Der Marktplatz

    • Offizieller Beitrag

    Der Marktplatz

    Der Marktplatz ist das lebende, pulsierende Herz Talyras. Inmitten der Stadt gelegen, dort wo die größten Straßen zusammenlaufen, finden sich um sein gepflastertes Rund eine Vielzahl der wichtigen Gebäude der Stadt: die Stadt- und Zeremonienhalle, die Badehäuser aus imperialer Zeit, die Goldene Harfe mit dem baumbeschatteten Harfengarten, der geheimnisvolle Kupferkessel, zahlreiche Anwesen reicher Kaufleute und bekannter Handwerker, einige Handelskontore, der Blaupfuhl-Park an seinem Nordwestrand, um dessen kleinen See die Stadtbewohner nach einem Marktbesuch gern in der Sonne sitzen oder sich zu einem Schwätzchen treffen. Auffallend ist das noch kaum abgenutzt aussehende Kopfsteinpflaster auf dem gesamten nordwestlichen Platz - ein Andenken an einen Dämonenangriff auf die Stadt, der vor einigen Jahren stattfand.

    In der Mitte des Marktplatzes erhebt sich der Festbaum, eine schlanke Goldeiche von schönem, geraden Wuchs und mit vielen kräftigen Ästen. Am Südrand des Marktplatzes, dort, wo er in die Breite Gasse zum Flussgrundviertel mündet, befinden sich die Pranger, wo verurteilte Halunken, die kleinere Vergehen begangen haben, dem Spott der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Betrieb herrscht auf dem Marktplatz täglich außer an den hohen Festtagen und natürlich an jedem Shentag. Doch von Faêrtag bis Inartag bieten alle Händler und Bauern der Umgebung, aber auch fahrende Händler und Hausierer hier ihre Waren, Lebensmittel, kleinere Handwerkserzeugnisse, Haushaltsbedarf und Kleinvieh zum Verkauf an, so dass stets Betriebsamkeit und lautes Stimmengewirr zwischen den bunten Buden und Ständen herrschen. Regelmäßige Patrouillen der Stadtgarde sichern den Marktfrieden, sorgen dafür, dass die Marktordnung eingehalten wird und der Handel ohne Zwischenfälle abläuft - doch so wachsam sie auch sein mögen, selbst sie können ihre Augen nicht überall haben: Auch Beutelschneider aus der Unterstadt oder dem Fliegengrund gehen im Gewühl ihrer Tätigkeit nach und Diebe, Straßenkinder oder Bettler versuchen wie in jeder größeren Stadt etwas von den Ständen mitgehen zu lassen...



    ~ Die Marktordnung ~


    Zur Zeit des Marktes soll ein jeder dessen Brauch und Recht einhalten, wie es allzeit gewesen. Dazu gehöre unter anderem auch, dass das Betteln, das Herumlungern und Gammeln am Markttag verboten sei. Ebenso untersagt seien unzüchtiges Benehmen oder das lüsterne Nachstellen nach einem Weiberrocke. Dies gelte selbstverständlich auch für das Weibsvolke nach dem Hemdschoße eines Mannes. Das Tragen schwerer Waffen sei untersagt, ebenso wie das Austragen eines Streites mit blankem Eisen, das wilde Raufen, Saufen oder Pöbeln. Es sei verboten, Fisch und Fleisch zu berühren, so man es nicht kaufen will. Wer verfaulte oder schlechte Waren feilbietet oder versucht, zu betrügen und zu gaunern, der sei bei den Marktwachen anzuzeigen.

    Me? I'm dishonest, and a dishonest man you can always trust to be dishonest. Honestly. It's the honest ones you want to watch out for, because you can never predict when they're going to do something incredibly... stupid.
    Captain Jack Sparrow

  • Ende Blätterfall 521


    Das geschäftige Treiben auf dem Marktplatz Talyras ist nicht zu vergleichen mit allen anderen Märkten, die Aneirin bisher aufgesucht hat. Obwohl der Seuche wegen spürbar weniger Volk unterwegs ist und die Marktwachen deutlich präsenter erscheinen als noch zu Zeiten, in denen die Welt in bester Ordnung schien. Viele halten, wie Aneirin, noch Mund und Nase bedeckt, doch ebenso wagen sich schon viele auf dem Weg in die Normalität ohne Schutz durch die Menschenmengen. Doch nicht nur die laufende Kundschaft ist in ihrer Zahl weniger unterwegs, auch die Händler sind nicht mehr in gewohnter Zahl vertreten. Es sind wahrlich noch viele, doch immer wieder gibt es Lücken und lang vertraute Gesichter fehlen.


    Mit einem gedämpften „Danke“ tauscht Aneirin seine Münzen gegen einen gegrillten Fleischspieß und ein Stück Fladenbrot und zieht weiter durch die Reihen der Marktstände. Etwas weiter abseits bleibt er stehen, zieht das Tuch, das Mund und Nase bedeckt hält, herunter und beginnt von dem würzigen Fleischspieß zu essen, während er seinen Blick gedankenverloren über das Treiben des Marktes schweifen lässt.


    Die letzten Tage hat er sich fast schon kopflos in die Arbeit in der Bäckerei gestürzt. Zum einen hat er es einfach vermisst und genießt das gemeinsame Tun mit Falk - zum anderen wollte er den tragischen Nachrichten der letzten Tage möglichst wenig Raum geben. Aneirin weiß, dass er damit hatte rechnen müssen, aber die Tatsache, dass er einige bekannte und geliebte Gesichter nie wieder sehen wird, schmerzt so viel mehr als er gedacht hätte. Umso mehr erleichtert es ihn, vertraute Personen wiederzusehen und zu wissen, dass es den meisten trotz allem den Umständen entsprechend gut geht. Immer wieder sucht sein Blick die kräftige Krone der schlanken Goldeiche in der Mitte des Marktplatzes, deren goldgelbe Blätter sich harmonisch in die herbstliche Stimmung fügen, besonders dann, wenn der Wind sich das eine oder andere güldene Blatt schnappt und es durch die Luft tanzen lässt.


    Gesättigt und des Holzspießes entledigt zieht es Aneirin zurück zum Marktplatz. Mit geübtem Griff zieht er sich das Tuch erneut über Mund und Nase und schlendert etwas ziellos von einem Stand zum nächsten. Er ist nicht auf der Suche nach etwas Bestimmten und hat sich auch nicht zum Ziel gesetzt, etwas zu erwerben. Stattdessen versucht er seine freie Zeit an diesem Tage etwas zu genießen, ohne tatsächlich etwas vorzuhaben.


    An einem Stand mit Schmuckstücken aus jeglichen Materialien bleibt sein Blick an einer kleinen Schnitzerei hängen. An seinem zarten Lederband hängt ein fein geschnitzter, ebenholzfarbener Wolfskopf, der sich unauffällig neben weiteren hölzernen Tierköpfen sanft in einer lauen Brise wiegt. In seinem Geiste blickt Aneirin in vertraute bernsteinfarbene Augen, während er sich das Schmuckstück eine Weile zögerlich besieht, ehe er vorsichtig die Finger danach ausstreckt.

