wendet sie nicht ein einziges Mal ihren anklagenden Blick von seinen Augen ab. Das vorlaute Gör mit der großen Klappe, die besserwisserische, scharfzüngige, hochmütige 'Hörst-du-mich-Gefahr-ich-lach-dir-ins-Gesicht-haha'-Morian ist wie weggewischt. Vor ihm sitzt ein Mädchen, das auf einmal sehr jung und sehr verletzlich wirkt, und das vollkommen erschüttert ist von dem, was es mit ansehen musste. Dich. Sie hat dich töten sehen. Colevar atmet hörbar ein, sehr langsam und sehr tief, und leise Melancholie breitet sich in seinen Augen aus. Dann schüttelt er sacht, aber entschieden den Kopf. "Wenn ich die Männer nicht getötet hätte, lägen wir jetzt tot in dieser Gasse, Morian. Es hätte auch keinen Sinn gehabt, nach der Wache zu schreien, denn sie wäre ohnehin nicht gekommen, nicht bei Nacht ins Hafenviertel von Brugia. Wir hätten weglaufen und den Advokaten seinem Schicksal überlassen können, aye, aber was immer du jetzt auch über mich denken magst, ich bin kein Mann, der davon läuft." 'Meuchelmörder. Meuchelmörder. Meuchelmörder. Machst du das öfters?'

"Normalerweise töte ich keine Männer, ganz egal wie brutal und gefährlich sie sein mögen, einfach nur um in Übung zu bleiben, aye? Aber ich lasse auch keinen hilflosen Mann im Stich, der gerade umgebracht wird. Ich hatte einen halben Herzschlag Zeit zu entscheiden, was ich tun kann - und ich habe mich für den Kampf auf diese Weise entschieden. Und was die Vorwarnung angeht..." er sieht auf seine Hände, die das kleine Steingutgefäß mit der Zaubernussalbe halten und langsam hin und herdrehen. Große, kräftige Hände, schwielig vom jahrelangen Gebrauch von Schild, Schwert, Lanze und Axt. Jetzt sind sie aufgeschürft und zerschunden; die Fingerknöchel seiner rechten Hand blutig, geschwollen und voller frischer, blauschwarzer Prellungen. Sein rechter Daumennagel ist zur Hälfte abgebrochen und  das rohe, nackte Nagelbett schimmert rot hervor. 'Machst du das öfters, dass du dich wie ein Meuchelmörder anschleichst und wildfremde Menschen umbringst?' "Edelmut kann man sich einfach nicht leisten, wenn man allein gegen fünf kämpft, sonst ist man tot", fährt er leise fort. "Hätte ich ihnen auch nur einen Augenblick Zeit gegeben, sich zu fassen, nach einer Armbrust zu greifen oder sich irgendwie zu formieren, wäre der Kampf ganz anders ausgegangen." Er hätte zu seiner Verteidigung auch anführen können, dass er nicht nur um seinetwillen oder um den Advokaten zu retten, sondern hauptsächlich wegen ihr so gehandelt hatte, wie er es nun einmal getan hat - und es wäre keine Lüge. Aber er will ihr nicht sagen, dass vor allem sie der Grund für seine Entscheidung und die Art seines Handelns gewesen ist.

Erstens, weil er ihr Gewissen ganz bestimmt nicht mit dem Tod von fünf Männern belasten wird und in ihrer augenblicklichen Stimmung würde sie sich vielleicht wirklich die Schuld an deren Ende geben. Und zweitens, weil die Tatsache, dass ihre Sicherheit irgendwie - wann war das nur geschehen? Und warum? Und wie verdammt nochmal? - zur obersten Priorität für ihn geworden ist, ihn selbst ziemlich verwirrt. Abgesehen davon hätten alle seine Worte vielleicht nach hohlen Rechtfertigungen geklungen und er will nicht, dass sie glaubt, er würde sich herausreden wollen. 'Machst du das öfters?' "Ich kenne solche Männer, Morian. Sie hätten nicht eine Sekunde gezögert, uns alle umzubringen und dieses Risiko konnte und wollte ich nicht eingehen." Er will überhaupt nicht daran denken, was geschehen wäre, hätten sie ihn umgebracht und dann herausgefunden, dass der vermeintliche Knappe bei den Pferden gar kein Knappe, sondern eine junge Frau ist.
>Und im Übrigen will ich keinen Mördergaul, der anderen das Gesicht wegfrisst, der wird bei nächster Gelegenheit wieder umgetauscht.<
"Sei nicht böse auf Snerra. Sie wollte dich nur beschützen." Ihm war fast das Herz stehen geblieben, als er gesehen hatte, wie der Mann nach Morian gegriffen hatte. Er hatte im selben Augenblick gewusst, dass er es niemals, niemals schaffen würde, rechtzeitig an ihrer Seite zu sein - und er hätte die Stute am liebsten küssen mögen für das, was sie getan hat.

Dann hast du deine Deckung aufgegeben, bist aus den Schatten getreten und hast dich mit zwei Gegnern auf einmal angelegt, was so absolut hirnverbrannt und strohdumm war, dass es dir ganz recht geschehen wäre, wenn sie dich auf der Stelle einen Kopf kürzer gemacht hätten. Und warum? Er verbietet es sich, an die einzige logische Antwort auf diese Frage auch nur zu denken. 'Machst du das öfters, dass du dich wie ein Meuchelmörder anschleichst und wildfremde Menschen umbringst?' "Ich habe dir gesagt, wer und was ich bin, Morian, ich bin ein Ritter Sithechs. Und ganz gleich, wie edel und heilig auch all die Schwüre und Gelöbnisse sein mögen, und für welche Ideale Ritter angeblich stehen sollen, in einem Kampf geht es ums Töten, und das ist alles. Ritter sind zum Töten da. Wir töten vielleicht nicht sinnlos und wir töten vielleicht nicht willkürlich, aber wir tun es. Der Unterschied liegt nur im Warum." 'Machst du das öfters... hör auf! Hör auf! Es ist besser für sie und es ist besser für dich, wenn sie wirklich einen Mörder in dir sieht und überhaupt nichts mehr mit dir zu tun haben will! "Hier. Nimm die Salbe und reib' wenigstens deine Blasen damit ein. Sonst kannst du morgen vermutlich noch nicht einmal deine Hosen allein anziehen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 23. Juli 2011, 10:48 Uhr
Colevar gibt sich wirklich Mühe, ihr seine Beweggründe zu erklären, und Morian gibt sich redlich Mühe, ihn zu verstehen - was sie aber haarscharf an den Rand den Wahnsinns bringt, das ist seine absolut unerschütterliche und durch nichts ins wanken zu bringende Ruhe, selbst in dieser Situation. All das, was sie an diesem Tag erlebt haben, ist noch so frisch, dass sie das Blut praktisch noch riechen und schmecken kann, und doch scheint all das Colevar kaum zu berühren und die einzige Reaktion, die sie ihm entlocken kann, ist ein Anflug von Schwermut. Am liebsten würde sie mit den Fäusten auf ihn losgehen und ihn grün und blau boxen, weil er so absolut gar keine Miene verzieht. Kann diesen Mann denn nichts aus dem Gleichgewicht bringen? Macht ihm das alles denn gar nichts aus? Morian weiß natürlich nicht, was wirklich in ihm vorgeht, denn wie immer trägt er eine Maske aus Gleichmut zur Schau, aber nach außen hin sieht es nicht so aus, als würde er darüber trauern, dass er drei Menschen getötet hat. In ihr selbst dagegen tobt ein chaotisches Wirrwarr aus Bildern, Eindrücken und Gefühlen, und sie ist hin und her gerissen zwischen Entsetzen und Aufregung, Schrecken, Trauer, Schockiertheit, Mitleid, Scham und Wut - sie hat ja noch nicht einmal Worte für einige der Regungen, die in ihr empor sprudeln, weil sie ihr bislang noch völlig unbekannt waren. Sie hatte tatsächlich gedacht, sie hätte auf ihrer erzwungenen Reise einiges gelernt und so etwas wie Lebenserfahrung gesammelt, sie hatte gedacht, sie hätte mit dem Überfall auf ihr Zuhause und dem Tod ihrer Eltern schon so ziemlich das Schrecklichste erlebt, was einem Menschen passieren kann. Und sie war so naiv gewesen, zu glauben, sie sei inzwischen ziemlich abgebrüht und erwachsen geworden - und jetzt muss sie erkennen, dass all das nur die weltfremden Vorstellungen eines dummen Gänschens gewesen waren.

Und mit jedem Wort, das Colevar von sich gibt, kommt sie ein Stückchen mehr in der Wirklichkeit an, die viel grausamer sein kann, als sie es sich je hätte ausmalen können. >Wenn ich die Männer nicht getötet hätte, lägen wir jetzt tot in dieser Gasse, Morian<, sagt er. Und: >Es hätte auch keinen Sinn gehabt, nach der Wache zu schreien, denn sie wäre ohnehin nicht gekommen, nicht bei Nacht ins Hafenviertel von Brugia.< Morian hätte sich im Leben nicht vorstellen können, dass es überhaupt irgendwo Stadtviertel und Orte gibt, an die sich nicht einmal eine bewaffnete Wache wagt, und das erschüttert ihren gesamten Glauben in Dinge wie Recht und Ordnung oder den Glauben an das Gute. Am liebsten würde sie sich die Ohren zuhalten, weil sie das alles gar nicht hören will, aber Colevar fährt gnadenlos weiter damit fort, ihr diesen Glauben zu nehmen. >Normalerweise töte ich keine Männer, ganz egal wie brutal und gefährlich sie sein mögen, einfach nur um in Übung zu bleiben, aye? Aber ich lasse auch keinen hilflosen Mann im Stich, der gerade umgebracht wird. Ich hatte einen halben Herzschlag Zeit zu entscheiden, was ich tun kann - und ich habe mich für den Kampf auf diese Weise entschieden.< Bei diesen Worten schüttelt Morian heftig den Kopf und unterbricht seine Erklärungen. "Ja, glaubst du denn, ich würde jemanden in Not einfach im Stich lassen wollen? Natürlich würde ich das auch nicht wollen. Aber kann es denn richtig sein, dass man fünf Männer töten muss, um einem einzigen das Leben zu retten? Was ist denn, wenn du so eine Situation einmal falsch einschätzt? Dann bringst du vielleicht völlig unschuldige Menschen um, nur weil du vielleicht einmal nicht richtig hingeschaut hast. Und du ..."

Mitten im Satz bricht Morian ab und sieht mit einem Mal ziemlich kläglich aus, weil sie merkt, dass sie sich allmählich richtig in Rage redet und vor sich hin brodelt wie ein Geysir kurz vor dem Ausbruch. Halt' doch einfach die Klappe!, schilt sie wütend mit sich. Er hat sich dafür entscheiden, ein Ritter zu sein und zu töten, und das wirst du dummes Hascherl ihm bestimmt nicht ausreden können. Und obendrein ist ihm die weltbewegende Meinung seines Knappen wahrscheinlich sowieso egal, abgesehen davon, dass dieser Knappe sich gerade benimmt wie ein Säugling, der nach seiner Mutter plärrt. Außerdem könntest du ja auch einfach abhauen, wenn du es bei ihm nicht aushältst. Aber Morian stellt ein bisschen verwundert fest, dass sie trotz allem doch gern bei ihm bleiben würde, auch wenn er Blut an den Händen hat und nicht unbedingt ihrem unrealistischen Ideal eines heroischen Ritters entspricht, sondern auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Sie muss einmal tief Luft holen, um sich wieder halbwegs zu sammeln, und sucht mühsam nach den richtigen Worten. Einerseits will sie Colevar nicht beleidigen oder mit ihm böse sein, nur weil er ist, wie er ist, andererseits will sie sich aber auch Gehör verschaffen und ihm begreiflich machen, was in ihr vorgeht. Komischerweise ist es ihr wichtig, dass er weiß, warum sie das alles so erschüttert. Na, dann erklär' es ihm doch!
"Vielleicht wunderst du dich, dass ich mich so über diese Dinge aufrege, aber ich ... na ja, ich hab' einfach noch nie jemanden einen Menschen töten sehen", gibt sie dann zu. "Ich meine, natürlich hab' ich schon Tote gesehen, sogar welche, die wirklich nicht mehr besonders nett aussahen. In Duisterhaven haben sie mal einen aufgehängt, der baumelte da ein paar Tage am Galgen, und das war bestimmt kein schöner Anblick, kann ich dir sagen. Und ich hab' auch schon mal jemanden sterben sehen, aber nicht ... nicht so. Direkt neben mir. Und so schnell und so blutig und überhaupt. Es ist furchtbar und widerwärtig und eklig. Und es ist schrecklich zu sehen, dass jemand das tut, den man mag und der dann ... neben einem im gleichen Bett schläft." Ihr Magen fängt schon beim bloßen Gedanken an das Blutbad in der Gasse an zu rebellieren und Morian ist froh, dass sich nichts darin befindet, das zu entsorgen sich er entschließen könnte. Nun greift sie doch nach dem Salbentiegelchen, allein um ihre herumzappelnden Finger zu beschäftigen und sich ein bisschen zu beruhigen.

>Ich habe dir gesagt, wer und was ich bin, Morian, ich bin ein Ritter Sithechs, sagt Colevar ganz ruhig. >Und ganz gleich, wie edel und heilig auch all die Schwüre und Gelöbnisse sein mögen, und für welche Ideale Ritter angeblich stehen sollen, in einem Kampf geht es ums Töten, und das ist alles. Ritter sind zum Töten da. Wir töten vielleicht nicht sinnlos und wir töten vielleicht nicht willkürlich, aber wir tun es.< Stumm und mit gesenktem Kopf denkt sie über seine Worte nach, während sie ihren wunden Finger mit der Salbe betupft. Und tatsächlich besänftigt diese vorsichtige, gleichförmige Bewegung ein wenig ihr aufgewühltes Innenleben und bringt sie etwas zur Ruhe. "Hm, vielleicht hab' ich als Kind wirklich zu viele Märchenbücher gelesen und zu oft den fahrenden Sängern gelauscht. Am Anfang unserer gemeinsamen Reise hast du mal zu mir gesagt, dass die Wirklichkeit anders aussieht, erinnerst du dich? Dass es keinen Ruhm und keine Ehre und keine Jungfrauen und so was gibt, nur Blut und Tod, oder so ähnlich jedenfalls. Da wollte ich dir das nicht glauben ... oder vielleicht wollte ich auch nur unbedingt an meinen Klein-Mädchen-Vorstellungen vom strahlenden Ritter auf seinem edlen Ross festhalten. In ihnen kamen nie Blut und Tod und Dreck vor und auch keine Pferde, die Köpfe abbeißen, oder vor Angst und Schmerzen brüllende Menschen. In ihnen kämpften die Ritter ehrlich und heldenhaft und sahen nach einem Kampf immer noch aus wie aus dem Ei gepellt. Aber du hast wohl Recht gehabt. Ich hätte mir niemals vorstellen könne, wie gruselig das alles in Wahrheit ist und wie ... erschreckend." Als sie den Tiegel wieder verschließt, sehen ihre Hände mit den ganzen Salbentupfern aus wie etwas blass gewordene Fliegenpilze. "Meine Eltern hab mich gelehrt, jeden Menschen, jede Person zu respektieren", fährt sie dann fort und bei der Erinnerung an ihre Familie sitzt ihr auf einmal ein dicker Kloß in der Kehle. "Und sie haben mich gelehrt, dass ein Leben etwas Kostbares und Unersetzliches ist, und daran glaube ich auch. Und auch, dass jeder Mensch, und mag er noch so ein Halunke sein, etwas Gutes in sich trägt. Bestimmt findest du das blöd und kindisch, aber ich glaube eben daran. Und deshalb werde ich es sicher niemals gutheißen oder gut finden können, wenn du jemanden tötest. Aber ich seh' ein, dass es manchmal wohl einfach unumgänglich ist. Hm, das wollte ich dir nur sagen. Vielleicht könnten wir jetzt trotzdem ein bisschen schlafen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 23. Juli 2011, 19:51 Uhr
Morian lauscht ihm mit wachsender Fassungslosigkeit und immer größer werdenden Augen. Er kann das Entsetzen in ihrer Miene sehen, den Ekel, die Unverständnis und den Schrecken, die sich alle in ihren so gefährlich lebendigen Gesichtszügen gerade um den besten Platz streiten, aber da ist auch das ehrliche Bemühen, seinen Worten irgendwie zu folgen, seine Begründungen anzuhören und ihren Sinn zu erfassen. Das rechnet er ihr hoch an, vor allem, weil es um etwas so elementar Wichtiges geht, das sie zutiefst zu verabscheuen scheint. Irgendwann schüttelt sie jedoch heftig den Kopf, und es bricht wild aus ihr heraus: ob er denn glaube, sie würde jemandem in Not nicht helfen wollen, aber ob es denn richtig sein könne, fünf Männer zu töten, um einem einzigen das Leben zu retten? >Was ist denn, wenn du so eine Situation einmal falsch einschätzt? Dann bringst du vielleicht völlig unschuldige Menschen um, nur weil du vielleicht einmal nicht richtig hingeschaut hast. Und du...< Ihre Stimme ist mit jedem Wort lauter, schärfer und anklagender geworden, doch dann bricht sie urplötzlich ab und presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, um nicht noch mehr zu sagen. Es ist ihr deutlich anzusehen, dass sie ihm am liebsten wissen die Götter was alles an den Kopf geworfen hätte und sich selbst zurücknimmt, um genau das nicht zu tun. "Das ist meine Verantwortung. Ich weiß nicht, was dann wäre, Morian. Bisher ist es mir noch nie passiert." Er erinnert sich an etwas, das Olyvar ihm vor Jahren erzählt hat, als er aus Blurraent zurückgekehrt war. 'Er hatte überhaupt keine Waffe, Cole. Er hatte keine. Er war schwachsinnig. Und ich habe ihn getötet.' Olyvar hatte ihm alles erzählt und ihm auch gesagt warum, und Colevar hatte ihn vollkommen verstanden. Er hätte nicht anders gehandelt, und trotzdem hatte er nicht in Olyvars Haut stecken wollen. 'Konntest du dir das verzeihen?' Hatte er gefragt und nach einer Weile hatte Olyvar genickt – aber er hatte ihm auch gesagt, dass es ihm nach wie vor nahe gehe und dass es das immer tun würde, sein Leben lang. "Es ist mein Gewissen und ich muss damit leben. Man kann immer nur über den Schritt entscheiden, der unmittelbar vor einem liegt, denn das ist der einzige, auf den man Einfluss hat. Und wenn es nicht richtig ist, fünf Männer zu töten, um einem das Leben zu retten, wie kann es dann richtig sein, einen Menschen sterben zu lassen, nur um sein Gewissen nicht zu beflecken? Wiegt meine Unschuld schwerer als ein Leben?"

Eine ganze Weile sieht sie ihn nur nachdenklich an und im schwachen Schein des einsamen Talglichts, das auf der Fensterbank den Mut zu bewahren sucht, hat er Gelegenheit, ihr Gesicht zu betrachten, dieses seltsam bewegende, ausdrucksvolle Gesicht mit den hohen, runden Wangen, dem schmalen Kinn, dem breiten, zu großen Mund und diesen Augen, die sich nie entscheiden können, ob sie nun grün oder grau sein wollen. Wenn sie lächelt, bilden sich Grübchen in ihren Wangen so groß wie Kupferlinge, selbst auf ihrem Kinn erscheint eines... aber er hatte sie schon lange nicht mehr lächeln sehen. Wenn er jetzt in dieses Gesicht blickt, fragt er sich ernsthaft, wie er ihr den Jungen je hatte abkaufen können.
>Vielleicht wunderst du dich, dass ich mich so über diese Dinge aufrege, aber ich ... na ja, ich hab' einfach noch nie jemanden einen Menschen töten sehen.< Das erstaunt ihn nun doch, ebenso wie ihn die Heftigkeit ihrer Reaktion erstaunt hat. Morian spielt den abgebrühten Straßenjungen so gut, dass er tatsächlich angenommen hat, sie wäre viel härter im Nehmen, als sie eigentlich ist. "Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest", erwidert er leise und auch wenn er es aufrichtig meint, es klingt selbst in seinen Ohren ziemlich dürftig. Morian beeilt sich sogleich festzustellen, dass sie selbstverständlich schon Tote gesehen habe, das schon, und zwar ganz besonders unschöne Exemplare, und dass sie sogar schon jemanden sterben sah. >Aber nicht ... nicht so. Direkt neben mir. Und so schnell und so blutig und überhaupt. Es ist furchtbar und widerwärtig und eklig. Und es ist schrecklich zu sehen, dass jemand das tut, den man mag und der dann ... neben einem im gleichen Bett schläft.< Sie pflückt ihm mit spitzen Fingern das Steingutdöschen mit der Salbe aus den Händen und vermeidet es, ihn anzusehen. Mag? Hat sie gerade gesagt, dass sie dich mag? Colevar sieht aus schmalen Augen auf Morian hinunter, aber alles, was er noch zu Gesicht bekommt, ist ihr blasser, heller Scheitel unter dieser Masse weichen, dunklen Haares, das sich wild in alle Richtungen davonwellt. Sie hat keine Locken, noch nicht einmal Kringel, aber auch nicht wirklich glattes Haar. Er muss sich verhört haben, er kann sich nur verhört haben... die Frau benimmt sich ihm gegenüber die meiste Zeit so stachlig wie eine Wüstenpflanze (wenn sie ihn nicht gerade ärgert, sich über ihn lustig macht, ihn herumkommandiert, mit ihm schmollt, mit ihm schimpft wie ein Rohrspatz oder ihn einen 'wurmzerfressenen Dunghaufen' nennt) und auch sonst eher so, als könne sie ihn in Wahrheit überhaupt nicht leiden, ja noch nicht einmal ansatzweise ausstehen.

Ihre nächsten Worte erstaunen ihn womöglich noch mehr. >Hm, vielleicht hab' ich als Kind wirklich zu viele Märchenbücher gelesen und zu oft den fahrenden Sängern gelauscht.< Lenkt sie ein. >Am Anfang unserer gemeinsamen Reise hast du mal zu mir gesagt, dass die Wirklichkeit anders aussieht, erinnerst du dich? Dass es keinen Ruhm und keine Ehre und keine Jungfrauen und so was gibt, nur Blut und Tod, oder so ähnlich jedenfalls. Da wollte ich dir das nicht glauben ... oder vielleicht wollte ich auch nur unbedingt an meinen Klein-Mädchen-Vorstellungen vom strahlenden Ritter auf seinem edlen Ross festhalten. In ihnen kamen nie Blut und Tod und Dreck vor und auch keine Pferde, die Köpfe abbeißen, oder vor Angst und Schmerzen brüllende Menschen. In ihnen kämpften die Ritter ehrlich und heldenhaft und sahen nach einem Kampf immer noch aus wie aus dem Ei gepellt. Aber du hast wohl Recht gehabt. Ich hätte mir niemals vorstellen könne, wie gruselig das alles in Wahrheit ist und wie ... erschreckend.< "Aye," erwidert er leise und erinnert sich an sich selbst, als er noch ein Junge gewesen war mit all den leeren Träumen eines Jungen. "Ich verstehe. So ähnlich ging es mir, als ich zum Knappen wurde." Er hatte sich nichts so sehr gewünscht, wie ein Ritter zu werden, ein strahlender Shenrahritter natürlich, der tapfer und edelmütig für Freiheit, Ruhm, Ehre und all jene fechten würde, die nicht für sich selbst kämpfen können. Ein Ritter, der mindestens ein oder zwei Ungeheuer besiegen, ein heiliges Schwert finden und allein dem König dienen würde, der verheißen wurde. Ein Krieg und seine Schlachten hatten ihn in eine Wirklichkeit katapultiert, die nichts mit seinen Träumen gemein gehabt hatte. Zeig mir einen wahren Ritter und ich zeige dir eine jungfräuliche Hure. Es war natürlich nicht Shenrah gewesen, auch nicht Faêyris, noch nicht einmal Bran oder Vendis, sondern Sithech, der seine kalte Hand nach ihm ausgestreckt hatte. Sithech, drei Dutzend Raben und ein totes Kind. Colevar starrt auf die vier blassen ringförmigen Narben auf der Innenseite seines linken Unterarms. Es macht keinen Unterschied, heute so wenig wie damals. Die Zwölf sind Götter, aber selbst gute Götter verkörpern eine Unmenge unangenehmer Eigenschaften. Und in ihrem Kielwasser töten Priester, Templer und Ritter...

Als sie ihm erklärt, was ihre Eltern sie gelehrt hätten, was ihre eigenen Überzeugungen sind und dass jeder Mensch, ganz gleich wie verkommen, etwas Gutes in sich trage, muss er einfach lächeln, ganz gleich wie naiv und weltfremd ihm ihre Worte dabei auch vorkommen. >Bestimmt findest du das blöd und kindisch, aber ich glaube eben daran.<
"Dumm und kindisch? Nein", er schüttelt langsam den Kopf. "Es ist vielleicht naiv, ja, denn die Welt ist nun einmal nicht so, wie sie sein könnte. Aber sie wäre bestimmt ein besserer Ort, wenn alle Eltern ihre Kinder so erziehen würden. Ich glaube nicht mehr an das Gute in jedem Menschen, Morian, schon lange nicht mehr. Dazu habe ich zu viel gesehen." Und am eigenen Leib erfahren müssen.
>Und deshalb werde ich es sicher niemals gutheißen oder gut finden können, wenn du jemanden tötest.<
"Gut finden?" Einen Moment lang ist er wirklich perplex. "Götter im Himmel, Morian! Glaubst du wirklich ich habe diese Männer gern getötet?" Er schüttelt grimmig den Kopf. "Bestimmt nicht." Das scheint sie tatsächlich ein wenig zu besänftigen, auch wenn er nicht sagen kann, ob sie ihm wirklich glaubt. >Aber ich seh' ein, dass es manchmal wohl einfach unumgänglich ist. Hm, das wollte ich dir nur sagen. Vielleicht könnten wir jetzt trotzdem ein bisschen schlafen.< Ihre letzten Worte klingen fast versöhnlich und ihm fällt ein, wie erschöpft sie sein muss, nicht nur von dem langen Tag im Sattel (zumindest mehr oder weniger im Sattel), sondern auch von all dem erlebten in diesem dreimal verdammten Hafenviertel. Ich hätte sie nie herbringen dürfen. Wir hätten Brugia verlassen und irgendwo außerhalb der Stadt kampieren können... Noch während ihm der Gedanke durch den Kopf geht, folgt ihm ein zweiter auf dem Fuß. Das kannst du nicht mehr ändern – und  van Arkel wäre jetzt tot.
"Schlafen? Aye, gut, natürlich." Er ist selbst mehr als erledigt, auch wenn er daran zweifelt, dass er Schlaf finden würde. Sie hat ihm eine ganze Menge zu denken gegeben, mit all dem, was sie gesagt hat. "Aber Morian, ahm... könnten wir uns vielleicht quer in diese Missgeburt von Bett legen? Ich passe einfach nicht hinein."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 23. Juli 2011, 21:56 Uhr
Auch wenn Colevar zu ihrem Redeschwall nicht viel sagt und an manchen Stellen nur nickt, scheint er tatsächlich irgendwie nachvollziehen zu können, was in Morian vorgeht. Zu ihrer eigenen Überraschung muss sie feststellen, dass sie es nicht einmal unangenehm oder beschämend findet, ihm ihre zugegeben ziemlich kindischen Vorstellungen vom Ritterleben preiszugeben - weniger jedenfalls, als sie angenommen hatte. Weder lacht er sie aus, noch macht er sich darüber lustig, im Gegenteil. >So ähnlich ging es mir, als ich zum Knappen wurde<, gibt er unumwunden zu, und prompt erscheint vor ihrem inneren Auge das Bild eines sehr viel jüngeren Colevars: ein magerer, weizenblonder Knirps, der kaum ein Schwert heben kann, aber förmlich platzt vor Stolz und Eifer, weil sein großer Traum wahr wird und er ein Knappe werden darf. Bei dem Gedanken muss sie fast lächeln, aber dann wird aus dem Lächeln etwas seltsam Wehmütiges. Bestimmt hatte er auch solche unsinnigen Anschauungen, Tugend und Ehre und güldene Schwerter und all solchen Kram. Und bestimmt war es auch für ihn kein Zuckerschlecken, all diese hehren Träumen aufgeben zu müssen, weil die Wirklichkeit nun mal vollkommen anders aussieht. Als er dann fortfährt, klingt seine Stimme fast traurig und Morian meint auch so etwas wie Verbitterung darin zu hören: >Ich glaube nicht mehr an das Gute in jedem Menschen, Morian, schon lange nicht mehr. Dazu habe ich zu viel gesehen.<

Was er gesehen hat, das sagt er nicht, so wie er nie viele Worte macht, wenn es um ihn selbst geht. Aber sie ahnt, dass es wohl auch viele hässliche, grausame und niederschmetternde Dinge gewesen sein müssen, die er gesehen und erlebt hat, wenn ihn das tatsächlich dazu gebracht hat, den Glauben an das Gute zu verlieren. Morian kann sich kaum vorstellen, was einen Menschen so demoralisieren und verbittern kann, und sie will unbedingt  mehr darüber wissen, was das für Erlebnisse waren, die Colevar zu dem haben werden lassen, was er jetzt ist. Aber sie fühlt instinktiv, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für solche Fragen ist. Ein bisschen kennt sie ihn inzwischen doch und hat mittlerweile auch eine Art Gespür dafür entwickelt, wann er bereit ist, zu reden und etwas von sich zu erzählen, und wann nicht. Und jetzt ist eben gerade 'wann nicht', das kann sie ihm an der Nasenspitze ansehen. Vielleicht wird er es mir irgendwann einmal erzählen. Ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er mir nicht über den Weg traut, immerhin hab' ich ihn ziemlich angeschwindelt. Als sie die Kerze auspusten und sich nun doch endgültig zum Schlafen niederlegen - und zwar quer, damit auch Colevar Platz für seine stattlichen Maße findet -, ist Morian zwar um einiges ruhiger geworden, denn das Reden hat ihr gutgetan, aber dafür hat sich eine leise Traurigkeit in ihr Herz geschlichen, die sie nun am schlafen hindert. Traurigkeit, weil die Welt einfach nicht so schön und gut ist, wie sie geglaubt hat, vielleicht auch, weil sie an diesem Tag endgültig die letzten Reste von Kindheit und Jugend abgestreift hat und in der rauen Wirklichkeit angekommen ist.

Seufzend wickelt Morian sich in ihre fadenscheinige Decke, versucht eine bequeme Schlafstellung zu finden (was angesichts der ausgeleierten Matratze und ihrer snerraverschuldeten blauen Flecken nicht unbedingt einfach ist) und schließt die Augen, doch die grausigen Bilder des Tages wollen einfach nicht weichen. Gebleckte Pferdezähne und blutverschmierte Nüstern geistern durch ihre Gedanken, Bilderfetzen von einer sausenden Axt und klaffenden Wunden, einem schlotternden Advokatus und noch tausenderlei anderer entsetzlicher Dinge. Sie fühlt sich traurig und verwundbar und allein, und wünscht sich mehr als je zuvor ihre Familie zurück. Die Sehnsucht nach den geliebten Menschen ist so groß, dass sich ihr Herz zu einem schmerzhaften Klumpen zusammenzieht. Ruhelos rollt sie sich von einer Seite zur anderen, aber der Schlaf will einfach nicht kommen. Colevar, eine Armlänge von ihr entfernt, liegt ganz still und seine Atemzüge sind ruhig und gleichmäßig. Eine Weile starrt sie seinen breiten Rücken an und ringt mit sich, mit ihrer Schamhaftigkeit und mit der kühlen Distanz, die zwischen ihnen liegt, aber dann wird das Bedürfnis nach menschlicher Nähe, der Wunsch nach ein bisschen Wärme und Trost, einfach übermächtig. Zögernd schiebt sie sich Stückchen für Stückchen an ihn heran, bis sie an seinem Rücken zu liegen kommt und das Gesicht irgendwo zwischen seine Schulterblätter betten kann. Durch den rauen Stoff des Hemdes kann sie seinen warmen Körper und seinen Herzschlag spüren, und dieses Gefühl ist so beruhigend und tröstlich, dass sie am liebsten geheult hätte. Aber kaum dass sie ihn berührt, fährt er herum wie von der Tarantel gestochen, so schnell, dass beim besten Willen kein Rückzug mehr möglich ist. Zu seinem Pech hebt Colevar dabei den Arm, vermutlich um sie nicht plattzuquetschen, aber Morian nutzt die Gelegenheit, genau dort unterzukriechen und kuschelt sich zaghaft an seine Seite. Vorsichtshalber zieht sie den Kopf ein wenig ein, denn man weiß ja nie -  insgeheim rechnet sie fast mit einem rabiaten Rausschmiss und damit, dass gleich ein fürchterliches Donnerwetter über sie hinwegfegen wird. Erst tut sich gar nichts und dann tut es über ihr ein grimmiges Schnauben. "Nur bis zum Einschlafen. Bitte. Dann kannst du mich gern wieder in ein Matratzenloch schubsen."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 24. Juli 2011, 10:19 Uhr
Colevar findet genauso wenig Schlaf wie Morian, doch während es diesmal sie ist, die sich hin und her wälzt und die durchgelegene Matratze dabei mit ihrem Fliegengewicht in sanfte Schwingungen versetzt, die frappierend an schwachen Seegang erinnern, liegt er still und starrt in die Dunkelheit. Das Bett ist – bis auf seine mangelnde Länge – zwar groß und sie liegen beide etwas verloren in seiner Mitte, aber da es nur eine ziemlich dünne Decke gibt, hat Colevar sich in seinen Umhang gewickelt. Morians Worte, beinahe alles, was sie gesagt hatte, geistern ihm noch lange im Kopf herum, drehen sich in seinen Gedanken im Kreis und schleichen sich hinterrücks sofort wieder an, kaum dass er mit diesem oder jenem Argument fertig geworden zu sein glaubt. 'Aber kann es denn richtig sein, dass man fünf Männer töten muss, um einem einzigen das Leben zu retten?'... 'Wenn es nicht richtig ist, fünf Männer zu töten, um einem das Leben zu retten, wie kann es dann richtig sein, einen Menschen sterben zu lassen, nur um sein Gewissen nicht zu beflecken?' Es ist wie mit dem Huhn und dem Ei, keiner außer der Urmutter selbst könnte sagen, wer oder was von beiden zuerst da war, genauso wenig wie man ein Leben oder mehrere gegeneinander aufwiegen oder ihren Wert beurteilen kann. Bete. Das hätte ihm sein Vater geraten - und vielleicht auch sein Lord Commander. Er ist sich aber nicht sicher, zu wem er beten oder was er sagen sollte. Zu Sithech oder zu seiner Mutter oder vielleicht zu einem der Heiligen? Zu den Geistern der Herzbäume, die im Sarthethal Wache stehen? Oder zum Leben, das sich im Wald bewegt und im Nachtwind flüstert? "Maddeu di, Arglwydd..." flüstert er schließlich der tintenschwarzen Dunkelheit um ihn her zu. Und vergebt uns unsere Schuld... Nur einen Wimpernschlag später berührt ihn etwas zwischen den Schulterblättern, sacht und federleicht. Ratten!

