Beiträge von Aneirin

    ← Der Marktplatz



    Ende Blätterfall 521



    Auch wenn sie nicht in spürbarer Eile scheint, so bekundet Lyall, dass es tatsächlich besser wäre, sich unterwegs zu unterhalten. Offenbar möchte sie niemandem Anlass zur Sorge geben, wenn sie länger als geplant fort ist. Sicherlich wird ihr Einkauf erwartet, weshalb Aneirin ihr eben jenen Vorschlag gemacht hat. Er selbst hat an diesem Nachmittag nichts weiter vor und ist daher nur zu gerne gewillt sie zu begleiten. Nun, da sie sich endlich wieder gefunden haben. Als sie sich auf den Weg machen wollen besteht der Bäckermeister darauf, ihren Korb zu tragen. Er muss zum Glück nicht allzu viel Überredungskunst aufwenden bis Lyall sich ergibt und sich mit einem zarten Lächeln bei ihm unterhakt.

    Ob das Anwesen der Familie de Winter denn überhaupt noch das Ziel ist, fragt er sich, nachdem sie einige Schritte zurückgelegt haben. Und wie die Bewohner dort wohl die Seuche überstanden haben... Es ist ein unbeschreiblich merkwürdiges Gefühl, die vertrauten Wege zu gehen, die so unverändert scheinen und dann wiederum nicht zu wissen, wie sehr sich das Ziel am Ende des Weges verändert hat; wer und was noch existiert wie vor wenigen Jahren als er die Stadt verließ.


    Lyalls Bericht bringt einiges Licht ins Dunkel. Und auch hier hat die Seuche einige harte Schicksale eingefordert. Aneirin wüsste niemanden, der nicht auf die eine oder andere Weise unter der Seuche gelitten hätte. Und natürlich hat die Wargin nicht stillsitzen und abwarten können bis die Seuche vorüber ist. Dazu ist die sie viel zu mitfühlend und pflichtbewusst, um sich nur um sich selbst und die ihren zu kümmern. Aneirin mag sich gar nicht ausmalen, welch körperliche und geistige Anstrengung es gewesen sein muss, all die Erkrankten - überwiegend Kinder - zu versorgen, zu begleiten und viel zu viele von ihnen begraben zu müssen. Kein Wunder, dass sie immer noch so erschöpft und ausgelaugt aussieht. Sich davon zu erholen, wird sicher noch eine ganze Weile dauern. Auch Aneirin hat vertraute wie unbekannte Gesichter an der Seuche zugrunde gehen sehen. Der emotionale Schild, den er sich dabei aufgebaut hat, hält bisher den Göttern sei Dank recht gut. Und er muss auch weiterhin halten, denn Aneirin glaubt nicht, dass Aidan und seine Familie die letzten sein werden, von deren Ableben er erfährt.


    Trotz allem freut Aneirin sich ehrlich für Lyall, dass sie und ihr Gefährte die Seuche zwar gezeichnet, aber mehr oder weniger unbeschadet überstanden haben. Er kann förmlich spüren, dass ihr diese fehlende Zweisamkeit mit ihrem Schafzüchter zu schaffen macht. Er drückt seinen Arm, unter dem sie sich untergehakt hat, ein wenig fester an seinen Körper, um ihr sein Mitgefühl zumindest ansatzweise auszudrücken. Gerne würde er ihr nach ihrer Hand greifen oder wenigstens den Arm um sie legen, doch zum einen trägt er ihren Korb auf der einen Seite - warum in der Götter Namen nimmt man einen henkellosen Korb mit auf den Markt, fragt er sich da - und zum anderen möchte er ihr seinen anderen Arm nicht entziehen, wird er sich das Gefühl nicht los, als benötige sie diese Stütze im Augenblick. Und er ist froh, wieder für sie da sein zu können. Nicht etwa, weil er weiterhin ein schlechtes Gewissen hat, so lange fort gewesen zu sein und ihr noch keine tatsächliche Erklärung liefern zu können. Viel mehr, weil sie ist, wer sie ist. Eine liebe Freundin, die ihm sehr am Herzen liegt und für die er einfach gerne da ist; weil es so ist.


    Als sei sie seinen Gedanken gefolgt, bedankt sie sich bei ihm dafür, dass er ihr den Korb trägt. Aneirin lächelt nur und schüttelt kaum merklich den Kopf. Dafür braucht sie sich doch nicht zu bedanken; dafür wirklich nicht. Lyall scheint ein Schweigen zwischen ihnen nicht aufkommen lassen zu wollen. Da sie aber offenbar auch bemerkt hat, dass der blonde Bäcker eigentlich nicht das Bedürfnis hat, über sich zu reden, wählt sie ein nicht ganz so persönliches Thema, erkundigt sie sich nach der Bäckerinnung, die er zuvor erwähnt hatte. Aneirin erklärt ihr, dass er alle Verantwortung für die Bäckerei vor seiner Abreise legitim an Falk abgetreten hatte. „Für den Fall, dass…“, stockt er, als ihm plötzlich bewusst wird, dass die folgende Aussage vielleicht nicht unbedingt das ist, was in Lyalls Gegenwart jetzt angebracht wäre. Da er allerdings auf die Schnelle den Satz nicht abzuändern weiß, murmelt er das „…dass ich nicht wiederkomme…“ schnell in seinen Bart, räuspert sich und meint dann mit deutlich kräftigerer Stimme: „Aber nun bin ich ja wieder da. Und da ich es kaum erwarten konnte, die Bäckerei wieder zu übernehmen, habe ich das Rechtliche lieber sogleich geklärt.“ Er ist so um einen möglichst entspannten Gesichtsausdruck bemüht, dass das Lächeln eben wegen jener Bemühungen etwas verkrampft wirken mag. Auch entflieht er Lyalls Blick und hofft, sie würde nicht weiter nachbohren. Er lobt Falk noch in höchsten Tönen für die geleitete Arbeit während seiner Abwesenheit, während am Ende der Straße allmählich das Anwesen in Sicht kommt.