  • "Don't I know you, mister?"

    - Beggar Lady from Sweeney Todd




    Ende Blätterfall 521


    Altersschwach knarzen die über die Jahre brüchig gewordenen Weidenzweige des Hänkellosen Korbes, als Lyall diesen auf den Boden abstellt, um das Gemüse darin zu verstauen, welches ihr der Händler freundlicherweise herüber reicht.

    Saftiger Porre und knackig pralle Äpfel wechseln gegen klingende Münze den Besitzer, bevor die Wargin den Korb wieder an sich nimmt. Um ihn besser tragen zu können, stützt sie diesen auf ihrer Hüfte ab und schlendert derweil zu einem weiteren Stand, bei dem einem schon von Weitem herrlich orange Kürbisse entgegen leuchten.

    Normalerweise stehen derlei Gemüsevarianten selten auf ihrer Einkaufsliste, zieht Avila doch das meiste davon selbst im Garten des Anwesens de Winter heran. Die vielen kranken Kinder hatten die Vorräte über die vergangenen Monde hinweg jedoch rapide schwinden lassen, sodass ein Zukauf unumgänglich wurde und selbst das Eingelegte und Eingemachte war fast restlos verputzt worden. So gilt es nun, die Vorräte erneut stetig aufzustocken und zudem die fehlenden Zutaten für einen deftigen Eintopf, den es abends geben soll, heranzuschaffen.

    Ein leichter Windhauch lässt die in allerlei rotgold und sonnengelben Tönen schattierten Blätter der großen Eiche erschaudern und ist schließlich auch zwischen den Ständen spürbar. Unbewusst atmet Lyall den typisch würzigen Geruch des Herbstes ein, welcher sich hier auch noch mit allerlei Düften nach Speis und Trank vermischt. Eigentlich ist diese Jahreszeit ihre liebste. Sie kann es normalerweise kaum abwarten jeden Zwölfmond aufs Neue mit den Gaben der Natur zu dekorieren, diese wunderbare Zeit der sich in ein festliches Gewand hüllenden Natur in ihr Heim zu holen und alles allabendlich mit zartem Kerzenschein zu überhauchen. Doch seit Beginn der Roten Suche ist vieles anders geworden, haben andere Themen oberste Priorität eingenommen und für Besinnlichkeit sowie die kleinen Freuden des Lebens war keine Kraft und kein Elan mehr übrig gewesen. Zudem fühlt es sich für die Wargin geradezu nach an Blasphemie grenzender Kurzsichtigkeit an, in so schweren Zeiten den Fokus auf faktisch „Unwichtiges“ zu lenken. Im Innersten ist dies wahrscheinlich nicht zutreffend, das ist ihr klar, aber das Gefühl bleibt stets wie zähes Birkenpech an ihrer Seele kleben.

    Die aufkeimende Schwermut bricht sich als tiefer Seufzer Bahn. Auch ihre Zweisamkeit mit Cinaéd hatte sehr unter der räumlichen Trennung gelitten und beide haben an diesen inneren als auch den externen Umständen schwer zu tragen gehabt. Doch die Tage der Einsamkeit sind beinah gezählt. Sobald das Anwesen wieder in Schuss ist und Lyall ihre beiden Freundinnen guten Gewissens ihrem Alltag überlassen können wird, wird die Wargin auf geschwinden Pfoten nach Glyn-y-defaid zurückeilen. Und ihre Besuche auf dem Schafhof würden endlich nicht mehr nur bessere Stippvisiten sein.


    Anscheinend hat nicht nur die Drachenländerin die Kürbisse erspäht, haben sich mittlerweile eine Handvoll weiterer Interessenten um den Marktstand gesammelt. Doch Lyall hat es nicht wirklich eilig, wartet geduldig, bis sie an der Reihe ist und lässt ihren Blick derweil über die Früchte wandern, schon im Geiste einen von diesen aussuchend.

    Zwei der Frauen in der Reihe vor ihr kommen mit dem Inhaber des Standes in eine Diskussion über die Angemessenheit der Preise in Anbetracht der wohl - in deren Augen - doch nicht so perfekten Kürbisse und es entfacht sich kurz ein heftiger Disput, der in den Ohren der Wargin schmerzhaft nachhallt. Dann jedoch dreht sich eine der Damen unerwartet abrupt um und hätte mit entrüstet vorgeschobenem Kinn und eingeschnappt aufgeblähtem Brustvorbau Lyall beinahe über den Haufen gerannt, wenn ihr Körper nicht ohne ihr aktives Zutun reflexartig nach hinten ausgewichen wäre. Eine Kollision mit dem Ego-gekränkten Weiblein hat sie somit vermeiden können, rempelt allerdings infolgedessen mit ihrem Rücken gegen jemand anderen und dies so heftig, dass kurz ihre Zähne aufeinander schlagen und die Feldfrüchte im Korb einen aufgeregten Satz machen. Ihre freie Hand in einer entschuldigenden Geste hebend, wendet sie sich mit schamhaft angezogenen Ohren zum Opfer ihrer unfreiwilligen Rempelattacke um.

    „Entschuldigt bitte, das war keine Absicht.“, lässt sie höflich, aber relativ kurz angebunden verlauten und will sich auch schon wieder wegdrehen, da bleibt ihr Blick an grünen Augen in einem seltsam vertraut wirkenden Gesicht hängen.

    Für weniger als einen Herzschlag meint sie den frühlingsgrünen Blick wiederzuerkennen, liegt in diesem eine fast vergessen geglaubte Vertrautheit, was ihr einen beinah schmerzhaften Schauer über den Rücken laufen lässt. Doch der Schalk und Frohsinn dieser Augen, an die die Wargin sich nur zu gut und wehmütig erinnert, liegt in diesen dort nicht.

    Er ist es nicht.

    Das Gesicht wirkt auch nicht wie seines, sondern durch das Leben gereift, bärtiger und mit feinen Linien ergänzt, an welche sich die Drachenländerin nicht zu erinnern vermag. Es ist wohl doch nur ein Reisender, der sie unsagbar schmerzlich auf ihn zurückbesinnen lässt.


    „Oh, verzeiht. Ich nahm an, wir kennen uns...“, möchte Lyall ihr starren entschuldigen. Doch glänzt da nicht plötzlich ein Hauch von Wiedererkennen in den smaragdfarbenen Scheiben? Sind es nicht doch des Bäckermeisters Augen, in denen sie sich gefühlt unzählige Male gespiegelt hatte, die sie so leicht mit einem Lachen anzustecken vermochten und stetig fröhliche Unbekümmertheit aussandten? Auch wenn sich die Signale der Seele an die Außenwelt geändert haben mochten, das Muster der feinen silbererzgleichen Linien in seinen Iriden sind, einem Fingerabdruck gleich, ein unverkennbares Wiedererkennungsmerkmal.