Er fährt herum, erkennt Morian erst im allerletzten Moment und reißt den Arm wieder weg, während sie gleichzeitig den Kopf einzieht - allen Göttern sei Dank, sonst hätte er sie vielleicht aus Versehen getroffen. "Götter im Himmel!" Er schnappt nach Luft und sein Arm verharrt auf halber Höhe. "Du hast mich zu Tode erschreckt!" will er eigentlich sagen, aber er kommt nur bis zum "Du", da ist sie auch schon noch näher gerückt, so nahe, dass sie sich tatsächlich an ihn schmiegt, den Kopf immer noch zwischen die Schultern gezogen wie eine verschreckte kleine Schildkröte. >Nur bis zum Einschlafen. Bitte.< Piepst es gedämpft durch den Stoff seines Hemdes.>Dann kannst du mich gern wieder in ein Matratzenloch schubsen.< Colevar merkt erst, dass er vor lauter Verwunderung die Luft  angehalten hat, als seine Lungen rebellieren, dann atmet er langsam aus. Es klingt wie ein Schnauben und ziemlich fassungslos obendrein. Fassungslos ist noch gar kein Ausdruck. Dass Morian ausgerechnet bei ihm Wärme und Nähe sucht, vor allem nachdem er sie heute so verstört hat, ist so ziemlich das unwahrscheinlichste, das er sich vorstellen kann, aber hier ist sie, direkt neben ihm und sie macht auch keine Anstalten, wieder von ihm abzurücken, ganz im Gegenteil. "Schon in Ordnung", hört er sich selbst sagen. "Die Nacht ist kalt und die Decke dünn. Wir können uns den Umhang gern teilen." Die Nacht ist kühl, aber alles andere als kalt, dennoch akzeptiert sie den Vorwand sofort, kuschelt sich an seine Seite und klappert pflichtschuldig ein bisschen mit den Zähnen. Einen halben Herzschlag zögert er, dann legt er den Arm um ihre Schultern, breitet den warmen Umhang über ihnen aus und hält sie fest. Merkwürdigerweise tröstet ihn das solide, kleine Gewicht ihres Körpers dicht an seinem genauso wie seine Nähe sie zu beruhigen scheint – sie entspannt sich jedenfalls auf der Stelle und nach ein paar Augenblicken ertönt wisperndes Schnarchen an seiner Schulter, leise wie das Summen von Bienenflügeln. Colevar liegt noch lange wach, einen Arm leicht über Morians schlafenden Körper gelegt.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 26. Juli 2011, 23:25 Uhr
Colevar erwacht, als die Dämmerung bleich und silberblau am östlichen Himmel aufsteigt und weiß im ersten Moment nicht, was ihn eigentlich geweckt hat. Er blinzelt kurz, bemerkt, dass nur ganz allmählich gedämpfte Helle durch die wächserne Ölhaut in die kleine Kammer des schäbigen Gasthauses dringt, entscheidet, dass es noch viel zu früh ist und schließt die Augen wieder. Die Luft im Raum ist empfindlich kühl und zu dieser frühen Stunde regt sich noch absolut nichts in der Schwatzhaften Elster, jedenfalls ist nicht das allerleiseste Geräusch zu hören. Sogar die Flöhe und die Bettwanzen geben Ruhe und schlafen noch den Schlaf der Gerechten. Eingehüllt in die Wärme seines Umhangs und einen eigenartig warmen Wohlgeruch, so schwach und zart, dass es eigentlich gar kein Geruch ist, mehr die Ahnung eines Duftes, verspürt Colevar nicht die geringste Lust, auch nur einen Zeh zu krümmen, geschweige denn, aufzustehen, außerdem hatte er eben noch einen mehr als angenehmen Traum. Er kann sich nicht daran erinnern, aber da waren Schmetterlingsflügel... oder Federn... sachte Berührungen an seiner Wange, an seinem Hals, an seiner Schulter, weich wie Daunen und sehr verführerisch. Sie sind immer noch da. Moment... Mit einiger Verspätung registriert sein umnebelter, noch absolut unwacher Verstand, dass die angenehme Wärme, die ihn da einhüllt, nicht allein vom Schlaf und seinem Umhang herrührt, und die weichen, kitzelnden Berührungen auf seiner Haut von Morians wirrem Haar stammen. Sie liegt immer noch an seiner Seite, genaugenommen liegt sie sogar halb auf ihm, einen Arm quer über seine Brust gelegt, ein Bein auf seinem linken Knie und schläft tief und fest. Himmel! Nach einem Wimpernschlag der totalen Überraschung muss er tatsächlich gegen ein Lächeln ankämpfen. Und einen weiteren Wimpernschlag später gegen den ebenso plötzlichen, wie völlig irrationalen Wunsch, sie auf die Nase zu küssen. Colevar dreht den Kopf und sieht sie an. Ihr Haar ist so zerzaust, dass sie aussieht wie eine dunkle Pusteblume, aber ihr Gesicht ist vollkommen entspannt, und der Anblick ihrer weichen, verträumten Miene, die ausnahmsweise einmal den Ausdruck friedlichster Unschuld trägt, hat etwas so anrührendes, dass er schlucken muss. Sei. Kein. Narr. Entschlossen rückt er ein wenig von ihr ab, doch sie bewegt sich einfach mit ihm und hält ihn noch ein bisschen fester... als wolle sie ein bequemes Kissen nicht aufgeben. Ohne die Augen zu öffnen nuschelt sie etwas von "Nur noch ein bisschen", was ihn schon wieder mit einem Lächeln kämpfen lässt. Aber als er ihren Arm von seiner Brust nimmt und sich über sie beugt, um sich behutsam von ihr zu lösen und sie ein Stück zur Seite zu schieben, damit er sich aus dem Bett stehlen kann ohne sie dabei zu wecken, nimmt er den Duft ihrer Haut wahr. Plötzlich weiß er, was ihn geweckt hat.

Einen Herzschlag lang riecht sie nur nach Frau, wie eine Frau, wie alle Frauen - dann steigt ihm ihr Duft in die Nase, steigt unvermischt von ihren Schultern, ihren Haaren und aus dem Ausschnitt ihres Hemdes auf, steigt ihm zu Kopf wie Wein, ein absolut einzigartiger, berauschender, haarsträubend himmlischer Duft, anders, als alles, das er je gerochen hat. Frisch und warm zugleich, schwer und leicht, zart, aber auch satt, erdig und geheimnisvoll... wie ein Sommermorgen im Wald, wie ein ganzes Feld voll wilder Blumen, die nass vom Tau im Morgenlicht erwachen. Colevar lässt ihren Arm los, als habe er sich daran verbrannt. Verschwinde! Verschwinde auf der Stelle! Er muss weg von ihr, ehe dieser Duft noch wissen die Götter allein was anrichten könnte. Ehe Morian die Augen aufschlagen und ihn ansehen würde. Ehe er ernsthaft in Versuchung geraten würde. Ehe er etwas wirklich, wirklich Bescheuertes tun würde - sie tatsächlich zu küssen, zum Beispiel. Mit einem halblauten Knurren stößt er den angehaltenen Atem aus und steht hastig auf. Als er sich so weit von ihr entfernt wie nur irgend möglich ankleidet, hat er ihren Duft immer noch schwach in der Nase - und ein handfestes Problem, seine Hosen zu verschnüren. Nein! Grollt sein Verstand, aber sein verräterischer Körper schert sich einen Dreck um das, was seine Gedanken wollen oder nicht wollen. Betörung ist eine gefährliche Sache. Betörung ist Gift. Es mag so süß wie Honig schmecken, aber es tötet trotzdem. "Mmmpf!" Sie hat sich die ganze Nacht an dich geschmiegt, das würde selbst einen Eunuchen in Versuchung führen. Und du warst einfach nur viel zu lange ohne eine Frau, das ist alles. Das ist wahr. Die letzte Frau, die er hatte, war eine Hure in Dunkelschein, damit lebt er seit drei vollen Jahren so enthaltsam wie ein Asket. Oh, Göttererbarmen! Geh in ein Hurenhaus und fick dich um den Verstand, wenn es sein muss. Aber lass Morian in Ruhe. Sie ist deine Schildmaid, verdammt noch mal! Du bist für sie verantwortlich und sie steht unter deinem Schutz! Vollkommen überrumpelt von dieser abrupten Entwicklung der Dinge - und mehr als nur wütend auf sich selbst -, stampft er die knarrenden Stufen in den Schankraum hinunter und hätte am liebsten irgendetwas zerschlagen. Sie hatte für eine Nacht ihren Kopf an deiner Schulter und sie ein bisschen Trost und Wärme gesucht. Völlig unschuldig und absolut bedeutungslos obendrein. Er will das nicht. Zur Hölle, er mag das Mädchen! Zumindest, wenn sie nicht gerade mit ausgefahrenen Krallen auf ihn losgeht, aber... obwohl, sogar dann kann er sie eigentlich ganz gut leiden. Er kann sie jetzt nicht einfach so wollen. Er will sie nicht wollen und er darf nicht. Du wirst auch nicht und Schluss damit! Es tut schon lange nicht mehr weh, an Lía zu denken, doch selbst Wunden, die heilen, hinterlassen Narben. Sein Herz ist kalt und stumm, begraben unter einem Stein. Nun, meldet sich hilfreich ein extrem trockener Gedanke, es ist ja auch nicht dein Herz, um das es hier geht!

Als er in die schmuddelige, nach schalem Bier und kaltem Rauch stinkende Schankstube kommt, findet er dort Meister Arkel vor, dessen verschwollenes, in allen Blau- und Purpurtönen schillerndes Gesicht ein ernüchternder Anblick ist. Nicht ganz ernüchternd genug für ihn, aber immerhin ein Anfang. Der Advokat eilt ihm entgegen und begrüßt ihn überschwänglich, verzieht aber noch während der ersten Worte schmerzhaft die aufgeschlagenen Lippen. "Wenn Ihr Euch noch einmal bedankt, schlage ich Euch", knurrt Colevar irgendwann verärgert, doch der Advokat hält seine harschen Worte allen Göttern sei Dank für einen Scherz. "Aber Ihr kommt gerade recht", lenkt er gleich darauf zähneknirschend ein. Schließlich kann van Arkel absolut nichts für seine miserable Stimmung. "Habt Ihr schon gefrühstückt? Dann begleitet mich als Zeuge zur Wache, ich will diese leidige Angelegenheit gern hinter mich bringen."
Van Arkel nickt eifrig und eilt an seinen Tisch zurück, um eine graue Mappe mit allerlei raschelnden Pergamentbögen vollzustopfen, doch als er nach Morian – oder vielmehr Morren - fragt, schüttelt Colevar entschieden den Kopf. "Nein. Mein Knappe bleibt hier."
"A-aber Sire..." van Arkel wirkt verwirrt und das zu Recht. "Euer Knappe ist doch ebenso ein Zeuge der Geschehnisse! Er kann bezeugen, dass Ihr mich vor diesem Gesindel gerettet habt, er hat gesehen, wie sie mir das Gesicht zerschlugen, er hat..."
"Nein. Morren wird nicht aussagen. Er bleibt hier." Colevar will Morian nicht in der Nähe der Garde wissen, aber die Gründe dafür kann er dem Advokaten schlecht auf die Nase binden.
"Nun, das Recht ist auf Eurer Seite, Sire, das wisst Ihr doch, oder? Aber... Euer Vorgehen in jener Gasse, nun. Ahm... naja, Sire. Es war doch recht... Ich will Euch bestimmt keine Ratschläge erteilen, aber zwei Zeugen sind besser als einer, Sire."
"Morren wird hier bleiben, Meister Arkel. Lasst es gut sein."
"Seid Ihr sicher, Sire? Es wäre doch nur zu Eurem besten, wenn..."
"Ich sagte nein. Und jetzt kommt, Meister Arkel. Gehen wir, damit ich mich diesem Gardehauptmann ergeben kann. Ah... noch etwas. Gebt mir einen Bogen Pergament, aye? Federkiel und Tinte auch, wenn es Euch nichts ausmacht." Van Arkel reicht ihm alles und Colevar setzt seine Unterschrift, seinen vollen Namen und Titel ganz unten an den Rand des leeren Bogens. "Falls alle Stricke reißen und irgendetwas böse daneben geht, schreibt Ihr auf, was ich Euch sage, wenn ich es Euch sage, verstanden? Ein paar letzte Worte wird man mir in jedem Fall gewähren, nehme ich an. Dann datiert Ihr dieses Dokument auf irgendeinen Tag Ende Sturmwind diesen Jahres, beglaubigt es und gebt es meinem Knappen Morren mitsamt diesem Ring." Er zieht eine dünne Kette unter seinem Hemd hervor, an der ein schmaler Siegelring baumelt, altes Gold und das Wappen der Lorcains, ein stilisierter Bär auf grünem Grund.
"Sehr wohl, Sire."
Colevar reicht van Arkel beides und sie machen sich auf den Weg, gerade als die Sonne über die Stadtmauern von Brugia steigt.

Alle acht Schritt liegt Pferdemist auf der Straße. Ein mathematisches Kuriosum, aber dennoch Tatsache. Vielleicht treffen sich Pferde heimlich, um so etwas zu arrangieren, denn zwischen ihren einzelnen Hinterlassenschaften ist gerade genug Abstand, dass ein argloser Passant sich in Sicherheit wiegen kann und dann, Platsch! Scheiße an den Schuhen. Meister Arkel blickt häufig auf seine Schuhe. Colevar redet sich ein, der Advokat würde das nur tun, um dem Dreck auf der Straße aus dem Weg zu gehen, doch in Wahrheit tut er es wohl eher, um niemandem, absolut niemandem aus Versehen ins Gesicht zu blicken - um sich noch kleiner zu machen, als er es ohnehin schon ist und damit vielleicht all den Unbilden der Welt so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Und um keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es gelingt dem schüchternen Advokaten nicht sonderlich gut. Könnte er sich unsichtbar machen, würde er es auf der Stelle tun. Oh, niemand schenkt ihm sonderlich viel Beachtung, aber dauernd wird er angestoßen, einmal sogar fast umgerannt, und weil er ständig auf den Boden starrt, sieht er auch keine Hindernisse auf seinem Weg, die höher als seine eigenen Knie liegen (und das ist nicht sehr hoch). Colevar kann sich nicht daran erinnern, dass er jemals in einer Menschenmenge von Fremden angerempelt worden wäre, selbst in einem Gedränge wie diesem, also zieht er den Advokaten irgendwann mit einem säuerlichen Lächeln hinter sich, wo das Kerlchen erleichtert aufatmet. Vor den Pferdehaufen schützt ihn das auch nicht, aber immerhin wird er ohne weitere blaue Flecken oder ein aufgeschrammtes Kinn bei der Stadtgarde ankommen. Vor dem Tor der kleinen Festung mit ihren vier wuchtigen Rundtürmen geht es zu wie in einem Taubenschlag. Ein halbes Dutzend Huren in bunten Röcken verlangt wild durcheinander schreiend Gerechtigkeit, zwei Heckenritter stehen etwas Abseits und blicken ratlos drein, beschließen, dass ihr Anliegen warten kann und trollen sich wieder, ein Bäckermeister wird unter lauten Flüchen in Richtung Pranger abgeführt, weil man ihm beweisen konnte, dass er Sägespäne unter das Mehl für sein Brot gemischt hat, mehrere brugier Händler beschweren sich rot vor rechtschaffener Empörung über die mutwillige Zerstörung ihrer Marktstände durch betrunkene Söldner und ungefähr zwanzig Reisende und Kaufleute der alljährlichen Frühjahrskarawane wollen murrend und lautstark wissen, wer sie eigentlich vor all diesem Gesindel schütze, ob die Wucherpreise der Wirte rechtens seien, und warum das mit der dreimal verdammten Fähre dieses Jahr nur so lange dauere.

Die beiden Wächter am Tor sehen aus, als hätten sie seit Tagen zu wenig Schlaf abbekommen (wenn überhaupt), bemühen sich aber stoisch um Geduld. Als Colevar und Meister Arkel endlich an der Reihe sind, ihr Anliegen vorzubringen, nehmen die beiden sogar so etwas wie Haltung an. "Ich muss den Kommandanten sprechen."
"Sire, Ihr seht, wie es hier zugeht", wird ihm müde, aber nicht einmal allzu unfreundlich nach einem abschätzenden Blick auf sein Kettenhemd, den Wappenrock, seine Größe und seine Waffen beschieden. "Halb Brugia will gerade den Kommandanten sprechen, von den Kaufleuten der Karawane ganz zu schweigen. Wenn es also nicht gerade um Mord geht, kommt ein andermal wieder."
"Um Mord vielleicht nicht gerade", erwidert Colevar fest. "Aber trotzdem um fünf tote Männer."
"Ah. Und wer soll diese fünf Männer getötet haben?" Ein flehendes: 'Bitte nicht schon wieder ein betrunkener Söldner oder Karawanenwächter', spricht der Mann zwar nicht aus, es klingt aber trotzdem mit. "Ich. Wenn es also irgendwie machbar ist, muss ich den Kommandanten sprechen, Soldat."
"Oh." Zum ersten Mal fasst ihn der Wächter genauer ins Auge, dann fällt sein Blick auf Meister Arkel, der runde Augen macht, oder zumindest ein rundes Auge, da seine rechte Gesichtshälfte von den Prügeln, die er gestern Nacht bezogen hatte, blauschwarz und völlig verschwollen ist, und dessen Nase zuckt wie die eines furchtsamen Kaninchens. "Wer ist er?"
"Meister Arkel, das Opfer der Fünf, mein Zeuge und ein Advokat."
"Scheiße."
"Aye."
Der Wächter mustert sie noch einen Augenblick fast verzweifelt, dann nickt er schicksalsergeben und verschwindet durch die Mannpforte im Inneren eines der Türme. Da die Tür hinter ihm nicht ganz zufällt, kann Colevar hören, was dahinter gesprochen wird. Offenbar macht der Mann gerade Meldung. Die Fragen seines Vorgesetzten sind so leise, dass Colevar außer einem tonlosen Murmeln kaum etwas versteht, aber die Antworten des Torwächters hört er ziemlich deutlich: "Sire, da ist ein Ritter, der behauptet fünf Männer getötet zu haben. Ja, anscheinend hier in Brugia. Ich weiß nicht. Das weiß ich auch nicht. Den hat er nicht genannt. Ja, ein Ritter. Kein Rheinländer. Ich weiß nicht. Das weiß ich auch nicht, Sire. Nein, er ist nicht allein. Nein, Sire, viel schlimmer: er hat einen Advokaten dabei."

Was dann folgt, geht wohl als einer der denkwürdigsten Morgen in Colevars Leben ein. Sie werden ins Innere gebracht und er erwartet in irgendein Solar oder eine Halle geführt zu werden, doch man bringt sie auf den Zwinger der Festung, wo der Kommandant der Garde Recht spricht. Mitten auf dem Hof steht ein Galgen mit genug Schlingen für zwanzig Männer, an dem aber nur vier Leichen baumeln. Drei sind frisch, die vierte sieht aus, als hinge sie schon eine ganze Weile dort. Der Kommandant der brugier Garde teilt sich ein Podest neben dem Galgen mit mehreren Räten in dunklen Roben, offensichtlich einige Richter der Stadt, sowie einem Schreiber. Der Hauptmann selbst trägt eine Kettenbrünne, gekochtes Leder und einen Brustpanzer aus grauem Stahl, schmucklos und zweckmäßig. Das Heft eines Großschwertes ragt über seine linke Schulter. Vor dem Podest ist noch mehr los als vor dem Tor, doch hier herrschen weder Geschrei noch Durcheinander, nur das Krächzen der Krähen, die sich auf dem Galgen versammelt haben und das Murmeln der erwartungsvollen Menschen, die auf Gerechtigkeit, Urteile oder weitere Hinrichtungen hoffen. Ein Junge in grober Wollkleidung wird gerade verhört, als Colevar und Meister Arkel dazu kommen, doch ihm kann nichts nachgewiesen werden, obwohl man ihn für schuldig hält, und er darf gehen, was ein empörtes  Murmeln in der Menge laut werden lässt. Andere haben nicht so viel Glück: ein Dieb verliert zwei Finger seiner Diebeshand (an der er ohnehin nur noch vier trägt), einen Vergewaltiger erwartet die Auspeitschung und der Hauptmann verhängt die Höchststrafe von hundert Hieben, obwohl sein Opfer eine Hure war (was die aufgebrachten Dirnen vor dem Tor nach Bekanntwerden der Strafe unter Jubelrufen und mit grimmiger Befriedigung wieder abziehen lässt), zwei Betrüger beim Würfelspielen erwartet der Pranger und ein Apotheker, der mit gezinkten Waagen seine Kunden getäuscht hat, muss auf den Schandkarren und fünfzig Silbertaler Strafgeld zahlen. Meister Arkel zappelt so nervös wie ein Wurm am Angelhaken hinter Colevars Rücken herum, doch als der Blick des Hauptmanns nach einer halben Ewigkeit endlich auf sie fällt, strafft sich der Advokat plötzlich wie eine Sprungfeder. Sie werden nach vorn gewunken, doch noch bevor Colevar auch nur den Mund aufmachen kann, um seinen Namen zu nennen und die Angelegenheit zu schildern, tritt Meister Arkel mit hoheitsvollem Robenschwung an ihm vorbei, tätschelt seinen Arm, raunt ihm zu, er solle nichts sagen, ihm das Reden überlassen und sein unschuldigstes Gesicht aufzusetzen, und legt dann los. Genauer gesagt kommt er wie die Apokalypse der Rechtsgelehrtheit, Redekunst und der Präzedenzfälle über das arme Richter- und Kommandantengremium von Brugia.

Eine gute Stunde später - und nach dem eiligen Herbeischaffen (Beweisstücke eins, zwei, drei, vier und fünf oder zumindest viereinhalb, denn die Leichenfledderer waren schneller) der toten Straßenräuber aus der Hinterhofgasse des Hafenviertels – verlässt Colevar die Garnison Brugias als freier Mann an der Seite eines absolut hochgemuten, vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden van Arkel. Er hat keine Ahnung mehr, was der kleine Mann eigentlich alles genau als Argument ins Feld geführt hatte (aber er hat ohnehin nur die Hälfte all dieses hochtrabenden Geredes verstanden), doch das Ende vom Lied war, dass man ihn ohne Wenn und Aber gehen ließ und ihm obendrein ein Kopfgeld für zwei der Männer ausgezahlt hatte. Wie sich herausgestellt hatte, waren der Wurfspeerträger und der, den der Advokat erstochen hatte, gesuchte Mörder und Frauenschänder. Das sollte eigentlich ein Trost sein, ist es aber nicht. Fünf Männer sind tot. Sie mögen den Tod verdient haben oder auch nicht. Van Arkel ist am Leben. Das sind nicht die ersten Männer, die er getötet hat und es werden nicht die letzten sein – und er weiß, dass er jederzeit wieder so handeln würde. Aber er hatte zumindest damit gerechnet, Blutgeld zahlen oder Buße tun zu müssen. Vielleicht sollte ich Kopfgeldjäger werden, wenn das Geschäft so gut läuft, meldet sich ein ziemlich düsterer, selbstironischer Gedanke. Colevar will gar nicht wissen, was Morian dazu sagen würde. Und erst recht will er nicht wissen, was Sithech davon hält. Sie schlagen den Weg zum Hafenviertel ein und Colevar, der van Arkel neben sich mustert, muss seine Meinung gründlich revidieren. Der Advokat mag als Mann eine verhuschte graue Maus sein, aber als Gelehrter vor Gericht ist er brillant, selbstsicher, gewandt, redegewaltig, mit allen Wassern gewaschen, findig, klug und ein hervorragender Stratege. Hin und wieder hatte seine Stimme wie eine Peitsche geklungen, so dass sie alle – die Richter, der Kommandant, die versammelte Menge und auch er selbst -, unwillkürlich zusammengezuckt waren. "Mir scheint, das Wort war heute mächtiger als das Schwert, Meister Arkel."
"Oh. Oh!" Erfreut über dieses unerwartete Kompliment lächelt der Advokat so aufrichtig dankbar, dass Colevars einfach zurückgrinsen muss. "Aber das ist es doch immer, Sire." Sein Triumph trägt van Arkel glatt noch bis zum Flussufer hinunter, dann schrumpft er allmählich wieder zu seinem Mäuse-Ich zusammen, und als sie die Schwatzhafte Elster erreicht haben, lächelt der Advokat zwar immer noch in sich hinein, was dank seines furchtbar aussehenden Gesichts wie die grimmige Parodie einer Narrengrimasse wirkt, aber er ist wieder so schüchtern und bescheiden, wie heute Morgen, als sie aufgebrochen waren. Und vor dem Gasthaus tritt er zielsicher in den einzigen Pferdehaufen weit und breit. Colevar schüttelt den Kopf, hält van Arkel die niedrige Tür auf und der Advokat schlüpft hinein wie ein Kaninchen in seinen Bau.

Es muss längst Mittagszeit sein, doch die Schankstube ist bis auf Morian völlig leer. Noch nicht einmal die Wirtin oder ihr Junge sind zu sehen, geschweige denn irgendwelche Gäste. Wahrscheinlich hat sich herumgesprochen wie das Essen ist. Colevar wirft Morian, die gerade - bewaffnet mit einem kleinen Fässchen Bier – hinter dem Tresen hervorkommt, nur einen denkbar kurzen Blick zu, den sie ebenso flüchtig erwidert, dann aber sofort wieder wegsieht. Er holt drei Krüge von einem staubigen Brett an der Wand, während sie ihre Beute zu einem der Tische bringt. Die Wirtin sei ausgeflogen, werden van Arkel und er selbst informiert. Irgendeine Familienangelegenheit, ihre Schwester oder Schwägerin läge in den Wehen und bekäme ein Kind oder so etwas. Sie sollten sich einfach selbst etwas zu trinken besorgen und zu Essen gäbe es auch nichts, aber ein Stück weiter die Straße hinunter sei eine Garküche. Das ist Colevars Stichwort, denn sein Magen knurrt inzwischen wie ein halbverhungerter Branbär. "Ich hole etwas. Gebt mir ein paar Minuten, aye? Ich... sehe noch nach den Pferden. Fleisch oder Fisch?" Van Arkel bevorzugt Fisch, Morian ist es gleich und so verschwindet er wieder aus der Elster, kaum dass er angekommen ist. Er sieht nach den Pferden und nach Zora, füttert und tränkt die Tiere, mistet die Scheune, streut frisches Stroh ein und macht sich dann auf die Suche nach der Garküche, um gebratenes Fleisch, gebratenen Fisch, ein wenig Gemüse und frisches Fladenbrot zu besorgen. Als auch das erledigt ist, hat er absolut keine Ausrede mehr, noch weiter Zeit zu schinden und kehrt seufzend zurück. Er findet Morian und van Arkel an einem der Tische, jeder mit einem Krug dunklem Bier vor sich und inzwischen wohl so hungrig wie er selbst. Während sie essen, beteuert der Advokat noch einmal (und bestimmt zum zwanzigsten Mal an diesem Tag), wie dankbar er sei und wenn es da irgendetwas, ganz egal was, gäbe, dass er für sie tun könne, dann...
Colevar will schon abwinken und (ebenso zum zwanzigsten Mal an diesem Tag) versichern, dass es allmählich wirklich gut sei mit den Dankesbezeugungen, als ihm etwas einfällt. Er wirft Morian einen kurzen Blick zu, bricht sich noch ein Stück Brot ab, kaut einen Moment nachdenklich und nickt dann. "Da gibt es vielleicht tatsächlich etwas, das Ihr tun könnt..."
"Äh...ja?" Überrascht, aber auch angetan, richtet van Arkel sich ein wenig auf.
"Ja. Wir... interessieren uns sehr für die Machenschaften und Praktiken...vor allem für gewisse Aktivitäten in Geschäftsdingen... eines Mannes aus Duisterhaven." Colevar lässt Morian nicht aus den Augen, während er spricht, deren Blick sich erst erschrocken weitet und dann verfinstert. Sei still! Sagen ihre Augen und unter dem Tisch senkt sich ein kleiner Fuß in klobigen Stiefeln über seinen. Im Augenblick liegt er nur leicht auf, doch die Drohung ist unmissverständlich. Colevar hält ihren Blick fest und schüttelt kaum merklich den Kopf. Vertrau mir. Ich weiß schon, was ich tue. "Sein Name ist van Houten." Der Fuß stößt heftig zu und er zuckt zusammen.  
"Was ist Euch, Sire?" Will Van Arkel prompt wissen und blickt verunsichert zwischen ihm und seinem vermeintlichen Knappen Morren hin und her. Colevar unterdrückt ein Schnauben und wirft Morian einen warnenden Blick zu, den sie ungerührt erwidert. "Hab mir das Schienbein gestoßen."

"Ah. Also dieser van Houten... äh, Sire, wenn ich fragen dürfte, warum wollt Ihr etwas über ihn erfahren?"
"Sagen wir es gibt begründete Zweifel an seiner Ehrenhaftigkeit. Und an seinen Geschäftsmethoden. Vor allem in Bezug auf die Familie de Navarre."
"Verstehe, verstehe", murmelt der Advokat geschäftsmäßig und zückt eines seiner zahllosen Wachstäfelchen, um sich Notizen machen zu können. Colevar kann die hundert Fragen, die sich augenblicklich in van Arkels gelehrtem Kopf zusammenbrauen förmlich sehen. "Sie sind tot", fährt er fort und rupft ein weiteres Stück Fladenbrot ab. "Van Houten leitet seine Ansprüche am Besitz und den Handelsbeziehungen der de Navarres aus einem Ehevertrag mit der Tochter des Hauses ab, die er jedoch nicht geheiratet hat."
"Ah." Macht van Arkel und blinzelt wie eine aufgescheuchte Eule. "Hat er sie äh... gebettet?"
"Gewas?"
Van Arkel sieht überall hin, aber nicht mehr in irgendjemandes Gesicht. "Gebettet, Sire", wiederholt er dann und läuft puterrot an. "Ich meine... also, was ich meine ist... hat er... sie... das Mädchen... die Tochter des Hauses entjungfert? Defloriert? Zu seinem Weib gemacht?"
Colevars Blick fliegt zu Morian, die fassungslos den Mund auf und zu klappt und dann selbst ein wenig rot anläuft - allerdings eher vor Empörung. "Gebettet?" Schnaubt sie unwirsch. "Das geht Euch ja wohl überhaupt nichts an! Wie kommt Ihr dazu, solche Fragen zu stellen?" Diesmal ist es Colevars Fuß, der sich schwer und unheilvoll auf ihren legt.
Van Arkel blickt drein wie vom Donner gerührt und sein Blick irrt von Morian zu ihm und wieder zurück zu Morian. "Es... es tut mir leid, es tut mir leid", versichert er händeringend. "Ich muss solche Fragen stellen, werter äh...Knappe? Es ist gesetzesmäßig relevant, denn wenn er sie gebettet hat, dann..."
"Nein!" Faucht Morian dazwischen. "Nein, er hat sie nicht gebettet."
"Ach", seufzt van Arkel und es soll wohl erleichtert klingen, kommt aber eher verstört aus seinem Mund. "Also er, dieser van Houten hat die besagte... Dame..." die Augen des Advokaten huschen vielsagend zu Morian, "nicht äh... ja. Gut. Sehr gut. Denn eine nicht vollzogene Ehe ist eine nicht existente Ehe."
Sehr gut, schnaubt auch Colevar, allerdings nur in Gedanken.
"Aber es gibt da einen Ehevertrag zwischen besagter Dame..." van Arkel sieht Morian eindringlich an, "die hier natürlich nicht anwesend ist und besagtem van Houten? Falls es nämlich einen solchen Vertrag gibt, sollte die besagte Dame heiraten." Der Advokat lächelt als habe er einen geheimen Witz gemacht, Colevar glaubt sich verhört zu haben und Morian blickt vollkommen perplex drein. "Und zwar schnell. Ich meine einen anderen. Denn Vertrag hin oder her, wenn sie schon vermählt ist, kann sie van Houten auf gar keinen Fall mehr zum Mann nehmen. Bigamie ist nicht erlaubt."  

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 01. Aug. 2011, 13:09 Uhr
"Heiraten?", schnauft Morian erbost und spießt den armen Advokatus förmlich mit ihren Blicken auf. Er mag ja ein netter Mensch sein und obendrein ein fähiger Rechtsgelehrter, wie Colevar berichtet hatte, aber trotzdem ist es jetzt genug - nicht nur, dass er sich ungefragt in ihr Liebesleben einmischt und Dinge von ihr wissen will, die ihn einen feuchten Kehricht angehen, jetzt will er sie auch noch aus reiner Zweckmäßigkeit schnellstmöglich mit irgend jemandem verkuppeln. "Heiraten? Verstehe ich das jetzt richtig? Ich ... äh, ich meine natürlich besagte Dame soll also, damit sie nicht diesem verbrecherischen Halunken in die Hände fällt, den sie nicht leiden kann, sich lieber irgend einem anderen Halunken an den Hals schmeißen, den sie bestimmt auch nicht leiden kann? Ist es das, was Ihr damit sagen wollt?" Ihre Brauen ziehen sich drohend über ihrer Nasenwurzel zusammen, als sie van Arkel aus schmalen Augen fixiert. Der kleine, schmächtige Mann schafft es irgendwie, auf einmal noch kleiner und schmächtiger zu wirken und schrumpft hinter dem Tisch förmlich in sich zusammen, als er stotternd antwortet: "Ja, äh, genau das will ich damit sagen. Denn es würde verhindern, dass dieser Ehevertrag ...."
"Es gibt keinen Ehevertrag, Himmelnochmal! Und besagte Dame will definitiv auch nicht heiraten", schneidet Morian ihm wutschnaubend das Wort ab, woraufhin der verschreckte Gelehrte um weitere zehn Sekhel zusammenschnurrt. "Mein Vater hätte niemals - niemals! - im Leben so einen Vertrag unterzeichnet!" Mit aufgerissenen Augen starrt van Arkel sie über seinen Bierkrug und die schmuddelige Tischplatte hinweg an und sieht aus, als würde er verzweifelt zwischen zwei Möglichkeiten hin und her schwanken, nämlich der einen, zu seiner eigenen Sicherheit schnellstens die Stadtwache zu rufen, und der anderen, sich ob dieses schäumenden Ausbruchs auf der Stelle zitternd unter seinem Stuhl zu verkriechen, zumindest so lange, bis sich diese kleine wutschnaubende Etwas da vor ihm wieder beruhigt hat. Allerdings wirkt er angesichts der Tatsache, dass Morian gerade ihre Identität preisgegeben hat, kein bisschen überrascht.

"Verzeihung", lenkt sie zähneknirschend ein und zerrt ihren Fuß unter Colevars riesigem Stiefel hervor, unter dem er kurzzeitig - als Warnsignal sozusagen - verschwunden war, "ich wollte Euch nicht so anschreien. Aber es macht mich einfach stinkwütend, wenn ich an die Methoden denke, mit denen van Houten arglose Leute bestiehlt und ins Unglück stürzt." Sie muss ein-, zweimal tief durchatmen, um sich wieder einigermaßen zu fassen und ihrer Stimme die gewohnte Festigkeit zu geben. "Und - ja", fährt sie dann fort, "de Nevarre ist mein Vater - aber das wisst Ihr ja ohnehin schon oder habt es zumindest geahnt, nicht wahr? Ihr seid ein schlauer Mann, Maester." Der Angesprochene wagt ein schüchternes Lächeln angesichts dieses Lobes und errötet verschämt, doch dann sacken seine Mundwinkel auf der Stelle wieder nach unten und das Lächeln fällt ihm aus seinem spitzen Mäuschengesicht, als Morian so drohend den Zeigefinger auf ihn richtet, als wolle sie ihn damit erstechen. "Niemand darf das wissen, hört Ihr? Wehe Euch - wehe! -, wenn Ihr davon auch nur ein Wort verlauten lasst!" Was in diesem Fall passieren würde, lässt sie wohlweislich ungesagt. Die Drohung mag vielleicht überzeugend klingen, aber das ist auch schon alles, denn Morian hat keinen blassen Schimmer, was sie dann unternehmen sollte - doch das weiß natürlich der Advokatus nicht, der bei ihren Worten sofort wieder in sich zusammensackt und so heftig den Kopf schüttelt, dass ihm buchstäblich die Ohren schlackern. "Nein, nein, nein!", bemüht er sich schleunigst zu versichern. "Nein, keine Sorge, bei mir ist Euer kleines Geheimnis in den besten Händen. Niemand wird von mir etwas erfahren, dessen könnt Ihr gewiss sein." Er müht sich händeringend so etwas wie ein beruhigendes Lächeln ab, wobei sein Blick hektisch zwischen Colevar und ihr hin und her saust. Der kleine Gelehrte sagt zwar kein Wort, aber Morian kann so deutlich sehen, was er gerade denkt, als stünde es ihm in leuchtenden Buchstaben auf der Stirn geschrieben: "Götter im Himmel, Sire, warum nehmt Ihr so etwas als Knappen in Eure Dienste?" Sie nimmt es ihm in keinster Weise krumm, denn genau die selbe Frage hat sie sich in den letzten Tagen selbst mindestens schon drei Dutzend mal gestellt - ohne allerdings eine zufriedenstellende Antwort darauf zu erhalten.