    Noch bevor sie das Gebäude erreichen, werden Aneirins Schritte langsamer bis er schließlich ganz zum Stehen kommt und dadurch auch Lyall zum Stehenbleiben zwingt. Einige Atemzüge lang betrachtet er das Anwesen in der Ferne, ehe er sich ein Herz fasst, den Korb abstellt und sich Lyall zuwendet. Vorsichtig nimmt er ihre Hände in seine und sucht ihren Blick.

    „Hör mir bitte zu… Es lag niemals in meiner Absicht, dich zu kränken oder besorgt im Ungewissen zu lassen. Es war einfach… Ich hatte einfach weder Zeit noch Kraft gefunden, den Kontakt aufrechtzuerhalten.“ Seine Pupillen zittern kurz als das Bild seines Vaters vor seinem inneren Auge erscheint und er sogleich versucht, es wieder zu verdrängen. „Vor allem, weil ich gar nicht so weit von hier entfernt war und eigentlich annahm, dass ich mich ohnehin den nächsten Tag auf den Weg machen würde. Oder eben den übernächsten. Oder den Tag darauf. Und dann waren plötzlich nicht nur Tage vergangen, sondern Siebentage und schließlich Monde… Und… dann fand ich nicht mehr den Mut. Irgendwann war ich mir ehrlich gesagt gar nicht mehr sicher, ob ich überhaupt zurückkommen will.“ Er streicht mit den Daumen nachdenklich über ihre schlanken Finger.

    „Aber jetzt bin ich wieder hier. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil ich es so will.“ Aneirin blickt fest in Lyalls bernsteinfarbene Augen. „Ich kann dich nur um Verzeihung bitten und hoffen, dass du meine Entschuldigung irgendwann annehmen kannst.“ Da entspannen sich seine Züge und ein Lächeln schleicht sich auf seine Lippen, dass dem vertrauten, charmanten und unbeschwerten Lächeln von damals schon recht nahekommt.


    „Und ich würde dich gerne wiedersehen. Wenn du es denn auch willst“, kann er sich einen leisen schalkhaften Unterton doch nicht ganz verkneifen, als er sich an den Spaziergang ihres allerersten Treffens erinnert fühlt.

    Ende Blätterfall 521


    Aneirin beobachtet Lyalls Züge als sie sich ihm nach einem tiefen Seufzen langsam zuwendet und ihm antwortet. Was sie ihm eröffnet, ist aufrichtig ebenso wie die Freude in ihren Augen ob seiner Rückkehr, das glaubt er ihr anzusehen und das fühlt er. Er spürt aber ebenso, dass zwischen ihren Worten noch eine Menge ungesagter Zeilen liegen. Er lässt sie auch nicht aus den Augen, als sie sich das Halstuch ein wenig umständlich über den Kopf nestelt, als wolle sie Zeit schinden, um einen Weg um das zu finden, was da noch zwischen ihnen beiden steht.


    Sie braucht es tatsächlich nicht ansprechen. Aneirin weiß um ihre Enttäuschung, so sehr sie es auch versucht zurückzuhalten. Er ist sich durchaus bewusst, was es nicht nur bei ihr, sondern auch in allen seinen Freunden ausgelöst haben muss, dass er sich in den letzten Monden gar nicht gemeldet hat. Ausnahmslos jeder war erfreut, ihn wiederzusehen, doch den Vorwurf, der auch nun in der Luft liegt, hat er nun schon einige Male zu hören bekommen. Stets ohne ihm wirklich böse zu sein, aber er ist da.


    Wie nun auch in Lyalls unausgesprochenen Worten, als sie ihn fragt, wie es ihm gehe und dass sie sich Sorgen gemacht habe. Und was es wohl in ihr auslösen muss zu erkennen, dass er sich nicht umgehend bei ihr gemeldet hat, obwohl er ganz offensichtlich nicht erst seit diesem Tage zurück in der Stadt ist. Den Blick schuldbewusst niedergeschlagen betrachtet er seine Hand in ihren schlanken Fingern. Er spürt all die Fragen in ihrem Kopf. Gerne würde er sie ihr beantworten. Wenn auch nicht alle. Zumindest nicht sofort.


    Er dreht sich zur Wargin, legt seine freie Hand an ihre Wange und betrachtet sie mit einem dankbaren Lächeln. „Danke, dass du dich um Briannas Grab gekümmert hast“, raunt er und sucht ihren Blick. Es ist eine große Erleichterung für ihn gewesen vor einem liebevoll gepflegten Grab zu stehen. Auch wenn es Arúen war, die er dort angetroffen hatte, als sie Briannas Grab ein neues Licht brachte, so weiß er, dass auch Lyall sich gekümmert hat. Zum einen, weil er sie darum gebeten hat und sich sicher ist, dass sie sich von kaum etwas hätte davon abbringen lassen, eben weil sie es ihm versprochen hat, zum anderen weiß er es von Arúen selbst.