    Bei Ea, er ist es doch! Kann das wirklich möglich sein? Soll der Tag, den sie so sehnlichst herbei gewünscht und im selben Atemzug unsagbar gefürchtet hatte, wirklich heute sein?

    Ihre bernsteinfarbenen Augen huschen über seine Züge, seine Kleidung sowie die zu erahnenden Strukturen des Körpers darunter... seine Statur ist kräftiger, die Haare länger und ebenso der dichte Bart. Alles in allem wirkt er... gereifter. Aber auch ernsthafter, gesetzter. Langsam sickert die Erkenntnis immer tiefer in ihr Bewusstsein, wie das Nass einsetzenden Regens auf ausgedörrtem Boden: es ist ohne Zweifel Aneirin, der dort vor ihr steht. Ihr Kopf ist leer und gleichzeitig so voller umher schwirrender Gedanken, die wie aus ihrem Stock aufgescheuchte Bienen verwirrt umher zischen. Sie weiß nicht, was sie denken und fühlen soll.

    Da ist Wut, Trauer, Angst und Hilflosigkeit. Am liebsten würde sie ihm eine schallende Ohrfeige verpassen. Was bildet er sich eigentlich ein? Ohne ein erklärendes Wort aus ihrem Leben zu fliehen, nur über Briefe zu kommunizieren und fast sechs Monde lang nichts mehr von sich hören zu lassen, sodass die Wargin fest damit gerechnet hatte, er wäre schlussendlich auch ein Opfer der Roten Seuche geworden. Und sie hätte es nie erfahren. Hätte gewartet bis zum jüngsten Tag, immer mit einer winzigen Hoffnung im Herzen, die womöglich doch vergebens war. Diesen schrecklichen Gedanken hält sie zwar fest verschlossen und traut sich nicht diesen, auch nur ansatzweise, in Worte zu fassen, aber er existierte unleugbar in ihrem tiefsten Inneren.

    Anschreien möchte sie ihn, wie er nur so egoistisch sein konnte, wie dreist und... unverschämt. Freunde taten so etwas einander nicht an! Schlimmer als ein Dolchstoß hatte es sich angefühlt, als sie von seiner Abwesenheit erfuhr und ebenso gekränkt, verraten, enttäuscht. Und nun läuft die Wargin buchstäblich in ihn hinein. Hätte er nicht erst zu ihr kommen müssen? Seine Ankunft gleich mitteilen... ihr mitteilen sollen? Sie verspürt einen unangenehmen Stich, wenn sie bedenkt, dass sie wohl doch nicht so eine wichtige Stellung in seinem Leben zu haben scheint, wie sie all die Zwölfmonde angenommen hat.

    Andererseits weiß ein Teil in ihr ebenso gut, dass diese negativen Gefühle nur ein Mechanismus sind, mit der so lange persistierenden Angst und Ungewissheit um seinen Verbleib umgehen zu können. Sie kann ihr Glück kaum fassen, dass er wirklich wieder in der Stadt sein soll. Munter und lebendig, offenbar auch gesund und alles in allem Aneirin, wenn auch durch wohl nicht immer fröhliche Erfahrungen gezeichnet.

    Sie will ihm so unendlich erleichtert um den Hals fallen, ihn fest umarmen und am liebsten bis zur Ohnmacht drücken, damit sie seine Lebendigkeit spüren und sich sicher sein kann, dass er es auch tatsächlich ist. Will ihn tausende Fragen fragen und im selben Atemzug so viel berichten und das, obwohl sie nicht einmal weiß, wo sie beginnen soll.


    Am Ende tut sie nichts von alledem. Ihr Mund bleibt stumm, ihr Körper starr. Kein nach ihm greifen, keine Umarmung, kein liebes Wort. Sie ist erstarrt, wie in einem Schockzustand gefangen. Die Gedankenfetzen prasseln unbarmherzig auf Lyall herab, wie brennende Trümmer eines in Flammen stehenden Hauses. Sie hört und sieht nicht mehr, wie ihre taub gewordenen Finger den eben noch so festen Griff um den Korb lösen und sich der Inhalt zu Aneirins und Lyalls Füßen ergießt. In ihren Ohren beginnt es zu rauschen, welches nur von ihrem tieftraurigen Schluchzen überlagert wird. Ihre Augen sehen ihn an und sehen doch durch ihn hindurch, weiterhin damit überfordert, seinen Anblick richtig einzuordnen. Dann wird es einfach zu viel. All die angestaute Angst und Ungewissheit entlädt sich und ihre Tränen wollen gar nicht mehr aufhören zu fließen. Sie schlägt die Hände vor ihr Gesicht und weint so bitterlich, traurig und gleichzeitig unsagbar erleichtert, wie sie es sich schon lange nicht mehr zugestanden hat. Der waldgrüne Stoff des über den Mund gezogenen Tuches wird nass und dunkel, als ihre Tränen diesen tränken. „Ach Aneirin...“, presst sie schließlich doch hervor und blickt ihn aus geröteten Augen an. Sie greift nach seiner Hand und schmiegt diese an ihre feuchte Wange. „Endlich bist du wieder da.“

    'Er, excuse me,' said the man as Nanny Ogg turned away, 'but what is that on your shoulders?'
    '
    It's. . . a fur collar,' said Nanny.
    'Excuse me, but I just saw it flick it's tail.'
    'Yes. I happen to believe in beauty without cruelty.'

    Terry Pratchett

    Einmal editiert, zuletzt von Lyall ()

  • Ende Blätterfall 521


    Noch ehe seine Finger die Gelegenheit bekommen das Schmuckstück zu berühren, reißt ihn ein recht unsanfter Stoß in seinem Rücken aus seinen Gedanken. Früher hätte Aneirin sich bei dem bekannten Treiben auf dem Marktplatz wohl eher weniger darum geschert. Doch in Zeiten wie diesen, in denen die Menschen doch eher noch darauf bedacht sind, Abstand zu halten, scheint dies doch eher ungewöhnlich.

    >Entschuldigt bitte, das war keine Absicht<, ertönt es bereits als er sich herum dreht. Für einen kurzen Herzschlag lang trifft seinen Blick einen bernsteinfarbenen, sich abwendenden Blick, woraufhin Aneirin perplex blinzelt. Ist das nicht…? Sofort wandern seine Augen hoch, und über den schwarzhaarigen Schopf, der nicht mehr den Glanz aufweist, den der Bäckermeister gewohnt ist und überprüfen mit kurzem Blick das Vorhandensein der Wolfsohren.

    Natürlich ist sie es, wie könnte er sie auch nicht erkennen. Obwohl er bereits aus Erzählungen wusste, dass die Wargin die Seuche überlebt hat, durchströmt ihn nun Erleichterung, wie er sich dessen nun endlich von Angesicht zu Angesicht versichern kann. Wenngleich Erschöpfung und Müdigkeit ihre Züge zeichnen, so hat sie die letzten Jahre überlebt. Und ist das nicht genau das, was derzeit zählt?