Jetzt, da der Advokatus ohnehin schon weiß, wer sie ist, erzählt Morian ihm in knappen Stichpunkten die Kurzfassung der Katastrophe, die beinahe ihre ganze Familie ausgelöscht und sie um ihren ganzen Besitz gebracht hat, und sie bemüht sich um ruhige, sachliche Worte - Worte, von denen sie hofft, dass ein Rechtsgelehrter etwas damit anfangen kann. "Wie gesagt", schließt sie ihren knappgefassten Bericht, "einen solchen Ehevertrag gibt es mit Sicherheit nicht. Meine Eltern hätten weder meinen Bruder noch mich jemals zu einer Ehe oder anderweitigen Verpflichtungen genötigt, darauf schwöre ich Euch jeden Eid. Sie waren rechtschaffene Leute und hatten es weder im Sinn, noch hatten sie es nötig, sich an einen solchen Mörder und Verbrecher zu binden. Wenn van Houten behauptet, ein solches Dokument zu besitzen, dann ist es garantiert gefälscht und er lügt - der lügt überhaupt schon, wenn er auch nur den Mund aufmacht. Meine Eltern wollten keine Geschäfte mit ihm machen und ganz bestimmt hätten sie keines ihrer Kinder an diesen geldgierigen Betrüger verschachert, niemals im Leben!" Folpert van Arkel, der sich während ihrer kurzen Erzählung eifrig Notizen auf eines der unzähligen Wachstäfelchen gemacht hat, die er fortwährend in seinen Gewändern mit sich herumschleppt und die zu ihm zu gehören scheinen wie seine restlichen Körperteile, sieht von seiner Arbeit auf und schenkt Morian ein nachdenkliches Nicken. "Ich kann gut verstehen, warum Ihr diesen Mann hinter Gittern sehen wollt", stimmt er ihr zu. "Und ich werde versuchen, das meinige dazu zu tun und zu helfen, wenn ich kann. Immerhin schulde ich Euch nicht weniger als mein Leben", fügt er noch hinzu und nickt ehrerbietig in Colevars Richtung. "Ich werde mich umhören, und wenn es etwas über diesen sauberen Herrn herauszufinden gibt, werde ich es herausfinden, darauf könnt Ihr Euch verlassen. Ich werde Euch auf dem Laufenden halten und Nachricht geben, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe."

Sie verabreden, dass Maester van Arkel alle Neuigkeiten mittels Botenraben an den Sithechtempel in Talyra schicken solle, versichern sich gegenseitig ihr Vertrauen, ihren allerergebensten Dank und so weiter und so fort, und nachdem Colevar ihm noch das Kopfgeld für zwei der Straßenräuber ausgehändigt hat, das er von der Stadtwache erhalten hat, bricht der Advokatus in Richtung Flusshafen auf, um sich nach einem geeigneten Boot Richtung Fa'Sheel und die Silbermeerküste hinauf nach Norden umzusehen. Nachdem er die Schänke verlassen hat, ist Morian ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten ziemlich schweigsam. Der Grund dafür ist ihr anflugsweise schlechtes Gewissen, das sie gerade ziemlich zwickt. Trotz all der Widrigkeiten und Erlebnisse der letzten Monate, trotz alledem, was sie gesehen und erlebt hat - vor allem, seit sie über Colevar gestolpert ist - gibt es in ihrem Inneren immer noch so etwas wie eine Stimme der Moral, und die lässt gerade die Alarmglocke bimmeln, als gelte es den Untergang der Welt einzuläuten. Denn was Maester van Arkel nun für sie tun will, das tut er nur und ausschließlich deswegen, weil Colevar drei Männer ermordet und ihr wahnsinniges Pferd einen weiteren gefressen hat - und von diesen Taten, die sie einfach nicht gutheißen kann, soll sie nun praktisch selbst profitieren, und das bringt sie gewissenstechnisch in eine arge Klemme. Erst machst du dem armen Colevar die Hölle heiß, weil er diese Männer umgebracht hat, und dann machst du es dir auch noch zu nutze, du hast ja wirklich eine schöne Moral! Aber sie kann es sich schlichtweg einfach nicht leisten, genauer über dieses Dilemma nachzudenken, wenn sie es schaffen will, van Houten zu Fall zu bringen, und so siegen schließlich doch Eigennutz und Pragmatismus über ihre Gewissensbisse. Ja, schön, dann bin ich eben eine moralische Schlampe. So lange ich damit meinen Bruder wiederfinden und van Houtens Verbrechen vergelten kann, soll mir das alles recht sein.

Colevar reißt sie aus ihren trübsinnigen Gedanken, als er nach ihren weiteren Plänen fragt und vorschlägt, zunächst einmal einen (dringend notwendigen) Kassensturz zu machen, um zu sehen, wie weit sie mit ihrer Barschaft überhaupt noch kommen. Gesagt, getan, und gleich darauf klimpern ihre gesammelten Münzvorräte auf der fleckigen, abgewetzten Tischplatte. Das Ergebnis ist allerdings ziemlich niederschmetternd, und selbst nach dem akribischen Durchsuchen sämtlicher Hosen-, Hemd- und sonstiger Taschen, Beutel, Geldkatzen und weiterer Orte, an denen man gern geheime Schätze versteckt wie Mantelsäume und Unterwäsche, liegt am Schluss ein reichlich armseliges Häuflein Münzen vor ihnen, mit dem sie kaum über die nächsten Tage kommen werden, geschweige denn quer durch die Herzlande. Ihre finanzielle Misere - es finanzielle "Lage" zu nennen, wäre im Grunde schon viel zu optimistisch - lässt eigentlich nur einen Schluss zu: sie müssen entweder einen reichen Kaufmann überfallen, ihre mitgeführte Menagerie verkaufen oder sich Arbeit suchen, um die geschrumpfte Reisekasse wieder aufzubessern. Da die Fähren wegen der über den Rhaín übersetzenden Frühjahrskarawane die nächsten Tage ohnehin nicht zu benutzen sind - es sei denn, man ist ein Lastesel, ein Karawanenführer oder ein Immerfroster Pelzhändler -, können sie die Zeit genauso gut auch sinnvoll nutzen und sich nach einer geeigneten Arbeit umsehen. Im geschäftigen, quirligen Brugia, das momentan wegen der riesigen Karawane und den Tuchmachermärkten schier aus allen Nähten platzt, ist es auch nicht allzu schwierig, eine geeignete Quelle zum Gelderwerb aufzutun.

Entlang des Rhaíns, der hier in Brugia schon ein beeindruckend breiter Strom ist, obwohl er noch viele hundert Tausendschritt bis zu seiner Mündung ins Silbermeer zurücklegen muss, staut sich vor den Fähranlegestellen eine unüberschaubare Menge an Zwei- und Vierbeinern, die übersetzen wollen und warten müssen, bis die hölzernen Fährboote sie aufnehmen können: reiche Immerfroster Händler und Kaufleute, Karawanenführer, Stallburschen und Tagelöhner, die unzähligen Trosshuren und Rossknechte und Träger und Boten und Packtiere, hochbeladene Esel, wiehernde Pferde, Ochsenkarren und Maultiergespanne, dazwischen herumwieselnde Hunde und Hühner und Kinder - die Geräuschkulisse ist wahrlich ohrenbetäubend, und mit dem Dreck, den diese Meute hinterlässt, könnte man den Ginnungagap zuschütten. Dreimal am Tag pflügt Morian im Auftrag der Stadt Brugia, bewaffnet mit Schaufel, Mistgabel und Schubkarre, durch diese Menge und sammelt auf, was liegengeblieben ist, schaufelt Pferdeäpfel und Kuhfladen und andere unschöne Hinterlassenschaften, und verdient sich so einige Münzen. Frühmorgens und spätabends arbeitet sie zudem noch auf dem Tuchmachermarkt und hilft den Händlern beim Aufbau der Stände und beim Einräumen der Waren, schleppt Stoffballen und Schließkörbe, schwere Tuche, Lederhäute, Bündel mit Flachsfasern oder weißflockiger Baumwolle, und fällt spät in der Nacht mit schmerzenden Muskeln und knirschenden Gelenken wie tot auf ihr Lager, nur um am nächsten Morgen von neuem mit der Arbeit zu beginnen.

Colevar sieht nicht viel besser aus als sie, eher im Gegenteil, denn er hat beschlossen, sein Geld in den Kampfgruben Brugias zu verdienen. Sie sehen sich nicht viel in diesen Tagen, und wenn, dann ist er jedes Mal kaum wiederzuerkennen, so verbeult sieht er aus, zerschunden, blutverkrustet und über und über mit Blutergüssen in den verschiedensten Stadien der Heilung und allen Farben des Regebogens übersät. Wenigstens können sie nach einigen Tagen, als die Stadt sich allmählich leert und wieder in ihren Normalzustand zurückkehrt, das Quartier wechseln und die üble Spelunke, in der sie bislang untergekrochen waren, gegen ein besseres Domizil tauschen. Morian stört sich nicht daran, dass es ein Hurenhaus ist - sie ist schon mehr als zufrieden, wenn sie ihr Nachtlager nicht mit Flöhen und Bettwanzen teilen muss und wenn das Essen halbwegs genießbar ist, und das ist es allemal. Die Wirtin dort ist eine freundliche und lebhafte Person, die Colevar natürlich, wie könnte es auch anders sein, von früher her kennt, die Mädchen sind nett, die Betten sauber und weich, und das Essen reichlich, was will sie also mehr. Colevar scheint, zusammen mit den Grubenkämpfen, dort als Rausschmeißer die ideale Arbeit gefunden zu haben und tut, was er mit am besten kann - sich prügeln und finster dreinschauen -, bekommt einen mehr als anständigen Lohn dafür und kann sich obendrein auch noch mit den Huren amüsieren. Morian arbeitet die meiste Zeit im Hafen, hilft beim Beladen der Kähne und beim Löschen der Ladungen, schrubbt Schiffsdecks und Lagerhallen, erledigt alle möglichen Botengänge und Besorgungen, und nimmt jegliche halbwegs anständige Arbeit an, die sie kriegen kann.

Währenddessen spitzt sie die Ohren und versucht, etwas über die Söldner herauszufinden, hinter denen sie her sind. Sie ist sich fast sicher, dass die Kerle hier Station gemacht haben, und schließlich müssen sie auch irgendwo mitsamt ihren Pferden über den Rhaín kommen, wofür hier in der Stadt durch den Fährdienst nun einmal die beste Möglichkeit weit und breit besteht. Morian hatte es sich recht einfach vorgestellt, hier in Brugia ihre Spur wiederzufinden, doch in der Menge der Reisenden, die tagtäglich durch die Stadt kommen, scheinen sie vollkommen verschwunden zu sein, und niemand, den sie fragt, kann sich an diesen bestimmten Söldnertrupp erinnern. "Söldner, sagst du?", heißt es immer nur, "Söldner kommen hier jeden Tag zu Dutzenden durch, glaubst du, ich kann mir jedes Gesicht und jeden einzelnen Rossschweif merken?" Sie hört sich im Flusshafen und im Fährhafen um, bei den Händlern auf dem Markt, in den Wirtshäusern und Tavernen, und fragt sich schier den Mund fusslig, aber niemand will die Männer gesehen haben. Als sie glaubt, dass das Glück sie schon verlassen hat, wird sie schließlich doch fündig, und zwar in Form eines wohlgeformten, braun-weiß-gescheckten Pferdehinterns. Zu der Zeit arbeitet Morian aushilfsweise als Rossknecht in einem der großen Ställe Brugias, wo man Pferde aus aller Herren Länder mieten, kaufen und verkaufen kann, und wo Reisende ihre erschöpfte Tiere gegen frische tauschen können. Die Stallungen sind groß und bestehen aus etlichen Gebäuden, aus Scheunen und Futterlagern, Remisen zum Unterstellen von Kutschen, Sattelkammern, einer Schmiede und den Stallgebäuden selbst, so dass sie auf besagtes Pferd erst am dritten ihrer Arbeitstage dort stößt.

Sie fegt gerade die Stallgasse, als ihr ganz hinten im letzten Anbindestand ein Pferd auffällt, dem sie zweifellos schon einmal begegnet ist: ein großer, grobknochiger Schecke mit vier weißgestiefelten Beinen, einer unverwechselbaren Fellzeichnung und einem blinden, wässrigblauen Auge. Einer der gesuchten Männer hat dieses Pferd bei dem Überfall auf ihr Elternhaus geritten, und Morian bleibt beinahe das Herz stehen, als sie es entdeckt. Sie zieht unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern wie eine verschreckte Schildkröte und äugt mit wilden Blicken um sich, als könne der Besitzer des Gauls urplötzlich auftauchen. Doch der einzige, der auftaucht, ist Callan, einer der vielen Stallburschen, ein magerer, sommersprossiger Bengel von zwölf Sommern, der in diesem Augenblick pfeifend um die Ecke biegt. "Weißt du, wem dieses Pferd gehört?", will Morian wissen. "Warum steht der hier?" Callan muss nicht lange überlegen, sondern erzählt freimütig von dem rüden Haufen aus Söldnern, die letzten Herbst ihre Pferde eine Weile hier untergestellt hatten. Der Schecke war hier geblieben, weil er sich am Bein verletzt hatte. "Ich weiß das noch genau", ereifert er sich und sein rundes, sommersprossiges Gesicht fängt förmlich an zu glühen bei der Erinnerung, "weil sie nach Emlyn zum Turnier wollten und ihr Anführer sagte, sie müssten sich beeilen, wenn sie das noch schaffen wollten."
"Emlyn?", hakt Morian unsicher nach. "Wo ist das?"
"Emlyn kennt ja wohl jeder", schnaubt der Junge, kopfschüttelnd über Morians empörende Unwissenheit. "Oder wenigstens jeder angehende Ritter. Und natürlich werde ich auch ein Ritter, wenn ich erst einmal bei einem Lord als Knappe in Diensten bin. Es gibt da schon jemanden, der mich aufnehmen will, den Lord von ..."
"Äh ... Emlyn?", erinnert sie Callan an das ursprüngliche Gesprächsthema, wobei sie den Jungen vor Ungeduld am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt hätte.
"Ahja, also, Emlyn ist eine kleine Stadt, vielleicht zwei- oder zweihundertfünfzig Tausendschritt den Frostweg entlang nach Süden. Es ist eigentlich nichts besonderes, nur ein größeres Kuhdorf, aber es gibt zweimal im Jahr ein wirklich großes Turnier, zu dem Kämpfer von überallher kommen, sogar aus den Ländern des Drachen im Osten."

Seine Augen werden ganz glasig vor Ehrfurcht, als er weiterspricht. "Da finden alle möglichen Kämpfe statt, Buhurt und Tjost und Ritterstechen und wissen die Götter, was noch alles. Sogar König Leodegar hat schon einmal teilgenommen. Und ich werd' da auch irgendwann mal teilnehmen, ganz sicher, also wenigstens, wenn ich erst mal ein Ritter bin. Aber vielleicht nimmt mich Lord Berwyn ja schon als Knappen mit, also wenn er mich denn als Knappe nehmen will, aber das hat er ja gesagt ...."
Hochfliegende Pläne scheint der Stallbursche zwar in rauen Mengen zu haben, dafür aber auch die Konzentrationsfähigkeit eines Eichhörnchens, und jedes Mal, wenn er auch nur das Wort "Turnier" oder "Ritter" in den Mund nimmt, schweift er sofort wieder zu ebendiesen ab und ergeht sich in blumigen Worten über die abenteuerlichen Großtaten, die er noch vollbringen will. Noch so ein armes Würstchen mit völlig unrealistischen Ritterphantasien. Vielleicht sollte ich ihn mal zu Colevar schicken.
"Callan!", knirscht sie. "Die Söldner!"
"Jaja, also die Söldner ... die wollten eben da hin, nach Emlyn, zu dem Turnier. Um möglichst viel von den Preisgeldern zu gewinnen. Das haben sie gesagt."
"Und dann?", fragt Morian atemlos, und die Aufregung über das eben Gehörte schnürt ihr förmlich die Kehle zu. "Was noch? Was weißt du noch? Wie lange waren sie hier? Was haben sie sonst noch gesagt?" Callan erzählt, sie wären vielleicht einen Siebentag in Brugia gewesen und dann zu dem Herbstturnier in Emlyn weitergeritten. "Ich hab' noch gehört, wie der Anführer sagte, dass sie den Winter bei einem Kerl in Lanberis verbringen wollen, aber an den Namen kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, der schwarze Grimm oder der schwarze Kid oder so ähnlich ... ich weiß es wirklich nicht mehr..."

Emlyn! Lanberis! Turnier! Winterquartier! Endlich, endlich wieder eine Spur! Das muss ich sofort Colevar erzählen! Morian stößt einen Juchzer aus, dann drückt sie dem völlig verdatterten Stallburschen ihren Besen in die Hand und einen von Herzen kommenden Schmatzkuss auf die Nase (woraufhin Callan, der sie natürlich für einen Jungen hält, beinahe in Ohnmacht fällt und sich so angeekelt mit dem Hemdsärmel über die Nase wischt, als wolle er sich sämtliche Sommersprossen auf einmal abschrubben), nimmt die Beine in die Hand und galoppiert schnurstracks aus dem Stall und Richtung Hurenhaus.
"Wo ist Colevar?" schreit sie aufgeregt, kaum dass sie die 'Blühende Rose', wie sich das Etablissement schimpft, geentert hat, woraufhin die Mädchen, die dürftig bekleidet in der Eingangshalle herumlungern, ihr verständnislose Blicke und das ein oder andere Grinsen zukommen lassen. "Ohje", flötet Slissen, eine der Huren, zuckersüß, "da hat aber jemand große Sehnsucht nach unserem Goldlöckchen. Er ist oben. Was ist denn mit dir passiert, hast du das gelobte Land entdeckt?"
"Viel besser!", keucht Morian außer Atem und saust auch schon die Treppe hinauf, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nimmt. "Colevar!" brüllt sie durch den Flur. "Wo steckst du denn?" Nacheinander reißt sie sämtliche Türen auf und späht in die Räume - die meisten sind um diese Uhrzeit leer -, bis sie ihn schließlich findet, ziemlich leicht bekleidet, in einer ziemlich eindeutigen Situation, mit einer ziemlich beschäftigen Hure. Ungeniert platzt sie mitten ins Zimmer - gerade noch, dass sie das Mädchen nicht aus seinem Bett zerrt - und verkündet ihre grandiosen Neuigkeiten: "Ich hab' sie gefunden, Colevar! Ich hab die Spur der Söldner gefunden, ist das nicht großartig?"


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 01. Aug. 2011, 19:35 Uhr
Die Zeit in Brugia



Die Kampfgruben Brugias sind kreisrunde Löcher im Boden von dunklen Lagerhallen oder stinkenden Hinterhöfen. Sie sind zwei Schritt tief, haben vielleicht acht Schritt Durchmesser  und sind von einem steinernen oder hölzernen Wall umgeben – niemand, der einmal hineingegangen ist, kommt unversehrt wieder heraus, es sei denn, er wirft das sprichwörtliche Handtuch, einen kleinen, leuchtend gelb gefärbten Fetzen Stoff, den jeder Kämpfer bei sich tragen muss. Die Schaulustigen versammeln sich am Rand der Gruben und wetten auf jeden Kampf. Tagsüber finden in den Kampfgruben unter dem lauten Johlen der Hafenhuren, der Schauerleute und der Flussseefahrer nur Faustkämpfe statt, doch nachts, verborgen vor den Augen der Garde und der Obrigkeit, findet man hier ein weit blutigeres Vergnügen: Messerstechereien, Frauenkämpfe, Kämpfe bis zum Tod, Hundekämpfe, Bullenreißen, alles, was der zahlungswilligen Menge ein möglichst blutiges Spektakel bietet. Grubenkämpfe sind hier wie andernorts in den meisten Landen, die einst zum Imperium von Ûr gehörten, verboten - doch wie alles, was verboten ist und wo klingelnde Münzen winken, haben auch sie ihren Zulauf. In einer geschäftigen Hafenstadt wie Brugia und mit all diesen Fremden innerhalb der Mauern erst recht. Die Kampfregeln für die nächtlichen Kämpfe sind denkbar einfach: es gibt keine und sie enden nur mit der Besinnungslosigkeit, dem Tod oder der Aufgabe eines Gegners. Colevar kämpft tagsüber und manchmal auch nachts, gegen alles und jeden – Männer, Frauen, Hunde, Bullen, was immer ein paar Silbermünzen für die Reisekasse und ein wenig Vergessen für ihn selbst bringt. Wenn er kämpft, muss er nicht denken, weder an das Gestern, noch an das Morgen, noch an die Leere in seinem Inneren. Er spürt die Blicke der Menge am Rand der Gruben, er hört ihre Rufe und ihr Gelächter, ihr spekulatives Flüstern und das heisere Schreien derer, die lautstark Wetten abschließen. Meistens teilt er aus, manchmal steckt er auch ein, aber er wirft nie das gelbe Tuch. Einmal schickt ihn ein wuchtiger Mann mit einer Haut wie altes Leder und Tätowierungen von Kopf bis Fuß mit einer so harten Geraden auf die Bretter, dass er nur noch Sterne sieht - und dann für eine ganze Weile gar nichts mehr. Noch zwei Tage später dröhnt sein Schädel von dem Schlag und er fühlt sich, als wäre er mit voller Wucht gegen eine Steinmauer gelaufen, aber letzten Endes trägt er nur eine ziemlich böse Prellung , eine aufgerissene Lippe und zwei lockere Zähne davon... nichts, das nicht wieder heilen würde. Nach vier Tagen leert sich die Stadt allmählich, da die Frühjahrskarawane über den Rhaín weiter nach Süden zieht, und Colevar und Morian haben Glück, ihr Quartier wechseln zu können. Noch einen Tag länger in der Schwatzhaften Elster und sie hätten sich Läuse oder die Krätze eingefangen - oder die arme Zora wäre noch von der Wirtin geschlachtet worden, deren Junge den strammen Ziegenkeulen schon mehrmals begehrliche Blicke zugeworfen hatte.

Ihre neue Bleibe ist im Vergleich zur Elster geradezu luxuriös: die Betten sind sauber und weich, die Laken werden täglich gewechselt, das Haus ist tagsüber sehr ruhig, es gibt immer heißes Wasser und ein halbes Dutzend Zuber, um sich zu waschen oder ein Bad zu nehmen, und wenn es riecht, dann höchstens nach Kräuterölen und Duftwassern. Das Essen ist reichlich und ausgesprochen gut, der einzige Nachteil des Hauses ist - es ist ein Bordell. Colevar hätte sich nicht darauf eingelassen, Morian in die "Blühende Rose" zu bringen, hätte er die Hurenwirtin, eine temperamentvolle, rothaarige Mittvierzigerin mit schneeweißer Haut und einem Herz am rechten Fleck, nicht von seinen früheren Aufenthalten in Brugia gekannt. Wäre ihr Rausschmeißer nicht gerade halb vergiftet von einem Fischeintopf, der wohl nicht mehr so taufrisch gewesen war und würde sich seit Tagen die Seele aus dem Leib kotzen, hätte sie Colevar gar nicht gebeten, ihr aus der Patsche zu helfen, so aber haben sie ausnahmsweise einmal Glück im Unglück. Glaubt man den Gerüchten, ist der Rotschopf wahlweise die Geliebte des Kommandanten von Brugia, Ilbrecs des Blonden, Anführer der gelderlâner Spielleute, Barden und Gaukler Gelderlâns oder die Mätresse des Grafen von Tholen selbst, doch Colevar gibt nicht viel auf Geschwätz und sieht sie auch nie in Gesellschaft irgendeines Mannes. Sie nennt sich selbst die Gueldenrose, sie nimmt ihn und Morian sowie ihre kleine Schar Tiere ohne zu zögern auf, und auch wenn sie ihm Unterkunft, Essen und Stallmiete vom Lohn abzieht, sie zahlt gut. Er hat eigentlich nichts weiter zu tun, als Betrunkene und stadtbekannte Schläger schon an der Tür abzuweisen, im Schankraum ein wachsames Auge auf die Männer zu haben und einen möglichst finsteren Eindruck auf streitlustige Gäste zu machen, was ihm nicht sonderlich schwer fällt. Ab und an muss er besonders grobe Freier auf die Straße setzen, wenn eines der Mädchen in den Zimmern oben loskreischt, weil der Mann es zu hart angefasst oder geschlagen hat, aber das tut er mit grimmiger Genugtuung, Huren hin oder her. Und wenn die Blühende Rose schließt, ist die Nacht zwar nicht mehr jung, aber immer noch lang genug, um einen Kampf in den Eingeweiden des Hafenviertels zu bekommen. Das Beste an ihrer neuen Unterkunft sind jedoch zweifellos die Huren: saubere, gesunde, willige Huren, die aus freien Stücken auch in sein Bett kommen und ihm an ihren freien Tagen anbieten, wofür andere sonst bezahlen müssen. Er lädt sie nicht ein, aber er weist sie auch nicht ab. Keine von ihnen riecht so mörderisch gut wie Morian an jenem Morgen gerochen hat, aber sie sind weich, süß und warm, was für ihn gut genug ist und völlig ausreicht.

Eigentlich müsste es ihm gehen wie der Made im Speck – er kann sich im Sand der Kampfgruben austoben, er verdient gutes Silber, er hat ein mehr als angenehmes Dach über dem Kopf, unter dem er den ganzen Tag verschlafen könnte, wenn er das wollte, und wenn er ab und an ein nettes Lächeln aufsetzt, findet er meistens auch eine nette Überraschung mit weicher Haut und hungrigem Mund in seinem Bett vor. Er sollte eigentlich zufrieden sein. Glücklich sein zu wollen hat er schon lange aufgegeben und Erinnerungen an verlorenes Glück treiben den Stachel auch nur tiefer ins Fleisch – und er ist schon tief genug gestochen worden. Aber zufrieden könnte er sein. Sollte er, müsste er. Er ist es nur nicht. Seine Laune mag sich merklich gebessert haben, nicht nur wegen der Kämpfe und der Mädchen, sondern auch, weil er zu seiner größten Erleichterung festgestellt hat, dass sein Herz in Bezug auf Morian genauso stumm und kalt bleibt, wie in Bezug auf jede andere. Sie ist zweifellos eine Frau, er hat sie zweifellos gern und ist ebenso zweifellos gern in ihrer Gesellschaft, er fühlt sich zweifellos für sie verantwortlich und sie riecht zweifellos absolut verführerisch... aber das ist auch zweifellos alles. Da ist nicht mehr, kein Knistern, kein Sehnen, kein Ziehen in der Brust und erst recht kein einziger Herzschlag, der ihr gelten würde. Sie bedeutet ihm sicher mehr als andere, als Weggefährtin, als Schildmaid, als Vertraute. Aber Verliebtheit? Nein. Fatalerweise mag er sie zu gern, um nur mit ihr ins Bett zu steigen – falls sie das überhaupt wollen würde, was er für sehr unwahrscheinlich hält. Und so muss er mit einem Anflug von Begehren hin und wieder, wenn er den Duft ihrer Haut in die Nase bekommt, eben einfach leben. Schon ein altes Sprichwort sagt, dass man sich ja nicht immer gleich kratzen muss, nur wenn es irgendwo juckt, und mit all diesen Mädchen in der Blühenden Rose juckt es ohnehin kaum noch. Und wenn die Zeiten des Überflusses vorbei gehen und wieder eklatanter Mangel an weiblicher Gesellschaft herrscht, dann würde er damit auch zurechtkommen. Er muss es ja nicht gleich wieder übertreiben und drei Jahre lang keinen Weiberrock mehr ansehen. Hin und wieder treffen sie sich – wenn die Sonne aufgeht und er aus dem Hafenviertel kommt, wohin sie bald aufbrechen wird. Dann teilen sie sich das Morgenmahl und reden ein wenig über die Erlebnisse des jeweils anderen. Morian packt überall mit an, wo es Geld zu verdienen gibt: sie hilft gelegentlich hier im Bordell in der Küche aus, sie arbeitet auf den Kähnen der Fischer, sie flickt Netze und macht Botengänge und wissen die Götter was alles noch. Aber vor allem hört sie sich überall um und stellt Fragen nach den Söldnern, in der Hoffnung etwas in Erfahrung zu bringen. Als ihr das endlich gelingt, ist sie darüber so aus dem Häuschen, dass sie das halbe Bordell zusammenschreit und ihn obendrein fast aus dem Bett der hübschen kleinen Estrith zerrt, um ihm die Neuigkeiten brühwarm zu berichten. Colevar sieht Morian nur träge an, als sie vibrierend wie eine Stimmgabel vor dem Bett steht, keinen Blick an das anzügliche Durcheinander von Armen, Beinen und halbbekleideten Körpern verschwendet und dabei vor lauter Ungeduld und Aufregung von einem Fuß auf den anderen hüpft. "Aye", grinst er dann, amüsiert über ihren erhitzten Übereifer aber auch froh, dass sie endlich etwas herausbekommen hat und sie damit eine Spur haben, der sie folgen können. Er denkt gar nicht daran, mit seiner augenblicklichen Beschäftigung aufzuhören, geschweige denn, die Hure aus seinem Bett zu werfen, nur weil Morian meint ohne Anklopfen sein Zimmer entern zu müssen. "Aber wir müssen sie nicht gleich in der nächsten halben Stunde einholen, oder? Nein? Oh, gut! Dann schwing deinen Hintern aus dem Zimmer, Schätzchen, und erzähl mir später wohin deine Söldner verschwunden sind. Das hier ist privat, wenn du also so nett wärst... Es sei denn, du möchtest dich uns vielleicht anschließen? Estrith hier nimmt auch Mädels." Er macht Anstalten, die Laken einladend aufzuschlagen, doch da ist Morian schon aus dem Zimmer gerauscht und er hätte schwören können, dass ihre Wangen verdächtig rosa geglüht hatten.


Colevar hält des Nachts an den Kampfgruben ebenfalls die Ohren offen, bei den Schauerleuten und den Betrunkenen, bei den Huren und den Straßenbettlern, überall dort, wo Morian nicht fragen kann, weil es viel zu gefährlich wäre. Aber er hört nichts mehr von Bedeutung und sie scheint auch nicht viel mehr herausbekommen zu haben, als dass die Männer nach Emlyn zum Herbstturnier weitergezogen waren. Nach etwa einem Siebentag haben sie immerhin so viel Silber wieder zusammen, wie Snerra ihn gekostet hatte, was nicht wenig ist, aber auch nicht allzu viel. Die Fähre über den Rhaín würde Geld kosten, sie selbst brauchen Proviant, die Tiere Futter und spätestens in Lanberis sind für Filidh neue Eisen fällig und die anderen Pferde müssen die Hufe ausgeschnitten und gerichtet bekommen. Und Zora frisst einem ohnehin ständig die Haare vom Kopf. Er weiß nicht, was er schon an Entschädigungsgeld für zerkaute oder gleich völlig vernichtete Hüte, Seidenbänder, Rockzipfel, Hauben, Einkaufskörbe (mit und ohne Inhalt) und alles sonst noch erreichbare bereits bezahlt hat, und Morian hatte das bestimmt ebenfalls zur Genüge getan, ohne es an die große Glocke zu hängen. Oder sie verwendet jeden Deut, den sie verdient, für Schmiergelder, um noch etwas über die Söldner in Erfahrung zu bringen, die ihre Eltern ermordet haben. Er könnte es ihr nicht verdenken, wenn es so wäre, schließlich ist es allein ihre Sache, was sie mit ihren sauer verdienten Münzen anstellt, aber er glaubt eigentlich nicht, dass sie das tut. Trotzdem können sie die Weiterreise auch nicht antreten mit nichts als einem Beutel voll Silbertalern, die ihnen höchstens bis Nîm reichen würden. Jenseits des Rhaín liegt für lange Wegstrecken nichts als Wildnis, und die wenigen Städte, Dörfer und Ortschaften, die es gibt, sind tagesreisen voneinander entfernt. Sie haben höchstwahrscheinlich keine Möglichkeit mehr, noch irgendwo unterwegs Geld zu verdienen, wenn sie Brugia einmal verlassen haben und bis ins talyrische Umland sind es noch hunderte von Tausendschritt... es ist Sommer und selbst wenn schlechtes Wetter das Reisen unangenehm macht, würde der dichte Wald sie schützen, so dass sie auch unter den Sternen schlafen können, aber sie müssen essen und brauchen Futter für die Pferde... und in den Herzlanden gilt nicht überall das Jedermannsrecht wie im Norden. Sie beschließen also, drei weitere Tage zu bleiben, um noch ein wenig mehr Münzen zu verdienen und sich so ein kleines Polster an Silber zu verschaffen – und in der nächsten Nacht trifft Colevar auf den Hund. In der Blühenden Rose ist – im Vergleich zum vergangenen Siebentag - wieder Ruhe eingekehrt, nachdem die Karawane die Stadt verlassen hat, und auch an den Kampfgruben im Hafenviertel sind nun sehr viel weniger Münzen zu verdienen. Aber betrunkene Flussschiffer und Schauerleute, die Kämpfen oder Wetten wollen gibt es immer noch genug. Colevar ist in unruhiger, melancholischer Stimmung in jener Nacht. Er bestreitet ein paar Kämpfe und er trinkt zu viel Wein - und ihm steht nicht der Sinn danach, vor dem Morgengrauen in die Blühende Rose zurückzukehren. Er sehnt sich weder nach seinem Bett, noch nach einer Frau darin und in seiner augenblicklichen Stimmung auch nicht wirklich nach Morians Geschnatter. Irgendetwas treibt ihn um, ohne dass er sagen könnte, was genau eigentlich an ihm nagt. Er bleibt bei den Kampfgruben, sitzt verborgen im Schatten eines hölzernen Pfeilers und trinkt den vierten Weinschlauch leer, bis auch die letzten, längst volltrunkenen Zuschauer und verschwitzten Kämpfer nach Hause (oder nach wohin auch immer) wanken, und sieht währenddessen zu, wie ein paar Straßenjungen die Arenen kehren, Blut von den Steinen wischen und frischen Sand einstreuen. Der Abdecker mit seinem klapprigen Fuhrwerk, im Gespann zwei mürrische Ochsen, ist längst da und lädt einen toten Bullen und zwei Hunde auf... oder was von ihnen übrig ist. Der Wein ist schon wieder alle.