    „Ich bin seit fünf Tagen zurück“, bemerkt er wie beiläufig und nimmt dabei seine Hand wieder von ihrer Wange und legt sie zu seiner anderen auf die ihren. Er versucht nicht die kurze Pause, die er benötigt, um seine Gedanken zu sortieren, zu überspielen.


    „Es… gab einiges zu tun und zu klären und… zu verdauen“, setzt er fort, ohne auf Lyalls Frage nach seinem Befinden zu antworten, und versucht sich an einer Erklärung, warum er die Wargin nicht gleich aufgesucht hat. „Als Allererstes war ich an Briannas Grab, um sie um Verzeihung zu bitten, dass ich sie solange hier alleine zurückgelassen habe.“ Wieder benötigt er eine längere Pause in der die Gedanken kreisen und ihm erneut Briannas Abbild vor seinem inneren Auge malen, ehe er zufrieden lächelt und ergänzt: „Sie hat mir verziehen.“ Er atmet tief durch. „Ich konnte dennoch die erste Nacht kaum schlafen und habe schließlich Briannas Bett abgebaut, um es schnellstmöglich Aidan und Narsaên zurückzugeben…“


    Aneirin senkt den Blick als Fassungslosigkeit und Trauer ihn wie eine plötzliche Welle überrollen wollen, nachdem er sie bisher erfolgreich eingesperrt hatte. Als er vom Tod der Familie Wulfor und Narsaêns Rückkehr in die Heimat erfahren hatte, hatte es ihn einem Blitzschlag gleich völlig unerwartet getroffen. Bis dahin hatten alle geliebten und vertrauten Gesichter die Seuche mehr oder minder unbehelligt überstanden. Er war er gleich am nächsten Tag zur ehemaligen Schreinerei aufgebrochen, um sich der Nachricht zu versichern. Vielleicht wäre es besser, er würde diese Welle der Trauer hinaus und vergehen lassen anstatt sie wieder einzusperren. Doch hier und jetzt hält er nicht für den geeigneten Ort und die rechte Zeit. Darum würde er sich später kümmern müssen.


    „Du weißt es bestimm, hm?“ Der Bäckermeister räuspert sich, weil seine trockene Kehle Anstalten macht, ihm die Stimme zu versagen. Sachte schüttelt er den Kopf, wie um die trüben Gedanken loszuwerden. Es gelingt ihm schließlich, seine Gefühle wieder einzufangen und einigermaßen zu bezähmen.


    Den Kopf in den Nacken gelegt starrt Aneirin einige Herzschläge lang in die sich wiegenden Baumkronen und beobachtet, wie diese nach und nach ihr Blätterdach an den Wind übergeben. „Außerdem musste ich bei der Innung wegen der Bäckerei vorsprechen…“ Als er Lyall erneut anblickt, wirkt er wieder gefasst.


    „Ich wusste bereits von Arúen, dass du die Seuche überstanden hast und hier noch lebst. Ich wollte heute noch nach dir sehen.“ Seine Rechte hebt sich und streicht ihr vorsichtig eine schwarze Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Es soll keine Entschuldigung dafür sein, dass er nicht gleich nach ihr sah. „Du hast mir gefehlt.“ Seine Stimme ist beinahe ein Flüstern, als er sie in den Arm nimmt und fest hält, sein Haupt an ihres geschmiegt. Aneirin fühlt sich wahnsinnig erleichtert, Lyall wieder bei sich zu haben, und ihm wird noch einmal deutlich bewusst, wie sehr er sie in den letzten Jahren tatsächlich vermisst hat.


    Doch die hintersten Winkel seines Herzens vermag diese Erkenntnis dennoch nicht für die Wargin öffnen. Und Aneirin wird den Dunklen tun, ihr von sich aus zu eröffnen, was dort hinter verborgen liegt. Wozu auch die scheinbar angeschlagene Beziehung zu ihr weiter belasten mit Etwas, das sich ohnehin nicht ändern lässt und das für ihre Freundschaft irrelevant sein sollte?


    Mit einem Lächeln entlässt er sie aus seiner Umarmung und zupft ihren Mantel ein wenig zurecht. „Wie ist es dir ergangen?“, möchte er schließlich wissen. „Und Cinaéd…“ Da fällt ihm plötzlich ein, dass er gar nicht weiß, ob Lyall Zeit zum Plaudern hat und auf ihren Korb deutend meint er: „Wir können uns auch unterwegs unterhalten oder später wiedertreffen, wenn es dir lieber ist.“

    Ende Blätterfall 521


    Noch ehe seine Finger die Gelegenheit bekommen das Schmuckstück zu berühren, reißt ihn ein recht unsanfter Stoß in seinem Rücken aus seinen Gedanken. Früher hätte Aneirin sich bei dem bekannten Treiben auf dem Marktplatz wohl eher weniger darum geschert. Doch in Zeiten wie diesen, in denen die Menschen doch eher noch darauf bedacht sind, Abstand zu halten, scheint dies doch eher ungewöhnlich.

    >Entschuldigt bitte, das war keine Absicht<, ertönt es bereits als er sich herum dreht. Für einen kurzen Herzschlag lang trifft seinen Blick einen bernsteinfarbenen, sich abwendenden Blick, woraufhin Aneirin perplex blinzelt. Ist das nicht…? Sofort wandern seine Augen hoch, und über den schwarzhaarigen Schopf, der nicht mehr den Glanz aufweist, den der Bäckermeister gewohnt ist und überprüfen mit kurzem Blick das Vorhandensein der Wolfsohren.