    Als sich ihre Blicke erneut treffen, zieht Aneirin den Schal von Mund und Nase, um seiner Freundin ein warmes Lächeln zu schenken, die ihn scheinbar nun ebenfalls erkannt hat, wenn er ihren Blick richtig deutet. Doch auf ein Lächeln ihrerseits wartet Aneirin vergebens, was sogleich wieder das schlechte Gewissen in ihm wachruft, das er nicht nur ihr gegenüber hat. Er hatte sich in den letzten Monden bei niemandem hier aus Talyra mehr gemeldet und mit jedem weiteren Treffen vertrauter Gesichter wird ihm nun ganz allmählich bewusst, was das in denen, die ihm nahestehen ausgelöst haben muss.

    Sein Blick folgt für einen kurzen Augenblick dem dumpfen Aufprall des Weidenkorbes auf dem Pflaster und sieht mit an, wie knackige, pralle Äpfel zwischen ihren Füßen hindurch rollen. Er schaut Lyall wieder an, schuldbewusst und entschuldigend. Da ist so viel, dass er ihr gerne erklären würde, obwohl er selbst nicht einmal für alles eine Erklärung hat. Er möchte sich entschuldigen, denn das Letzte, das er will, ist sie unglücklich zu sehen und womöglich auch noch daran schuld zu sein.

    Doch kein Wort kommt über seine Lippen und als sie schluchzend die Hände vor das Gesicht schlägt ist der Bäckermeister für zwei, drei Herzschläge lang überfordert, worauf und wie er zuerst reagieren soll. Bevor eine flinke Kinderhand sich der mit wohlverdienter Münze bezahlten Äpfel dreisterweise annehmen kann, sammelt Aneirin sie rasch ein und versucht dabei die fragenden Blicke, das Gemurmel und das Kopfschütteln der Umstehenden zu ignorieren.

    Als er den Korb vor ihre Füße stellt und sich wieder Lyall zuwendet, weint seine Freundin immer noch so bitterlich, dass es ihm das Herz zerreißt.

    „Lyall…“, spricht er bedächtig, hebt seine Hand und schiebt ganz sachte mit dem Zeigefinger das von Rotz und Tränen nasse, waldgrüne Tuch von ihrem Gesicht, befürchtet er, dass sie früher oder später nicht mehr anständig darunter würde atmen können. Kaum, dass er das Tuch über ihr Kinn geschoben hat, streifen seine Finger sanft zurück über ihre erschöpften und traurigen Züge zu ihrer Wange und beginnen die unaufhörlich fließenden Tränen stetig fortzuwischen.

    >Ach Aneirin…<, presst sie schließlich immer noch schluchzend hervor, greift nach seiner Hand und schmiegt ihre Wange in diese. >Endlich bist du wieder da.<

    Sanft zieht Aneirin sie an sich heran und umarmt sie fest. „Ja“, flüstert er, das Kinn auf ihrem Haupte ruhend und so nah an ihren Ohren, dass er sicher ist, dass ein Flüstern genügt. „Ich bin wieder hier.“ Am liebsten würde er sie noch eine ganze Weile so halten, sie sich beruhigen lassen, ihr alles erklären. Doch ist es weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.

    Nach einem tiefen Atemzug schiebt er sie vorsichtig fort, greift ihren Weidenkorb und legt den Arm schützend um sie. „Komm“, raunt er leise und nimmt sie sanft aber bestimmt an seiner Seite mit fort von den Zuschauern, den Ständen und dem ganzen Marktplatz.


    Zielsicher, wenn auch längst nicht so schnell wie ihm lieb wäre, führen ihn seine Schritte zum nordwestlichen Rand des Platzes. Das Schluchzen an seiner Seite ist zwar etwas leiser geworden, dennoch hält er den Griff fest um Lyall, unsicher, ob ihr nicht doch noch nach anfänglichem Stolpern und Wanken die Knie plötzlich versagen. Sein Weg führt ihn zum Park mit seinem kleinen See, dem Blaupfuhl.

    Als sie den Blaupfuhl erreichen werden nicht nur Aneirins Schritte langsamer, seine gesamte Haltung entspannt sich merklich. Sein Blick gleitet hinauf in die Baumkronen und mit einem zarten Lächeln beobachtet er das Spiel der Blätter im Wind. Eins nach dem anderen pflückt dieser von den Wipfeln und lässt sie einem Blätterregen gleich nach und nach den Weg vor ihnen in herbstlichem Rot und Gold bedecken.

    Aneirin lässt seinen Blick schweifen. Die hölzernen Bänke, die auf den kleinen See ausgerichtet sind, gibt es noch. Auf einer sitzt ein alter Herr, auf seinen Gehstock gestützt und seinen Blick auf dem See ruhendend. Auf einer anderen sitzen drei junge Frauen, lachen und tratschen fröhlich, genießen die gemeinsame Zeit nach einem ausgedehnten Marktbesuch ihren vollen Körben nach zu urteilen. Die nächste Bank ist leer, doch der Bäckermeister führt die Wargin in seinem Arm weiter. Er hält Ausschau nach einer ganz Bestimmten. Es ist lange her, doch wie könnte er vergessen, welche es gewesen ist.

    Schließlich stellt er freudig fest, dass eben jene Bank, die er auserkoren hat, frei ist, als würde sie nur auf Lyall und Aneirin warten. Erst dort angekommen lockert Aneirin den Griff um Lyall und lässt sie aus seinem Arm auf das dunkle, etwas verwitterte Holz gleiten. Ohne sie vollständig loszulassen, stellt er den Korb auf den Boden und setzt sich neben sie. Seinen Arm legt er erneut um sie, lässt sie sich an ihn schmiegen und lässt seinen Kopf sanft auf ihrem ruhen. Seine Augen schauen hinüber zum See, beobachten das Lichtspiel der Mittagssonne auf dem ruhigen Wasser, das nur hin und wieder durch eine der Enten in zarte Wellen versetzt wird.

    „Erinnerst du dich? Unsere erste Verabredung am Abend einer Neumondnacht… Wie lang ist es jetzt her? Sechs Zwölfmonde? Oder gar schon sieben?“ Aneirin erinnert sich gut an diesen Abend. Erinnert sich an das zurückhaltende, scheue Mädchen, das unter jeder Berührung zusammenzuckte als wollte er ihr etwas antun. Er erinnert sich an das kleine Häschen, das er für sie mit der Flöte hervorgezaubert hat, dass Lyall ihn einen Magier nannte. Aneirin muss immer noch schmunzeln, wenn er daran zurückdenkt. Und er erinnert sich, an den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

    Das Lächeln schwindet von seinen Zügen. Eine Weile lang schweigt er und hält dabei den Blick auf den See gerichtet. In Gedanken wägt er ab, was er ihr sagen soll. Was er ihr sagen will. Alles kann er ihr nicht erzählen. Und will es auch nicht. Für manches hat er selbst keine richtige Antwort. Aber etwas muss er ihr sagen und hoffen, dass sie Verständnis zeigt, auch wenn es schwierig sein sollte. Ob sie es verstehen wird, wenn er ihr nicht alles erzählt?