Colevar schließt die Augen, die immer noch brennen vom Rauch und reibt sich mit den Fingerknöcheln übers Gesicht. Er stinkt nach Schweiß und Blut und sein Hemd klebt in getrockneten, rostroten Flecken an seiner Brust, weil er einem seiner Gegner die Nase gebrochen hatte. Er braucht dringend ein Bad und er sollte dringend aufhören, Wein wie Wasser in sich hineinzuschütten, aber er will nicht aufstehen. Er will sich überhaupt nicht mehr bewegen müssen, ihm tut ohnehin jeder einzelne Knochen weh - sogar welche, von deren Existenz er nicht einmal gewusst hat. Sein letzter Gegner, peinlicherweise ein Kerl, der nur halb so groß, aber doppelt so alt war wie er selbst, dabei aber schnell wie eine zustoßende Schlange und stark wie ein weit jüngerer Mann, hatte ihn windelweich geprügelt, ehe es ihm irgendwie gelungen war, dem Kerl die Nase zu Brei zu schlagen und ihm dann so lange die Luft abzudrücken, bis er aufgegeben hatte. Du bist ein Ritter oder wenigstens warst du das einmal. Jetzt kämpfst du für ein paar Silbertaler in einem schmierigen Hinterhof. Du wettest auf Blut und tötest für Geld. Wo ist da die Ehre? Er starrt auf seinen Unterarm, auf die alten Narben der vier kreisrunden Zeichen auf seiner Haut, die sich ineinander verschlungen vom Ellenbogen bis zum Handgelenk ziehen, wo noch Platz für den letzten und fünften Ring wäre. Den einen, den er an dem Tag erhalten würde, wenn die Sonne im Westen über dem Silbermeer auf- und im Osten über dem Meer der Ruhe untergeht, wenn die Sterne am helllichten Tag vom Himmel scheinen und Wasser Feuer zu Asche verbrennt... wenn ihm wieder einfällt, was Lachen ist. Er starrt immer noch darauf, als er die dumpfen Schläge und unterdrückten Flüche hört, die irgendwo hinter ihm im grauen Dämmerlicht laut werden. "Verdammt, der is' gar nich' hinüber." Nur allmählich dringen ein paar Wortfetzen und der Sinn dahinter durch seinen weinumnebelten Verstand, doch es ist nichts, nur der Abdecker und der Grubenwirt, die sich um irgendeinen toten Hund streiten. Wieder klatscht es dumpf. "Jetzt schon", hört er den Grubenwirt knurren. "Nimm ihn mit, Rurk, der ist fertig. Hat seit zehn Tagen keinen Kampf mehr gemacht, ganz egal wie wir ihn in den Ring geprügelt haben. Einen bloßen Fresser, der mir keinen müden Deut einbringt, kann ich nicht brauchen." Colevar steht auf. Für einen Moment schwankt die Welt bedenklich, doch dann hört es auf. Reiß dich zusammen. Die beiden Männer stehen neben dem Ochsenkarren, auf dem die Tierkadaver vor sich hin stinken und beugen sich über ein unförmiges Bündel braunen Pelzes, das so groß ist, dass Colevar im ersten Moment glaubt, es gehe doch nicht um einen toten... oder noch nicht ganz toten... Hund, sondern einen Bären. Aber es hatte keinen Bärenkampf gegeben, davon hätte er längst gehört. Dann fällt ihm ein, welcher Hund es sein muss - er hatte das Tier ein paarmal in seinem Käfig gesehen, aber nie in der Kampfgrube. Der Hund ist groß, riesig um genau zu sein. Seine Fellfarbe ist vollkommen undefinierbar, weil er vor Schmutz starrt und sein Pelz überall dort, wo er nicht großflächig am Körper klebt in wilden, harten Stacheln von Schultern und Rücken absteht. Einohr. Irgendjemand hat ihn einmal Einohr genannt. Oder war es Einauge? Die einzige Erinnerung, die er an den Hund hat, ist ein kurzer Blick auf ein zusammengerollten Fellberg in einem Käfig, der sich kaum mehr bewegt hatte. Colevars Welt hat eindeutig Schlagseite, als er auf die Männer zugeht, die sich fluchend abmühen, den schweren Hundekadaver auf den Karren zu wuchten. Du bist halb betrunken... oder mehr als nur halb. Der festgestampfte Lehmboden unter seinen Stiefeln bewegt sich hin und her wie Tang unter Wasser... oder vielleicht ist es auch er selbst, der schwankt. Er trinkt zu selten so viel Wein, um nicht von vier Schläuchen völlig hinüber zu sein, aber der Anblick des toten Hundes, der wie ein Stück Abfall weggeworfen wird, hat etwas sehr ernüchterndes. Und plötzlich spürt er Wut in sich aufsteigen, rabenschwarz und gallenbitter. Einen Herzschlag später frösteln Rurk der Abdecker und der Grubenwirt zwei Schritt vor ihm in einem Schwall eisiger Kälte und staunen über ihren eigenen Atem, der vor ihren Nasen plötzlich in der frostigen Luft dampft.

"Wie viel Münzen hat er dir gebracht?" Knurrt Colevar und der Grubenwirt starrt ihn an, als rede er von fliegenden blauen Schweinen oder etwas ähnlich Unsinnigem. "Wie viel?"
"Als er noch gekämpft hat? Viel! Genug jedenfalls. Ein Hund, der nicht mehr kämpfen will, ist wertlos für mich. Ich muss an die Grube denken!"
Colevars flache Hand klatscht auf die schmierige Ladefläche des Abdeckerkarrens, so hart, dass es knallt wie ein Peitschenschlag. Rurk zuckt zusammen und blickt unsicher vom Grubenwirt zu Colevar und wieder zum Grubenwirt, der zwar kampflustig die Brauen sträubt, aber genauso eilig zurückweicht. "Du bist betrunken, Blondschopf. Geh nach Hause, aye?"
Die Kälte breitet sich aus. "Sein Name."
"Häh?"
Reif überzieht glitzernd weiß den Boden. "Der Hund. Wie war sein Name?"
"Hör mal, ich will keinen Ärger mit..."
"Sein Name!"
"Keine Ahnung, Mann! Er hatte viele Namen! Einohr, Reißer, Schatten, Fang, Bullentod. Was weiß ich... ich hab ihn beim Würfeln gewonnen, in Ordnung? Vergangenen Herbst von einem rotzbesoffenen Barbaren. Ist ein Mischling, hat der Kerl gesagt. Falkenswarder, Löwengrimm und noch irgendwas, und die Mutter war ein Karjakoira-Wolfsmischling. Wenn du mich fragst, war sie eher 'n Bär. Der Mann hat ihn Rauch genannt, aber in seiner eigenen, unaussprechlichen Sprache! Was weiß ich... Reyko... Reyk... Reykir! Reykir! Er hieß Reykir!" Colevar verharrt am Wagen und der Grubenwirt schnaubt vor Schreck und Ärger. "Geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus, Blondschopf! Was interessiert dich überhaupt auf einmal der Köter, hä? Außerdem ist er mausetot!"
"Ist er nicht." Colevar mag betrunken sein, aber die nasse, atmende Hundenase an seiner rechten Hand bildet er sich ebenso wenig ein, wie die warme Zunge, sie schwach über seine blutverkrusteten Finger fährt, rau wie Sandpapier. Er kann nur nicht sagen, ob das nun ein hündisches Danke oder eher eine kleine Kostprobe sein soll. "Ich nehme ihn. Geht mir aus dem Weg, alle beide." Das ist absolut unmissverständlich, und der Abdecker packt den vor Wut schnaufenden, rotgesichtigen Grubenwirt am Ärmel und zieht ihn hastig außer Reichweite, während Colevar den halbtoten Hund auf die Arme nimmt. Das Vieh ist elend schwer und so groß, dass er beim besten Willen nicht weiß, wie er ihn nur bis in die Blühende Rose tragen soll, betrunken und zerschlagen wie er ist – aber fürs Erste trägt ihn zunächst einmal hauptsächlich sein Stolz aus der Lagerhalle und halb die Straße hinunter, ehe er schwer atmend und grunzend vor Anstrengung an einer Kreuzung Halt macht. Der Hund winselt leise, ein hohler, rostiger Ton, als Colevar ihn kurz absetzt, um sich zu orientieren und seine schmerzenden Arme auszuruhen. Das Tier versucht aufzustehen und wegzukriechen, schafft es aber nicht, weil sein linker Hinterlauf immer wieder unter ihm nachgibt. Colevar geht in die Hocke und dreht den massigen Kopf kurz in seine Richtung. "Wo willst du hin, a ci, hm? Wenn die Stadtgarde dich bei den Morgenpatrouillen in den Straßen findet, erschießt man dich, das ist dir klar, oder?" Der Hund hat nur noch ein Ohr, das andere wurde ihm bei einem Kampf abgerissen und besteht nur noch aus einem fransigen Stumpf. Er hat viele Narben, große und kleine. Was Colevar mehr trifft, als sein erbärmlicher Anblick, ist der Ausdruck in den gelben Augen. Sie sind müde, sehr müde und voller Schmerz. Eine Weile verharren sie einfach so, der Hund und er, und sehen sich an. "Ich weiß", murmelt Colevar irgendwann. "Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Aber wir geben nicht auf, Hund. Aufgeben kommt gar nicht in Frage. Also hoch mit dir jetzt. Komm schon. Du brauchst dringend einen Heiler, ein Bad und ein Bett. Und ich auch."

Eine Stunde später hat er den Stall der Blühenden Rose erreicht und verursacht einen mittleren Aufstand, weil er den Jungen, der sich um die Pferde kümmert, zu Lady Gueldenrose schickt, damit die einen Heiler hole – für den Hund natürlich. Fünf Minuten später drängen sich kreidebleiche, besorgte Mägde und Huren im Stall, die nachsehen wollen, wie schlimm er, Colevar, verletzt ist, weil der Junge in  der Küche so ein Gestammel veranstaltet hat. Angesichts des fürchterlich stinkenden, fürchterlich hässlichen, fürchterlich großen Hundes im Stroh verziehen sich die meisten Mädchen schleunigst wieder, aber der Heiler sei auf dem Weg, wird ihm versichert - außerdem wird ihm dringend ein Bad empfohlen. Nur Morian bleibt, kniet sich zu ihnen ins Stroh und krault ihre neugierige Ziege, die natürlich sofort und unter lautem Gemecker nachsehen muss, was da Spannendes passiert. Colevar, längst wieder nüchtern, berichtet Morian leise, wie er an den Hund gekommen ist, während sie auf den Heiler warten. Er weiß auch nicht, warum das wildfremde Tier ihn so rührt, aber das tut es. Er hätte den Hund nicht um alles Rurk dem Abdecker übergeben können und er kann ihn auch jetzt nicht einfach sich selbst überlassen, aber allein bei dem Gedanken daran, was dieses Vieh alles fressen würde, nennt er sich selbst einen Narren. Für einen halben Herzschlag denkt er daran, den Hund vielleicht Gueldenrose aufzuschwatzen. Mit so einem Hund in ihrem Haus bräuchte sie sich nie wieder Sorgen um ihre Mädchen machen, aber den Gedanken verwirft Colevar sofort wieder: die Hurenmutter der Blühenden Rose nennt fünf fette, verhätschelte Katzen ihr Eigen – ein Grubenhund, auch wenn es ein kampfesmüder ist, wäre so ziemlich das Letzte, das sie aufnehmen würde. "Wir werden dich irgendwie füttern müssen, Hund." Der liegt inzwischen im Stroh, starrt aus trüben Augen durch den Stall und rasselt bei jedem schwachen Atemzug, was Zora sofort und auf der Stelle veranlasst, sich über den armen, hilflosen Riesen herzumachen. Die kleine Bucca ist schneller als der Heiler und der Hund viel zu entkräftet, um der Ziege ihre Annäherungsversuche übelzunehmen. Zora gibt sich selbst wie eine Heilkundige, die Hunde hält. Und wie eine Katzenmutter ihre Jungen wäscht, so leckt und reinigt sie Reykirs Wunden und legt sich dann demonstrativ neben ihn ins Stroh, um ihn zu wärmen, lächerlich klein neben dem massigen Hundeleib.

Zwei Tage darauf ist der Hund geheilt (was Colevar nicht so viel gekostet hat, wie befürchtet), gebadet  (breiten wir freundliches Schweigen über diese Szene und belassen es bei der kleinen Anmerkung, dass der Versuch, Reykir zu baden Colevar fast alles gekostet hätte, aber immerhin die Erkenntnis zu Tage fördern konnte, dass der Hund rauchgraues Fell, ein schwarzes Gesicht und schwarze Pfoten hat) und beginnt allmählich auch wieder zu fressen (was weit mehr kostet, als befürchtet), und so verlassen sie die Blühende Rose. Ihre Sachen sind gepackt, die Vorräte und der Proviant gekauft, die Pferde beladen, die Ziege thront (sehr zu ihrem Leidwesen, denn ihr neuester Liebling kann wieder laufen und ist damit für den Moment unerreichbar) auf Hühnchens Rücken und sie machen sich mit einer kleinen Schar anderer Reisender auf den Weg zum Fährhafen. Vor ihnen gehen die zwei Heckenritter, die Colevar an jenem Morgen vor den Toren der Garnison gesehen hatte, und unterhalten sich dabei angeregt: "Nein, nein, nein, Osred! Die Frauen im Verdland mögen kleine, haarige Männer."
"Dann hast du ja gute Karten, Mallifer."
"Die haben wir beide, Osred."
"Ich bin vielleicht etwas kurz geraten, Mall, aber ich bin nicht haarig."
"Hast du dir in letzter Zeit mal deinen Nacken angeschaut? Oder deinen Rücken? Also bei Vollmond will ich nicht in deiner Nähe sein."
"Du glaubst doch wohl nicht die alten Schauergeschichten von Werwölfen und Wargen und Môrgrimms oder etwa doch, Mall?"
"Osred, ist es dir jemals aufgefallen, dass es immer die alten Weiber sind, die länger leben als alle anderen?"
"Was soll das denn heißen, Mall?"
"Die leben so lange, weil sie alle Gefahren kennen. In einer Vollmondnacht wirst du bestimmt kein altes Weib auf der Straße treffen, das nicht einen kleinen Vorrat an Dörrpflaumen dabei hat."
"Dörrpflaumen, Mallifer?"
"Jaja, Dörrpflaumen, Osred. Die tödlichsten aller Früchte."
"Wie das, Mall?"
"Also Werwölfe... und vielleicht auch Warge... wollen zweierlei Dinge von Frauen: sie wollen sie vernaschen und sie wollen sie... nun, sie wollen sie vernaschen. Du weißt, was ich meine."
(Colevar grinst, der Hund hechelt, den Pferden ist es egal, Morian lauscht erstaunt und die Ziege hat mit Sicherheit nur "Dörrpflaumen" verstanden.)
"Ich weiß ja nicht, ob jemals ein Mädel vernascht worden ist, das Dörrpflaumen gegessen hat, Osred, aber ich kann dir sagen, es ist verdammt unangenehm."
"Was ist mit dem anderen Vernaschen, Mallifer?"
"Niemand mag den Geschmack von Dörrpflaumen, Osred. Noch nicht einmal Werwölfe."

Heckenritter Osred lobt Heckenritter Mallifers gesunden Menschenverstand und will dann wissen, wer ihm das von den Frauen des Verdlandes erzählt habe.
"Einer der Torwächter, Os. Offenbar sind es die Frauen aus Gríanàrdan, die auf lange Kerle stehen, wenn du weißt, was ich meine. Der Wächter hat mir auch noch ein paar interessante Dinge über den Lord von Gríanàrdan erzählt."
"Was hat er dir über den erzählt, Mall?"
"Nach allem, was man so hört, ist der Mann unersättlich. Aber er ist etwas eigen, wenn du weißt, was ich meine."
"Eigen? Wie, du meinst mit Mä...?"
"Nein, er hat panische Angst, sich das Brennen einzufangen. Sein alter Herr soll an verfaulten Eiern gestorben sein. Also äh... an seinen verfaulten Eiern, verstehst du? Also treibt der neue Lord es nur mit Weibern, die noch keiner angerührt hat."
"Mit hässlichen Weibern, Mall?"
"Nein, du Volltrottel, mit Jungfrauen. Da kann er sicher sein, dass er sich nichts holt. Nun denn, Osred, wir sollten uns wohl besser auf den Weg machen. Die Fähre legt sonst noch ohne uns ab."
Die Fähre ist ein breites, langes Boot mit flachem Kiel und die Bordwände sind ein fauler Witz, kaum höher als einen Schritt. Aber es gibt ein Dutzend Dollen für Riemen auf jeder Seite und in der Mitte des Decks ein langes, flaches Holzhäuschen. Am Anlegeplatz dümpelt die Fähre sacht in der schwachen Flussbrandung. Schwere Eichenbohlen sind auf den Kai geschoben, um die Passagiere an Bord nehmen zu können und sie reihen sich in die kleine Schlange ein, die sich im Nu am Pier gebildet hat. Wieder sind die Heckenritter vor ihnen, doch Colevar hat keine Ohren mehr für deren Geschwätz. Es sind nur eine Fähre und ein verdammter Fluss, und er hat das schließlich schon oft genug mitgemacht, aber das genügt völlig, um seinen Magen nervös rumoren zu lassen. "Ich hasse Schiffe", gibt er unumwunden zu, als Morian ihn fragend ansieht. "Mir grrraut vor Schiffen."
"Ihr schon wieder, " begrüßt ihn der Fährmann, ein buckliger Alter mit listigen Augen und Armen stark wie ein Waldschrat. "Zwei Silbertaler für euch und zwei für den Jungen. Und jeweils einen für jedes Pferd. Und einen für den Hund, er ist götterverdammt nochmal so groß wie ein Pony."
"Acht Silber?! Ich will nur übersetzen, nicht gleich die ganze Fähre kaufen."
"Acht Silber. Ihr habt die Wahl, Sire. Acht Silber oder Ihr bringt Eurem Pferd bei, über das Wasser zu tanzen."
"Hmmpf! Letzten Frühjahr habe ich weniger als die Hälfte bezahlt."
"Letzten Frühjahr waren es auch nur Ihr und Euer Pferd, Sire. Und Ihr habt mir das ganze Deck vollgekotzt."
"Schon gut. Von mir aus, acht Silber also. Ich mag ehrliche Räuber."
Der Fährmann lacht schallend.

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 02. Aug. 2011, 22:54 Uhr
Mittlerweile ist die Menagerie, mit der Morian und Colevar reisen, zahlenmäßig so angewachsen, dass sie schon beinahe eine eigene Fähre für sich allein in Anspruch nehmen könnten, denn zu den drei Pferden und der Ziege hat sich nun auch noch der Hund gesellt, den Colevar in den Kampfgruben aufgelesen hat. Morian befürchtet außerdem, dass sich ihre vielbeinige Eskorte vermutlich bald noch um mindestens vier weitere Beinchen vermehren dürfte, denn wie sie bei ihrem morgendlichen Aufbruch in der 'Blühenden Rose' und beim Beladen der Pferde festgestellt hat, passt Zora kaum noch in ihren Reisekorb, der an Hühnchens Sattel hängt. Die Geiß hat inzwischen einen so besorgniserregenden Bauchumfang erreicht, dass man ihn beim besten Willen nicht mehr allein ihrer Gefräßigkeit zuschreiben kann. Sie sieht aus, als hätte sie eine Feuermelone in der Größe eines handlichen Mammuts verschluckt, die sich nun zwischen ihren Rippen und den Hüftknochen häuslich eingerichtet hat - eine Feuermelone, die sich obendrein auch noch manchmal sacht zu bewegen und zu wellen scheint. Es ist nicht mehr zu verleugnen, dass ihr Aufenthalt in Isernthorn vor einigen Wochen - bei dem Zora eine Nacht mit dem liebestollen Geißbock des Wirtsbruders verbracht hatte - im wahrsten Sinn des Wortes Früchte getragen hat und die Ziege nun zweifellos Mutterfreuden entgegensieht. Vielleicht denkt sie ja deswegen, dass sie Reykirs Mutter ist, vermutet Morian. Oder sie übt einstweilen nur schon mal für ihren eigenen Nachwuchs. Dass sie trächtig ist, sieht inzwischen ja ein Blinder, und lange dauern kann es bestimmt auch nicht mehr - sie platzt ja förmlich schon aus allen Nähten. Den riesigen Hund, gegen den sie geradezu winzig anmutet, hat Zora nämlich, kaum dass er auch nur in Sichtweite gewesen war, ohne Umschweife sofort adoptiert und betrachtet ihn nunmehr als ihr Pflegekind, das es in einem fort abzuschlecken und zu waschen, zu wärmen, mit Futter zu versorgen und gehörig zu hätscheln gilt.

Den ganzen Tag über betüddelt sie den ausgemusterten Kampfhund, als gelte es einen Mutter-des-Jahres-Wettbewerb zu gewinnen, und Reykir lässt es sich gutmütig gefallen. Wenn ihm ihre übertriebene Fürsorglichkeit dann doch einmal zu bunt wird, kehrt er ihr den Rücken zu und trollt sich irgendwohin, wo die Geiß ihn so schnell nicht erreichen kann (was meistens in den Windschatten Colevars ist, der die selbsternannte Hundemama dann ausschimpfen und verscheuchen muss), aber er wird nie böse oder aggressiv, weder zu Zora, noch zu den Pferden, und schon gar nicht zu seinem neuen Herrchen oder ihr. An Colevar scheint der große Hund ohnehin einen Narren gefressen zu haben und weicht kaum von seiner Seite. Morian war angesichts dieses riesigen Ungetüms zuerst ein wenig mulmig gewesen, aber sie hat schnell einsehen müssen, dass er trotz seiner unschönen Vergangenheit als reißerischer Grubenkämpfer ein freundlicher und angenehmer Gefährte ist. Selbst jetzt, als sie an der Anlegestelle der Fähre warten müssen, die Pferde schon ungeduldig mit den Hufen scharren und Zora mit ihren Gemecker einem auch noch den letzten Nerv tötet, liegt er ruhig und völlig gelassen neben seinem Herrn und harrt der Dinge, die da kommen. Im Gegensatz zu ihm hampelt Colevar herum, als hätte er eine Ladung Kröten im Hemd. Auf Morians fragend hochgezogene Augenbraue hin gesteht er: >Ich hasse Schiffe. Mir grrraut vor Schiffen.< Sie tätschelt ihm aufmunternd den Rücken und schiebt ihn gleichzeitig ein Stückchen in Richtung der Fähre voran. "Dann hast du aber echt verdammtes Glück, dass wir nur mit dieser Nussschale hier über den Rhaín setzen. Schiffe seh' ich hier weit und breit nicht. Komm, vorwärts jetzt!"

Von den Bewohnern der stürmischen Silbermeerküsten sagt man, sie hätten mehr Salzwasser als Blut in ihren Adern, und auch Morian ist eine waschechte Tochter der See, ein Kind von Wasser, Wind und Sturm, geboren und aufgewachsen an der Grimmstaed, der Grimmerküste im Norden der Rhaínlande - in ihren Augen beginnt so etwas wie ein Schiff ungefähr in der Größenordnung einer ordentlichen Handelskogge oder einer Galeone. "Wir werden ja nur den Fluss überqueren", versucht sie Colevar zu beruhigen. "Bevor du dich auch nur umschaust, sind wir schon am anderen Ufer. Es dauert nicht lange, höchstens eine halbe Stunde." Für den leicht grünstichigen Colevar scheint das allerdings schon zu viel zu sein, und die Aussicht, eine halbe Stunde auf dieser windigen und nicht gerade vertrauenerweckenden Zumutung von Fähre verbringen zu müssen, kann ihn wohl nicht gerade aufheitern. Während er mit dem Fährmann (den er natürlich schon von früher kennt) um den Preis für die Überfahrt feilscht, führt Morian einstweilen die Pferde auf das Deck. Der flache Kahn ist so breit, dass links und rechts neben dem Holzverschlag in der Mitte bequem noch jeweils ein großes Fuhrwerk Platz hat, doch an diesem Morgen ist nicht viel Betrieb und sie kann sich den Platz aussuchen. Neben den beiden Heckenrittern, die direkt vor ihr über die Holzbohlen auf das Boot schwanken, sind nur noch ein Bauer mit einem vollbeladenen Ochsenkarren, einige Kaufleute in vornehmer Kleidung und eine Handvoll Reisende mit ihren Reittieren an Bord, die wie sie nach Penllyn und somit in die Herzlande übersetzen wollen. Der Fährmann wartet noch ein Weilchen auf weitere Passagiere, doch als niemand mehr kommt, klappt er die zum Einsteigen heruntergelassene rückwärtige Bordwand hoch und löst die Taue, während die Rudermannschaft sich auf ihren Bänken niederlässt. Auch Colevar bleibt bis zum allerletzten Augenblick draußen an Land, wo er festen Boden unter den Füßen hat, doch irgendwann muss er dann doch einsteigen, wenn er dem Kahn nicht hinterherschwimmen will.

Während Morian auf der knapp halbstündigen Überfahrt mit ein paar Brotresten die Möwen füttert, die das Boot kreischend umflattern, füttert Colevar, grüngesichtig über der Reling hängend, die Fische (die anschließend vermutlich alle völlig überfressen an Völlerei verenden werden), Hühnchen sieht so elend aus, als wolle er es ihm augenblicklich gleichtun, Filidh bandelt unter lautstarkem Trompeten und mit wildem Sich-in-die-Brust-werfen mit der rossigen Stute eines Mitreisenden an, woraufhin Snerra ihm beleidigt das fette Hinterteil zukehrt, und Zora beknabbert, gemütlich in ihrer Reisesänfte aus Weidenzweigen thronend, unauffällig die lederne (und bestimmt sehr schmackhafte) Hutkrempe eines Heckenritters, die sich in optimaler Zubeißhöhe befindet. Als sie schließlich die herzländische Seite des Rhaíns erreichen, muss Morian einen Fryslâner, der sich offenbar für den geborenen Herzensbrecher hält, von seiner Angebeteten trennen, eine beleidigte Snerra entschmollen, einen angefressenen Hut bezahlen und einen Colevar hinter sich her an Land zerren, der inzwischen aussieht wie ein ausgewrungener Spüllappen und mit Sicherheit absolut gar nichts mehr im Magen haben kann. Bis zum frühen Abend wandern sie dann, in Gesellschaft der Heckenritter, weiter Richtung Süden. Die beiden alten Haudegen sind zwei spaßige Gesellen und scheinen sich schon so lange zu kennen, dass sie miteinander keifen wie ein altes Ehepaar, aber sie sind freundlich und haben allerhand zu erzählen, so dass ihnen die Wegstrecke kein bisschen langweilig wird. Abends schlagen sie alle zusammen ihr Lager ein wenig abseits des Weges auf, und nachdem die Tiere versorgt und Feuerholz gesammelt ist, versucht Morian gemeinsam mit einem der Ritter, dem kleinen, haarigen, der sich Mallifer Mittellos nennt, für ein angemessenes Abendessen zu sorgen, um nicht gleich die eben erst gekauften Vorräte angreifen zu müssen. Mallifer hat eine Armbrust bei sich, die so altersschwach aussieht, als hätte Cobrin der Priester, die Götter haben ihn selig, mit ihr schon Hasen geschossen. Aber sie ist ziemlich wirkungsvoll, und er kann mit ihr umgehen, und als sie zurück zum Lager kommen, hat er damit zwei fette Wildenten und einen Waldrapp erbeutet, während Morian mit einem (leider nicht ganz so fetten) Kaninchen und einem Dutzend Wachteleier, die sie im Gras aufgesammelt hat, aufwarten kann, so dass sie beinahe so etwas wie ein fürstliches Mahl auftischen können.

Den beiden Rittern begegnen sie während der nächsten Tage immer wieder, obwohl sie den Frostweg ja eigentlich getrennt bereisen. Dennoch laufen sie sich ständig wieder über den Weg und halten die eine oder andere Rast zusammen, so dass sie sich gegenseitig schon fast ans Herz gewachsen sind und es jedes Mal ein großes Hallo und ziemliches Gelächter gibt, wenn sie wieder einmal aufeinandertreffen. Mallifer hat obendrein eine verschämte Zuneigung zu Zora entwickelt, so dass er ihr schließlich großmütig sogar seinen (sowieso schon fast zur Hälfte aufgefressenen) Hut überlässt. Nach gut sechs Tagen, sie haben Emlyn, ihr nächstes Ziel, schon fast erreicht, sind sie gerade wieder einmal mit den beiden Heckenrittern auf dem Frostweg unterwegs, als ihnen nach einer Wegbiegung auf einmal völlig unvermittelt ein schreiender, wild mit den Händen herumfuchtelnder Mann förmlich in die Arme rennt. Er scheint zu Tode verängstigt - zumindest schließt Morian das aus seinem Gesichtsausdruck, den furchtsamen Blicken und dem heftigen Zittern, als er sie erreicht. Verstehen tut sie nicht ein Wort von dem, was er händeringend und übersprudelnd wie ein Wasserfall von sich gibt, denn er kauderwelscht in einer ihr völlig fremden Sprache, die sie bestimmt noch nie im Leben gehört hat. Herzländisch kann es aber auch nicht sein, da Colevar mindestens genauso belämmert aus der Wäsche guckt wie sie selbst - auch er scheint kein Wort von dem zu verstehen, was der Mann da von sich gibt. Obendrein sieht er ziemlich abenteuerlich aus: die Haut ist schwarz wie Ebenholz, das Haar kurz geschoren, und seine große, schlanke Gestalt ist in bunte Tücher gehüllt. Es ist nicht zu übersehen, dass er ihnen etwas sagen will, und er überschüttet sie mit einem ganzen Schwall fremdklingender Worte, doch er wagt sich angesichts der drei bewaffneten Männer und des großen Hundes nicht näher als auf fünf Schritt heran.

Colevar macht einen Schritt auf ihn zu, doch sofort hebt der Fremde hie Hände in einer abwehrenden Geste und deutet hektisch hinter sich irgendwo in das unendliche Grün des Waldes, in dem sich der gepflasterte Weg verliert. Er schreit etwas, das wie "Effah - Effah" klingt, und deutet immer wieder hinter sich, wobei er den Kopf schüttelt, so als ob er sie warnen wolle, nicht in diese Richtung zu gehen. Effah? Häh? Morian versucht zu ergründen, was der Mann will - wie ein kohleschwarzer Fremder in einem bunten Fummel mitten ins dunkelste Larisgrün kommt, das will sie lieber erst gar nicht wissen. "Effah? Gefahr? Meint Ihr vielleicht Gefahr?" versucht sie ihr Glück. Der Fremde legt den Kopf schief, als lausche er ihren Worten, dann weiten sich seine Augen und er nickt wild. "Geffah!", wiederholt er. "Geffah!" Und dann stößt er ein so wildes Brüllen aus, dass sie vor Schreck zusammenzuckt und einen halben Schritt nach hinten macht, nur sicherheitshalber natürlich. Der Fremde wiederholt immer wieder die Worte und das Brüllen, er gestikuliert mit den Händen und führt eine Art Pantomime auf, bis sie anfangen zu begreifen: offenbar will er ihnen mitteilen, dass sich irgendwo hinter ihm auf dem Weg ein wildes Tier befindet, vor dem er sich ängstigt, ein Tier, das Gefahr - Effah! - bedeutet. Plötzlich ändert sich sein Gesichtsausdruck und sein Blick huscht zu den Waffen, die Colevar und die beiden Heckenritter bei sich tragen. Ein Anflug von Hoffnung schleicht sich in seine Augen, als er die Hände zu einer flehenden Geste aneinander legt und dann das offenbar einzige Wort sagt, das er in der Allgemeinsprache kennt: "Hilfe!"

Vielleicht ist es eine Falle, warnt irgendetwas in Morians Hinterkopf, aber sie wischt den Einwand gleich wieder beiseite. Der Mann sieht wirklich verängstigt aus und scheint dringend Hilfe zu benötigen, vor was auch immer. Er macht einen Schritt in die Richtung, aus der er auf sie zugerannt ist, und vollführt eine Geste, dass sie ihm folgen sollen, die so verzweifelt und flehend ist, dass sie gar nicht anders können, als genau das zu tun. Vielleicht zweihundert Schritt den Weg entlang stoßen sie dann mitten im Larisgrün auf eine kleine Gruppe Reisender, die an diesem Ort so seltsam anmuten wie ein Schwarm Pararuas in einer Meute Spatzen: zwei Zugpferde stehen angeschirrt vor einem Wagen mit einer breiten Ladefläche, auf der ein riesiger Käfig aus geschmiedeten Eisenstangen steht. Er ist leer und die Tür steht sperrangelweit offen. Rundherum um dieses Gefährt tummeln sich allerlei merkwürdige Gestalten, einige so schwarz wie der Fremde, dem sie nun schon begegnet sind, einige goldhäutig und sonnenverbrannt, manche in schreiend bunte Gewänder gekleidet, andere in Flachs und Leder - und alle jammern und reden und debattieren durcheinander. Ein hochgewachsener, muskulöser Mann sticht allein schon durch seine Größe aus der Menge heraus, zudem trägt er einen langen Stock und eine gefährlich aussehende Peitsche bei sich, die zusammengerollt an seinem breiten, bronzebeschlagenen Gürtel baumelt. Ein anderer, ein unglaublich fetter, kleiner Wicht, gekleidet wie ein azurianischer Kaufmann oder Karawanenführer, bricht beim Anblick der buntzusammengewürfelten Truppe, die auf ihn zukommt, sofort in lautes Wehgeschrei aus und schwabbelt aufgeregt und mit wallenden Gewändern (und wallenden Doppelkinnen) auf sie zu - und er spricht offenbar die Allgemeinsprache, denn Morian kann verstehen, was er ruft: "Oh, Reisende, seid gewarnt! Bleibt stehen, wenn Euch Euer Leben lieb ist. Geht nicht weiter! Der mächtige Jafta ist ausgebrochen!"

Der - wer? Der kleine Fette ergeht sich in fürchterlichem Gejammer und ist so aufgelöst, dass minutenlang kein vernünftiges Wort aus ihm herauszubringen ist. Colevar sieht aus, als würde er ihn am liebsten so lange schütteln, bis die Worte einzeln (und vor allem schleunigst!) aus ihm herauspurzeln, kann sich dann aber doch beherrschen. Und schließlich hat sich der Mann, der sich als Hafar al Batin vorstellt, soweit beruhigt, dass er ihnen die Situation erklären kann. Offenbar handelt es sich bei ihm tatsächlich um einen Händler aus dem fernen Azurien, der mit dieser kleinen Karawane und einigen Leibwächtern nach Immerfrost unterwegs ist, um dem Herrn des Hauses Heinonen in Silkkikaupunki ein Geschenk eines azurianischen Fürsten zu überbringen, der sich für einen offenbar zu seiner vollsten Zufriedenheit verlaufenen Handel erkenntlich zeigen will. Keiner dieser Namen sagt Morian auch nur irgendetwas, aber al Batin erklärt ihnen, dass das Haus Heinonen das Handelshaus für die vor allem im Süden heißbegehrte Immerfroster Spinnenseide ist, und der Fürst das Entgegenkommen des Kaufmanns mit diesem Geschenk belohnen will. Besagtes Geschenk heißt Jafta und ist ein ausgewachsenes Sagoralöwenmännchen, wie der Azurianer ihnen voller Stolz berichtet. Was zum Henker ist ein Sagoralöwe? "Jafta ist bester, schönster, prachtvollster Sagoraslan, wundervoll, majestätisch, eines wahren Königs würdig. Sehr stark! Sehr gefährlich! Solche Zähne!" Al Batin zeigt mit beiden Händen eine Spanne an, die ungefähr der eines mittelgroßen Breitschwerts entspricht. "Nur leider Jafta ist entkommen. Bei Häufchen wegmachen Khadar hat Käfig offengelassen, dann großer, mächtiger Jafta hat gebissen ihn in Hand und dann ist verschwunden in diese ... diese ... unheimliche Urwald." Er macht eine weitschweifige Geste, die offenbar das ganze Larisgrün umfassen soll, dann weist er nach hinten zum Wagen, in dessen Schatten ein dunkelhäutiger junger Mann sitzt und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht einen bunten Fetzen Stoff auf eine wohl ziemlich stark blutende Wunde drückt. "Khadar großer Esel, nun haben wir Salat und Jafta frei in Wald." Er wirft einen spekulativen Blick auf Colevars Waffen, dann nimmt sein Gesicht einen fast demütigen Ausdruck an. "Ihr großer Krieger, Ihr habt Ahnung von Löwe? Können wieder einfangen?"


Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 11. Aug. 2011, 15:50 Uhr
Colevar traut weder seinen Augen, noch seinen Ohren und schon gar nicht dem dunkelhäutigen Fremden, der sie den Waldweg entlang lotst und dabei unaufhörlich etwas von "Geffah" und "Hilfe" jammert - und obendrein pausenlos und ohne dabei auch nur einmal Luft zu holen sämtliche Götter und ihre Archonen anruft, sie mögen ihm und den Seinen doch um Himmels Willen beistehen. Reykirs Nackenfell sträubt sich bedenklich, er hält sich dicht vor den Pferden, lässt ihren panischen Führer nicht aus den gelben Augen und trägt dabei ein leises, aber anhaltendes Grollen in seiner Kehle spazieren, das Colevar mehr beunruhigt, als alles andere. Er hat keine Ahnung, was den Hund so in Aufruhr versetzt, aber er scheint irgendeinen Geruch zu wittern, der ihm überhaupt nicht gefallen will. Als sie dann ins Lager der kleinen azurianischen Reisegesellschaft kommen, sticht auch Colevar beißender Moschusgeruch in die Nase. Es ist ein bekannter Geruch, der aufdringlich in der warmen Sommerluft liegt und am penetrantesten von dem Käfig auf dem Wagen ausgeht, den Colevar hier in den nördlichen Herzlanden jedoch niemals erwartet hätte. Im allgemeinen Aufruhr, der unter den Südländern herrscht, dauert es eine ganze Weile, bis ihr Anführer, Hafar al Batin, ein kleiner, ziemlich umfangreicher Mann, sich soweit wieder gefasst hat, dass er halbwegs verständliche Sätze von sich geben kann, aber nach und nach erfahren sie, was geschehen ist: Jafta, das vierbeinige Geschenk für einen immerfroster Seidenhändler mit einem unaussprechlichen Namen ist seinen zweibeinigen Überbringern entkommen und anscheinend auf Nimmerwiedersehen im Larisgrün verschwunden. Jafta? Wenn ich ein Löwe wäre und einen solchen Namen tragen müsste, würde ich auch das Weite suchen! Colevar will dem azurianischen Händler gerade raten, sich an den hiesigen Lord zu wenden, der den Löwen vielleicht mit Treibern und Hunden nachspüren könnte und noch Hilfe mit dem Verwundeten – Khadar - anbieten, als der Händler plötzlich verstummt und ihn von Kopf bis Fuß eingehend mustert. Dann bekommt Hafar al Batins Blick etwas so hoffnungsvoll-spekulatives, dass alle seine drei Doppelkinne erwartungsvoll zittern. >Ihr großer Krieger, Ihr habt Ahnung von Löwe? Können wieder einfangen?<
Colevar verschluckt sich fast an dem Mund voll Wasser, den er gerade aus seinem Trinkschlauch genommen hat und hofft inständig, sich verhört zu haben. "Was?!"

>Ihr groß und stark. Ihr Krieger. Ihr haben Waffen. Ihr fangen Löwe?<
Er muss den dicken Azurianer derart entgeistert anstarren, dass Hafar al Batin hastig einen Schritt zurück macht und seine Doppelkinne dabei völlig die Fassung verlieren. "Ja, ich bin groß", erwidert er dann, ganz erschöpfte Geduld, "ja, ich bin ein Krieger. Ja, ich habe Waffen. Und ja, ich habe in meinem Leben ganz bestimmt schon die eine oder andere Dummheit begangen." Dich in eine Frau zu verlieben, zum Beispiel. Ihr zu glauben, zum Beispiel. Wie ein Irrer auf diesem blöden Weg herumzureisen und dich ständig in die Schwierigkeiten anderer hineinziehen zu lassen, zum Beispiel. Er schüttelt entschieden den Kopf. "Aber ich bin nicht vollkommen bescheuert." Er hat noch nicht einmal ausgeredet, als Sire Mallifer der Mittellose sich mit einem missbilligenden Schnalzen aus dem Sattel schwingt. Der in die Jahre gekommene Heckenritter wirft sich in die Brust und versichert dem händeringenden al Batin dann wortreich, er und sein Gefährte Osred Ohneland, sie seien wahre Ritter, und würden ihm – Hafar al Batin – beistehen und den schrecklichen Jafta zur Strecke bringen, koste es was es wolle, tot oder lebendig. Colevar ist sich ziemlich sicher, dass weder Mallifer der Mittellose noch Osred Ohneland je einen Sagoralöwen gejagt, geschweige denn in ihrem Leben schon einmal einen zu Gesicht bekommen haben, doch er kommt überhaupt nicht dazu, dem Heckenritter zu sagen, dass er sich gerade höchstwahrscheinlich ins Grab redet, denn Osred Ohneland ist auch nicht klüger und springt seinem Weggefährten sofort bei. Allerdings scheint er so praktisch veranlagt zu sein, wie er landlos ist, denn er fügt hinzu: "Falls Ihr Geld habt, uns für diese Jagd zu bezahlen." Hafar al Batin sieht ebenso wie jeder andere, der Augen im Kopf hat, dass die beiden Heckenritter ihre besten Zeiten längst hinter sich haben: Mallifer der Mittellose nennt einen Bauch sein Eigen, der die Bänder seines gesprenkelten Lederwamses spannt und dazu eine Armbrust, die schätzungsweise aus dem Zeitalter der Drachen stammt und ausschlägt wie ein Maultier, wenn man sie abschießt. Seine Ausrüstung ist älter als er - und er ist mindestens sechzig. Osred Ohneland ist ein wenig jünger, wenn auch nicht viel, doch er ist dürr wie ein Besenstiel, sein Kettenpanzer ist mit Rostflecken überzogen wie ein alter Blecheimer und seine übrige Ausrüstung besteht aus einem zerfurchten Schild und einem Streithammer, dessen Schlagkopf schon so lose auf dem Schaft sitzt, dass er ihn mit Harz geklebt und mit ein paar Lederbändern festgewickelt hat. Außerdem ist er so kurzsichtig wie ein Maulwurf. Trotzdem nickt der Azurianer heftig und Colevar hätte am liebsten alle drei gehörig durchgeschüttelt für so viel himmelsschreiende Dummheit.

"Holt die Sterne vom Himmel und stehlt Relis die Hengste des Himmelsfeuers, damit habt Ihr mehr Glück", murmelt er leise, dann fährt er lauter fort: "Ihr habt noch nie einen Löwen gesehen. Eine Löwenjagd ist nicht so einfach, wie ihr euch das vorstellt. Wir haben keinen Späher, keine Fährtensucher, keine Netze, keine Treiber, keine Saupacker oder Bärenhetzer, wir haben überhaupt nur einen Hund." Die Erwähnung von Netzen, Treibern und Hunden lässt die beiden Heckenritter dann doch ein wenig zusammenzucken und ihnen scheint endlich klar zu werden, dass es sich bei "Jafta, dem besten, schönsten, prachtvollsten Sagoraslan" möglicherweise doch um ein Tier handelt, dass etwas größer und unter Umständen auch ein kleines Bisschen gefährlicher ist als ein Wildschwein. Die beiden Heckenritter tauschen jedoch nur einen kurzen Blick. "Oh, das wird eine gewaltige Jagd, daran zweifle ich nicht", verkündet Mallifer der Mittellose dann mannhaft und Osred pflichtet seinem Weggefährten tapfer bei: "Zur Not werden wir diesem Jaftalöwen einen Blick auf unseren Stahl gewähren!"
"Tut das, Sires. Sobald der Löwe die Armbrust und den Streitkolben sieht, wird er sich sofort ergeben."  
Hafar al Batin sieht seine Felle davonschwimmen und bricht prompt in ein so jammervolles Wehgeschrei aus, dass sich selbst Zoras verhungertster Bettelblick und ihr steinerweichendstes Gemecker dagegen ausnehmen wie heiteres Frohlocken. "Jafta dem Machtvollen dürfen kein Haar gekrümmt werden!" Kreischt er los und hebt flehend die fetten Wurstfinger. "Er seien Geschenk, Geschenk von mächtige Wüstenfürst für mächtige Seidenfürst! Jafta müssen heil ankommen in Land wo immer kalt, sonst Fürst wird mich umbringen! Fürst mich rösten auf Spieß über Feuer! Wird mein armes Haupt auf die Zinnen von Stadtmauer hängen! Oh! Oh!" Hafar al Batin wirft die dicken Arme gen Himmel und wischt sich dann verzweifelt mit einem blauen Seidentüchlein über die verschwitzte Stirn, während die Doppelkinne zittern wie Schweinssülze. "Oh Unheil, oh weh!" Der kleine Azurianer ist so außer sich, dass er mit wallenden Gewändern und wallender Leibesfülle vor ihnen herumzappelt als hätte er eine Ladung Kröten unter der bestickten Djelabiah und den weiten Shiroual.

"Fürst ist groß, aber grausam mit Strafen! Einfallsreich! Meine armen Weiber, meine armen Kinder, zwölf an der Zahl! Wer wird für sie sorgen, wenn ich muss sterben? Leben ist verwirkt, wenn ich nicht wiederbeschaffe mächtigen Jafta! Fürst wird mir Bambussprossen unter die Fingernägel treiben, mich in Fischöl backen, den Blutechsen zum Fraß vorwerfen, meine Männlichkeit abschneiden, meine Ohren, meine Nase! Wird mich enthaupten, vierteilen, hängen, schinden, wird mich..."
Morian, Mallifer, Osred und er selbst lauschen diesem schwallartigen Klagegeheul fasziniert und ungläubig zugleich, die übrigen Südländer drängen sich zusammen wie eine Herde verängstigter Schafe und stieren misstrauisch in das ihnen unbekannte, grüne Dickicht um sie her, und Reykir, immer noch grollend und mit gesträubtem Fell, inspiziert währenddessen den Wagen mit dem leeren Käfig, hebt dann das Bein und pinkelt demonstrativ gegen ein Rad. "Keine Sorge!" Unterbricht Osred Ohneland schließlich Hafars Greinen und sein Wehgeschrei. "Wir werden Euch nicht im Stich lassen, edler Fremder aus südlichen Landen. Wir bestehen darauf. Wahre Ritter müssen stets die Hilflosen beschützen." Colevar würde die beiden wahren Ritter am liebsten erwürgen, aber er kann diese zwei Helden auch nicht einfach blind in ihr Unglück rennen lassen. Heckenritter, alt und eitel, fett und kurzsichtig. Aber trotz allem anständige Männer. Abgesehen davon (und obwohl er Hafar al Batin nicht die Hälfte seines Gejammers glaubt), brauchen die Azurianer wirklich Hilfe. "Ich muss völlig irre sein, mich darauf einzulassen", murmelt er schließlich, was ihm einen fragenden Blick von Morian einbringt. Colevar schüttelt sacht den Kopf und formt ein lautloses "später" mit den Lippen, dann ruft er Reykir an seine Seite zurück, der das schlotternde Azurianergrüppchen weiter hinten mittlerweile wachsam umkreist und dabei halblaute, knurrende Hundeflüche von sich gibt. "Lasst uns zuerst nach dem Verwundeten sehen, aye?" Wirft er ein und legt dem Hund eine Hand zwischen die pelzigen Ohren – oder zwischen das eine, pelzige Ohr und den ausgefransten Rest des anderen – um ihn zum Schweigen zu bringen. "Sei still, ci." Colevar nennt wirklich keine schmalen Gelehrtenfinger sein eigen, aber Reykirs Kopf ist so breit, dass seine Hand bequem darauf ruhen kann, ohne dem Hund dabei auch nur ansatzweise die Ohren platt zu drücken.

Hafar al Batin ist so erleichtert, dass er sich pausenlos in alle Richtungen verbeugt, Shenrahs Segen auf sie herabfleht und die langen Ärmel seiner Djelabiah dauernd den Waldboden fegen. Dann bellt er einige Befehle im alten Hôtha, schreit nach Wasser, Verbandslinnen, Heilkräutern und einem Lagerfeuer, nach den Zelten, dem Wein und nach Essen. Seine Leute spritzen davon, um alle Anweisungen ihres Herren auszuführen, während al Batin selbst sie zu dem verwundeten jungen 'Häufchenentferner' bringt. Auf dem Weg zum Wagen hält Morian sich dicht bei Colevar. "Was... was ist denn ein Sagoralöwe?" Will sie leise wissen und mustert kopfschüttelnd die aufgescheuchten Südländer. "Ich meine... ich weiß natürlich was ein Löwe ist. Ich hab schon mal ein Bild von einem gesehen, in einem Buch. Aber die tun ja alle gerade so, als wäre das ein Môrgrimm, dabei ist es doch nur eine Katze oder nicht?"
Colevar gibt ein Geräusch von sich, das halb Schnauben und halb Lachen ist. "Ein Löwe ist eine Katze. Eine ziemlich große Katze, Morian. Ich glaube, ein Sagoralöwe ist ein bisschen größer als ein Môrgrimm."
Mallifer der Mittellose und Osred Ohneland sind nicht nur Ausbunde aufrechter Rittertugenden, sondern, wie sich herausstellt, auch noch wahre Meister der Heilkunde und Wundversorgung, so dass Morian und er selbst eigentlich nur ein Auge darauf haben müssen, dass die beiden den armen Khadar in ihrem Eifer nicht mit Dörrpflaumen (der beste Schutz gegen Werwölfe und das Allheilmittel schlechthin, besonders wirksam gegen stark blutende Löwenbisse!) umbringen. Colevar ist zwar der Meinung, der feste, saubere Verband, den Morian dem jungen Azurianer neben dem Fuhrwerk anlegt und die Ablenkung durch die Kapriolen der kleinen Bucca (die ihn spekulativ mustert, als wäre er möglicherweise einen Einsatz ihrer mütterlichen Instinkte wert) helfen dem Jungen besser als alles andere, aber er wird sich hüten, auch nur ein Sterbenswort darüber zu verlieren. Khadar kann höchstens zwanzig sein und hat ein paar wirklich böse Wunden, aber aus nächster Nähe mit Morians hellen Augen und ihren Sommersprossen konfrontiert, vergisst er Schmerzen und Blutverlust erstaunlich rasch.

Im allgemeinen Durcheinander hatte sie völlig vergessen, den Knappen zu spielen, so dass sie nun wie die junge Frau wahrgenommen und behandelt wird, die sie nun einmal ist. Den beiden alten Heckenrittern gegenüber hatte sie ihre Scharade ohnehin schon nach dem dritten rein zufälligen Treffen auf dem Weg aufgegeben. Inzwischen dürfte es ihr auch allmählich schwer fallen, den mageren Burschen so überzeugend wie früher zu mimen, da das gute Essen der letzten Wochen sich langsam bezahlt macht. Ihre Hüften sind zwar nach wie vor eher schmal, ihre ganze Gestalt mehr schlank, sehnig und elegant, als weich und fraulich, aber da gibt es neuerdings ein Paar Rundungen, die das Brustband längst nicht mehr so gut kaschiert, wie noch vor ein paar Wochen, ganz egal, wie fest sie sich damit die Luft abschnürt. Und hübsch war sie schließlich schon immer, was auch Khadar sofort auffällt. Ob es der Blutverlust ist, der ihm die Sinne verwirrt, oder Morians Nähe, er überschüttet sie prompt mit ebenso blumigen, wie glühend gehauchten Komplimenten – alle in Hôtha natürlich, denn Khadar spricht kein Wort Allgemeinsprache (und hat keine Ahnung, dass Colevar ihn im Gegensatz zu seiner Angebeteten recht gut versteht). Morian allerdings blickt nur verständnislos drein, während sie den Arm ihres azurianischen Süßholzrasplers reinigt und verbindet, versucht sich hin und wieder an einem unsicheren Lächeln, was Khadar zu wahren Sinfonien über ihre Schönheit (und was er mit dieser alles anzustellen gedenkt) anspornt und bemüht sich, ihrem Patienten dabei klar zu machen, dass sie leider (oder den Göttern sei Dank) keine Ahnung hat, wovon er da die ganze Zeit redet. Colevar lehnt am Wagen über den beiden und verbirgt ein wölfisches Grinsen. Als Khadar hingerissen bei "Rose der Nordlande mit dem sanftem Mund" (er kennt Morian eindeutig kein bisschen), "zarte Blume der Wälder, gesprenkelt mit den Tupfen der Sonne und Händen so sanft wie Feenflügel" (kratzbürstige Rhaíndistel, gesprenkelt wie ein Kuckucksei träfe es wohl eher), sowie "Maid der Andernwelt mit Brüsten rund und fest wie Honigpfirsiche" angelangt ist, beschließt er dann doch regulierend einzugreifen. Er räuspert sich vernehmlich und Khadar unter ihm am Boden fährt zusammen, als habe er seine Anwesenheit zwischenzeitlich vollkommen vergessen. "As-salâmu 'alaikum", verkündet Colevar zwar durchaus freundlich, aber auch im warnenden Unterton eines großen Bruders, der den Nachbarslümmel gerade beim Spionieren vor dem Schlafgemach der kleinen Schwester erwischt. Friede sei mit Euch.
"Wa... wa-'alaikum as-salâmu," stottert Khadar nach einer Schrecksekunde zurück und seine Wangen färben sich purpurn, denn wirklich rot kann er mit seiner dunklen Haut gar nicht werden.
"Ich war jahrelang in den Räuberkriegen in Azurien", erklärt Colevar der nicht wenig entgeistert dreinschauenden Morian. "Daher verstehe ich ihre Sprache ein bisschen. Und jetzt komm schon, du 'blühende Rose der Nordlande mit deiner Haut wie Milch und Blut und deinen Smaragdjadeaugen'..." seine Mundwinkel zucken, eindeutig im Bemühen, nicht in ein haarsträubendes Grinsen auszubrechen. "Könntest du seinen Arm fertig verbinden, bevor er anfängt, mir Kamele für dich anzubieten? Oder ihm noch andere Körperteile einfallen, die er noch nicht gepriesen hat?"  



Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 12. Aug. 2011, 15:24 Uhr
Die Situation hier im tiefsten Larisgrün, fernab jeglicher Zivilisation, hat inzwischen derart absurde Züge angenommen, dass Morian ständig zwischen Kopfschütteln, Augenrollen und verhaltenem Prusten hin und her gerissen ist und sich insgeheim köstlich amüsiert, vor allem über das Gejammers al Batins und erst recht über die beiden Heckenritter, die sich in die Brust werfen, als seien sie die Archonen des Kriegergottes Bran höchstpersönlich. Jedesmal, wenn sie von wahren Rittern sprechen - und das tun sie andauernd - werfen sie Colevar vorwurfsvolle Seitenblicke zu, weil der sich einfach weigert, mit ihnen zusammen kopflos in den Wald zu stürzen und dort bei dem Versuch, einen wilden Wasauchimmer einzufangen, den Heldentod zu sterben. Angesichts des völlig unangebrachten Edelmuts dieser zwei verbeulten Einfaltspinsel sieht er inzwischen so genervt aus, dass Morian schon förmlich darauf wartet, dass er etwas gänzlich Unüberlegtes tut, wie etwa den Hund auf sie zu hetzen, sie zu Brei zu kloppen oder sie ohne weitere Umschweife in den stinkenden Käfig zu sperren. Stattdessen schnaubt er nur unwirsch, pfeift Reykir heran und wendet sich erst einmal den naheliegenden Dingen zu, nämlich der Versorgung des verwundeten Azurianers. Morian stapft mit den Pferden am Zügel eifrig neben Colevar her, während der zum Wagen geht, bei dem der Patient gelagert wird, und bombardiert ihn mit Fragen nach diesem Löwen. Sie kann überhaupt nicht verstehen, was für ein Gewese diese spinnerten Südländer um eine entlaufene Wüstenkatze machen, und sei sie noch so groß. Colevar behauptet ja sogar allen Ernstes, so ein Vieh sei noch größer als ein Môrgrimm.

"Nie im Leben!", widerspricht sie naserümpfend. "Eine Katze kann niemals gefährlicher oder größer als ein Môrgrimm sein, das gibt's ja gar nicht. Ich glaub', du übertreibst ein bisschen, was?" Colevar sagt dazu gar nichts und wirft ihr nur von oben herab - also aus der lichten Höhe von gut zwei Schritt - einen süffisanten Wart's-nur-ab-Blick zu, aber sie glaubt ihm natürlich trotzdem nicht. Größer als ein Môrgrimm - der spinnt ja. Ein Drache ist vielleicht größer, oder vielleicht auch eine Chimeira, aber das war's dann auch schon. Selbstverständlich hat sie noch nie einen leibhaftigen Môrgrimm gesehen, und wenn, hätte sie das kaum überlebt - aber jedes Kind entlang der Silbermeerküsten kennt Geschichten über diese garstigen Kreaturen, die das Druckmittel verzweifelter Eltern gegen ihren renitenten Nachwuchs sind. Die mit tiefer, unheilschwerer Stimme hervorgebrachte Drohung "Warte nur, bis der Môrgrimm kommt", hat bislang noch jedes widerspenstige Gör bei hereinbrechender Dunkelheit nach drinnen in die schützende Sicherheit des Hauses gelotst. Und nun soll es etwas geben, das selbst dieses Biest noch in den Schatten stellt? Nie und nimmer. Außerdem kann Colevar das gar nicht wissen, denn der hat bestimmt auch noch keinen Môrgrimm gesehen. Ich glaub', dieses 'Uh, mein Ungeheuer ist aber größer als deins', das ist einfach so ein Männer-Dings und man sollte nicht die Hälfte von dem glauben, was sie einem weismachen wollen.

Auch Khadar, der junge Azurianer, neben dem sie sich dann auf dem staubigen Boden niederlässt, um ihn zu verarzten und seine verletzte Hand zu verbinden, scheint da keine Ausnahme zu sein, denn kaum dass er ihrer ansichtig wird, fängt er an zu reden und hört nicht wieder auf. Er stiert sie aus dunklen, seelenvollen Augen an und plappert in der für Morians Ohren exotisch und absolut fremd klingenden Sprache der Südländer auf sie ein, untermalt seine glutvolle Ansprache mit ausholenden Gesten, schnurrt und zirpt und knurrt und hebt leidenschaftlich die Stimme, um sie gleich darauf wieder dramatisch zu senken. Er hat eine sehr schöne Stimme, rauchig und tief, aber die gutturale, von Krächzlauten durchsetzte südländische Sprache klingt für sie trotzdem ein bisschen wie Halsweh. Hihi, der ist ja niedlich. Bestimmt schildert er mir gerade in glühenden Farben seine Abenteuer mit dieser komischen Katze - nur leider versteh' ich kein Wort von dem, was er da sagt. Aber sie lauscht fasziniert der fremdländischen Zunge, während sie seine Hand mit sauberen Leinenstreifen umwickelt, nickt ab und zu und versucht ein aufmunterndes, kleines Lächeln, um den sichtlich aufgeregten jungen Mann ein wenig zu beruhigen. Du meine Güte, das Kerlchen redet sich ja richtig in Fahrt! Auf einmal ertönt über ihr ein vernehmliches Räuspern und Colevar fängt an, unverständliche Worte vor sich hin zu brabbeln, von denen sie nur etwas von "Salami" und "Basilikum" versteht.

Zu ihrer allergrößten Überraschung scheint Khadar im Gegensatz zu ihr jedoch tatsächlich zu erfassen, was Colevar da von sich gibt, denn er antwortet ihm mit einem hastig gestotterten azurianischen Rachenputzer und nimmt dann die Farbe einer überreifen Aubergine an. Verdutzt schaut Morian von einem zum anderen und klappt den Mund auf, doch noch bevor sie ihre leicht irritierten Gedanken zu einer verständlichen Frage formulieren kann, kommt Colevar ihr schon mit der Aussage zuvor: >Ich war jahrelang in den Räuberkriegen in Azurien. Daher verstehe ich ihre Sprache ein bisschen.< Morian klappt den Mund wieder zu, stößt ein kleines Schnauben aus und rollt theatralisch die Augen gen Himmel. "Oh, verzeih, ich vergaß, dass du ja offenbar schon zu Zeiten Cobrins des Priesters die Immerlande bereist hast." Ich muss ihn bei Gelegenheit wirklich einmal fragen, wie alt er eigentlich ist. Nach dem, was er alles schon gesehen und erlebt hat, ist er entweder mindestens vierzig oder er ist schon als Wickelkind auf Abenteuer ausgezogen. Colevar versucht, ein ernsthaftes Gesicht zu machen, aber sie sieht genau, dass er gerade gewaltige Mühe damit hat, sich ein Grinsen zu verbeißen. >Und jetzt komm schon<, sagt er dann amüsiert, >du 'blühende Rose der Nordlande mit deiner Haut wie Milch und Blut und deinen Smaragdjadeaugen'<, und das ist der Moment, in dem Morian nun endgültig die Kinnlade auf die Brust klappt. "Rose der Nordlande? Wa..?"

>Könntest du seinen Arm fertig verbinden, bevor er anfängt, mir Kamele für dich anzubieten? Oder ihm noch andere Körperteile einfallen, die er noch nicht gepriesen hat?<
"Was für andere Körperteile? Kamele?? Wovon redest du bitte?"
Doch dann werden ihre Augen schmal, als sie begreift, und ihr Blick saust auf der Stelle zu dem unschuldig dreinschauenden Khadar, der sofort wieder händeringend mit seinen leidenschaftlichen Tiraden anfängt.
"Oh... oh …. OH! Und ich dumme Gans dachte tatsächlich, der erzählt mir hier die Geschichte vom wilden Löwen. Also hör mal - hat deine Mutter dir keine Manieren beigebracht, du Flegel? Hör gefälligst auf, mich so anzuschmalzen!" Khadar tut so, als würde er absolut gar nichts von dem verstehen, was seine milchhäutige Rose der Nordlande da zornsprühend faucht, aber um den Sinn ihrer Worte zu kapieren, muss man nun nicht unbedingt ein Sprachgenie sein. "Pass bloß auf, dass du dir keine Backpfeife einfängst!", schnaubt sie und zurrt die letzte Leinenbinde fest. "Und ihr beiden genauso!" blafft sie zu Osred und Mallifer hinüber, die in zwei Schritt Entfernung am Wagen lehnen und stillvergnügt vor sich hin prusten. "Kümmert euch lieber um euren eigenen Kram. Smaragdjadeaugen, also wirklich …." Mit den Zähnen beißt Morian das Ende der Leinenbinde ein Stückchen ein, reißt dann den Stoff ungefähr eine Elle lang auseinander, so dass es zwei lange Streifen gibt und verknotet diese dann über dem restlichen Verbandslinnen um Khadars Hand. "So. Fertig. Den musst du eine Weile ruhig halten, hörst du?"

Sie steht auf und putzt sich den Staub von der Hose, dann wendet sie sich Colevar zu, der sich anschickt, die Pferde an einem nahestehenden Baum anzubinden und endlich die arme, steifbeinige Ziege aus ihrem Korb zu befreien, die vor lauter Protestmeckern schon ganz heiser ist. "Wart' doch mal!", fordert sie und hängt sich in bester Nervensägenmanier an seinen Hemdsärmel. "Hast du das wirklich alles verstanden? Was hat er denn noch so gesagt? Also, nicht dass mich das groß interessieren würde, aber man muss ja schließlich wissen, was einem diese Südländer so an den Kopf werfen, nicht?" Natürlich tut sie so, als wäre ihr das alles völlig egal - das ist sie ihrem Ruf ja schließlich schuldig -, aber sie wäre keine Frau, wenn so leidenschaftlich glühende Reden und Komplimente an ihr einfach abprallen und sie nicht doch ein wenig verwirren würden. "Also, jetzt sag' doch mal! Los, sag' schon!", nervt sie den armen Colevar so lange, bis er schließlich nachgibt, seinen Hemdsärmel vor Morian in Sicherheit bringt und ihr dann Khadars Reden übersetzt, zumindest so weit, wie er alles verstanden hat. 'Zarte Blume der Wälder' klingt ja wirklich sehr hübsch, wie sie findet, und auch mit 'Händen sanft wie Feenflügel' kann sie sich anfreunden, aber 'Brüste rund und fest wie Honigpfirsiche' entlocken ihr ein unwilliges Stirnrunzeln und den empörten Ausruf "Dem geb' ich gleich Honigpfirsiche! Und du starr' nicht so!", wirft sie noch schnaubend hinterher, als sie bemerkt, dass Colevar just genau diese Früchtchen ins Auge fasst. "Denk dran, es heißt: Witwen und Waisen und Jungfrauen retten, nicht: wehrlosen Mädchen auf den Busen glotzen! Was tun wir jetzt überhaupt? Wollen wir diesen Verrückten nun helfen, ihre Katze zu fangen oder was? Hast du eine Idee, wie wir das anstellen könnten?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 13. Aug. 2011, 10:56 Uhr
Colevar überlässt den ein wenig verlegenen, aber nach wie vor glühend schwärmenden Azurianer, sowie Mallifer und Osred, die sich inzwischen schier ausschütten mögen vor Lachen, Morians empörtem Herumgefauche, sammelt die Pferde und den Hund ein, und sucht für die Tiere einen stabilen Baum mit niedrigen Ästen am Rand der Lichtung, wo er sie anbinden, absatteln und füttern kann. Es dauert jedoch keine drei Herzschläge, bis die junge Frau eilig hinter ihm her hüpft und Colevar grinst sardonisch in sich hinein. >Wart doch mal!< Tönt es irgendwo in seinem Rücken. >Jetzt bleib doch mal...!< Colevar denkt gar nicht daran, stehenzubleiben oder auch nur langsamer zu werden – ein bisschen Zappeln hat einer kleinen, neugierigen Môrlandkatze noch nie geschadet. "Was denn?" Erkundigt er sich belustigt, als sie ihn schnaufend einholt. "Hast du etwa schon genug Azurianisch gehört oder gefällt er dir nicht?" Morian erwischt sein Hemd und klebt gleich darauf an ihm wie eine Filzklette. >Hast du das wirklich alles verstanden?<
Colevar nickt - augenscheinlich - vollkommen ungerührt: "Hmm."
Morian starrt ihn an als sei er begriffsstutzig. "Hmm, was hmm?"
"Hmhm eben." Er zuckt mit den Schultern und beißt sich fest auf die Zunge, um nicht teuflisch zu grinsen. Morian verdreht die Augen und für einen halben Herzschlag lang sieht aus, als wolle sie ihn gleich anspringen, wenn er nicht sofort den Mund aufmacht, aber dann überspielt sie mit perfekter Contenance ihre Neugier. >Was hat er denn noch so gesagt?<
Colevar hebt süffisant eine Braue. "Interessiert?" Morian schüttelt heftig den Kopf, zuckt mit den Schultern, seufzt gelangweilt ein blasiertes, kleines "Och" und beeilt sich zu versichern, dass sie das ja alles eigentlich ü-b-e-r-h-a-u-p-t nicht interessiere, aber diese Südländer, also... man - oder besser gesagt frau - ...solle dann doch Bescheid wissen, was die so von sich geben. Sagen. Zu einem. Was sie sagen. Oder meinen. Oder so.
Sie haben den Rand der Lichtung erreicht und Colevar beginnt, die Pferde zu versorgen. Er nimmt ihnen Trensen und Zaumzeuge ab, befreit Hühnchen vom Gepäck und der Ziege, die bähend davonhoppelt, und nimmt Filidh und Snerra die Sättel ab. "Ahh-ja. Also er hat... ach naja, so dies und das gesagt."
Morian starrt ihn an und ihre Augen sind jetzt eindeutig mehr grün als grau. "Dies und das?!"
"Japp." Colevar nickt und beißt sich inzwischen so lange und so fest auf die Zunge, um nicht laut zu lachen, dass er allmählich Blut schmeckt.
>Also, jetzt sag' doch mal!<
"Worum ging's nochmal?"

Morians kleine Faust trifft ihn am Oberarm und hämmert gegen das Kettenhemd.
"Tz! Ich dachte, das interessiert dich alles gar nicht..."
"Das tut es auch nicht, bestimmt nicht!" Es fehlt nicht viel und sie hätte mit dem Fuß aufgestampft. "Nun mach schon!"
"Neugier, ist der Katze Tod, Kobold, hat dir das schon mal jemand gesagt? Du machst noch die Pferde scheu mit deinem Herumgezappel." Colevar deutet mit dem Daumen hinter sich, wo drei völlig desinteressierte Gäule ihre Nasen im saftigen Sommergras haben und sich nicht die Bohne für Morian oder sonst wen interessieren. Entsprechend ungläubig fällt ihr prüfender Blick an ihm vorbei auf Snerra, Filidh und Hühnchen aus: erst klappt ihr kurz die Kinnlade herunter, dann funkelt sie ihn erbost an und stemmt ihre Fäuste in die Hüften. "Ich trete dich gleich, wenn du nicht sofort den Mund aufmachst!"
"Schon gut, schon gut," er hebt Morian auf den niedrigen Ast, auf dem er schon die Sättel abgelegt hat, damit ihr Gesicht wenigstens ansatzweise auf gleicher Höhe mit seinem ist und ist sehr versucht, sie noch ein wenig hinzuhalten, nur um sie ein bisschen länger zappeln zu sehen. Dann lässt er sich aber doch erweichen, immerhin sind ihre Knie jetzt auf gefährlicher Höhe und wer weiß, wohin sie treten würde. Die eine oder andere blumige Phrase, die der azurianische Bengel von sich gegeben hat, scheinen ihr Herz tatsächlich höher schlagen zu lassen oder zumindest ihrer Eitelkeit zu schmeicheln, als Colevar jedoch irgendwann bei den Übersetzungen angelangt ist, die ihre 'Schenkel als weiße Säulen, die beschirmen ein fruchtbares Gärtlein' beschreiben und sie vergleichen mit einer 'feurigen Stute an den Kriegswagen des Schahs', werden ihre Augen schmal und immer grüner, und mit dem Vergleich ihr 'Haar sei wie eine Herde junger Ziegen, die herabsteigt vom Berge Uwaynat' kann sie sich wohl auch nicht so recht anfreunden. Sie sei 'strahlend wie die Morgenröte, schön wie der Mond und klar wie die Sonne' versöhnt Morian zwar wieder etwas mit ihrem neu gewonnenen Galan, doch die Beschreibung ihrer Hüften als 'Rundung wie ein Halsgeschmeide, von eines Meisters Hand gemacht' und die ihrer 'Brüste als Honigpfirsiche' lassen eine steile kleine Unmutsfalte zwischen ihren feinen, dunklen Brauen entstehen.
>Dem geb' ich gleich Honigpfirsiche!< Zischt sie empört. Colevar tritt einen halben Schritt zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. >Und du starr' nicht so!< Wird ihm erbost beschieden. "Och... " grinst er vollkommen ungerührt und denkt gar nicht daran, woanders hinzusehen. "Ich frage mich nur, wie groß um Himmels Willen Honigpfirsiche in Azurien werden... das, was du dir da angefuttert hast, sind nämlich keine Pfirsiche mehr, kleiner Vielfraß."

