Die Stadtmauern
Das Erste, das ein Reisender von Talyra zu Gesicht bekommt, ist die schier unüberwindlich erscheinende Stadtbefestigung. Die gewaltigen Mauern, die sich als steinerner Ring rund um ein Meer aus Häusern, Türmen, Tempeln, Straßen und Gassen schlingen, sind aus hellen, grauen Steinquadern erbaut und ragen hinter einem tiefen Stadtgraben gut zwanzig Schritt hoch empor. Die Stadtmauern Talyras sind etwa sechs Schritt breit und - bis auf die offene Seeseite -, rundum mit begehbaren Wehrgängen, drehbaren Trebuchets und Ballisten, Schießscharten und Pechnasen in Form steinerner Löwen versehen. Alle zweihundert Schritt ragen starke, winklige Bastionen weit aus den Mauern, während die Eckpunkte der Stadt, dort, wo die Mauern aufeinandertreffen und am Seeufer, wo sie enden, von mächtigen Rundtürmen geschützt werden. Diese Rundtürme, fünf an der Zahl, sind alle um die vierzig Schritt hoch und haben einen Durchmesser von gut achtzehn Schritt. Im Nordwesten, nahe der Stelle, wo der Llarelon, gezwängt in zwei mächtige Stauwehre, den Stadtgraben und die Mauern passiert, steht die "Dicke Hulda", der älteste Rundturm der Stadt. Im Südwesten, östlich vom Händlertor, befindet sich der mit 45 Schritt höchste Turm Talyras, der Luginsland. Im Südosten, direkt unterhalb des Hafens, wo die Mauer ans Ildorelufer stößt, findet sich der Untere Seeturm, der Obere Seeturm dagegen steht an der Mündung des Llarelon in den Ildorel. Im Nordosten, nahe des Smaragdstrandes, schließlich prangt der Waldturm, der weit über die Wipfel des Larisgrüns blickt.
Der Ring der Stadtmauern ist jedoch nicht völlig geschlossen: an der Seeseite Talyras, zwischen Waldturm und Oberem Seeturm, befindet sich überhaupt keine Festungsanlage, das Ufer scheint auf den ersten Blick und auf eine Länge von mehreren Tausendschritt vollkommen ungeschützt. In früheren Zeiten wurde diese Tatsache hin und wieder als Einladung genommen, die Stadt anzugreifen, doch wer es je von der Seeseite her versuchte, musste böse Überraschungen erleben. Nördlich und östlich des Hafens ist der Ildorel in der Bucht von Talyra bis auf wenige Stellen sehr seicht, so dass Kriegsschiffe mit viel Tiefgang nicht auf Reichweite ihrer Geschütze herankommen, wenn sie sich nicht sehr gut in den hiesigen Gewässern auskennen. Natürliche Felsformationen und Riffe ziehen sich zudem in einem losen Halbkreis durch die Bucht von Talyra, wurden mit Wehrtürmen versehen, und können im Kriegsfall untereinander durch schwere, baumstammdicke Eisenketten verbunden werden. Im Jahr 12 des Fünften Zeitalters, der Zeit des Blutes und der Kleinkriege, gingen die Talyrer in der Verteidigung ihrer Stadt sogar so weit, das flache Wasser ihrer Bucht mit Loas Öl in Brand zu setzen und so die angreifende Flotte Vînnars in ein Häufchen Asche zu verwandeln. Seither wurde nie wieder versucht, die Stadt vom Ildorel her einzunehmen. Die ganze Stadtmauer, die Wehrgänge, die Bastionen, die Rundtürme, die Vorwerke und Zinnen, die Toranlagen und Schießscharten, kurz, die gesamte Festungsanlage der Stadt, ist natürlich ständig von wachsamen Blaumänteln, Bogenschützen und Spähern besetzt, die sowohl das Umland als auch die Straßen Talyras scharf im Auge behalten.
Die Gräben unterhalb der Stadtmauern, welche Talyra an der Nord-, West- und Südseite zusätzlich schützen, sind nahezu sechzehn Schritt breit und ungefähr zwölf Schritt tief. In Friedenszeiten lassen die Talyrer dort von Frühling bis Herbst ihr Kleinvieh weiden: Schafe, Schweine, Ziegen und ganze Herden von Enten und Gänsen. Im Winter dienen sie vor allem den Kindern als beliebter Rodelhang und Schneespielplatz. Im Kriegsfall allerdings kann ein jeder dieser Gräben durch unterirdische Tunnel und Schleusen mit Seewasser geflutet werden. Dort, wo der Llarelon in die Stadt fließt, wurde der Flusslauf in ein künstliches Bett gepresst, das zu beiden Seiten aufgeschüttet und abgemauert wurde, so dass der Fluss wie ein künstlicher Kanal durch den Stadtgraben gelenkt wird. Dort, wo seine Wasser unter der Wehrmauer hindurch nach Talyra strömen, schützt außerdem ein eisenstachelbewehrtes Gitter den Durchfluss bis zum Grund.
Die Ringstraße
Vom Platz der Händler aus, wo im Sommer auch hin und wieder Hausierer, Bettler, fahrendes Volk oder Wanderhuren lagern, die entweder keinen Zutritt zur Stadt erhalten oder den Schutz ihrer Mauern aus freien Stücken meiden, führt eine breite, gut gepflasterte Straße an der ganzen Westmauer und den dortigen Stadtgräben Talyras entlang, kreuzt im Nordwesten den Frostweg und zieht sich bis hinauf zum Nordtor, wo sie schließlich auf die Große Nordstraße trifft. Viele kleinere Wege oder einfache Waldpfade aus Umland und Larisgrün münden auf diese "Ringstraße" um die Stadt, so dass auf ihr ein beständiges Kommen und Gehen herrscht – Passanten, Hirten, Bauern und Händler, fahrendes Volk, Botenkinder, Meldereiter, Kaufleute, Kesselflicker, Handwerksburschen auf der Walz, fahrende Sänger, Reisende, Heckenritter… während der warmen Monde eines Jahres ist auf der Ringstraße rund um Talyra stets etwas geboten, stets etwas zu sehen und natürlich auch jede Menge Gerüchte aufzuschnappen, wenn man einen der Bettler, Hirtenjungen, die Kleinvieh in den Stadtgräben hüten, oder Bauern fragt, die gerade zum Markt fahren oder von dort kommen…