    Natürlich ist sie es, wie könnte er sie auch nicht erkennen. Obwohl er bereits aus Erzählungen wusste, dass die Wargin die Seuche überlebt hat, durchströmt ihn nun Erleichterung, wie er sich dessen nun endlich von Angesicht zu Angesicht versichern kann. Wenngleich Erschöpfung und Müdigkeit ihre Züge zeichnen, so hat sie die letzten Jahre überlebt. Und ist das nicht genau das, was derzeit zählt?

    Als sich ihre Blicke erneut treffen, zieht Aneirin den Schal von Mund und Nase, um seiner Freundin ein warmes Lächeln zu schenken, die ihn scheinbar nun ebenfalls erkannt hat, wenn er ihren Blick richtig deutet. Doch auf ein Lächeln ihrerseits wartet Aneirin vergebens, was sogleich wieder das schlechte Gewissen in ihm wachruft, das er nicht nur ihr gegenüber hat. Er hatte sich in den letzten Monden bei niemandem hier aus Talyra mehr gemeldet und mit jedem weiteren Treffen vertrauter Gesichter wird ihm nun ganz allmählich bewusst, was das in denen, die ihm nahestehen ausgelöst haben muss.

    Sein Blick folgt für einen kurzen Augenblick dem dumpfen Aufprall des Weidenkorbes auf dem Pflaster und sieht mit an, wie knackige, pralle Äpfel zwischen ihren Füßen hindurch rollen. Er schaut Lyall wieder an, schuldbewusst und entschuldigend. Da ist so viel, dass er ihr gerne erklären würde, obwohl er selbst nicht einmal für alles eine Erklärung hat. Er möchte sich entschuldigen, denn das Letzte, das er will, ist sie unglücklich zu sehen und womöglich auch noch daran schuld zu sein.

    Doch kein Wort kommt über seine Lippen und als sie schluchzend die Hände vor das Gesicht schlägt ist der Bäckermeister für zwei, drei Herzschläge lang überfordert, worauf und wie er zuerst reagieren soll. Bevor eine flinke Kinderhand sich der mit wohlverdienter Münze bezahlten Äpfel dreisterweise annehmen kann, sammelt Aneirin sie rasch ein und versucht dabei die fragenden Blicke, das Gemurmel und das Kopfschütteln der Umstehenden zu ignorieren.

    Als er den Korb vor ihre Füße stellt und sich wieder Lyall zuwendet, weint seine Freundin immer noch so bitterlich, dass es ihm das Herz zerreißt.

    „Lyall…“, spricht er bedächtig, hebt seine Hand und schiebt ganz sachte mit dem Zeigefinger das von Rotz und Tränen nasse, waldgrüne Tuch von ihrem Gesicht, befürchtet er, dass sie früher oder später nicht mehr anständig darunter würde atmen können. Kaum, dass er das Tuch über ihr Kinn geschoben hat, streifen seine Finger sanft zurück über ihre erschöpften und traurigen Züge zu ihrer Wange und beginnen die unaufhörlich fließenden Tränen stetig fortzuwischen.

    >Ach Aneirin…<, presst sie schließlich immer noch schluchzend hervor, greift nach seiner Hand und schmiegt ihre Wange in diese. >Endlich bist du wieder da.<

    Sanft zieht Aneirin sie an sich heran und umarmt sie fest. „Ja“, flüstert er, das Kinn auf ihrem Haupte ruhend und so nah an ihren Ohren, dass er sicher ist, dass ein Flüstern genügt. „Ich bin wieder hier.“ Am liebsten würde er sie noch eine ganze Weile so halten, sie sich beruhigen lassen, ihr alles erklären. Doch ist es weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.

    Nach einem tiefen Atemzug schiebt er sie vorsichtig fort, greift ihren Weidenkorb und legt den Arm schützend um sie. „Komm“, raunt er leise und nimmt sie sanft aber bestimmt an seiner Seite mit fort von den Zuschauern, den Ständen und dem ganzen Marktplatz.


    Zielsicher, wenn auch längst nicht so schnell wie ihm lieb wäre, führen ihn seine Schritte zum nordwestlichen Rand des Platzes. Das Schluchzen an seiner Seite ist zwar etwas leiser geworden, dennoch hält er den Griff fest um Lyall, unsicher, ob ihr nicht doch noch nach anfänglichem Stolpern und Wanken die Knie plötzlich versagen. Sein Weg führt ihn zum Park mit seinem kleinen See, dem Blaupfuhl.

    Als sie den Blaupfuhl erreichen werden nicht nur Aneirins Schritte langsamer, seine gesamte Haltung entspannt sich merklich. Sein Blick gleitet hinauf in die Baumkronen und mit einem zarten Lächeln beobachtet er das Spiel der Blätter im Wind. Eins nach dem anderen pflückt dieser von den Wipfeln und lässt sie einem Blätterregen gleich nach und nach den Weg vor ihnen in herbstlichem Rot und Gold bedecken.

    Aneirin lässt seinen Blick schweifen. Die hölzernen Bänke, die auf den kleinen See ausgerichtet sind, gibt es noch. Auf einer sitzt ein alter Herr, auf seinen Gehstock gestützt und seinen Blick auf dem See ruhendend. Auf einer anderen sitzen drei junge Frauen, lachen und tratschen fröhlich, genießen die gemeinsame Zeit nach einem ausgedehnten Marktbesuch ihren vollen Körben nach zu urteilen. Die nächste Bank ist leer, doch der Bäckermeister führt die Wargin in seinem Arm weiter. Er hält Ausschau nach einer ganz Bestimmten. Es ist lange her, doch wie könnte er vergessen, welche es gewesen ist.