Morian klappt den Mund auf und wieder zu und schnaubt, er solle gefälligst daran denken, dass er Witwen, Waisen und Jungfrauen zu retten und nicht wehrlosen Mädchen auf die Brüste zu starren habe. Das ist zu viel: Hemmungslose Erheiterung steigt in ihm auf und einen halben Herzschlag später lacht er so sehr, dass ihm beinahe die Augen tränen. Er kann nicht anders, er lacht bis er sich auf die Baumwurzeln setzen muss und kaum noch Luft bekommt, und immer, wenn er in Morians völlig verblüfftes Gesicht blickt, lacht er nur noch mehr. "Oh Himmel!" Japst er irgendwann, als seine Lungen sich allmählich wieder an ihren eigentlichen Daseinszweck erinnern, nämlich den, ihn mit Atemluft zu versorgen, lehnt sich an den Baumstamm und sitzt keuchend im Gras. "Wehrlos! Ich fasse es nicht... Du bist vieles, Kobold, aber wehrlos ganz bestimmt nicht! Halt mir diese äh... Pfirsiche nicht direkt unter die Nase, aye? Dann starre ich auch nicht darauf. Und wir wissen ja schon, dass ich vieles bin, aber ganz und gar kein wahrer Ritter." Er kichert immer noch. "Die Witwen, Waisen und Jungfrauen gehören also ganz und gar den beiden tapferen Löwenjägern."  
>Was tun wir jetzt überhaupt? Wollen wir diesen Verrückten nun helfen, ihre Katze zu fangen oder was? Hast du eine Idee, wie wir das anstellen könnten?<
Colevar lacht immer noch leise in sich hinein, aber Morians Fragen eignen sich recht gut, ihn an gewisse dringliche Tatsachen zu erinnern - wie etwa dem Umstand, dass in nächster Nähe ein Sagoralöwe herumschleicht von dem keiner weiß, wie hungrig er gerade ist. "Wir können unsere beiden Heckenritter schlecht damit allein lassen, oder?" Er muss das nicht näher erklären, Morian weiß genau, was er meint. Die beiden sind elende Aufschneider, aber herzensgute Kerle. Was aber nichts daran ändert, dass sie zu der Sorte Menschen gehören, die das Missgeschick anziehen. Normalerweise können sie nichts dafür, aber es passiert dennoch einfach immer wieder. "Sie würden uns auch nicht im Stich lassen, wenn wir sie bräuchten. Ich habe nur leider nicht die leiseste Ahnung, wie wir einen Löwen in diesen Wäldern aufspüren sollen, er könnte schon jetzt halb in den Sonnenhügeln sein." Einen Moment überlegt er, dann zuckt er sacht mit den Schultern und steht auf. "Wenn ich mich nicht täusche, ist hier in der Nähe nur eine Wasserstelle, an die er zum Trinken kommen muss... vorausgesetzt, er ist überhaupt noch in der Gegend. Vielleicht können wir dort eine Fallgrube ausheben und ihn mit Fleisch anlocken oder etwas ähnliches. Ich muss das mit Hafar al Batin und diesem Löwenbändiger mit der Peitsche bereden."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 14. Aug. 2011, 16:54 Uhr
Von ihrem erhöhten Sitzplatz auf dem Ast aus hat Morian allerbeste Aussicht auf Colevars bescheuertes Grinsen, das partout nicht mehr aus seinem Gesicht weichen will, vor allem nicht, als sie ihn anblafft, er solle sie nicht so anstarren. Selbstverständlich tut er wie immer genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich möchte, dass er tut, und starrt nun erst recht. Und dann erdreistet er sich auch noch zu bemerken: >Ich frage mich nur, wie groß um Himmels Willen Honigpfirsiche in Azurien werden... das, was du dir da angefuttert hast, sind nämlich keine Pfirsiche mehr, kleiner Vielfraß.< Morian fällt beinahe hinterrücks von ihrem Ast bei so viel Unverfrorenheit und glaubt im ersten Moment, nicht richtig gehört zu haben. "Kleiner ... Vielfraß??", echot sie ungläubig und die Kinnlade klappt ihr nach unten. Dann lüpft sie mit spitzen Fingern ihren Hemdausschnitt und beäugt mit überaus kritischem Blick, was sich da bietet. "Also, wenn das keine Pfirsiche mehr sind, was ist es denn deiner Meinung nach dann? Götterverdammte Feuermelonen oder was?" Angesichts des Hemdinhalts muss sie aber leider zugeben, dass Colevar so sehr unrecht gar nicht hat, nur war ihr das bislang gar nicht weiter aufgefallen. Aber so abgemagert wie noch vor wenigen Wochen sieht sie inzwischen wirklich nicht mehr aus und trotz dem, dass sie nach wie vor ihren Oberkörper fest mit Leinenstreifen umwickelt, um als Junge durchzugehen, schafft sie es schon kaum mehr, sich völlig platt zu schnüren. Zu Feuermelonen fehlt ihr allerdings noch ein gewaltiges Stück und gut und gern noch dreiviertel Schritt Oberweite. Mindestens. Und außerdem klingt das mit den Honigpfirsichen viel besser.

Die schnippische Bemerkung, die sie daraufhin noch von sich gibt, ist dann allerdings für den edlen Herrn Ritter eindeutig zu viel, denn er fängt an zu lachen und hört nicht wieder damit auf. Wobei Lachen doch irgendwie das falsche Wort für die Tätigkeiten ist, in die Colevar verfällt, wie sie findet, denn er lacht nicht nur, nein, er gackert und prustet und grunzt und wiehert und muss sich entkräftet auf einen Baumstamm plumpsen lassen, weil er sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Morian starrt ihn entgeistert an. Was ist denn um Himmels Willen in den gefahren?? Den Grund für seine plötzliche Erheiterung kann sie nicht wirklich nachvollziehen, also verschränkt sie die Arme vor der Brust und sieht ihm mit einem verständnislosen Kopfschütteln zu, bis er sich wieder halbwegs beruhigt hat. Dabei bemüht sie sich redlich, ein finsteres und beleidigtes Gesicht zu ziehen, aber sein Lachen ist so ansteckend, dass sie selber kichern muss. Ich habe zwar nicht die leiseste Ahnung, was ich gesagt oder getan habe, dass er so lustig findet, aber immerhin habe ich diesen Trauerkloß tatsächlich mal zum Lachen gebracht. Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich das in diesem Leben noch einmal schaffe. "Bist du jetzt fertig?", fragt sie dann von ihrem Hochsitz aus auf Colevar hinunter, als er endlich nicht mehr so klingt, als hätte er gerade einen akuten Erstickungsanfall. Er stößt noch ein paar letzte vereinzelte Pruster aus, schnieft, wischt sich die Tränen aus den Augen und nickt, und dann können sie tatsächlich daran gehen, so etwas wie einen Plan bezüglich der Löwenjagd auszutüfteln.

>Ich habe nur leider nicht die leiseste Ahnung, wie wir einen Löwen in diesen Wäldern aufspüren sollen, er könnte schon jetzt halb in den Sonnenhügeln sein<, gibt Colevar allerdings zu bedenken. Morian kann daraufhin eigentlich nichts weiter tun, als ihn ziemlich ratlos anzuschauen, denn sie hat von Sagoralöwen noch viel weniger Ahnung und weiß noch nicht einmal, wie diese Tiere überhaupt aussehen, geschweige denn, wie sie sich fangen lassen. Aber sie ist nicht gewillt, so einfach aufzugeben, also wühlt sie krampfhaft in ihrem reichhaltigen (also quasi nicht vorhandenem) Repertoire an Raubkatzen-Fang-Erfahrungen nach einer brauchbaren Idee. "Na, vielleicht können wir ihn ja wirklich mit Fleisch anlocken", stimmt sie grübelnd Colevars Vorschlag zu. "Wenn dieses Vieh auch nur entfernt mit einer Katze verwandt ist, dann wird es seine Beute zuerst belauern und sich dann an sie heranschleichen, um sie dann mit einem Schlag zur Strecke zu bringen. Das heißt, wir müssen eigentlich nur an einer geeigneten Stelle mit einem schmackhaften Stück Braten vor seiner Nase herumwedeln und ihm klarmachen, dass es sich dabei um Jagdbeute handelt. Bewegliche Jagdbeute wäre natürlich besser, hm ... vielleicht könnten wir ja Zora als lebenden Köder einsetzen?" Ihr Blick schweift unter nachdenklich zusammengezogenen Brauen zu der friedlich grasenden, hochträchtigen Ziege hinüber. "Die wäre doch ein nettes Häppchen für so einen hungrigen Löwen. Im Moment wäre sie sogar ein gefülltes Häppchen. Notfalls könnten wir ihr ja noch ein paar Steaks oder Hasenkeulen auf den Buckel binden, das sollte eine Katze doch anlocken können. Vermutlich auch noch sämtliche Wölfe in der Nähe, ein Rudel Branbären oder gar noch Schlimmeres. Aber egal. Nur fressen darf er Zora natürlich nicht, das ist ja wohl hoffentlich klar!"

Nach einer kurzen, aber wort- und gestenreichen Unterredung mit den Südländern aus der Karawane, mit al Batin und mit dem peitschenbewehrten Löwenbändiger - der auf den unaussprechlichen Namen Surendranagar Zarghun Shar al Gheresh Khodaydad Kalay hört, von allen aber kurzerhand nur Suren gerufen wird - sowie den beiden Heckenrittern, kommen sie zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, erst einmal ein ordentliches Lager aufzuschlagen, dann nahe der Wasserstelle eine Fallgrube auszuheben und über einen geeigneten Köder zum Anlocken der Katze nachzudenken. Selbst Osred und Mallifer schließen sich der Allgemeinheit an und müssen einsehen, dass es gar nichts bringt, blindlings in den Wald zu rennen und Jagd auf eine Beute zu machen, von der sie nicht wissen, wie sie aussieht, wo sie sich befindet und wohin sie sich bewegt, geschweige denn, ob sie überhaupt noch in der Nähe ist. Dass sie noch in der Nähe ist, wird ihnen allen dann aber eindringlich klar, als plötzlich ein schauderhaftes und ohrenbetäubend lautes Brüllen durch den Wald schallt, das Morian eine Gänsehaut über den Rücken kriechen und sie schlagartig erbleichen lässt. Es klingt völlig anders als alles, was sie je in ihrem Leben gehört hat, ganz anders als das Heulen von Wölfen oder das kurze Brüllen eines aufgescheuchten Bären. Es ist ein so furchteinflößender, unheilverkündender Laut, dass alle zusammenzucken und die Pferde schnaubend die Köpfe hochwerfen und an ihren Stricken reißen. Die Ochsen muhen ängstlich und drängen sich zusammen, und selbst Zora, die sich sonst vor nichts und niemandem fürchtet, kommt ängstlich angetrippelt, ganz so, als wisse sie instinktiv, dass sie als leckere Zwischenmahlzeit für den Verursacher dieses schrecklichen Röhrens eingeplant wurde.

"So klingt dann also ein Sagoralöwe?" Dem Brüllen nach muss dieses Untier mindestens die Größe eines ausgewachsenen Mammuts haben und Morian beschließt spontan, dass sie mit so einem Vieh eigentlich gar keine nähere Bekanntschaft schließen möchte. Stattdessen rückt sie unwillkürlich ein Stückchen näher an Colevar heran. "Ziemlich gruselig, findest du nicht? Und vor allem so ... nah!" Zora scheint das auch zu finden, denn sie weicht nicht mehr von ihrer beider Seite und drängt sich so eng an ihre und Colevars Beine, dass sie ständig Gefahr laufen, über die Geiß zu stolpern und auf die Nase zu fallen, während sie sich um die Pferde kümmern. Nachdem das eigene Getier versorgt ist, helfen sie den Azurianern, die Zugpferde und die Ochsen auszuspannen und die Kutschen und Fuhrwerke von der Straße herunter und ein Stückchen abseits in den Schatten der Bäume zu schieben, wo nicht gleich jeder Passant sie sehen kann. Der Platz ist für ein größeres Lager gar nicht schlecht, denn neben dem Weg stehen die Bäume hier nicht gar so dicht wie tiefer im Wald. Es ist zwar nicht direkt eine Lichtung, aber wenigstens ein offener Halbkreis, an dessen Rand Platz für die Tiere und Wagen ist, und in dessen Mitte sie ein Feuer anzünden können. Während sie versuchen, halbwegs so etwas wie eine Lagerstätte zu errichten, beobachtet Morian nun zum ersten Mal seit dem Aufeinandertreffen die Südländer etwas genauer. Neben dem fetten al Batin, dem verletzten Pfleger Khadar, und Suren, dem Löwenbändiger gibt es da noch zwei jettschwarze, muskelbepackte Hünen namens Alashtar und Kurram Arkhi, die mit Krummsäbeln bewaffnet und so etwas wie al Batins Leibwächter sind, zudem noch sein Leibdiener, mehrere stämmig gebaute Fuhrleute, Knechte und Bedienstete, zwei Kaufleute aus Mar'Varis, die sich der Reisegruppe angeschlossen haben, und sogar einen azurianischen Koch, der eigentlich Jadidi heißt, aber von allen nur der Rattenfänger genannt wird - warum, will Morian lieber gar nicht erst wissen.

Nicht eine Frau befindet sich unter den Reisenden, und auf einmal wünscht sie sich, sie hätte mehr auf ihre Verkleidung als Junge geachtet, denn als unscheinbarer Reitknecht oder Knappe, den die meisten einfach übersehen, würde sie sich jetzt weitaus wohler fühlen. Aber es ist schon zu spät, sich als Kerl auszugeben, und so hofft sie nur inständig, dass hier niemand näheres Interesse an Frauen im Allgemeinen und an einem sommersprossigen Bleichgesicht im Besonderen bekundet. Stell' dich bloß nicht an, die werden dich schon nicht fressen. Außerdem ist Colevar ja da. Und Snerra Schädelfresser. Und der Hund. Und Zora! Trotzdem drängelt sie darauf, in der Nähe ihres Ritters bleiben zu können, und als die geballte, säbel- und schwerterstarrende Männlichkeit des Trosses beschließt, unter Colevars Führung zu einer Besichtigung der nahegelegenen Wasserstelle, eines stillen Waldteichs, zu schreiten, beharrt sie entschlossen darauf, mitzukommen. Al Batin wird im Lager bleiben, zusammen mit einem seiner riesigen Leibwächter, dem verletzten Süßholzraspler und einigen Knechten, denen sie allen nicht auf Spuckweite über den Weg traut und mit denen sie nicht eine Minute lang allein bleiben wollen würde. Zumindest vorerst und so lange, bis klar ist, dass sie lautere Absichten haben. Was weiß sie schließlich schon von diesen komischen Südländern? Am Ende gehört es zu ihren Gewohnheiten, zartes Mädchenfleisch vom Spieß zu verspeisen! Keine zehn Pferde bringen mich dazu, bei denen zu bleiben, nicht ohne Colevar, nein, nein und nochmals nein. "Ich will mitkommen", löchert sie Colevar, als der seine Axt von Filidhs Sattel schnallt. "Bitte lass mich mit zu diesem Teich kommen. Ich will mit diesen Kerlen nicht allein hier bleiben, ich versteh' die ja noch nicht mal! Die könnten sich über die besten Kochrezepte zur Zubereitung von frischen Honigpfirsichen austauschen und ich würde das noch nicht mal mitkriegen!"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Atevora am 21. Aug. 2011, 21:37 Uhr
Nach Inari 511
An den Sonnenhügeln, nahe Nim



Out of Charakter


Bereits seit gestern Abend ist das Anwesen wie ein aufgescheuchter Wespenkobel, doch seit heute Morgen ist es besonders schlimm. Alle rennen geschäftig und hektisch, teilweise sogar äußerst Kopflos herum und sind schrecklich aufgeregt, nebenher sie damit beschäftigt sind das gesamte Anwesen auf Fordermann zu bringen wie bei einem ausgiebigen Frühjahrsputz. Hier wird gefegt, geputzt, entrümpelt, staub entfernt und Dielen poliert, dort wird das Stroh in den Betten erneuert, neue Laken aus den Kästen gerissen und alles frisch überzogen. Auch in der Küche herrscht die selbe Betriebsamkeit. Die Mägde und Knechte Schwitzen in dem viel zu überfülltem Raum im Schatten der Steinöfen um die Wette und sind dabei frische, süße Seelenwecken für den Empfang zu backen.
Auch Isil, eine der Mägde des Anwesens, hat die Unruhe längst ergriffen. Gestern Abend kam einer der Knaben von der Stadt zurück und meinte, dass Sie auf den Weg hier her sei und bereits morgen, also eigentlich heute, eintreffen würde. Diese unangekündigten Besuche waren immer die größte Hetzerei. Ein mulmiges Gefühl breitet sich bei dem Gedanken an den bevorstehenden Besuch in ihrem Magen aus, wenn sie auch nur an ihre letzte flüchtige Begegnung mit der Lady denkt. Sie war mit zerwühltem Haar kichernd mit Verold, einem der vielen Knechte des Anwesens, der dafür zuständig war alles in Schuss zu halten, aus einem der vielen Kammern im Erdgeschoß gestolpert und stand unversehens IHR gegenüber. Sofort breitet sich eine verräterische Röte auf ihrem Nasenrücken und ihren Wangen aus. Welch eine peinliche Situation! Oder eigentlich war sie nur nachträglich betrachtet peinlich, denn zu jenem Moment war er es anders.
Es war als würde augenblicklich jeder Mut und jede Lebensfreude aus ihr Entweichen, die Welt um sie zu Eis erstarren und ihr eigenes Herz mit ihr. Wie spitze Eislanzen hat sich der gnadenlose Blick dieser Frau in ihre Gedanken gebohrt, und sie dachte jeden Moment, nur mit einem scharfen Wort wäre es um ihre Anstellung, oder schlimmer, um ihr Leben geschehen, sodass sie nebenher nicht einmal die Verwalterin des Anwesens bemerkt hat, wie sie daneben stand und ihr Gesicht die Farbe wechselte. Zu ihrem Glück, und sie kann es sich selbst nicht erklären wie es kam, ging die Frau einfach unbeeindruckt an ihnen vorbei und die Gutsverwalterin war mit dem unerwarteten Gast vermutlich bereits genug beschäftig, sodass es bei einem rügenden Blick blieb, als sie dieser folgte, sodass es keine weiteren Konsequenzen für sie Beide nach sich zog, ansonsten wären Verold und sie vermutlich hochkant vom Anwesen geflogen. Was hätte sie nur unternommen wenn die Situation anders ausgegangen wäre?

„Trödel nicht herum!“ Reist sie die resolute Stimme der drallen obersten Küchenmagd aus ihren Gedanken. Sofort zieht Isil schuldbewusst den Kopf ein und knetet den Milchteig zwischen ihren Händen weiter.
„Ihr braucht viel zu lange, ihr werdet nie rechtzeitig fertig, wenn ihr euch nicht alle endlich an den Riemen reißt. Die Lady kann jederzeit da sein!“ Richtet sie ihren mahnenden Tonfall in die Runde und fuchtelt dabei zur gestischen Unterstützung fahrig mit ihrem fleischigen Zeigefinger.
„Wie soll es auch fertig werden, bei so wenig Vorbereitungszeit!?“ Wendet einer der jüngeren Küchenburschen prompt trotzig ein. Sofort wendet sich die oberste Küchenmagd zu dem Burschen um und dieser duckt sich sofort als erwarte er eine kräftige Schelle der es auszuweichen gilt. Normalerweise hätte er jetzt auch eine einkassiert, doch der Bengel hatte Recht. So verzieht sie nur grimmig das Gesicht, fixiert ihn und stemmt die Fäuste in die Seite. „Werd nicht frech du Bengel.“ Lässt sie verlauten, aber der braunhaarige Fratz in seinen besten Flegeljahren hat längst durchschaut, dass er eine Ohrfeige kassiert hätte, oder an seinen Lauschern gleich aus den Raum gezerrt worden wäre, wenn es Deldrina tatsächlich ernst meinen würde. Sie musste ihm also insgeheim zumindest zu Teilen ebenfalls beipflichten. Aus dem Grund lässt er sich nicht lange darum Bitten gleich noch einmal nachzulegen: „Ich weiß sowieso nicht, weshalb wir wegen dieser Hexe so einen Aufstand machen!“ Isil wird bei dem Wort Hexe ganz bleich. Normalerweise hätte sie sich eine Hexe immer mit Buckel knorriger Warzennase und derben zerknitterten Gesicht samt schäbiger Zähne vorgestellt, doch der Begriff war auch hier vielleicht nicht unzutreffend. War eine böse gemeine Hexe, die Seelen Anderer für den Dunklen raubt und kleine Kinder frisst, aber nicht sofort als solche zu erkennen ist nicht noch gefährlicher, als so ein altes Weibsbild, das die Götter ob ihrer schändlichen Taten mit Hässlichkeit gestraft haben, und um die man drum schon rein vorsorglich einen Weiten bogen macht? War sie nicht selbst wie erstarrt, gefangen vom seltsamen Antlitz und auftreten, unfähig einen Schritt nach vorne oder zurück zu treten? Ihr läuft es kalt den Rücken hinunter unterdessen sie die bisher fertig geformten Wecken auf das dick mit Butter bestrichene Blech vor sich legt.
„Weil sie im Auftrag und in Vertretung der Herrin kommt!“ Antwortet die dralle Magd forsch und macht Anstalten den Jungen die Ohren lang zu ziehen. „Und jetzt scher dich gefälligst aus der Küche und hol neues Spülwasser, bevor ich dich an deinen Ohren zum Brunnen hinausschleife!“
Flott, mit einem triumphierendem frechen Grienen auf den Lippen, nimmt der Bursche den Kübel und hechtet zur Tür hinaus, und während ihm einige der Anwesendem nachblinzeln, ist ihnen anzusehen, dass sie sich, wie Isil, alle die selbe Frage stellen: und warum kommt diese seltsame Frau und nicht die Herrin wieder einmal selbst?“ Niemand wusste es.
Die letzten drei Jahre waren sehr Umbruchs- und Ereignisreich und auch hier schwebten viele Fragen in der Luft, dessen Antworten im Dunkeln blieben. Zuerst blieb der alljährliche sommerliche Besuch der Herrschaften aus, ein Gerücht besagte, der hohe Herr wäre plötzlich in so jungen Jahren verstorben. Dann ging es mit dem Hof bergab, Löhne wurden ab und an einbehalten, Personal abgebaut, es war bald niemand mehr da, der die Gebäude in Ordnung hielt, nur die Felder und die Tiere in den Ställe wurden noch wie immer betreut, wobei sich zeitgleich der Gutsverwalter in immer seltsameren Allüren verlor. Plötzlich aber verschwand er wie über Nacht. Niemand wusste von seinem Verbleib, ganz so als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst und statt dessen kam diese Frau und der Einarmige neue Gutsverwalter, dem bald seine Familie nachfolgte. Er verstand scheinbar etwas vom Geschäft, denn die Löhne wurden wieder regelmäßig ausbezahlt und neue Gerätschaften erworben mit denen die Feldarbeit wesentlich besser voranging. Sie kümmerte der Wechsel wenig, und egal wie seltsam de alte Gutsverwalter auch immer abgelöst worden ist, der Neue war trotz seiner Behinderung eine sehr umgängliche Person, und so trauerte dem alten Blasebalg bald keiner mehr nach. Nur diese weiße Lady, die vollkommen unangemeldet dann und wann eine unangekündigte Visite durchführt und so schnell wie sie kam wieder verschwindet, war keinem so recht geheuer. Sieht sie doch aus wie der wandelnde Tod und ihr Gesicht gleicht einer leblosen Maske.
„Hopp hopp, genug gestarrt, macht weiter, damit alles zur vollsten Zufriedenheit der Lady is. Ich möchte mir nicht ausmalen was ansonst geschieht wenn nicht“ Den letzten Satz murmelt Deldrina wie zu sich. Sie ist zwar um einiges kräftiger als diese seltsame bleichhäutige Frau, sie könnte sie wohl mit einer Hand hinter sich herschleifen wie einen sack voll Mehl, und doch ist der obersten Küchenmagd an ihrer Körperhaltung eindeutig anzusehen, dass sie vor dieser eigenwilligen Person nicht nur gehörigen Respekt besitzt. Isil kann es ich nicht verdenken. Ihr ging es schließlich ebenso. Kein Wunder bei den ganzen Gerüchen die sich um diese Person ranken, und den merkwürdigen Begebenheiten die ihr vorausgehen oder folgen. Es heißt beispielsweise sie wäre ein seelenloser Vampir, dessen Inneres keine Emotion kennt, weshalb ihr Gesicht auch keine Regung zeigt und erstarrt bleibt, wie ein Bildnis aus Stein. Man könnte das nun kichernd als Unsinn abtun, doch meidet sie nicht tatsächlich das Sonnenlicht? Manche die bedienten zum Mahl schworen auch Stein und Bein darauf sie hätten Vampirzähne gesehen. Aß sie denn tatsächlich etwas, oder nur ihre Begleiter? Und war zu ihrem letzten Besuch nicht auch de alte Pferdeknecht von einer Krankheit erfasst, die ihn ganz fahl, blutlos wie der Tod werden ließ und ihm alle Kräfte raubte? War dies nur ein Zufall, oder schlich die bleiche Lady tatsächlich heimlich des Nachts in sein Zimmer um sich an seinem Blut zu laben?
Gerade packt Isil das letzte Milchleibchen auf das Blech und schiebt es in den Ofen, da hört sie den Küchenjungen in die Küche polten und keuchen: „Eine Kutsche fährt gerade den Weg herauf!“

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 26. Aug. 2011, 14:41 Uhr
Auf dem Frostweg nördlich von Emlyn


"Feuermelonen nun nicht gerade, Kobold. Aber wenn du sie weiterhin so abschnürst, werden sie noch ernsthaft Schaden nehmen. Tut das nicht allmählich weh?" Morian ist nicht gewillt noch ausführlicher über ihre neuesten Errungenschaften an weiblichen Attributen zu reden und bringt, als er sich endlich von seinem Lachanfall erholt hat, so hastig das Thema Löwenjagd zur Sprache, als wäre sie hier die Expertin für ausgebüxte Großkatzen – was sie natürlich nicht ist, wie sie beide genau wissen. Aha. Madame Môrlandkatze wird also schamhaft. Als sie dann in ihrem Eifer auch noch die arme Zora als Köder vorschlägt und sogar Überlegungen anstellt, sie zusätzlich noch mit Fleisch zu umwickeln wie einen gespickten Braten, schüttelt Colevar jedoch vehement den Kopf. "Auf gar keinen Fall! Ein Sagoralöwe kann verdammt schnell sein, wenn er Hunger hat, Morian. Wir würden Zora nie und nimmer rechtzeitig vor ihm retten können." Er will die kleine, hochträchtige Ziege sicher im Lager bei den Pferden wissen, in der Nähe eines wirklich großen Feuers, das den Löwen hoffentlich abschrecken wird. Und wenn das nicht ausreicht... nun, Snerra und Filidh sind beide fast einen Quader schwer, selbst ein Sagoralöwe sollte es sich zweimal überlegen, ein Tier anzugehen, dass ihm mit einem einzigen Huftritt das Rückgrat brechen kann. Im Lager will er eigentlich auch Morian wissen, aber die tut natürlich erst recht nicht das, was am Sichersten für sie wäre und will überhaupt nichts davon hören, bei Hafar al Batin und ihrem liebeskranken Verehrer zu bleiben. Nicht einmal, als das Löwenbrüllen unvermittelt und weithin hörbar durch das Larisgrün schallt, und der ganze Wald noch lange Augenblicke danach still wie ein Grab bleibt... alle Vögel sind schlagartig verstummt und selbst die ewig flüsternden Bäume ringsum schweigen ob dieses vollkommen fremdartigen Geräuschs. Colevar ist der einzige, der nicht unbedingt wegen dem Löwengeschrei zusammenzuckt, schließlich hat er schon oft genug einen Sagoralöwen gehört - er zuckt eher, weil sowohl Morian, als auch Zora abrupt an seiner Seite kleben, die eine links, die andere rechts. Zora bibbert, als stünde Jafta bereits hinter ihr und sperre schon für ein Appetithäppchen das Maul auf, und auch Morian drängt sich so nah an ihn, dass sie ihm praktisch auf den Zehen steht. >Ziemlich gruselig, findest du nicht? Und vor allem so ... nah!<
"Aye. Den Göttern sei Dank ist er nicht allzu weit weg. Und, sehnst du dich schon nach dem Môrgrim?" Morian legt den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht sehen zu können und funkelt ihn böse an. Sie belässt es aber dabei, ihm einfach nur die Zunge herauszustrecken und er lacht schon wieder. Wenn er schon sterben muss bei der Jagd auf diesen dreimal verfluchten Wüstenkater, dann kann er es wenigstens mit Humor tun. "Kopf hoch, Kobold. Den kriegen wir schon."

Er kann nicht aufhören, sie so zu nennen... sie ist einfach ein kleiner Kobold - ein quirliger, aufmüpfiger, schnatternder, entzückender, nervenzersägender, schnippischer, immer noch verdammt gut riechender, lustiger, vorlauter kleiner Kobold, der ihn neuerdings dauernd zum Lachen bringt. Selbst jetzt reizt sie ihn dazu, weil sie exakt das gleiche Gesicht macht wie Zora, die aussieht, als würde sie in ihrer Angst am liebsten unter sein Hemd kriechen. Selbst als beschlossen ist, an der Wasserstelle eine Fallgrube auszuheben, und Colevar sein Kettenhemd und all seine Waffen bis auf die langen Dolche ablegt, um beweglicher und leiser zu sein, sich dann aber noch die lange Axt holt (falls Jafta absolut uneinsichtig sein sollte), weicht Morian nicht von seiner Seite. Im Gegenteil, sie liefert sich mit der Ziege einen Wettstreit im "wer-läuft-unserem-Ritter-schneller-und-effektiver-vor-die-Füße-und-bringt-ihn-zu-Fall"- Rennen. "Morian... ich hab dich ja auch gern, aber du musst nicht an mir kleben wie die Biene am Honigtopf, aye?" Wehrt er sich irgendwann, nachdem er ihr zum wiederholten Mal fast auf die Zehen getreten ist. "Ich verspreche dir, ich lasse nicht zu, dass du gefressen wirst. Sei ein braves Mädchen und lass mich los, dafür..." riechst du einfach zu gut. "Bist du wirklich schon zu groß." Wenn er geglaubt hat, der Sagoralöwe sei im Augenblick ihre größte Sorge, hat er sich jedoch offenbar getäuscht, denn kaum steht sie nicht mehr auf seinen Stiefeln und drückt sich an ihn, hakt sie sich auch schon kameradschaftlich (aber mit einem dringenden Anliegen) bei ihm unter: >Ich will mitkommen. Bitte lass mich mit zu diesem Teich kommen. Ich will mit diesen Kerlen nicht allein hier bleiben, ich versteh' die ja noch nicht mal! Die könnten sich über die besten Kochrezepte zur Zubereitung von frischen Honigpfirsichen austauschen und ich würde das noch nicht mal mitkriegen!<
"Keine Sorge, sie wollen dich nicht essen. Dein Herzblatt diskutiert gerade mit Al Batin, wie viele Kamele du wohl wert sein magst und ob er sich dich leisten kann", informiert er sie grinsend. "Al Batin hat ihm gesagt, er soll höchstens drei bieten und fünf akzeptieren."
"Kamele?!" Echot Morian fassungslos und Colevar nickt. "Ich geb' dich natürlich nicht unter zehn her", versichert er ihr dann und spürt einen leisen Anflug von... Genugtuung? Wenn nicht das, dann etwas sehr ähnliches. "Das kann sich dein Häufchenentferner bestimmt nicht leisten." Damit schultert er die Axt und schlendert fröhlich pfeifend von dannen... oder versucht es zumindest, denn Morian hätte sich vermutlich auch einfach um ihn herumgewickelt, nur um nicht zurückzubleiben. Sie verstauen die Ziege – zu ihrer eigenen Sicherheit – kurzerhand im Löwenkäfig, schärfen Al Batin und seinen Männern ein, dass Zora ein ganz besonderes, ja fast schon ein heiliges Tier und damit absolut tabu sei, und machen sich dann unter den zwar gut gemeinten und ziemlich wortreichen, aber dafür leider völlig sinnfreien und absolut unbrauchbaren Ratschlägen Mallifers und Osreds auf, einem Löwen eine Grube zu graben. Das alte Sprichwort 'Wer andern eine Grube gräbt fällt selbst hinein' bewahrheitet sich allerdings mit prompter Zuverlässigkeit. Sie finden sich zwar nicht unbedingt selbst in dem schlammigen Erdloch wieder, dafür fangen sie in den nächsten fünf Tagen aber so ziemlich alles darin, nur keinen Löwen.

Zunächst einmal stehen sie jedoch vor ganz anderen, manchmal sogar recht profanen Problemen und Colevar sitzt allabendlich sinnierend am Feuer und überlegt grinsend, wie denn wohl ein Tagebucheintrag aussehen würde, sollte er je beginnen, eines zu führen. Etwa so vielleicht:

17. Sonnenthron im Jahre 511 des Fünften Zeitalters; Der Erste Tag
Kein Spaten bedeutet: keine Grube. Keine Grube bedeutet: kein Löwe. Haben aber gegen Abend Elchkadaver gefunden und benutzen nun Geweihschaufeln. Graben ist elende Arbeit, waren erst nach Mitternacht fertig mit dem Aushub und zurück im Lager. Azurianisches Essen ist immer noch scheußlich, werde mich nie an Couscous gewöhnen.
Gefangen: nichts (nur Osred, der im Dunkeln in die Grube fiel).
Kamelgebote für Morian: vier
Sonstiges: Zora ist zwischen den Gitterstäben des Löwenkäfigs steckengeblieben. Haben zwei Flaschen Öl als Schmiermittel gebraucht, um die Ziege wieder frei zu bekommen. Morian riecht jetzt kräftig nach Oliven. Ist vielleicht besser so.
Stimmung: irgendwie zwiespältig

18. Sonnenthron im Jahre 511 des Fünften Zeitalters; Der zweite Tag
Snerra ist rossig und Filidh willig, schätze in elf Monden haben wir auch noch ein Fohlen. Morian weigert sich immer noch, mit den Südländern im Lager zu bleiben. Jafta lässt sich nicht blicken, nur von sich hören. Haben am Wasser aber Spuren gefunden, die nur von ihm sein können – er scheint einen großen Bogen um die Grube zu machen. Wir brauchen Fleisch, um ihn anzulocken. Habe vier fette Forellen zum Abendessen aus dem Teich geholt. Für uns, nicht für Jafta.
Gefangen: einen mürrischen Dachs.
Kamelangebote für Morian: immer noch vier. Häufchenentferner schmachtet und dichtet.
Sonstiges: der blöde Dachs hat mir den ganzen Arm zerkratzt. Mallifer hat Zahnschmerzen.
Stimmung: hungrig und müde

19. Sonnenthron im Jahre 511 des Fünften Zeitalters; Der dritte Tag
Osred schwört, er habe heute Morgen beim Pissen den Löwen gesehen, war aber wohl eher ein Bär. Hat sich vor Schreck auf die Stiefel gepinkelt. Morian besteht auf einem Bad, sie sagt, sie stinkt. Hat auf mir als Leibwächter bestanden, sie traut den Südländern nicht. Habe stundenlang mit dem Rücken zum Teich am Ufer stehen und in den Wald starren müssen – als könnte ich ihr etwas abschauen. Jafta hat sich nicht blicken lassen (lag vielleicht an Morians Gesang).
Gefangen: zwei verschreckte Waschbären und einen jungen Hirsch, der hoffentlich gut schmeckt
Sonstiges: Reykir hat Häufchenentferner fast gebissen, weil er Morian die Hand küssen wollte. Braver Hund.
Kamelangebote: fünf, habe abgelehnt.
Stimmung: hervorragend.
Anmerkung: gehässig? Ich doch nicht.

20. Sonnenthron im Jahr 511 des Fünften Zeitalters; Der vierte Tag
Am Morgen große Aufregung an der Grube. Wurden von deftigen Flüchen begrüßt – über Nacht ist ein Zwerg hineingestolpert. Können froh sein, dass er uns nicht auf der Stelle die Schädel eingeschlagen hat, als wir ihn endlich befreit hatten. Ist unter bösen Schimpfworten abgezogen und wollte nicht mit ins Lager kommen. Sagte, wir sollten uns zum Donnerdrummel scheren. Hafar war untröstlich (er hat noch nie einen Zwergen gesehen). Sonst war der Tag recht langweilig. Morren hat ein Feld mit Katzenminze entdeckt und dekoriert nun den Löwenkäfig damit. Behauptet, in so einem kahlen, stinkenden Ding würde sie auch nicht bleiben wollen. Hafar veranstaltet ein großes  Geschrei wegen dem Grünzeug, sagt Jafta sei ein Löwe, kein Palastkätzchen für kleine Mädchen. Und Morian sei schließlich keine Löwin (armer Unwissender). Snerra ist immer noch rossig, der arme Filidh geht bald auf dem Zahnfleisch – aber wenigstens einer, der Spaß am Leben hat.
Gefangen: einen Zwerg, ansonsten nichts, von Jafta keine Spur.
Kamelangebote: sieben. Khadar dichtet jetzt jeden Abend und will, dass ich übersetze. Habe mich geweigert; will auch keine Kamele.
Anmerkung: Soll Morian den Südländer und sein schmalztriefendes Getändel doch endlich erhören. Vielleicht wird sie ja auch als Frau eines Löwenscheißeschauflers glücklich, was geht es dich an?
Stimmung: 'grummelig', sagt Morian. Wahrscheinlich hat sie Recht. Das ganze Lager stinkt nach Katzenkraut.