    Nach einer Weile blickt er zu ihr herab und sucht ihren Blick. „Es tut mir leid…“, spricht er und meint es auch so. Und doch wird er für den Augenblick nicht deutlicher, was genau ihm leidtut. Denn er meint so vieles. Er ist sich sicher, dass es ihr nicht ausreichen wird. Das würde es ihm auch nicht. Aber er wüsste auch gar nicht, wo er anfangen soll. Stattdessen sieht er sie nur weiter an und hofft einfach, dass sie nicht aufsteht und geht.

  • Ende Blätterfall 521


    Das herzerweichende Schluchzen ist schon lange verklungen und auch ihre Tränen einstweilen versiegt, doch Lyall schweigt weiterhin. Den Blick starr auf ihre Stiefelspitzen geheftet spürt sie Aneirins Anwesenheit mehr, als dass sie ihn direkt sehen kann und fühlt sich beinahe so paralysiert, wie bei einer ihrer ersten Begegnungen.


    Als ihr Freund ihr gemeinsames erstes Treffen erwähnt, hier an diesem Platz, presst sie rasch ihre Augenlider aufeinander, um die Tränen auszusperren, welche sich erneut Bahn zu brechen versuchen. Natürlich weiß die Wargin wo sie beide gerade verweilen (auch wenn sie den Weg dahin durch den Schleier ihrer Tränen nur unzureichend hatte erkennen können) und sie kann sich an das kleine magisch erzeugte Wesen erinnern, welches durch Aneirins Zauber zum Leben erwacht war. Es war so zart und durchscheinend gewesen, wie ein Blütenblatt und doch so agil, wie ein echtes Tier. Es tanzte so lieblich zu seiner Flötenmusik, dass es Lyalls Herz im Sturm erobert hatte. So, wie es Aneirin getan hatte. Seit dem ersten Augenblick am Zaun des Anwesens, hat sie eine Verbindung zu diesem Mann gespürt und obwohl sie Vorsicht ihm gegenüber walten ließ, empfand sie diese tiefe, vertraute Empathie schon damals in zarten Zügen.


    Auch jetzt ist er ihr nach so langer Zeit der Trennung nicht fremd geworden und ruft in ihr dasselbe heimelig-warme Gefühl wach. Gleichzeitig wirkt er ungewohnt verändert und… irgendwie anders. Die Wargin kann die unterschwellige Emotion nicht in Worte fassen, doch da ist ein aufkeimendes Gefühl in ihr, welches Lyall eine vage Vermutung von erworbener Andersartigkeit ihres Freundes vermittelt und sich nicht abschütteln lassen will. Natürlich hat sich der blonde Bäcker verändert, dass lässt sich auf so einer langen Reise gar nicht vermeiden. Doch diese Andersartigkeit hat nichts mit einem gereiften Charakter oder neu gewonnenen Eindrücken zu tun. Nein… Etwas in oder an ihm ist anders. Und Lyall weiß genau, dass ihr Unterbewusstsein sich nicht durch den Bartwuchs in seinem Gesicht oder die etwas tiefer eingegrabenen Linien der Haut verunsichern lässt.


    Doch wirklich viel Raum will sie dieser inneren Unruhe auch nicht zugestehen, denn schließlich ist ihr Freund nach so einer langen Zeit endlich wieder in Talyra angekommen. Endlich ist er wieder zuhause. Sie möchte sich einfach nur freuen und das tut sie eigentlich auch, doch es fällt ihr schwer dies gerade in dem Maße an Überschwänglichkeit zu zeigen, die sie gerade empfinden mag. Dass er ihr in den letzten Monden nicht geschrieben hat und einfach gar kein Lebenszeichen von sich in die Weltenstadt hatte dringen lassen, sitzt wie ein widerhakenbewehrter Dorn schmerzhaft in ihrem Fleisch. Sie will ihm keine Vorhaltungen machen, sie weiß, dass er seine Gründe gehabt haben mag, sich so zu verhalten und sicher wird er ihr auch davon erzählen… oder auch nicht. Lyall will keine Geheimnisse aus ihm herauspressen, ihn einer peinlichen Befragung unterziehen oder wie ein keifendes eifersüchtiges Weib jeden seiner Schritte explizit erklärt wissen. Doch tief im Inneren ist die Drachenländerin doch irgendwie verletzt, hat sie doch womöglich mit einer tieferen Vertrautheit ihr gegenüber gerechnet, als tatsächlich der Fall ist. Oder tut sie ihm damit nicht Unrecht?


    Er ist stets offen und wahrhaftig ihr gegenüber gewesen. Sie hatten sich immer alles erzählen können und dem anderen bei jeder Art Problem beigestanden. Vielleicht trägt er nun eine seelische Last mit sich, die er keinem anderen aufbürden mag. Nicht mal einer guten Freundin?




    Sie seufzt tief, als er ihr zuraunt, dass es ihm Leid täte und schlussendlich blickt sie von ihren Stiefelspitzen auf. Zuerst schaut sie nur über die Wasseroberfläche des Sees, fängt die herbstliche Stimmung mit ihren Augen ein und versucht dann dem am meisten in ihr vorherrschenden Gefühl den Raum in ihren Emotionen zu geben, den es verdient: der unbeschreiblichen Freude darüber, dass Aneirin wieder bei ihr ist.

    So liegt in ihrem bernsteinfarbenen Blick ehrlich und tief empfundene Erleichterung als sie ihn erst über seine Schulter hinweg ansieht und sich dann aufrichtet, um den Bäckermeister und sein neues Aussehen richtig erkennen zu können. „Mir tut es leid, Aneirin. Ich hätte nicht solch einen Aufstand machen sollen. Bitte entschuldige vielmals. Aber dein Auftauchen war… zugegebenermaßen… mehr wie unerwartet. Es hat mich fast buchstäblich aus meinen Stiefeln gehauen.“ Sie versucht sich an einem schiefen Lächeln, um das Unbehagen zwischen ihnen Beiden zu vertreiben. Doch ganz will es ihr nicht gelingen. Um ihren nervösen Fingern etwas zu tun zu geben und ein paar Herzschläge Zeit für neue Worte zu schinden, greift sie nach dem nass geweinten Halstuch, zieht es sich etwas umständlich über den Kopf und stopft es leicht verlegen in ihren Stiefelschaft. Denn die nächsten Worte weiß sie nicht gut im Gespräch zu platzieren, denn sie will auch nicht mit der Tür ins Haus fallen. Die Situation ist durch ihren emotionalen Ausbruch sowieso schon aus dem Ruder gelaufen und haben ihn sicherlich noch weiter verunsichert. Wie gern würde sie ihn fragen, wo er die letzten Monde genau gewesen war, warum er sich nicht gemeldet hat, wie lange er schon in Talyra ist ohne ihr Bescheid zu geben, wie es ihm ergangen ist, ob die Rote Seuche ihn unbehelligt gelassen hat und so weiter und so fort.