    Schließlich stellt er freudig fest, dass eben jene Bank, die er auserkoren hat, frei ist, als würde sie nur auf Lyall und Aneirin warten. Erst dort angekommen lockert Aneirin den Griff um Lyall und lässt sie aus seinem Arm auf das dunkle, etwas verwitterte Holz gleiten. Ohne sie vollständig loszulassen, stellt er den Korb auf den Boden und setzt sich neben sie. Seinen Arm legt er erneut um sie, lässt sie sich an ihn schmiegen und lässt seinen Kopf sanft auf ihrem ruhen. Seine Augen schauen hinüber zum See, beobachten das Lichtspiel der Mittagssonne auf dem ruhigen Wasser, das nur hin und wieder durch eine der Enten in zarte Wellen versetzt wird.

    „Erinnerst du dich? Unsere erste Verabredung am Abend einer Neumondnacht… Wie lang ist es jetzt her? Sechs Zwölfmonde? Oder gar schon sieben?“ Aneirin erinnert sich gut an diesen Abend. Erinnert sich an das zurückhaltende, scheue Mädchen, das unter jeder Berührung zusammenzuckte als wollte er ihr etwas antun. Er erinnert sich an das kleine Häschen, das er für sie mit der Flöte hervorgezaubert hat, dass Lyall ihn einen Magier nannte. Aneirin muss immer noch schmunzeln, wenn er daran zurückdenkt. Und er erinnert sich, an den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

    Das Lächeln schwindet von seinen Zügen. Eine Weile lang schweigt er und hält dabei den Blick auf den See gerichtet. In Gedanken wägt er ab, was er ihr sagen soll. Was er ihr sagen will. Alles kann er ihr nicht erzählen. Und will es auch nicht. Für manches hat er selbst keine richtige Antwort. Aber etwas muss er ihr sagen und hoffen, dass sie Verständnis zeigt, auch wenn es schwierig sein sollte. Ob sie es verstehen wird, wenn er ihr nicht alles erzählt?

    Nach einer Weile blickt er zu ihr herab und sucht ihren Blick. „Es tut mir leid…“, spricht er und meint es auch so. Und doch wird er für den Augenblick nicht deutlicher, was genau ihm leidtut. Denn er meint so vieles. Er ist sich sicher, dass es ihr nicht ausreichen wird. Das würde es ihm auch nicht. Aber er wüsste auch gar nicht, wo er anfangen soll. Stattdessen sieht er sie nur weiter an und hofft einfach, dass sie nicht aufsteht und geht.

    Ende Blätterfall 521


    Das geschäftige Treiben auf dem Marktplatz Talyras ist nicht zu vergleichen mit allen anderen Märkten, die Aneirin bisher aufgesucht hat. Obwohl der Seuche wegen spürbar weniger Volk unterwegs ist und die Marktwachen deutlich präsenter erscheinen als noch zu Zeiten, in denen die Welt in bester Ordnung schien. Viele halten, wie Aneirin, noch Mund und Nase bedeckt, doch ebenso wagen sich schon viele auf dem Weg in die Normalität ohne Schutz durch die Menschenmengen. Doch nicht nur die laufende Kundschaft ist in ihrer Zahl weniger unterwegs, auch die Händler sind nicht mehr in gewohnter Zahl vertreten. Es sind wahrlich noch viele, doch immer wieder gibt es Lücken und lang vertraute Gesichter fehlen.


    Mit einem gedämpften „Danke“ tauscht Aneirin seine Münzen gegen einen gegrillten Fleischspieß und ein Stück Fladenbrot und zieht weiter durch die Reihen der Marktstände. Etwas weiter abseits bleibt er stehen, zieht das Tuch, das Mund und Nase bedeckt hält, herunter und beginnt von dem würzigen Fleischspieß zu essen, während er seinen Blick gedankenverloren über das Treiben des Marktes schweifen lässt.


    Die letzten Tage hat er sich fast schon kopflos in die Arbeit in der Bäckerei gestürzt. Zum einen hat er es einfach vermisst und genießt das gemeinsame Tun mit Falk - zum anderen wollte er den tragischen Nachrichten der letzten Tage möglichst wenig Raum geben. Aneirin weiß, dass er damit hatte rechnen müssen, aber die Tatsache, dass er einige bekannte und geliebte Gesichter nie wieder sehen wird, schmerzt so viel mehr als er gedacht hätte. Umso mehr erleichtert es ihn, vertraute Personen wiederzusehen und zu wissen, dass es den meisten trotz allem den Umständen entsprechend gut geht. Immer wieder sucht sein Blick die kräftige Krone der schlanken Goldeiche in der Mitte des Marktplatzes, deren goldgelbe Blätter sich harmonisch in die herbstliche Stimmung fügen, besonders dann, wenn der Wind sich das eine oder andere güldene Blatt schnappt und es durch die Luft tanzen lässt.


    Gesättigt und des Holzspießes entledigt zieht es Aneirin zurück zum Marktplatz. Mit geübtem Griff zieht er sich das Tuch erneut über Mund und Nase und schlendert etwas ziellos von einem Stand zum nächsten. Er ist nicht auf der Suche nach etwas Bestimmten und hat sich auch nicht zum Ziel gesetzt, etwas zu erwerben. Stattdessen versucht er seine freie Zeit an diesem Tage etwas zu genießen, ohne tatsächlich etwas vorzuhaben.