So oder so ähnlich würden sie wohl aussehen, die Einträge in seinem Tagebuch, wenn er denn eines hätte, was nicht der Fall ist. Wie auch immer, der nächste Siebentag im Lager der Azurianer und an der Löwenfallgrube am stillen Waldteich vergehen wie in einem Krieg: kurze Phasen hektischer Aktivität wechseln sich ab mit stunden-, manchmal tagelanger Langeweile. Irgendwann glaubt Morian, wenigstens, dass sie sich und ihre Honigpfirsiche auch allein ganz gut gegen die geballte Südländerübermacht verteidigen kann und besteht nicht mehr darauf, ihm wie ein zu klein geratener Schatten überall hin zu folgen. Jede Nacht liegen sie an der Grube an der Wasserstelle auf der Lauer, jeden Tag schwärmen Osred, Mallifer, Surendranagar Zarghun Shar al Gheresh Khodaydad Kalay, kurz Suren, der Hund und er selbst ins umliegende Larisgrün aus, um nach dem Löwen zu suchen, seine Fährten aufzuspüren und vielleicht einen Hinweis auf ein Lager oder einen Schlafbaum zu finden, und die Tage ziehen dahin. In der Grube fangen sie des nachts nacheinander einen bissigen Dachs, zwei schimpfende Waschbären, einen noch viel mehr schimpfenden Zwergen, einen jungen Luchs (dessen Pelz Mallifer gern gehabt hätte, doch das lässt Colevar nicht zu; es ist vielleicht kein Valkoinen Ilves, doch es ist ein Luchs und er ist es Louan schuldig), einen Waldschrat (das ist die Nacht, in der sie alle schleunigst das Weite suchen und am nächsten Morgen außerdem auch noch eine neue Grube ausheben dürfen), ein Stinktier (das allen Göttern sei Dank das langmütigste und friedfertigste Stinktier aller Zeiten und ganz Rohas zu sein scheint, und sich widerstandslos und vor allem ohne infernale Gestankattacke retten lässt), sowie zwei Branbärenjunge. Die Bärenjungen aus der Grube zu befreien wäre eigentlich gar nicht so schwer gewesen, wäre Mutter Bär nicht just zum unpassendsten aller möglichen Zeitpunkte aufgetaucht - nämlich gerade als Osred bis zu den Knien im Schlamm vier Schritt tief in der Erde in der Grube steht, in jedem Arm ein Junges, und mit den beiden Kleinen ein Bärenbrummwettbrüllen veranstaltet. Mama Bär stürzt sich brüllend kopfüber in die Grube auf den vermeintlichen Kinderdieb, der wiederum auf die Leiter aus der Grube, Reykir auf Mama Bär und Colevar schließlich auf Reykir, um den Hund genau davon abzuhalten.

Er erwischt Reykir  gerade noch am Nackenfell, doch der aufgeweichte Boden hat ihrer beider Gewicht nicht mehr viel entgegenzusetzen und so rutschen sie mitsamt einer kleinen Lawine aus nasser Erde und Grassoden in die Tiefe der Grube - auf eine zornbrüllende Bärin, ihre verschreckte, schlammverschmierte Brut und einen kreischenden Osred, der die ramponierte Leiter zwischen sich und der Bärin hält wie einen Schild. Im allgemeinen Durcheinander und ohrenbetäubendem Gebrüll, Geschrei und Gebell gelingt es einem Bärenjungen über die glitschige Leiter aus der Grube zu flüchten und gleich darauf folgt ihnen auch Bärenwelpe Nummer zwei, während Osred wild gestikulierend durch den Schlamm rennt, Reykir wild die Bärin attackiert und Colevar, mit nichts als einem Dolch bewaffnet, versucht, seinen verrückt gewordenen Hund zu beschützen. Reykir rast wie ein grauer Schatten durch die Grube, vor die Bärin, hinter sie, an ihren Flanken entlang, springt gegen die Wände, stößt sich wieder ab und versucht seine Gegnerin kurz und scharf anzugehen, nur um dann gleich wieder fortzuspringen, ehe sie ihn zu fassen bekommt - es ist bestimmt nicht sein erster Kampf gegen einen Bären. Das ist es auch für Colevar nicht, aber wenn er seinen dämlichen Köter und sich selbst nicht möglichst sofort wieder aus dieser Grube herausbekommt, ist es ganz sicher ihr letzter. Die Gedanken rasen durch seinen Kopf wie kollidierende Streitwägen: Würde die Bärin angreifen, wenn er sich bewegt? Er muss sich bewegen. Er braucht eine Waffe. Irgendetwas größeres, als den verdammten Dolch. Was tun die anderen da oben nur so lange? Hat keiner einen Speer? Wenigstens eine Saufeder? Wie lange hält der Hund das noch durch? Wo sind die Bärenjungen? Colevar fischt einen halbwegs zusammenhängenden Gedanken aus dem herumwirbelnden Chaos in seinem Kopf. "Osred", befiehlt er ganz ruhig, "hinter mich. Hört mit dem Hin- und Herrennen auf. Sofort!" fügt er mit Nachdruck hinzu, als der kantige Bärenschädel prompt in ihre Richtung schwenkt. Irgendwo oben rufen die Jungen. Reykir springt knurrend nach vorn, aber diesmal erwischt ihn die Bärin. Der Hund wird von einem beinahe lässigen Prankenhieb von den Pfoten geholt und segelt drei Schritt weit durch die Luft, ehe er mit einem überraschten Whuff! im Schlamm landet.

Bei dem Geräusch richtet die Bärin sich auf – für einen Branbären ist sie nicht sonderlich groß, aber imposant genug allemal. Auch wenn ihre Schnauze grau, ihr Pelz struppig und ihre Flanken eher eingefallen als gut gepolstert sind, sie wiegt mindestens zweihundertfünfzig Stein. Colevar tastet in der zerstampften, feuchten Erde zu seinen Füßen nach irgendwas herum, das sich als Waffe verwenden ließe, findet aber nur einen faustgroßen Stein. "Axt!" Brüllt er nach oben in der Hoffnung, es ist noch jemand da, der ihn hört, dann brüllt nur noch die Bärin. Colevar kann sich nicht zur Seite ducken, um ihr auszuweichen; Osred und Reykir sind immer noch dicht hinter ihm und er hat keine Ahnung, ob sein Hund verletzt ist. Er tritt mit aller Kraft vor den Kiefer der Bärin, hämmert ihr den Stein auf die Schnauze und stürzt sich dann mit seinem ganzen Gewicht auf das Tier. Es ist wie ein Ringkampf mit einem bleischweren, beweglichen Sandsack – seine Finger rutschen ab, finden kaum Halt in dem drahtigen Pelz und an den steinharten, glatten Muskelsträngen darunter, also rammt er seinen Kopf an den Bärenhals, ertrinkt im durchdringenden Gestank nach Ammoniak und Fisch, bekommt ein felliges Bein zwischen die Finger, reißt mit aller Kraft daran und stößt den Dolch so tief und fest er kann irgendwo oberhalb des Schulterblattes in den dicken Pelz. Es folgt ein markerschütterndes Brüllen und die Bärin dreht sich wild im Kreis. Er kann kein Blut spritzen sehen – wenn überhaupt, dann ist höchstens die Spitze seines Messers durch die Haut gedrungen, die Klinge ist einfach nicht lang genug. Colevar wirft sich zur Seite, stolpert über eine Wurzel, stürzt und rutscht durch den Morast. Der Dolch fliegt ihm aus Hand. Osred hinter ihm kreischt und hüpft herum, fuchtelt wild mit den Armen, dann zischt etwas Graues über Colevar hinweg, so dicht über dem Boden und so schnell, dass man kaum mehr als einen Eindruck davon bekommt, was es ist. Doch das reicht – Reykir ist wieder auf den Beinen, dreckverschmiert und bellend. Colevar kann nicht sehen, was passiert, denn kaum hat er sich herumgeworfen, um auf die Füße zu kommen, trifft ihn eine Bärenpranke mit solcher Gewalt im Rücken, das ihm einfach die Luft wegbleibt und er landet wieder im Schlamm. Die Bärin und Reykir, inzwischen ein undefinierbares Knäuel braunen und grauen Pelzes, wälzen sich kreischend, grollend, knurrend, fauchend und brüllend vor Zorn einfach über ihn hinweg und Colevar kommt sich vor, als würde er durch einen Fleischwolf gedreht. Für einen kurzen Moment herrscht stockfinsteres, allumfassendes Chaos und er fühlt sich, als hätte eine Schar Riesen ihn unter einer stinkenden, haarigen Decke begraben und schlüge wild und ziellos auf ihn ein. Dann ist es vorbei und Colevar blinzelt durch die Erde vor seinen Augen in einen höchst friedlichen Abendhimmel sowie in ein halbes Dutzend erstaunter Gesichter und zwei verzweifelte Bärenkindermienen, die mit weiten Augen in die Grube hinunter starren.

In eben dieser geht es sehr viel weniger friedlich zu. "AXT!" Brüllt er noch einmal, spuckt Laub und Erde aus, rollt sich herum und kommt auf die Füße. Reykir und die Bärin sind eine einzige, große, formlose Masse, die sich unter Groll- und Knurrlauten hin und her durch den Matsch rollt, während Osred wild mit dem Ende der Leiter auf beide einsticht. Colevar ist mit einem Satz bei ihm, reißt ihm das sperrige Ding aus den Händen und rammt es am Rand der Grube wieder in den Boden. "Raus mit Euch! Besorgt mir eine Waffe. Axt, Speer, irgendetwas! Reykir, lass ab!" Blöder Köter. "Lass aus! AUS!" Osred schießt die Leiter hoch wie ein geölter Blitz und nur einen Herzschlag später segeln ein Netz und ein Holzknüppel, der genaugenommen nur aus einem dicken, knorrigen Ast besteht, in die Grube – seine Axt ist es jedenfalls nicht. Sithech liebt dich... schon vergessen? Hier unten vier Schritt tief in der Erde ist es schon ziemlich dunkel, doch der Himmel spendet gerade noch genug Licht, dass er sehen kann, was geschieht. Reykir hat sich in die Seite der Bärin verbissen, wo er knurrend hängt und versucht, sie niederzuringen. Da Mama Bär keine sehr aufgebrachten Schmerzlaute von sich gibt, eher ein allmählich wirklich wütend werdendes Brummen, hat er aber wohl nur eine Speckschwarte, Haut und viel Fell im Maul, an denen er heftig herumzerrt. Doch anstatt sich wieder aufzurichten und zuzuschlagen, rollt die Bärin sich auf den Rücken und fuchtelt mit den Pranken herum, um einen Ansatzpunkt für ihre Krallen zu finden. Oben kreischen ihre Kleinen, unten kreischt Reykir. Colevar schnappt sich fluchend das Netz, packt den Knüppel, holt mit aller Kraft nach der Bärin aus, als sie Anstalten macht, sich zu erheben und zieht ihr die schwere Keule dann mit voller Wucht über den Kopf. Das Holz trifft ihren Schädel mit dem Knacken eines perfekt geschlagenen Axthiebes. Die Bärin grunzt benommen, blinzelt, ächzt und setzt sich augenblicklich wieder auf ihr pelziges Hinterteil. Colevar wirft ihr das Netz über Kopf und Rücken, packt seinen tobenden Köter am Nackenfell und zerrt Reykir dann hinter sich her auf die Leiter zu. Er hat keine Ahnung, wie lange Ohrensausen und Sternchenreigen bei Mama Bär anhalten werden, er hat schließlich noch nie eine Bärin bewusstlos geschlagen, oder wie lange das Netz sie beschäftigt, aber er wird ganz bestimmt nicht hier bleiben, um es herauszufinden. Irgendwie schafft er es, den geifernden Hund die Leiter hinauf zu bugsieren, die allen Göttern sei Dank auch ihrer beider Gewicht trägt, auch wenn Reykir deutlich macht, dass er gar nichts davon hält, den Kampf vorzeitig abzubrechen. Kaum sind sie oben, muss er sich außerdem förmlich auf den Hund werfen und ihn zu Boden drücken, damit er nicht postwendend die beiden armen Bärenjungen angreift, die hastig auf den nächsten Baum flüchten. "Weg hier!" Ist dann auch alles, was Colevar noch keuchen kann. Sein Rücken steht in Flammen, sein linkes Knie fühlt sich an, als stecke es in einem Schraubstock und stechender Schmerz pulsiert in seinem ganzen Bein vom Knöchel bis zur Leiste - aber er ist noch am Leben. Sein dämlicher Hund ist noch am Leben. Osred ist noch am Leben. Selbst die Bärin und ihre Brut leben noch.

So wie sich die schwachen Geräusche aus der Grube anhören, wird sie das Netz allerdings bald los sein und selbst die Leiter erklimmen. "Weg hier!" Japst er also noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck. Als er aufblickt, weil Reykir endlich wieder halbwegs Ruhe gibt, jedes einzelne Haar seines Pelzes so heftig gesträubt, dass er selbst aussieht wie ein Bär, steht Mallifer der Mittellose vor ihm, in beiden Händen seine Axt. Hinter dem Heckenritter drängeln sich sechs verschreckte Azurianer und ein ziemlich wüst aussehender Osred. "Jetzt", keucht Colevar und kämpft sich auf die Füße. "Jetzt brauch' ich sie nicht mehr." Sein linkes Bein fühlt sich taub an und versagt ihm im ersten Moment glatt den Dienst, aber dann geht es. "Ins Lager. Alle. Auf der Stelle."
"Und die Bärenjungen?"
"Die kommen schon wieder von ihrem Baum, wenn ihre Mutter hier auftaucht. Ich will dann jedenfalls nicht mehr in der Nähe sein."

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Morian am 03. Sept. 2011, 18:43 Uhr
Morian hatte sich nicht groß Gedanken darüber gemacht, wie lange so eine Löwenjagd dauern würde, und war der naiven Ansicht gewesen, dass die ganze Aktion in ein paar wenigen Tagen erledigt sei, vor allem da Colevar, zumindest nach seinen Reden und dem Vortrag, den er Osred und Mallifer zu diesem Thema gehalten hatte, ja der Sagoralöwenexperte schlechthin zu sein und eine Menge Erfahrung im Jagen derselben zu haben scheint. Besagter Wüstenkatze allerdings muss diese Tatsache vollkommen entgangen sein, denn sie ignoriert seinen unvergleichlichen Sachverstand und seine reichhaltige Erfahrung auf dem Gebiet der Löwenjagd einfach und denkt gar nicht daran, sich von ihm oder sonst irgendjemandem fangen zu lassen. So ziehen die warmen Frühsommertage einer nach dem anderen ins Land und bald ist der erste Siebentag vorüber, wobei die Jäger nicht ein einziges Mal auch nur den entfernten Hauch eines Schattens eines Löwenhinterns gesehen haben. Jeden Tag liegen Colevar, Suren, die beiden Heckenritter sowie einige Knechte stundenlang in der Nähe der ausgehobenen Fallgrube auf der Lauer und warten darauf, dass die Katze sich in einer Geste der Hilfsbereitschaft von selbst in das Loch stürzt oder sich wenigstens einmal zur allgemeinen Begutachtung blicken lässt. Man kann sie zwar manchmal in der Nähe hören - und riechen! - und gelegentlich sind auch Spuren ihrer Anwesenheit zu sehen, aber das ist auch schon alles. Niemand bekommt auch nur das allerwinzigste Schnurrhaar des allmächtigen Jafta zu Gesicht.

Morian hatte anfangs darauf bestanden, bei der Jägergruppe zu bleiben, denn den Azurianern hätte sie nicht auf Spuckweite über den Weg getraut und schon gar nicht hätte sie mit ihnen allein im Lager bleiben wollen. Aber schon am Abend des ersten Tages bereut sie diesen blödsinnigen Entschluss, den zweiten Tag hält sie gerade noch so durch und am dritten bleibt sie einfach bei den Südländern im Lager, die vielleicht ziemlich fremdartig aussehen mögen, aber auch überraschend höflich und freundlich sind, wie sich mittlerweile herausgestellt hat. Selbst die beiden Leibwächter al Batins, der düster dreinblickende Alashtar und der nicht minder finstere Kurram Arkhi sind - zumindestens wenn es nicht gerade darum geht, ihren Meister und Arbeitgeber zu verteidigen - die Freundlichkeit in Person. Alashtar hat obendrein sein Herz an die Ziege verloren (die das natürlich weidlich ausnutzt) und seine Leibwächterdienste auch auf Zora ausgedehnt, der er Gänseblümchen zum Mümmeln und kleine Leckereien zusteckt und ihr außerdem auch noch einen ausrangierten Lederriemen zum nagen und zerbeißen verehrt hat - etwas, das ihn in ihren Augen zu ihrem Oberhelden macht, gegen den der Rest der Truppe nicht den Hauch einer Chance hat und sofort degradiert wird. Obendrein sind die Südländer der Karawane ihres grimmigen Aussehens zum Trotz auch noch recht spaßige Gesellen, die stets einen Scherz auf den Lippen und für ihre Mitmenschen immer ein Lächeln übrig haben - alle außer Hafar al Batin natürlich, der sich auf wehleidiges Jammern beschränkt, das aber mit Inbrunst und Ausdauer.

Als Morian ihre anfängliche Scheu den Azurianern gegenüber verloren hat, fühlt sie sich in ihrer Mitte erheblich wohler als bei Colevar, Suren und den übrigen Fallenstellern an der Grube, wo sie gleich von allen Vieren gebieterisch zur absoluten Reglosigkeit und zum Schweigen verdonnert worden war. Reglosigkeit allein hätte sie ja vielleicht noch aushalten können, aber stundenlanges Schweigen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Tapfer hatte sie gegen ihre spitze Zunge und den Drang angekämpft, einfach draufloszuplappern, und war ganz stolz gewesen, es immerhin auf ungefähr eine Viertelstunde bewegungs- und sprachlosen Dahockens gebracht zu haben, aber schließlich waren ihr elendiglich die Beine eingeschlafen und die Kehle völlig ausgetrocknet gewesen, und vor allem hätte sie beim besten Willen nicht einen Herzschlag mehr stumm- und stillsitzen können. So hatte sie den Kampf dann letztendlich doch verloren und das weiße Fähnchen der Kapitulation schwenken müssen. Allerdings hatte sie noch nicht einmal ihren ersten Gedankengang vollständig über die Lippen bringen können, denn schon bei "Was machen wir eigentlich, wenn ..." war sie aus den umliegenden Gebüschen gleich vierfach angezischt und angepssscht!!et worden, was ungefähr so geklungen hatte, als wäre sie aus Versehen mitten in ein aufgeschrecktes Schlangennest getreten. Das Spielchen hatte sich noch einige Male wiederholt, mit dem Ergebnis, dass Morian am ersten Abend einen mittelschweren Wörterstau im Hals sitzen hatte und vier Männer, auf die sie denkbar schlecht zu sprechen gewesen war, sie mit giftpfeiltödlichen Noch-ein-Wort-und-du-bist-tot-Blicken aufzuspießen versuchten.

Schon allein um den Lagerfrieden zu wahren (und vor allem, um sich beim Schweigen und Starren nicht zu Tode zu langweilen), war sie dann am dritten Tag beim Rest der Truppe in ihrer kleinen Wagenburg geblieben, wo sie sich nun um die Ziege und die florale Ausgestaltung des Lagers kümmert und zudem mit der Hilfe Khadars die Sprache der Hôth erlernt - was sehr viel unterhaltsamer ist, als stundenlang als Gebüsch getarnt irgendwo im Wald zu hocken und eine Wasserstelle anzustarren. In Khadar hat Morian einen eifrigen und geduldigen Lehrer gefunden, der es nicht müde wird, ihr die fremdklingenden Worte vorzusprechen, sie unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen (und manchmal auch mit al Batin als Dolmetscher) zu übersetzen, und ihre krächzenden Versuche, die gutturale Aussprache so originalgetreu wie möglich zu imitieren, lachend verbessert. Nebenbei lernt er dabei auch gleich ein wenig von der Allgemeinsprache und nach einigen Tagen können sie schon simple Unterhaltungen führen im Stile von "Was kostet das?", "Wie heißt du?", "Was gibt's zu essen?" und "Nimm deine Finger da weg!" (ein Satz, den Morian ziemlich schnell gelernt hat und der ihr bereits gute Dienste bei der Abwehr von Khadars Zuneigungsbezeugungen geleistet hat). Sie kann inzwischen die Zahlen von eins bis zwanzig vorwärts und rückwärts und im Kreis herum herunterrattern, sie kann die meisten Körperteile zeigen und mit hôthischen Namen benennen (eine Lektion, die Khadar besonders ausführlich behandelt hat), sie kennt die Vokabeln für einige Farben und Tiere und Pflanzen, kann die Himmelsrichtungen und alle möglichen Ortsangaben wie rechts, links, auf, unter, neben, hier, da, dort, vorne, hinten und geradeaus fehlerfrei aufsagen und kennt eine Menge hilfreiche Sätze wie "Wo ist die nächste Stadtwache, bitte?" oder "Diese Pfannkuchen schmecken ausgezeichnet".

Khadar und sie haben eine Menge Spaß miteinander und sitzen oft am Rand der kleinen Lichtung unter den Bäumen und bringen sich gegenseitig unter wildem Gekicher und Gelächter Vokabeln bei, vorzugsweise Flüche, Schimpfwörter und andere ziemlich unfeine Ausdrücke. Der junge Azurianer, den sie anfangs als recht aufdringlich empfunden hat, wird ihr im Lauf der Zeit auch immer sympathischer, ganz abgesehen davon, dass er ein bemerkenswert hübscher Kerl ist mit blitzenden schwarzen Augen und einer Haut wie dunkler Honig. Er besitzt einen feinsinnigen und ziemlich hintergründigen Humor, aber vor allem mag sie seine offene, herzliche Art und sein überschäumendes Temperament, das sie immer wieder zum Lachen bringt und sie ein wenig aus der Tristesse der letzten Wochen und Monate reißt. Natürlich macht Morian sich im Lager auch nützlich, geht Holz sammeln, fischen und Beeren und wilde Kräuter  pflücken, kümmert sich um die Pferde und die trächtige Ziege, und hätschelt jeden Abend verbal die von der Wasserstelle zurückkehrenden Männer, die wieder einmal umsonst auf der Lauer gelegen sind und mit jedem Tag griesgrämiger werden. Nicht, dass sie nichts fangen würden - Beute machen sie eigentlich reichlich, nur eben nicht die, auf die sie es abgesehen haben. So sind den Löwenfängern bis dahin bereits allerhand Opfer in die Falle gegangen, unter anderem der nachtblinde Osred, ein mürrischer Dachs (der Morian von seinem Wesen her schon sehr an einen gewissen talyrischen Kettenhemdträger erinnert), zwei Waschbären (verschreckt), ein Hirsch (sehr lecker), ein Zwerg (der einen Vorrat an unflätigen Ausdrücken sein Eigen nennt, der Morian vor Neid erblassen lässt), einen Luchs (begnadigt), einen Waldschrat (erst ziemlich angefressen, später ziemlich tot), sowie ein Stinktier (zum Glück entweder friedlich gesonnen oder stinkdrüsenamputiert).

Auch an diesem Tag brechen sie schon vor dem Morgengrauen zu ihren Beobachtungsposten an der Fallgrube auf, wobei die Stimmung nach tagelangem ergebnislosem Im-Gebüsch-Herumhocken mittlerweile schon ziemlich in den Keller gesunken ist. Mal sehen, was sie heute fangen, sinniert Morian im Halbschlaf und rollt sich mit einem wohligen Grunzen unter ihren Decken von der rechten auf die linke Seite. Sie hat nicht vor, um diese nachtschlafende Uhrzeit schon aus den Fellen zu kriechen, sondern gedenkt ihren Schlummer noch mindestens ein Stündchen lang fortzusetzen. Allerdings wird sie dabei empfindlichst von einer frenetisch meckernden Ziege gestört, die anscheinend von einem plötzlich aufkommenden frühmorgendlichen Mitteilungsbedürfnis geplagt wird, denn sie mäht und bäht schon derart hysterisch, als gelte es ein Wettmeckern zu gewinnen. "Zora! Jetzt halt' doch mal den Schnabel!" Morian zieht sich die Decke über die Ohren, aber die renitente Ziege zerrt sie sofort wieder beiseite und fängt zu allem Überfluss auch noch an, in Morians nackte Zehen zu beißen. "Hör auf damit, du blödes Vieh, und lass mich schlafen", murmelt sie undeutlich, das Gesicht in ihrem Schlaffell vergraben, aber als die Geiß keinerlei Anstalten macht, ihre Nervensägerei einzustellen, wälzt sie sich doch herum und öffnet probehalber ein Auge. Was sie sieht, lässt Morian erheblich an ihrem Verstand zweifeln, und sie kommt zu dem Schluss, dass es sich um die Überreste irgendeines albernen Traumbildes handeln muss, also kneift sie die Augen wieder zusammen und schiebt ihre Wahnvorstellungen auf das allmorgendliche Schlafdelirium. Am Alkoholgenuss kann es ja wohl nicht liegen, dass ich Zora gleich dreifach sehe, schließlich hab ich nicht einen Tropfen von dem Zeug getrunken, das Jadidi gestern abend am Feuer herumgereicht hat. Ich muss nur einfach noch ein bisschen schlafen..... Aber als die Ziege nicht aufhört, sieht Morian sich schließlich doch genötigt, widerwillig ihre bleischweren Lider aufzuklappen. Die dreifache Geiß ist immer noch da und auch mehrmaliges Blinzeln ändert nichts daran. Doch dann werden Morians schlafmüde Augen groß, weil sie schlagartig erkennt, was es mit Zoras Geschrei auf sich hat: die Bucca ist über Nacht Mutter geworden!

Was am Vorabend noch ein gewaltiger und nach beiden Seiten ausladender Ziegenbauch gewesen ist, der Zora beinahe zum Umkippen gebracht hatte, hopst jetzt in Form zweier entzückender kleiner Zicklein um die frischgebackene Mama herum - und besagte Mama sieht aus, als würde sie gleich platzen vor Stolz. Die beiden Kleinen können höchstens ein paar Stunden alt sein und sind noch ein wenig wackelig auf den Beinen, was sie aber nicht daran hindert, sich sofort an freundschaftlichen Ringkämpfen und wilden kleinen Bocksprüngen zu versuchen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die ein stilechtes stahlgraues Buccaziegenhaarkleid trägt, sind ihre beiden Sprösslinge wild in schwarz und weiß und grau gescheckt. Morian erinnert sich noch gut an den Vater der beiden, den Ziegenbock eines Bauern in Elleswhere und ein strammes schwarz-weiß-geflecktes Kerlchen mit gewaltigen Hörnern. Im Moment jedoch erinnert außer der Fellfarbe so rein gar nichts an den imposanten Herrn Papa, dafür sind die Kleinen aber wirklich herzallerliebst und haben ein so niedliches und absolut unwiderstehliches Babymeckern, dass Morian sie am liebsten sofort an sich reißen und sich unters Hemd stecken würde. "Herrje, die sind ja herzig! Du hast ganz recht, wenn du das sofort in alle Welt hinausposaunen musst! Hopphopp, wir müssen sofort das Lager wecken, diese Neuigkeit muss auf der Stelle verbreitet werden. Und gefeiert!" Hastig wirft Morian die Schlafdecken von sich und schlüpft in ihre Hosen. Alle Müdigkeit ist auf einmal wie weggeblasen, als sie - mindestens genauso stolz wie Zora - mit dem ziegischen Dreiergespann im Schlepptau durch das Lager hüpft. Die meisten sind schon wach (wer könnte bei diesem ohrenbetäubenden Krach auch ungestört schlafen?) und die kleinen Zicklein werden ausgiebig begrüßt und Zora über den grünen Klee gelobt.

Doch dann läuft ihnen Jadidi, der Koch, über den Weg, der gerade unter dem Gewicht zweier schwerer Wassereimer ächzend vom Bach zurückkommt. Als er Morian mit den drei Ziegen entgegenkommen sieht, rammt er die Fersen in den Boden und stellt ruckartig die Eimer ab, und dann kann sie förmlich sehen, wie sein Gesicht beim Anblick der zarten und bestimmt sehr leckeren Babyziegen aufleuchtet und er im Geiste schon die Messer wetzt. "Ooooh nein!", wehrt Morian ab und erstickt Jadidis Zickleinbraten-Fantasien sofort energisch im Keim, bevor sich der Gedanke bei ihm womöglich noch festsetzt. "Vergiss es! Wehe, du kommst den Kleinen zu nahe! Ach was - wehe, du wagst es auch nur, sie schief anzuschauen! Dann werde ich Snerra auf dich hetzen, die beißt dir den Kopf ab!" Jadidi, der nur sehr gebrochen die Allgemeinsprache spricht und Morians aufgebrachtem Redeschwall offenbar nicht ganz folgen kann, schaut ziemlich ratlos drein, also versucht sie, ihm ihre Forderungen auf Hôthisch klarzumachen. Allerdings ist sie mit ihrem südländischen Sprachkurs noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie schon so komplexe Sätze zusammenbringen würde, was sie aber nicht davon abhält, es lautstark und mit grimmiger Miene wenigstens zu versuchen. Das Ergebnis klingt mangels passender Vokabeln und praktisch nicht vorhandenen Grammatikkenntnissen übersetzt wohl in etwa so wie "Augen weg, Ziegen du friedlich lass, Pferd fressen Kopf", und zwar mit mindestens drei Ausrufungszeichen hinten dran. Jadidi scheint nicht gerade sehr beeindruckt von ihrer Drohung zu sein, im Gegenteil, er fängt frech an zu grinsen und murmelt irgendwelchen azurianischen Kauderwelsch in seinen nicht vorhandenen Bart, und Khadar, der gerade hinter ihm auftaucht, bricht schier zusammen vor Lachen.

"Was denn? Was hab' ich denn gesagt?" will Morian unwirsch wissen, aber Khadar bringt vor lauter Herumprusten kein Wort heraus. Pfff. Ich bringe in letzter Zeit ja wirklich auffällig viele Menschen zum Lachen, stellt Morian beleidigt fest. Vielleicht sollte ich nächstens ein bisschen an meinem autoritären Auftreten arbeiten. Dann aber richtet sie gebieterisch ihren Zeigefinger auf die beiden vor sich hin kichernden Südländer. "Shuyukh!", - Ziege! - blafft sie und deutet eindringlich auf Zora und ihren neugeborenen Nachwuchs. "La!" Nein! "Habt Ihr gehört? La! La-la-la! Nix Ziegenbraten, Ziege ist tabu, verstanden?" Die beiden nicken ergeben - und heimlich in sich hineingrinsend - und kapitulieren vor so viel Eigensinn und brachialer Wortgewalt, dann suchen sie gackernd das Weite, bevor sie sich vor diesem aufmüpfigen Sprachgenie noch demütig in den Staub werfen müssen. Morian traut ihnen zwar nicht ganz, vor allem dem Koch nicht, der ständig auf der Suche nach Dingen ist, die er irgendwie kochen, braten oder in heißem Fett frittieren kann, doch vorerst ist sie zufrieden. Ich werde eben gut aufpassen müssen, damit sie nicht wirklich aus Versehen im Kochtopf dieses Rattenfängers landen. Den Rest des Tages lässt sie Zora und ihre Kinder demnach auch nicht mehr aus den Augen, was ihr nicht unbedingt schwer fällt, denn den wilden Kapriolen der flauschigen kleinen Geißlein zuzuschauen, macht ihr Freude und bringt sie ein ums andere Mal zum Lachen.

Als das ganze Lager in der Nachmittagshitze träge unter dem flirrenden Blätterdach der Bäume vor sich hin döst und sogar die beiden Leibwächter al Batins sich der Hitze wegen eine kleine Auszeit gönnen, nutzt Morian die Gelegenheit, den beiden schlafenden Ziegenjungen praktisch unter die Röcke zu gucken und hebt die winzigen Wackelschwänzchen an, um nachzusehen, welchen Geschlechts die beiden sind. Sie hat nicht wirklich viel Erfahrung im Ziegengeschlechterbestimmen, aber nach dem, was sie da so entdecken kann, handelt es sich um eine Geiß und ein Böckchen. Das weibliche Tier sieht von der Fellzeichnung her ein wenig so aus, als habe es ein schwarzes Mützchen mit Bommelohren auf, der Bock dagegen hat ein ganz weißes Gesicht und trägt als Abzeichen nur eine tiefschwarze fellige Augenklappe, die ihn aussehen lässt wie einen kleinen Piraten. "Ihr Herzchen werdet Namen brauchen", überlegt Morian und krault den beiden das flaumig weiche Fell, während sie sich bequem an einen Baumstamm zurücklehnt. "Aber bei euch ist das ja einfach. Da du kleines Ziegenböcklein hier aussiehst wie ein wilder Pirat, werde ich dich einfach Vanderdeker nennen, der ist in den Rhaínlanden ziemlich berühmt, war ein legendärer Seefahrer. Der hatte auch so'ne Augenklappe wie du. Und da seine Holdeste Desmondea hieß, wird das nun dein Name sein, junge Dame. Also taufe ich euch feierlich auf die Namen Vanderdeker und Desmondea!" Zur stilgerechten Untermalung ihrer Worte besprenkelt sie die beiden schlummernden Geißlein mit Wasser aus ihrer Feldflasche und schlägt das Götterzeichen über ihnen. "Zugegeben, die Namen sind ja schon'n bisschen lang, aber vielleicht kann man das ja abkürzen .... Deki und Dea oder so, das werden wir schon noch herausfinden. So, und nun sperre ich euch sicherheitshalber in den Löwenkäfig, denn ich muss mal eben zum Bach runter, meine Wasserflasche ist leer. Und diesem Halunken da, der sich so großspurig Koch nennt, traue ich nicht über den Weg."

Sie bringt Zora und ihre zwei Kinder zu dem verwaisten und wunderbar mit Katzenminze ausdekoriertem Käfig hinüber, wo sie ihnen in einer Käfigecke aus Gras ein weiches Bett anhäuft. "So, hier wartet ihr schön, bis ich wieder da bin. Und macht ja niemandem die Tür auf!" Eilig sammelt sie Feldflaschen und Eimer zusammen, um sie mit zu dem kleinen Bächlein zu nehmen, das in einiger Entfernung vorbeisprudelt und ihnen als Trinkquelle, Badezuber und Viehtränke dient. Es ist immer noch ziemlich heiß, obwohl sich die Sonne schon gegen den Horizont neigt, als Morian zum Rand der Lichtung hinüberstapft, wo ein Stück weit hinter einigen dichtbelaubten Büschen der Bach zu finden ist. Behängt mit Feldflaschen und Wassereimern schlägt sie sich einen Weg durchs Gebüsch, drückt die dichtbelaubten Zweige beiseite - und schaut direkt in das Gesicht eines Löwen. Morian hat noch nie in ihrem Leben einen Löwen gesehen, weder einen Sagoralöwen, noch irgend einen anderen, aber dass das hier einer ist, und zwar zielgenau der seit Tagen vergeblich gesuchte Jafta, das weiß sie sofort. Und er ist bestenfalls drei Schritt von ihr entfernt. Götter im Himmel! Was macht der denn hier? Sollte der nicht in einer Fallgrube sitzen? Ich glaube, ich muss sterben! Sie steht wie erstarrt, unfähig, auch nur einen einzigen Muskel zu rühren, während ihr das Herz mit der Wucht eines Schmiedehammers auf einmal bis zum Hals schlägt.