    Und am liebsten all dies gleichzeitig. Das kann und will sie ihm jedoch nicht antun. Denn sie mag einen gewissen Stich der Zurückweisung empfinden, ihn dies jedoch nicht als eine Art Anschuldigung merken lassen. Böse oder sauer auf ihn ist die Drachenländerin keinesfalls. Sondern einfach nur verletzt.

    So spricht sie die Worte aus, die ihr am neutralsten erscheinen und am ehesten den vordringlichsten Gedanken in ihr wiedergeben: „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Geht es dir gut?“ Zart und fast wieder scheu ergreift sie seine Hand und bettet diese zwischen ihren schlanken Fingern. Die Haut seiner Hände ist rauer und irgendwie fester, als sie diese in Erinnerung hat. Eher die Haut eines Kämpfers, als die eines Bäckers., keimt es in ihren Gedanken auf, doch sie beruhigt sich damit, dass er auf seiner Reise sicherlich andere Arbeiten hatte verrichten müssen, als das Backen von Teig und das Schleppen von Mehlsäcken. Kurz drückt sie deine Hände und streicht dann kurz mit einem ihrer Daumen über seinen Handrücken.

    'Er, excuse me,' said the man as Nanny Ogg turned away, 'but what is that on your shoulders?'
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    It's. . . a fur collar,' said Nanny.
    'Excuse me, but I just saw it flick it's tail.'
    'Yes. I happen to believe in beauty without cruelty.'

    Terry Pratchett

  • Ende Blätterfall 521


    Aneirin beobachtet Lyalls Züge als sie sich ihm nach einem tiefen Seufzen langsam zuwendet und ihm antwortet. Was sie ihm eröffnet, ist aufrichtig ebenso wie die Freude in ihren Augen ob seiner Rückkehr, das glaubt er ihr anzusehen und das fühlt er. Er spürt aber ebenso, dass zwischen ihren Worten noch eine Menge ungesagter Zeilen liegen. Er lässt sie auch nicht aus den Augen, als sie sich das Halstuch ein wenig umständlich über den Kopf nestelt, als wolle sie Zeit schinden, um einen Weg um das zu finden, was da noch zwischen ihnen beiden steht.


    Sie braucht es tatsächlich nicht ansprechen. Aneirin weiß um ihre Enttäuschung, so sehr sie es auch versucht zurückzuhalten. Er ist sich durchaus bewusst, was es nicht nur bei ihr, sondern auch in allen seinen Freunden ausgelöst haben muss, dass er sich in den letzten Monden gar nicht gemeldet hat. Ausnahmslos jeder war erfreut, ihn wiederzusehen, doch den Vorwurf, der auch nun in der Luft liegt, hat er nun schon einige Male zu hören bekommen. Stets ohne ihm wirklich böse zu sein, aber er ist da.


    Wie nun auch in Lyalls unausgesprochenen Worten, als sie ihn fragt, wie es ihm gehe und dass sie sich Sorgen gemacht habe. Und was es wohl in ihr auslösen muss zu erkennen, dass er sich nicht umgehend bei ihr gemeldet hat, obwohl er ganz offensichtlich nicht erst seit diesem Tage zurück in der Stadt ist. Den Blick schuldbewusst niedergeschlagen betrachtet er seine Hand in ihren schlanken Fingern. Er spürt all die Fragen in ihrem Kopf. Gerne würde er sie ihr beantworten. Wenn auch nicht alle. Zumindest nicht sofort.


    Er dreht sich zur Wargin, legt seine freie Hand an ihre Wange und betrachtet sie mit einem dankbaren Lächeln. „Danke, dass du dich um Briannas Grab gekümmert hast“, raunt er und sucht ihren Blick. Es ist eine große Erleichterung für ihn gewesen vor einem liebevoll gepflegten Grab zu stehen. Auch wenn es Arúen war, die er dort angetroffen hatte, als sie Briannas Grab ein neues Licht brachte, so weiß er, dass auch Lyall sich gekümmert hat. Zum einen, weil er sie darum gebeten hat und sich sicher ist, dass sie sich von kaum etwas hätte davon abbringen lassen, eben weil sie es ihm versprochen hat, zum anderen weiß er es von Arúen selbst.


    „Ich bin seit fünf Tagen zurück“, bemerkt er wie beiläufig und nimmt dabei seine Hand wieder von ihrer Wange und legt sie zu seiner anderen auf die ihren. Er versucht nicht die kurze Pause, die er benötigt, um seine Gedanken zu sortieren, zu überspielen.


    „Es… gab einiges zu tun und zu klären und… zu verdauen“, setzt er fort, ohne auf Lyalls Frage nach seinem Befinden zu antworten, und versucht sich an einer Erklärung, warum er die Wargin nicht gleich aufgesucht hat. „Als Allererstes war ich an Briannas Grab, um sie um Verzeihung zu bitten, dass ich sie solange hier alleine zurückgelassen habe.“ Wieder benötigt er eine längere Pause in der die Gedanken kreisen und ihm erneut Briannas Abbild vor seinem inneren Auge malen, ehe er zufrieden lächelt und ergänzt: „Sie hat mir verziehen.“ Er atmet tief durch. „Ich konnte dennoch die erste Nacht kaum schlafen und habe schließlich Briannas Bett abgebaut, um es schnellstmöglich Aidan und Narsaên zurückzugeben…“


    Aneirin senkt den Blick als Fassungslosigkeit und Trauer ihn wie eine plötzliche Welle überrollen wollen, nachdem er sie bisher erfolgreich eingesperrt hatte. Als er vom Tod der Familie Wulfor und Narsaêns Rückkehr in die Heimat erfahren hatte, hatte es ihn einem Blitzschlag gleich völlig unerwartet getroffen. Bis dahin hatten alle geliebten und vertrauten Gesichter die Seuche mehr oder minder unbehelligt überstanden. Er war er gleich am nächsten Tag zur ehemaligen Schreinerei aufgebrochen, um sich der Nachricht zu versichern. Vielleicht wäre es besser, er würde diese Welle der Trauer hinaus und vergehen lassen anstatt sie wieder einzusperren. Doch hier und jetzt hält er nicht für den geeigneten Ort und die rechte Zeit. Darum würde er sich später kümmern müssen.


    „Du weißt es bestimm, hm?“ Der Bäckermeister räuspert sich, weil seine trockene Kehle Anstalten macht, ihm die Stimme zu versagen. Sachte schüttelt er den Kopf, wie um die trüben Gedanken loszuwerden. Es gelingt ihm schließlich, seine Gefühle wieder einzufangen und einigermaßen zu bezähmen.


    Den Kopf in den Nacken gelegt starrt Aneirin einige Herzschläge lang in die sich wiegenden Baumkronen und beobachtet, wie diese nach und nach ihr Blätterdach an den Wind übergeben. „Außerdem musste ich bei der Innung wegen der Bäckerei vorsprechen…“ Als er Lyall erneut anblickt, wirkt er wieder gefasst.