    An einem Stand mit Schmuckstücken aus jeglichen Materialien bleibt sein Blick an einer kleinen Schnitzerei hängen. An seinem zarten Lederband hängt ein fein geschnitzter, ebenholzfarbener Wolfskopf, der sich unauffällig neben weiteren hölzernen Tierköpfen sanft in einer lauen Brise wiegt. In seinem Geiste blickt Aneirin in vertraute bernsteinfarbene Augen, während er sich das Schmuckstück eine Weile zögerlich besieht, ehe er vorsichtig die Finger danach ausstreckt.

    Aneirin legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und atmet tief durch. Die Arbeit hat gut getan und die Stunden sind wie im Nu verflogen. Es hat sich beinahe angefühlt als wäre er nie fort gewesen. Wären nicht die vielen bekannten Gesichter mit zumeist freudiger Überraschung ob seiner unerwarteten Rückkehr gewesen, die sich immer wieder wiederholende Fragen, wo er denn die letzten Jahre gewesen sei, was er gemacht habe; sogar die eine oder andere Beileidsbekundung hat er noch entgegen nehmen müssen. Der Bäckermeister hat freundlich gelächelt, sich bedankt und Antworten gegeben ohne die eigentlichen Fragen tatsächlich zu beantworten und selbst sein Beileid ausgesprochen, immer wenn er erfahren hat, dass jemand seiner Kunden einen oder mehrere Menschen an die Seuche verloren hat.

    Eolora hat sich am Morgen riesig über die frisch gebackenen Brötchen gefreut. Gut, es war vermutlich viel mehr die Tatsache, dass er selbst sie ihr gebracht hat. Kurz hatte er Angst, dass die alte Dame ihm aus den Schlappen kippt. Sie hat sich den Göttern sei Dank aber schnell wieder gefasst, die Brötchen dankend entgegen genommen und hätte ihn vermutlich am liebsten gleich ins Haus gezerrt, um sich von ihm alles erzählen zu lassen. Aneirin hat sie fürs Erste vertröstet, doch musste er ihr versprechen, sich bald für sie Zeit zu nehmen. Eolora hat es sich allerdings nicht nehmen lassen wohl stündlich zu schauen, ob die beiden Bäcker irgendetwas brauchen oder sie sich sonst irgendwie nützlich machen könnte.


    Amüsiert schnaubt Aneirin. Er schaut auf als Falk sich zu ihm setzt und ihm einen Becher Apfelmost reicht. Sein Lehrling schaut zufrieden aus, findet Aneirin. Der junge Mann gönnt sich einen kräftigen Schluck und lehnt sich behaglich zurück.

    „Ich kann es immer noch kaum glauben“, blickt Falk seinen Meister an und Aneirin legt mit fragendem Blick die Stirn in Falten. „Einfach so bist du wieder da.“ Aneirin beäugt den jungen Mann weiter und ist sich nicht ganz sicher, ob er in dessen Worten den Hauch eines Vorwurfs heraushören sollte. So lässt er Falks Feststellung unkommentiert und widmet sich weiter dem Apfelmost.

    „Und?“ Fragend blickt Aneirin seinen jungen Lehrling an, der ihn erwartungsvoll ansieht, als müsse er selbst ganz genau wissen, auf was er mit dieser kurzen Frage abziele. „Was hast du jetzt vor? Bleibst du?“

    Aneirin runzelt nachdenklich die Stirn und nippt ein weiteres Mal am mostgefüllten Becher. Wie kommt es, dass er sich ein klein wenig ertappt fühlt? Vermutlich liegt es daran, dass er sich bei seiner Rückreise noch nicht endgültig festgelegt hatte, wusste er ja nicht, was ihn zurück in der Heimat erwarten würde. Doch seine Bäckerei steht noch, Falk und Eolora sind wohl auf, ebenso wie Arúen und Rialinn. Es spricht also bisher nichts dagegen zu bleiben.

    „Ja. Ich möchte bleiben.“ Aneirin sucht Falks Blick. Er ist lange fortgewesen und hat Falk die volle Verantwortung für die Bäckerei überlassen. Wie er wohl reagieren wird? „Und wieder hier arbeiten.“ Sein Lehrling schaut ihn an, doch Aneirin vermag nicht zu sagen, was er wohl darüber denken mag.

    Falk hebt die Augenbrauen.

    „Fragst du mich gerade um Erlaubnis?“

    „Ich war lange fort“, erwidert Aneirin.

    Falk blinzelt etwas perplex. Dann lacht er laut.

    „Aneirin, es ist und bleibt deine Bäckerei. Ich habe nie daran gezweifelt, dass du zurückkommst.“

    Aneirin lächelt und muss sich eingestehen, dass er sehr erleichtert ist.

    „Ich danke dir. Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals vergelten soll.“

    Falk prostet ihm zu.

    Nachdem sie beide einen kräftigen Schluck genommen haben, schweigen sie eine Weile. Es ist kein unangenehmes Schweigen, viel mehr genießen sie die traute Zweisamkeit nach einem arbeitsreichen Tag.

    Ich will schon seit Wochen weiter schreiben, aber entweder war die Familie krank oder ich mit Arbeit und den beiden Kindern so ausgelastet, dass ich abends einfach nichts mehr zustande bekommen habe. |-.