Und wie der stinkt! Meine Güte, was mach' ich denn jetzt bloß? Aber Morian hat keinen blassen Schimmer, was sie jetzt tun soll. Vielleicht wüsste sie, wie sie sich bei einem akuten Löwenüberfall zu verhalten hätte, wenn - ja, wenn man sie beim Auf-der-Lauer-liegen auch mal hätte zu Wort kommen lassen und ihre Frage nach dem Was wäre wenn beantwortet hätte. Aber nein, sie war ja sofort angezischelt und unter Androhung von Strafe zum Schweigen verdammt worden, so dass ihre angefangene Frage "Was machen wir eigentlich, wenn..." (deren Ende "der große böse Jafta auftaucht?" gewesen wäre) immer noch unbeantwortet ist. Weglaufen! Das wäre immerhin eine Option, aber Jafta der Allmächtige sieht bei genauerer Betrachtung so aus, als könne er selbst einen Windläufer noch um Längen an Geschwindigkeit schlagen, also verwirft Morian den Gedanken sogleich wieder. Majestätisch und völlig entspannt, ja geradezu lässig liegt er mit halbgeschlossenen Augen in den sonnengefleckten Schatten einer alten Eiche und bewegt sich in der diesigen Sommerhitze kaum. Tatsächlich sieht er ein wenig aus wie ein fauler, leicht zu groß geratener Kater, aber sie weiß genau, dass der Schein trügt. Unter den halbgeschlossenen Lidern hervor wird sie genauestens beobachtet, das kann sie deutlich sehen, und trotz aller nonchalanter Lässigkeit ist eine gewisse Anspannung zu spüren, ein leises Bewegen der Muskeln, ein kaum merkliches Zucken einer Vorderpfote, ein träges Schlagen des Schwanzes, das Morian irgendwie ziemlich nervös macht und ihr in Windeseile die Kehle austrocknet, so dass sie sich anfühlt, als hätte sie einen Eimer Sand gefuttert..

Allein schon eine dieser überdimensionalen Pranken ist so groß wie ihr ganzes Hinterteil, der Schädel so gewaltig wie der eines Rhaínländer Riesen, und die gelben Augen, die sie fixieren, haben etwas wahrhaft hypnotisches an sich. Und nun steht er auch noch auf, und spätestens jetzt muss Morian mit aller Gewalt dagegen ankämpfen, sich nicht umzudrehen und hysterisch kreischend davonzurennen, denn nun befinden sich diese durchdringenden Hypnoseaugen fast auf gleicher Höhe mit ihren eigenen. Aber so groß wie ein Môrgrimm ist der noch lange nicht! Er ist jedenfalls groß genug, ihr das Herz in die Hosen plumpsen zu lassen. Vorsichtig macht Morian einen Schritt zurück. Und als nichts weiter passiert, gleich noch einen. Doch dann macht Jafta einen lässigen Schritt nach vorne auf sie zu, verkürzt den Abstand und bringt ihr Herz zu Spitzenschlaggeschwindigkeiten. Mist, was macht der denn?? Wieder tut der Löwe einen lässigen Schritt nach vorne - und Morian weicht wieder zwei Schritte zurück. Jafta einen vor, sie zwei zurück - sie kommt einfach nicht weg von ihm, denn sobald sie nach hinten ausweicht, rückt er in ihre Richtung nach. Scheiße, was soll ich denn jetzt machen? Ich glaub' nicht, dass dieses Vieh auf  'Ksch, geh weg' reagiert, und wenn, dann bestimmt nicht so wie ich das will. Es ist auch niemand in der Nähe, der ihr helfen könnte, denn Colevar ist mit Suren und den beiden Heckenrittern bei der Fallgrube - in der dieses Biest hier eigentlich schon längst sitzen sollte! - und das Lager ist zwar noch in Rufweite, aber Morian wagt es nicht, in solch kurzer Distanz zu dem Löwen laut zu rufen, denn unnötigerweise reizen will sie ihn auch nicht unbedingt.

Verzweifelt versucht sie in dem breiten Katzengesicht zu lesen, doch die Miene des Löwen ist zumindest für sie unergründlich. Wenn Morian den Ausdruck nach Katzenmaßstab deuten müsste, so würde sie sagen, er sei gerade faul und desinteressiert, doch beschwören oder sich darauf verlassen würde sie sich bestimmt nicht. Wieder macht sie einen Schritt zurück und Jafta folgt ihr auf dem Fuße, gemächlich zwar, aber ziemlich zielstrebig. Und dabei lässt er sie niemals aus den Augen. Blödes Spiel! Vorsichtig blickt sie sich aus den Augenwinkeln um, ob vielleicht irgend jemand in der Nähe wäre, der ihr zu Hilfe kommen könnte, kann aber niemanden entdecken. "Khadar!", zischt sie aufs Geratewohl, in der Hoffnung, jemand würde sie hören. "Khadar? Alashtar? Himmel, wo seid ihr denn?" Jafta ist das offenbar ein wenig zu viel Gezische, denn er fixiert Morian eindringlich und hebt kurz die linke Lefze ein wenig an - was einen gefährlich blitzenden Reißzahn zum Vorschein bringt, der so lang ist wie ihr ganzer verdammter Unterarm. Hilfe! Soll das jetzt ein Lächeln sein oder droht mir das Vieh oder was soll das jetzt bedeuten? Ich kann leider nicht löwisch! Am ganzen Leib zitternd macht sie wieder einen Schritt zurück und versucht es mit einem freundlichen Lächeln. Jafta macht einen Schritt nach vorne und lächelt ebenfalls - was ungefähr so aussieht, als würde sie ein mittelgroßer Mörderhai angrinsen, der seit drei Tagen nicht gefrühstückt hat. "Is' ja gut, is' ja gut", beteuert Morian hastig und weicht noch ein Stückchen weiter zurück. "Ich will nur freundlich sein. Wirklich. Du bist ein feines Miezekätzchen, gaaaanz fein, und nun sei schön brav und bleib stehen, hörst du?"

Das Gebüsch haben der Löwe und sie während ihres seltsam anmutenden Tanzes schon längst verlassen und Morian ist sich sicher, dass sie vom Lager aus eigentlich schon zu sehen und zu hören sein müssten, also versucht sie es noch einmal mit leisem Zischeln - und diesmal erfolgt die Reaktion prompt. Sie kann hinter sich einen wüsten azurianischen Fluch vernehmen (vermutlich Khadar), ein erschrockenes Quieken (ziemlich sicher Jadidi), ein trompetenartiges Wiehern (Snerra oder Filidh) und dann jede Menge angstvolles Gezeter (ohne Zweifel Hafar 'der König des Jammerns' al Batin), das sich rasend wie ein Buschfeuer durch das ganze Lager ausbreitet und ein einziges lautstarkes, hektisches Chaos nach sich zieht, weil sich natürlich jeder bereitwillig von seiner Panik anstecken lässt. Himmel, was für Idioten! Was macht denn al Batin nur für ein Geschrei? Der kreischt ja wie eine Fa'Sheeler Waschfrau, die sich vor einer Maus erschreckt. Bis jetzt war das Vieh so ruhig, aber das wird er nun bestimmt nicht mehr bleiben! Mit wild pochendem Herzen behält sie Jafta im Blick, der nicht unbedingt amüsiert über dieses Tohuwabohu ist, das seinen nachmittäglichen Frieden stört. Seine Schwanzspitze zuckt unmutig hin und her und der Blick aus seinen gelben Augen hat jetzt eindeutig etwas Abschätzendes, so als ob er prüfen wolle, wen von diesen Schreihälsen er als erstes verspeisen solle. "Feine Mieze", zirpt Morian verzweifelt, "braves Kätzchen, du wirst doch jetzt keinen Unfug anstellen wollen? Nein? Bist ein guter Löwe ..." Hm, vielleicht versteht der mich gar nicht, zum Schluss kann der nur azurianisch?, mutmaßt sie und versucht es dann mit ihren neuerworbenen Sprachkenntnissen und einem gutgemeinten "Jafta, mah sallah asad! Schau, da ist ein prima Käfig, der ist wie maßgeschneidert für dich ... was würdest du davon halten, wenn du dich dort drin niederlässt, hm? Riecht auch gut - Katzenminze, weißt du?"

Sie gurrt lauter wirres Zeug vor sich hin und redet in einem Tonfall auf den allmächtigen Jafta ein, den man normalerweise für durchgehende Pferde oder verängstigte Kinder verwendet, in der Hoffnung, ihn mit einem sanften Tonfall ruhig halten zu können. Dabei macht sie nach wie vor immer wieder einen oder zwei kleine Schritte zurück, doch der Löwe folgt ihr wie ein Schatten und sie schafft es nicht, sich mehr als drei, vier Schritt von ihm zu entfernen. Dann schießt ihr die Idee durch den Kopf, dass sie ihn, wenn er ihr ohnehin schon hinterläuft, vielleicht wirklich zum Käfig locken und ihn irgendwie hineinbugsieren könnte. Also wechselt sie allmählich die Richtung und bewegt sich rückwärts auf den Löwenkäfig zu, getreulich gefolgt von Jafta, der wirklich allmählich klettenhafte Züge entwickelt. Während sie sich gegenseitig belauern und umschleichen und sich allmählich in die Nähe des Käfigs schieben, versucht Morian sich fieberhaft daran zu erinnern, was al Batin ihnen neulich abends am Feuer über den Löwen erzählt hatte, als er sein Dauerlamentieren wenigstens einmal für so etwas wie ein Gespräch unterbrochen hatte. Jafta sei schon in Gefangenschaft geboren worden, hatte er berichtet, so wie seine Mutter und seine Großmuter vor ihm. Er sei zwar keineswegs zahm und noch immer unberechenbar, aber so wild wie seine Brüder in Freiheit sei er wohl nicht mehr. Man müsse sich auf jeden Fall vor ihm in Acht nehmen, denn ihm sei einfach nicht zu trauen. Nur Suren, so al Batin, der den Löwen schon vom Tag seiner Geburt an kenne, dürfe sich ihm gefahrlos nähern, allen anderen gegenüber sei das Tier mehr als misstrauisch und oft angriffslustig, so hatte er erzählt.

Na, schöne Aussichten!, frohlockt Morian, doch dann hält sie mit ihren Gedankengängen und ihrem sinnfreien Gegurre abrupt inne, denn sie sieht, wie etwas sich in Jaftas Gesichtsausdruck schlagartig verändert. Instinktiv wendet Morian den Kopf, um zu sehen, was Jafta gesehen hat, und ihr bleibt beinahe das Herz stehen: in dem Käfig, auf den sie mit ihm zusteuert, sitzt eine völlig ahnungslose Zora mitsamt ihren zwei Zicklein, eine Zora, die Morian im Eifer des Gefechts völlig vergessen hat. "Himmel, die Ziegen!" Schnell unternimmt sie einen Richtungswechsel und versucht, Jafta jetzt wieder vom Käfig wegzulocken, doch der denkt gar nicht daran, diese appetitlichen Häppchen so einfach aufzugeben und bewegt sich zielstrebig auf den Inhalt der eisernen Gitterstäbe zu. "Nein, geh da weg!", pflaumt Morian ihn erbost an. "La! Na, mach schon! La! La! Khadar, hol die Ziegen da raus! Khadar? Khadar, Shuyukh! Shuyukh!" Hektisch gestikuliert sie in Richtung des Käfigs, und der Junge versteht sofort und setzt sich heldenhaft in Trab, um die bedrohten Ziegen zu retten. Zora allerdings weigert sich standhaft, den Käfig oder ihre Kinder zu verlassen, rammt die Hufe in den Boden und bockt wie ein störrischer Esel, so dass der junge Azurianer alle Hände voll zu tun bekommt, während Morian den Löwen verbal (anders traut sie sich nun doch nicht so ganz) daran zu hindern versucht, in die Nähe des Käfigs zu kommen.

Zeternd läuft sie hinter ihm her und bedenkt ihn mit einem ganzen Repertoire nicht sehr schmeichelhafter Namen, doch das alles beeindruckt die Wüstenkatze kein bisschen. Im Gegenteil, als es Jafta zu bunt wird, bleibt er kurz stehen und stößt einen heiseren, drohenden Laut aus, der eine Mischung aus Fauchen und Knurren ist - und der reicht völlig, die inzwischen ziemlich leichtsinnig gewordene Morian davon zu überzeugen, dass sie es nicht mit einem Schoßkätzchen, sondern mit einem ausgewachsenen und gefährlichen Wildtier zu tun hat, das sie lediglich deshalb noch nicht gefressen hat, weil es gerade keinen Hunger hat und nicht etwa aus reiner Menschenfreundlichkeit. Aber ich kann doch nicht einfach zusehen, wie er meine Ziegen zum Abendessen verputzt, Himmelgötternochmal! Wenigstens hat Khadar inzwischen die verzweifelt strampelnde Zora und eines ihrer Jungen aus dem Käfig befreit. Das andere, der kleine augenklappengeschmückte Vanderdeker, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht und sich die Seele aus dem Leib meckert, weil er hier allein zurückgelassen wird, hopst aufgeregt hinter den Gitterstäben herum. Mit ein bisschen gutem Willen und Geschick würde er sicherlich hindurchpassen, doch auf den Gedanken kommt das Tierchen gar nicht, sondern schreit nur verzweifelt nach seiner Mama - ein Geräusch, das auf den Löwen offenbar sehr appetitanregend wirkt, denn kaum, dass Khadar Zora und ihre Tochter außer Reichweite gebracht hat, macht Jafta einen geschmeidigen Satz mitten in sein ehemaliges Gefängnis, um sich diesen leckeren kleinen Bissen einzuverleiben.

Doch von der anderen Seite sprintet eine stinksauere Morian auf den Käfig zu, die vorhat, ihm die Suppe gehörig zu versalzen. Sie lässt sich hastig auf die Knie sinken, steckt die Arme bis zu den Schultern durch sie Stäbe und schnappt dem verdutzt dreinblickenden Löwen die Mahlzeit praktisch vor dem aufgesperrten Maul weg. "Das könnte dir so passen, du blöder Kater!" Alashtar und Khadar, die mittlerweile von der anderen Seite herangekommen sind, werfen - nun da der lange gesuchte Löwe schon so nett war, von alleine wieder in sein Gefängnis zurückzukommen, - hastig die Tür ins Schloss und sichern sie mit Ketten und stabilen Schlössern. Morian hockt neben dem Käfig im Dreck, das Zicklein in ihrem Arm geborgen, und weiß gar nicht, wer von ihnen beiden mehr zittert. Jetzt, da die Gefahr ausgestanden ist, werden ihr vor lauter Im-Nachhinein-noch-Angst-bekommen die Knie so weich, dass sie geraume Zeit gar nicht aufstehen kann und eine ganze Weile braucht, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hat. Um Löwen wird sie in Zukunft jedenfalls einen großen Bogen machen, und dieses Exemplar hier will sie auch nur noch von Weitem sehen, wenn überhaupt. Als ihre ganze Aufregung ein wenig abgeklungen ist, bemerkt sie erst, dass die Stimmung im Lager vollkommen umgeschlagen ist. Aus den mürrischen Gesichtern der letzten paar Tage sind direkt fröhliche Mienen geworden, Khadar strahlt wie ein Honigkuchenpferd und die beiden Leibwächter al Batins versichern ihr ein ums andere Mal wortreich und unter vielen Verbeugungen ihren Respekt und ihre Anerkennung. Selbst Hafar al Batin kommt freudestrahlend aus seinem seidenen Zelt geschwabbelt, wirft die Arme gen Himmel und lobpreist die Götter im Allgemeinen und alle Löwenfänger im Besonderen. Zufrieden hockt Morian neben der Feuerstelle auf den Fellen, Zora und die beiden Zicklein neben sich, als sie den vielköpfigen Jägertrupp am Waldrand auftauchen sieht - verbeult, zerschunden und blutverkrustet, aber offensichtlich noch lebend und halbwegs bei Gesundheit. Morian kann sich bei ihrem Anblick ein Grinsen nicht verkneifen. "Ihr seht aus, als hättet ihr euch prächtig amüsiert. Was habt ihr denn heute gefangen, ein Mammut?"

Titel: Re: Der Frostweg
Beitrag von Colevar am 12. Sept. 2011, 16:32 Uhr
Als sie, zerschlagen, abgekämpft, verdreckt und zerschrammt wie sie sind, ins Lager zurückkommen, herrscht dort nicht nur ausgelassene Fröhlichkeit, sondern geradezu Festtagsstimmung. Der Grund dafür ist auch nicht zu übersehen, nicht zu überhören und schon gar nicht zu überriechen – Jafta, großmächtiger, prächtigster Sagoraslan, hockt wieder in seinem Käfig und schnarcht inmitten eines Bettes aus Katzenminze, als könne er kein Wässerchen trüben. Als der verschlammte Grubentrupp zurückkehrt, klappt er  zwar ein gelbes Auge auf,  rollt sich aber beinahe sofort düster schmollend wieder zusammen und tut so, als gehe ihn die ganze Aufregung überhaupt nichts an. Suren kann es gar nicht fassen und stürzt sofort zum Käfig, um sein verlorenes Schäfchen im Löwenpelz wieder unter die väterlichen Fittiche zu nehmen, was Jafta auch würdevoll-beleidigt über sich ergehen lässt, und Morian... nun, Morian thront feixend am Lagerfeuer, umgeben von Zora und zwei gefleckten Zicklein und hofiert vom Rest der Azurianer. Dass sie die Heldin des Tages und frischgebackene Löwenfängerin ist, ist ebenfalls nicht zu übersehen, denn sämtliche Südländer, einschließlich Al Batin, die im Lager geblieben waren, sehen aus, als würden sie ihr am liebsten pausenlos die Füße küssen, wenn sie sie nur ließe. Außerdem überschlagen sie sich fast damit, den glücklosen Jägern Morians Bravourstück samt allen Details unter die ebenso erstaunten wie erschöpften Nasen zu reiben. Morian hingegen grinst nur. >Ihr seht aus, als hättet ihr euch prächtig amüsiert. Was habt ihr denn heute gefangen, ein Mammut?<
Prächtig amüsiert? So sehen wir also aus... Colevar schüttelt den Kopf: "Nein, Kobold." Er fühlt sich hundert Jahre alt und ungefähr so heil wie ein Sack Geschirr, auf den man eine Schar zerstörerisch veranlagter Oger mit Eisenkeulen losgelassen hatte. "Wir sind nur mit einer Bärin aneinander geraten." Seine Augen wandern kurz über Morian hinweg, aber sie scheint nicht einen winzigen Kratzer abbekommen zu haben und sieht sehr zufrieden mit sich und der Welt aus. "Löwenfängerin, hm?" Sein Lächeln ist zwar ziemlich erschöpft, aber auch voller Stolz auf sie. Immerhin hatte sie geschafft, was ihnen allen in mehr als einem Siebentag nicht gelungen war – Jafta ist wieder dort, wo er hingehört, das Larisgrün ist wieder sicher, die Azurianer sind glücklich und Al Batin wurde damit vor den Folterqualen der Neun Höllen gerettet. Und wir können weiterziehen. Nach Hause. Endlich.

Er will schon den Mund aufmachen, um ihr zu sagen, dass sie das – was auch immer sie eigentlich genau angestellt hat – absolut großartig gemacht hat, als Al Batin neben ihm auftaucht und irgendetwas von zehn, nein zwölf, nein vierzehn Kamelen faselt. "Oh, haltet die Klappe!" Knurrt Colevar halb entnervt, halb belustigt. "Also erst einmal kann Morian für sich ganz allein sprechen, aye, und zweitens will ich immer noch keine Kamele! Habt Ihr nicht irgendein Fest oder so etwas vorzubereiten?" Al Batin schlägt sich mit den beringten Wurstfingern an die glänzende Stirn, zwitschert etwas von 'Wucher', 'Halsabschneider' und 'Hamadat' und watschelt wieder von dannen - in seinen wallenden Gewändern sieht er damit aus wie ein Schiff unter vollen Segeln. Colevar tauscht einen leicht gequälten Blick mit Morian, dann heften sich seine Augen auf Zora und die beiden Kleinen. "Wann ist das denn passiert?" Will er wissen, setzt sich mit einem leisen Schmerzlaut ans Feuer und spricht ganz unbewusst fast im Flüsterton, um die beiden schnarchenden, mit zuckenden Schwänzchen, strampelnden Beinchen und bebenden Ohren träumenden Zicklein nicht zu wecken. "Als wir heute Morgen das Lager verlassen haben, um zur Grube zu gehen, war sie noch so rund wie ein Butterfass." Er krault Zora das graue Kinn, das ihm leise bähend und huldvoll entgegengestreckt wird. "Feines Mädchen, das hast du gut gemacht!" Zora meckert zustimmend, stemmt sich hoch und entert sein ausgestrecktes Bein um sich prompt auf seinem Schoß wieder fallen zu lassen. Umpf. Autsch. Die kuschelsüchtige Ziege in den Armen und Reykir an seiner Seite, der Zora das linke Ohr ableckt, als wolle er ihr ebenfalls gratulieren, ihren schlafenden Nachwuchs aber geflissentlich übersieht (nur seine Nase verrät ihn, die mit weit geblähten Nüstern jede noch so kleine Babyduftspur aufsaugt), spürt Colevar allmählich jeden Knochen im Leib. Er will eigentlich nichts weiter als ein heißes Bad, ein weiches Bett und eine Woche lang nur schlafen... wenn er sich so umsieht, wird daraus allerdings wohl kaum etwas werden. Nicht nur, dass ein eklatanter Mangel an heißem Wasser, Badezubern und Betten herrscht, er will auch auf keinen Fall Morians Fest verpassen, das die Azurianer ihr zu Ehren gerade vorbereiten. Als Mallifer und Osred sich (mit vor lauter Stolz auf ihr Mädchen geschwellten Brüsten) zu Morian gesellen, die Zicklein bewundern, Zora ihre Aufwartung machen und die junge Frau dann über den Löwen ausquetschen, hebt er die Bucca von seinem Schoß und steht auf.

Er braucht dringend ein Bad, er muss sich seinen Rücken ansehen, wo die Bärin ihn erwischt hatte (wie auch immer er das anstellen soll), und er braucht ein paar Minuten Ruhe vor dem ganzen Trubel und der hektischen Betriebsamkeit des Lagers. "Ich bin... bald wieder da", murmelt er, aber keiner nimmt Notiz von seinen Worten: Morian ist viel zu beschäftigt, von ihrem Abenteuer mit Jafta zu berichten, und die beiden Heckenritter sind viel zu beschäftigt, ihr mit großen Augen zu lauschen. Colevar schüttelt mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf, ruft den Hund an seine Seite, holt sich frische Kleidung aus seinen Satteltaschen und verlässt dann humpelnd das Lager in Richtung des kleinen Baches, das ihnen in den letzten Tagen als Quelle, Tränke und Badegelegenheit gedient hat. Inzwischen ist es vollkommen dunkel und der Mond hängt tief über den Bäumen. Die Hitze des Tages hat seit Anbruch der Nacht kaum nachgelassen, die Erde unter seinen Füßen, jeder Stein, ja selbst die Bäume und Sträucher ringsum scheinen dampfende Wärme auszuatmen, doch hier am Wasser ist die Luft etwas frischer. Mit all dem feuchten, verkrusteten Dreck am Leib, dem Gestank nach Bärenpisse in seinen Kleidern und dem getrockneten Blut auf seiner Haut fühlt er sich miserabel, aber das dunkle Wasser des Baches sieht kühl und einladend aus, wenn es auch kaum tief genug sein wird, um darin zu schwimmen. Reykir, der sich mit dem verklebten Fell genauso ekelhaft fühlen dürfte, wie er, sprintet bellend voraus und landet mit einem lauten Pflatsch! mitten im Bach, wo er begeistert durchs Wasser pflügt und sich dann davonmacht, um sich einen Fisch zu fangen. Etwas weiter flussaufwärts findet Colevar das Uferbecken, wo auch Morian gebadet hatte, eine kleine Landzunge, die von stillen Weiden umstanden wird. Dort ist ein Becken mit tieferem Wasser, kleinen Strudeln und sandigem Grund und unter den Bäumen wächst das Gras dicht und lang. Colevar schält sich aus seinen dreckstarrenden Kleidern und genießt einen Moment den leisen Windhauch, den das Wasser heranträgt, auf seiner nackten Haut. Der Bach ist wirklich nicht allzu tief, aber überraschend kühl, fast kalt im Kontrast zur warmen Nachtluft und das Gefühl der Frische und Kälte auf seiner entblößten Haut bringt nach der Hitze des Tages und der erdrückenden Wärme der Dämmerung überwältigende Erleichterung. Colevar taucht einmal völlig unter, lässt die Beine in der sachten Strömung treiben, legt den Kopf für einen Moment auf die Uferböschung und blickt in einen samtblauen Nachthimmel, an dem gerade die ersten Sterne auftauchen. Die Schwingen des Kranichs sind schon fast vollständig zu sehen und er meint Keren, den hellen Stern im Auge des Hasen, irgendwo links davon ausmachen zu können. Hör auf die Sterne zu bewundern. Mach lieber, dass du aus dem Wasser kommst, bevor du hier einschläfst...

Da er keine Seife hat, spült er sich das Haar wieder und wieder im Wasser aus und reibt sich den Körper mit ein paar Handvoll Sand vom Bachgrund ab, bis sich seine Haut dünn und glühend anfühlt. Zerschlagen wie er ist, schmerzt jede Bewegung und das Atmen fällt ihm nicht gerade leicht, aber er glaubt nicht, dass seine Rippen gebrochen oder auch nur angeknackst sind. Dafür zieht sich eine purpurfarbene und schwarzblaue Prellung quer über seinen Oberkörper und im Rücken hat er drei lange, blutige Schrammen und eine mindestens ebenso schwärzliche Verfärbungen in der vagen Form einer Bärenpranke, wo das Mistvieh ihn getreten und gekratzt hatte. Seufzend dreht er sich um und angelt nach den schmutzigen Kleidern auf den Wurzeln einer Weide direkt am Wasser. Es dauert schier endlos, bis er den ganzen Dreck wenigstens halbwegs aus seinen Hosen gewaschen hat, Wams und Hemd erweisen sich bei näherer Betrachtung als nicht mehr zu retten und Colevar legt sie seufzend beiseite. Er ist sehr müde und gleichzeitig fühlt er sich sehr lebendig, wie oft nach einem Kampf... wenn man nicht mehr fähig und willens ist, klar zu denken, sich dafür aber die kleinen, rein körperlichen Wahrnehmungen und Eindrücke um ein Vielfaches verstärken. Die Nacht ist lautlos und still, nur sehr schwach wehen die Geräusche aus dem Lager herüber. Die Luft ist immer noch absurd mild und der Himmel jetzt so schwarz und klar, dass die Sterne wie Diamanten leuchten, mit kraftvollem, hellem Licht. Ein leises Klatschen schreckt ihn auf und Colevar blickt suchend über den Bachlauf. Reykirs großer Kopf durchbricht die Wasseroberfläche, einen sich windenden Fisch zwischen den Kiefern. Dann schwimmt er herüber, schüttelt seine Beute mit ein paar kurzen, kräftigen Bewegungen tot und verschwindet im Schatten der Weiden, um zu fressen. Einen halben Herzschlag später kann Colevar nichts mehr sehen außer die dunklen Umrisse der Bäume, die alles verbergen, was hinter ihnen liegt. Und was das wohl ist? Fragt er sich unwillkürlich. Noch mehr Bäume, antwortet sein Verstand trocken und er lacht leise über sich selbst. Natürlich... aber das hatte er nicht gemeint. Das Larisgrün ist uralt und seit der Zeit der Neun Königreiche schon besiedelt, aber es ist schier endlos und die Menschen, Feen, Kobolde, Mogbars und anderen Wesen, die hier leben, sind nur wenige.

Der Frostweg mit seinen Gasthöfen, kleinen Dörfern, seinen Schmieden und Mühlen, dem Ackerland und den Weiden, den Mietsställen und Karawansereien ist nur ein schmales Band der Zivilisation inmitten dieser endlosen Wälder. Hier und da gibt es eine Stadt, ein Dorf oder auch nur eine Burg mit ein paar Bauernhöfen zu ihren Füßen, aber der größte Teil dieser Wälder ist vollkommen unberührt und wild. Emlyn ist nicht mehr weit. Wenn wir morgen aufbrechen, erreichen wir es in einem Tag. Und dann Lanberis... ich verwette mein Schwert, dass die Söldner im  'Grünen Drachen" bei Cym dem Halsabschneider abgestiegen sind. Morian hatte so etwas ähnliches erzählt an jenem Morgen in Brugia, als sie den Stallburschen ausgehorcht und endlich etwas über die Mörder ihrer Familie in Erfahrung gebracht hatte. Allerdings wusste der Stallbursche nur etwas von Lanberis, keine konkreten Namen – oder er konnte sich schlicht nicht gut erinnern. Es kann eigentlich nur Cym sein... wer sonst käme in Frage? Colevar hat allerdings keine Ahnung, wie sie irgendetwas über die Söldner aus dem zwielichtigen Wirt herausbringen sollen, ohne ihm die Haut in Streifen abzuziehen oder ihm Rindensplitter unter die Fingernägel zu treiben. Vielleicht fällt Morian etwas ein. Oder Mallifer und Osred, falls sie bis dahin immer noch dauernd über uns stolpern und sich nicht den Azurianern anschließen...
Colevar pfeift nach Reykir, hängt seine gewaschenen Kleider zum Trocknen über ein paar Weidenzweige, schlüpft in ein reines Hemd, saubere Hosen und seine notdürftig von Schlamm befreiten Stiefel, wringt sich das lange Haar aus und kämmt es mit den Fingern durch so gut es eben geht – den Hornkamm hat er im Lager vergessen. Von Lanberis sind es nur noch sechshundert Tausendschritt bis nach Hause... falls wir nicht weiterhin dauernd unterwegs irgendwo hängen bleiben. Er hätte nie gedacht, dass es ihn nach Lías Verlust je wieder so sehr an einen Ort ziehen würde, aber das tut es. Er vermisst Talyra. Er vermisst das Sarthetal, Burg Lyness, seinen Vater und den ganzen Clan, die Steinfaust, Olyvar, Rhordri, den Narrenkönig, Aurian, Diantha und Borgil, Varin... seine Freunde, seine Männer, sogar dieses uralte, gähnend leere Monstrum von Haus. Wie immer, wenn ihn solche Gedanken umtreiben, fragt er sich, was sich wohl alles verändert hat. Er war lange fort, viel zu lange. Drei götterverdammte Jahre... Wer ist gestorben, wer noch am Leben? Geht es allen, die er gekannt hatte, gut? Wer hat sich verändert, wer ist noch der gleiche geblieben? Wartet noch ein Leben in der Steinfaust auf ihn? Er glaubt es, aber ganz sicher ist er sich nicht und er weiß auch, dass er kein Recht darauf hat, das zu erwarten oder auch nur zu hoffen.

Du warst bereit, alles was du hattest und dein Leben aufs Spiel zu setzen und du hast es getan. Es ist nicht gut für dich ausgegangen und letztendlich war sie es nicht wert, aber es war deine Entscheidung. Du kannst nicht nach Hause zurückkehren und einfach dein altes Leben wieder aufnehmen. Nein, das kann er nicht. Er will es auch gar nicht. Mit dem Mann, der vor drei Zwölfmonden aus Talyra aufgebrochen war, hat er nicht mehr viel gemein, das weiß er sehr gut. In manchen Dingen mag er sich zum Guten verändert haben, oder zumindest zu Verlässlicherem, Beständigerem und Ernsterem, aber in anderen Dingen ist er misstrauisch, verschlossen und wortkarg geworden. In vielem, was den Umgang mit Menschen angeht. Das war einmal anders, aber das war in einem anderen Leben – nur seine absolute Loyalität, hat er sich einmal einer Sache oder einem Menschen verschrieben, ist ihm geblieben. Will er zu seinem alten Selbst zurück? Manchmal vielleicht. Vieles war so viel einfacher, simpler und bedeutungsloser, aber eigentlich... nein. Genaugenommen war er ein unerträglicher, von sich selbst viel zu sehr eingenommener, unverschämter Flegel, der noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen wäre, aus sich selbst und seinem Leben irgendetwas von Bedeutung zu machen. Wozu auch, wenn es roten Wein und willige Weiber im Überfluss gegeben hatte? Die Melancholie, seine beständige Begleiterin und sein treuester Schatten, die wäre er gern wieder los, aye. Aber er hat die vage Ahnung, dass sie sich nicht so einfach aus seinem Leben verbannen lassen wird... schon gar nicht von ihm ganz allein. Du bist aber allein. Reykirs feuchte Hundenase stupst in Colevars leere Hand, als wisse der Hund genau, was in seinem Kopf vorgeht und wolle auf seine Art und Weise dagegen protestieren. "Na gut, nicht ganz allein. Aber eigentlich habe ich jemanden ohne Fell und nur mit zwei Beinen gemeint, a cí." Hörst du jetzt wohl auf, Trübsal zu blasen? Kehr ins Lager zurück, dort warten zumindest heute Abend fröhliche Mienen, ein paar Azurianer in Feierlaune und genug Hamadat, um dich alles vergessen zu lassen... wenigstens für eine Weile.

Im Lager ist die Feier in vollem Gang, als er zurückkehrt. Al Batin thront auf einem kleinen Berg seidener Kissen am Lagerfeuer und erzählt seiner andächtig lauschenden Zuhörerschaft von Jaftas Schandtaten aus der Vergangenheit, als er noch ein junger und vergleichsweise harmloser Löwe gewesen war, Khadar schmachtet – natürlich – Morian an, die aber heroisch von Mallifer und Osred "bewacht" wird (die gerade in eine ausschweifende Diskussion über die Leidenschaftlichkeit von Frauen und woran man diese zweifellos erkennen kann verstrickt sind), während die kleine Ziegenfamilie im Hintergrund grast und Jafta selbst in seinem Käfig auf Rädern an einer gut abgehangenen Hirschkeule herumnagt. Reykir umkreist Zora und ihre Zicklein, und es ist ihm anzusehen, dass er liebend gern diese herumhopsenden Zwerge näher in Augenschein genommen hätte, aber die Geiß lässt nicht mit sich reden was ihren Nachwuchs angeht. "Gib es auf. In den nächsten Tagen vielleicht, wenn du es schaffst, sie von deiner Harmlosigkeit zu überzeugen." Reykir blickt hechelnd zu ihm auf und Colevar unterdrückt ein Grinsen. "Komm schon, lass Zora in Ruhe. Sie wird dich nicht zu ihren Kleinen lassen und wenn du noch mehr Zähne zeigst, erst recht nicht." Als er sich einen Platz neben Osred sucht – neben Khadar will er lieber nicht sitzen, wer weiß, zu welchen Übersetzungen er sonst noch genötigt wird – und sich nach dem bauchigen Lederschlauch mit Hamadat umsieht, ist Mallifer auf Morians anderer Seite gerade dabei, Al Batin im Tonfall eines Gelehrten, der einen unwürdigen Schüler an seiner Weisheit teilhaben lässt, über die Gebote von Entlohnungen erwiesenen Beistands aufzuklären blumig, umständlich und um so viele Ecken, dass Colevar sich ein Lachen verbeißen muss. Morian grinst schelmisch und nickt eifrig. "Ja, genau. Ein götterfürchtiger Mann wird jene entlohnen, die ihm einen Dienst erwiesen haben. Vor allem, wenn ihm dadurch schröckliche Qualen erspart geblieben sind..."



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