    „Ich wusste bereits von Arúen, dass du die Seuche überstanden hast und hier noch lebst. Ich wollte heute noch nach dir sehen.“ Seine Rechte hebt sich und streicht ihr vorsichtig eine schwarze Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Es soll keine Entschuldigung dafür sein, dass er nicht gleich nach ihr sah. „Du hast mir gefehlt.“ Seine Stimme ist beinahe ein Flüstern, als er sie in den Arm nimmt und fest hält, sein Haupt an ihres geschmiegt. Aneirin fühlt sich wahnsinnig erleichtert, Lyall wieder bei sich zu haben, und ihm wird noch einmal deutlich bewusst, wie sehr er sie in den letzten Jahren tatsächlich vermisst hat.


    Doch die hintersten Winkel seines Herzens vermag diese Erkenntnis dennoch nicht für die Wargin öffnen. Und Aneirin wird den Dunklen tun, ihr von sich aus zu eröffnen, was dort hinter verborgen liegt. Wozu auch die scheinbar angeschlagene Beziehung zu ihr weiter belasten mit Etwas, das sich ohnehin nicht ändern lässt und das für ihre Freundschaft irrelevant sein sollte?


    Mit einem Lächeln entlässt er sie aus seiner Umarmung und zupft ihren Mantel ein wenig zurecht. „Wie ist es dir ergangen?“, möchte er schließlich wissen. „Und Cinaéd…“ Da fällt ihm plötzlich ein, dass er gar nicht weiß, ob Lyall Zeit zum Plaudern hat und auf ihren Korb deutend meint er: „Wir können uns auch unterwegs unterhalten oder später wiedertreffen, wenn es dir lieber ist.“

  • If you're lost you can look and you will find me
    Time after time
    If you fall I will catch you, I'll be waiting
    Time after time

    ~ Cindy Lauper, Time After Time



    Ende Blätterfall 521


    Sie stutzt merklich und ein flaues Gefühl breitet sich in ihrem Magen aus, während er ihr eröffnet, dass die Schlafstatt seiner Tochter wohl nicht mehr mit in seiner Kammer steht. Mitfühlendes Unbehagen ist auf ihren Gesichtszügen zu lesen, kann sie den Schmerz und die innerliche Zerrissenheit des blonden Bäckers beinahe körperlich spüren, den die Handlung des Bettchenabbaus sowie zusätzlich noch die unsagbar traurige Nachricht um die Familie Wulfor in ihm ausgelöst haben musste. Beides war ein unleugbares Zeichen der Endlichkeit eines jeden Seins. Obwohl Lyall das Schicksal der Familie bereits vor einiger Zeit durch Falk zugetragen wurde, kann sie es noch immer nicht ganz begreifen.

    Eine ganze Familie.

    Einfach von Rohas weitem Rund getilgt.

    Als Antwort auf seine Frage, ob sie bereits davon erfahren hatte, drückt sie sacht seine Hand etwas fester und nickt kaum wahrnehmbar. Ein Kloß in ihrem Hals hindert sie an einer verbal ausgeformten Antwort auf seine Frage, doch Aneirins Blick nach haben ihm ihre subtilen Signale als Erwiderung ausgereicht. Umständlich versucht sie durch Schlucken die unangenehme Engstelle in ihrem Hals loszuwerden und auch ihr Freund scheint mit seinen Emotionen zu kämpfen. Richtung Himmel schauend erweckt er bei ihr den Eindruck, dass er versucht aufwallende Tränen durch schiere Willenskraft und mit Hilfe der Gravitation zurückzudrängen und offenbar gelingt ihm das äußerst gut, denn als der Bäcker sie anblickt, scheint er wieder beherrscht und erstaunlich ruhig.

    „Außerdem musste ich bei der Innung wegen der Bäckerei vorsprechen… Ich wusste bereits von Arúen, dass du die Seuche überstanden hast und hier noch lebst. Ich wollte heute noch nach dir sehen.“ Verstehend nickt die Wargin. Sie glaubt seinen Gedankengang dazu nachvollziehen zu können. Durch diese Information der Elbin hatte er einen gewissen zeitlichen Spielraum bekommen, bevor er die Drachenländerin aufsuchen mochte und in dieser Zeit hatte er sich möglicherweise erst sammeln und innerlich auf ein Treffen vorbereiten wollen. Vielleicht die Worte finden, die erklären sollten, warum er sich nicht mehr gemeldet und den Kontakt hatte versiegen lassen. Und das in einer Zeit, in der solch eine grässliche Seuche grassiert.

    Oder hat er sich geschämt zu ihr zu kommen, nach diesem Verhalten? Doch eigentlich kann sich Lyall dies nicht vorstellen. Sie hätte ihn immer mit offenen Armen empfangen, egal welche Fragen seine Handlungen bei ihr aufwerfen würden und sie ist sich sicher, dass er seine Gründe gehabt hatte. Nach all den Jahren weiß sie, dass ihr Freund eines nicht tut: unüberlegt handeln. Er wird ihr schon beizeiten alle Beweggründe mitteilen, die ihm wichtig erscheinen.


    „Du hast mir gefehlt.“, kommt es leise über seine Lippen, während er sie in seine Arme schließt und Lyall die Umarmung nur allzu gerne erwidert. Wenn sich auch vieles geändert hat oder sich zumindest so anfühlt, so ist sein Geruch und der Schlag seines Herzens noch derselbe. Diese Umarmung und ihr Empfinden dabei zeigt der Wargin, dass sich zwischen ihnen vielleicht eine gewisse emotionale Schieflage eingeschlichen hat, die jedoch für ihrer beider Freundschaft absolut unerheblich ist. Es würde sich schon wieder alles einrenken, da ist sie sich sicher.

    So spiegelt sie ehrlich und bereitwillig das Lächeln wider, welches auf Aneirins Zügen liegt, als dieser sich aus der Umarmung löst und nach ihrem Befinden sowie dem ihres Gefährten erkundigt. Lyalls Hirn hat nicht einmal Zeit sich eine Antwort parat zu legen, da fügt er an, dass sie sich beide auch später oder auf dem Rückweg zum Anwesen unterhalten können. Offenbar hat er aus der Anwesenheit des Korbes korrekt darauf geschlossen, dass die Wargin für Einkäufe unterwegs gewesen ist, während es zu ihrem „Zusammenstoß“ kam. In wirklicher Eile ist sie nicht, aber Avila wird sich trotzdem wundern, was so lange auf dem Markt dauern kann, dass die Drachenländerin noch nicht zurückgekehrt ist. Und Lyall will ihrer Freundin wahrlich keine zusätzlichen Sorgen bereiten. „Unterhalten wir uns besser unterwegs. Du hast recht, ich sollte mich langsam auf den Rückweg machen. Ich würde mich sehr freuen, wenn du mich begleiten würdest!“ So schnell will sie ihren Freund nun auch nicht wieder ziehen lassen, nachdem Zeit und Raum sie so lange getrennt hatten und freut sich innerlich sehr darüber Aneirin noch ein bisschen länger an ihrer Seite zu wissen.