    Er hatte schon fast vergessen, wie viel Freude ihm das Backhandwerk bereitet. Den Kopf ausschalten und die Hände das machen lassen, was sie lange gelernt haben. Aneirin hat währenddessen das Gefühl, nie fort gewesen zu sein. Er findet alles was er braucht an den Plätzen, von denen er es gewohnt ist. Das Lager ist trotz der schwierigen Zeit gut gefüllt, was sicherlich einiges mehr gekostet hat als noch vor der Seuche.

    Aneirin steht noch vor den Gewürzen im Lager als er von unten ein langgezogenes, metallenes Quietschen vernimmt, das er sogleich der Eingangstüre der Bäckerei zuordnet. Vor drei Jahren hätte er es vielleicht noch überhört. Doch obwohl ihm dies bisher noch immer wieder auffällt, hat er sich inzwischen weitestgehend daran gewöhnt und nimmt die vorsichtigen Schritte unter ihm mit einem Lächeln zur Kenntnis.

    Im Rhythmus der vorsichtigen Schritte unten schleicht er zur Stiege, geht in die Hocke, legt die Hände links und rechts der Öffnung und späht unauffällig herunter. Mit einem Grinsen macht er einen Satz und landet nur zwei Schritt hinter dem jungen Mann mit dem hellbraunen Haar.

    Aneirins Hand schnellt nach oben als dieser erschrocken herumwirbelt und der Schießer in dessen Händen auf Aneirin herunter saust. „Oi, willst du mich etwa DAMIT erschlagen?“ Mit einem amüsierten Funkeln in den Augen blickt er von der abgewehrten Schaufel zu dem völlig perplexen Falk.

    „A-Aneirin?“

    Sein Lehrling braucht noch einen Atemzug, um zu begreifen, ehe der Schießer unbeachtet zu Boden fällt und sich die Freunde lachend in den Armen liegen.

    „Du bist zurück!“, strahlt Falk und mustert ihn von oben bis unten. Im nächsten Augenblick jedoch werden dessen Züge plötzlich sehr ernst und ehe Aneirin sich versieht hat Falk ihm eine saftige Kopfnuss verpasst.

    „Au!“ Mit zusammengebissenen Zähnen reibt Aneirin sich die schmerzende Stelle. Er fragt gar nicht, womit er die verdient hat, denn er weiß es schließlich ganz genau. Gerade noch beginnt er in Gedanken eine Entschuldigung zu formulieren, da schlingen sich Falks Arme um ihn und drücken ihn fest. Mit einem Lächeln drückt Aneirin seinen Freund ebenfalls.

    Als Falk ihn aus der Umarmung entlässt ist keine Spur von Vorwurf in dessen Blick zu sehen. Viel mehr glaubt Aneirin, darin Erleichterung und Freude zu bemerken.

    „Seit wann bist du zurück? Was hast du getrieben? Warum hast du dich nicht mehr gemeldet? Bleibst du jetzt hier? Weiß Eolora schon, dass du zurück bist? Du trägst jetzt Bart?“

    Beschwichtigend hebt Aneirin die Hände und lacht etwas zurückhaltend.

    „Ich bin seit gestern Abend zurück und außer Lady Arúen, Rialinn und dir habe ich noch niemanden getroffen.“

    Eine Entschuldigung liegt in Aneirins Blick und das Versprechen, ihm Rede und Antwort zu stehen, zumindest bis zu einem gewissen Grad, als er auf das halbvolle Brett mit Brötchen deutet.

    „Wollen wir gemeinsam weiter machen und ich erzähle dir dabei, was du wissen willst?“

    Falk folgt seinem Fingerzeig mit seinem Blick, grinst dann und beginnt, seinen Mantel abzulegen.

    „Nichts lieber als das.“

    Stille empfängt Aneirin als er vorsichtig das Haus betritt und die Tür hinter sich langsam zurück ins Schloss drückt. Einige Atemzüge lang steht er nur da und lauscht in das Gebäude und sich selbst hinein. Eine gewisse Aufregung, die in seinen Adern pulsiert kann er nicht leugnen, doch im Gegensatz zu ihm ist es im Haus völlig ruhig. Behutsam lässt er seinen Rucksack von seiner Schulter gleiten und stellt ihn an das schmale Schränkchen rechterhand. Er geht zwei, drei weitere Schritte zum Garderobenhaken dahinter und schält sich gemächlich aus Schal und Mantel. Seine Augen wandern dabei die Treppe hinauf und als er seinen Mantel aufgehängt hat ertappt er sich dabei, wie er noch einmal ganz angespannt horcht. Doch außer den leise knarzenden Holzdielen unter seinen Fußsohlen kann er nichts weiter vernehmen. Es wundert ihn nicht, denn eigentlich erwartet er niemandem in seinem Heim. Fürs Erste wendet er seine Aufmerksamkeit vom Obergeschoss ab und betritt den Wohnraum.

    Zurückhaltend schält sich das Licht der Dämmerung durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden, gerade genug, dass Aneirin sich mühelos im Raum zurechtfindet. Statt die Läden zu öffnen, entzündet er eines der Lichter und blickt sich um. Die großen Möbelstücke sind mit hellen Tüchern verhangen und alles steht genauso wie er es vor drei Jahren zurückgelassen hat. Doch wie sein Blick durch das Zimmer wandert, legt sich ein schmunzelndes Lächeln auf seine Lippen. Auf den ersten oder gar zweiten Blick fällt es zunächst nicht weiter auf und doch entgeht Aneirin nicht, dass es im gesamten Raum sauber ist. Viel zu sauber. Selbst auf den Tüchern liegt kaum ein Staubkorn. Eolora… Sie hat doch nicht allen Ernstes die vergangen drei Jahre damit verbracht, das Haus sauber zu halten als würde sie jeden Tag seine Rückkehr erwarten?