    Als sie nach dem Korb greifen und diesen aufheben will, kommt ihr der blonde Bäcker zuvor und trotz Lyalls intensiven Bekundungen, dass der Korb nicht zu schwer sei lässt er sich nicht davon abbringen diesen für sie zu tragen. Schlussendlich klemmt sie sich also nicht den Korb unter den Arm, sondern hakt sich bei Aneirin ein und beide machen sich daran „ihre“ Bank als auch den Blaupfuhl langsam zu verlassen.

    Das erste Stück des Weges bringen sie in grübelndes Schweigen gehüllt hinter sich. Aneirin scheint auf ihre Antwort zu warten und Lyall muss überlegen, in welche Reihenfolge sie die sich überstürzenden Ereignisse der letzten Monde bringt, damit die Wargin sinnvoll und gleichzeitig knapp darüber berichten kann, was Cin und ihr widerfahren ist.

    „Eigentlich hat alles bei uns ganz harmlos begonnen. Ich bin zu Cináed auf den Schafhof gezogen, wir haben uns so sehr gefreut und gehofft, dass wir nun endlich unser Leben gemeinsam verbringen können. Doch nicht lange danach hat uns die Nachricht über die Seuche erreicht. Als erstes dachte man, dass alles schon nicht so dramatisch werden würde, doch es häuften sich die Nachrichten über schwere und bald auch tödliche Verläufe, sodass diese Hoffnung schnell aufgegeben wurde. Wir wollten die Krankheit erst auf dem Hof aussitzen, um das Gesinde und uns nicht unnötig zu gefährden… doch dann habe ich davon erfahren, dass das Anwesen als Herberge für die Botenkinder dient, die an der Roten Seuche erkrankt sind. Es waren viele Kinder… sehr viele…Und… wir konnten einfach nicht untätig bleiben. Ich bin schweren Herzens wieder zurück zu Aurian und Avila gezogen, um mit ihnen und ein paar weiteren Mägden die Kinder zu pflegen und Cináed… nun… er hat die unglücklichen, der Krankheit erlegenen Seelen zu Sithechs Acker begleitet.“ Hier stoppt sie und muss sich kurz sammeln, bevor sie weiterspricht. Diese Zeiten sind einfach so hart und auszehrend für sie alle gewesen und die Erinnerungen daran noch so frisch, dass es Schmerzen in ihrem Herzen verursacht. Sie erinnert sich auch daran, wie sie oft weinend an Briannas Grab gesessen hat und Tränen für das kleine Mädchen und all jene Kinder vergossen hatte, die während der Roten Seuche den Tod gefunden hatten. Und auch für Aneirin, dessen Gram um den Verlust eines Kindes sie nun zumindest noch ein klein wenig besser nachvollziehen kann. Weiter ins Detail mit den Vorkommnissen auf dem Anwesen will sie vorerst nicht gehen. Und die Wargin ist sich sicher, dass ihr Freund sich sehr gut selber ausmalen kann, welche weiteren Informationen bezüglich der Kinder sie ihm vorenthält. Auch sagt sie nichts über Varin, denn Lyall ist sich nicht sicher, ob Aneirin diesen überhaupt kennt.


    „Am Ende haben wir uns einfach überall da nützlich gemacht, wo es nur ging. Cin und ich konnten uns meist nur sporadisch sehen und das jedes Mal mit der Angst, den jeweils anderen anstecken zu können oder selber an der Seuche…nunja… Wir sind aber alle nochmal glimpflich davongekommen. Weder auf dem Anwesen noch auf dem Schafhof gab es Tote zu beklagen.“ Ist es wirklich schon zwei Zwölfmonde her, dass ich Cináed länger als ein paar Stunden sehen und fühlen konnte? Bei Eas grünem Blute…Ich werde ihn festhalten und nie wieder loslassen, wenn ich wieder auf Glyn-y-Defaid bin! Fahrig wischt sie sich über das Gesicht, die feinen Fäden der sich aufbäumenden dunklen Gedanken wegfegend, die sich über ihr Gemüt legen wollen. Bald… bald wird sie ihren Geliebten wieder in ihre Arme schließen können und ihr gemeinsames Leben kann ungestört beginnen. Gegenseitig können sie sich sicherlich die Kraft geben, die Erlebnisse zu verarbeiten und mit den Vorkommnissen abzuschließen. „Wir haben einfach von Tag zu Tag gelebt. Innerlich immer mehr mit einem tauben Gefühl kämpfend, so unendlich machtlos zu sein. Nun sind jedoch so gut wie alle Kinder, die die Seuche überstanden haben, wieder in der Steinfaust angekommen, die Mägde werden auch bald wieder zurückkehren und möglicherweise kommt ja doch irgendwann wieder das Gefühl der… Normalität. Zumindest fühlt sich das Einkaufen schon fast wieder an wie früher. Danke nochmal, dass du den Korb für mich trägst. Wir stocken die Vorräte gerade wieder auf und das wird sicher nicht mein letzter Gang zum Markt gewesen sein.“ Sie versucht die in ihrer Stimme mitschwingende Befürchtung, dass dies nur ein frommer Wunsch sein könnte und so etwas wie Normalität noch lange würde auf sich warten lassen, mit einem zaghaften Lächeln zu überspielen. Ansonsten weiß sie ihrem Freund nicht viel mehr zu erzählen. Es ist über die lange Zeit so viel passiert, dass sie schon gar keine genauen Erinnerungen mehr daran hat, was alles geschehen ist oder gar wann genau. Und über sein spurloses Verschwinden, ihre Sorgen darüber und die innerliche Kränkung, die sie empfunden hat und die ganze Zeit über zusätzlich über allem geschwebt hat, mag sie jetzt nicht sprechen. Es ist einfach nicht der Richtige Zeitpunkt.

    Ansonsten ist ihr Kopf gerade relativ leergefegt und sie fühlt sich wieder so unendlich müde, sodass sie sich an den erstbesten Gedanken klammert, der ihr in den Kopf kommt und diesen ausspricht. Seltsamerweise möchte sie kein erneutes Schweigen zwischen ihnen aufkommen lassen. So spricht sie das relativ neutrale Thema der Bäckerinnung nochmals an. Sie erkundigt sich, warum Aneirin sich bei dieser hatte melden müssen und lauscht seinen Ausführungen still und aufmerksam, während sie im Gewirr der Talyrer Gassen in Richtung Seeviertel abbiegen.

    'Er, excuse me,' said the man as Nanny Ogg turned away, 'but what is that on your shoulders?'
    '
    It's. . . a fur collar,' said Nanny.
    'Excuse me, but I just saw it flick it's tail.'
    'Yes. I happen to believe in beauty without cruelty.'

    Terry Pratchett

    2 Mal editiert, zuletzt von Lyall ()

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