    Aneirin schüttelt lächelnd den Kopf und beginnt die Tücher abzuhängen und zusammenzufalten. Mit den Tüchern auf dem Arm macht er sich auf ins Obergeschoss, um sie wieder in der Kommode des Gästezimmers zu verstauen. Als er das Schlafzimmer betritt, um auch dort die Laken zu entfernen, staunt er über ein offenbar recht frisch gemachtes Bett. Mit einem dankbaren Lächeln entfernt er das Laken von der Kommode und geht dann hinüber zu dem abgedeckten Kinderbett seiner Tochter. Das Lächeln auf seinen Lippen ist jedoch längst verschwunden als er eine Hand auf das Laken legt. Aneirin zögert und ist sich nicht sicher, ob er das Laken nicht darauf lassen sollte. Erträglicher macht es das aber wohl auch nicht, muss er sich eingestehen, überwindet sich und zieht also rasch das Laken herunter. Das leere Bett selbst würdigt er allerdings nur eines kurzen Blickes.

    Nachdem er die Tücher verstaut hat, wäscht er sich und kleidet sich um und beginnt erste Teile aus seinem Rucksack zu räumen, während er dabei die Reste seines Reiseproviants verspeist. Er kann die frischen Brötchen seiner Bäckerei am nächsten Morgen kaum erwarten. Als ihn seine erschöpften Glieder schließlich ins Bett nötigen streckt er mit einem erleichterten Seufzen alle Viere von sich. Es fühlt sich gut an, wieder zu Hause zu sein.

    >Ich bin so froh, dass Du heil wieder hier bist. Es gab in letzter Zeit viel zu wenig gute Neuigkeiten<, hallt Rialinns Stimme bald in seinen Gedanken wieder. Mit den Händen fährt er sich lange durch das Gesicht. Er hofft inständig, dass in den nächsten Tagen nicht allzu viele schlechte Nachrichten über ihn hereinbrechen. Arúen, Rialinn, Falk und Eolora geht es den Göttern sei Dank schon einmal gut. Er sollte Zuversicht daraus schöpfen. Diesen Gedanken festhaltend versucht er in erholsamen Schlaf zu finden.



    Gefühlte Stunden starrt Aneirin an den Baldachin seines Bettes. Obwohl er die Erschöpfung schwer in seinen Gliedern spürt, will sich einfach kein Schlaf einstellen. Unzählige Male dreht er sich herum, ehe er sich schließlich aufsetzt und das Kinderbett anstarrt. Der Anblick des leeren Kinderbettes reißt an alten Wunden, die längst nicht vollständig geschlossen sind und sich vermutlich auch nie vollkommen verheilen werden. Dass er immer wieder an seine Tochter wird denken müssen und auch immer wieder mal dabei Schmerz verspüren wird, das kann er nicht ändern und will es auch gar nicht. Aber gegen dieses Symbol der Leere dort an seinem Bettende, dagegen lässt sich etwas tun.

    Also schwingt er die Beine über die Bettkante und macht sich auf die Suche nach seinem Kasten mit Werkzeugen, um das Bettchen abzubauen. Vielleicht findet sich in den nächsten Tagen jemand, der es ihm abnehmen möchte oder er wird in einem der Waisenhäuser fragen, ob es dort gebraucht wird. Jetzt soll es ihm genügen, das Bett in seinen Einzelteilen nach unten in den Flur zu tragen und unter die Treppe zu stellen.

    Nachdem er auch noch gefegt hat, steht er an dem offenen Fenster unter dem das Kinderbett zuvor noch gestanden hat und starrt hinaus in die Nacht. Es fühlt sich nun etwas besser an, wenngleich ihm immer noch nicht nach Schlafen zumute ist. Dennoch legt er sich zurück in sein Bett. Er sollte nicht zu viel Grübeln und Spekulieren, sondern versuchen, sich noch etwas auszuruhen. Er wird nach Sonnenaufgang noch früh genug herausfinden, was alles geschehen ist. Also dreht er sich herum, vergräbt sich in seiner Decke und schließt die Augen.


    Als Aneirin die Augen wieder öffnet, braucht er einen kleinen Augenblick, um sich zu orientieren. Sein Schlaf ist tief und traumlos gewesen. Ein Blick zum Fenster verrät ihm, dass es allerdings nicht allzu lange gewesen sein kann. Vom heranbrechenden Morgen ist am Himmel noch nicht viel zu sehen. Aneirin seufzt und beschließt, dass es keinen Sinn macht, sich noch einmal herumzuwälzen. Also steht er auf, geht sich kurz durch das Haar, um es wieder zu einem Zopf zu binden und kleidet sich an. Als er gezielt eine kleine Schublade seiner Kommode öffnet, lächelt Aneirin. Der Schlüssel zur Bäckerei liegt noch dort, wo er ihn zurück gelassen hat. Freudig greift er danach und eilt die Stufen herunter. Wenn er schon nicht schlafen kann, dann kann er sich ja wenigstens nützlich machen.

    Blätterfall 521



    Der Weg durch die Straßen der Stadt hat etwas Gespenstisches an sich. Selbst denjenigen, die das rege und bunte Treiben in den Straßen Talyras, das hier vor dem Einzug der Seuche herrschte, nicht kennen, muss einfach auffallen, dass auf den Straßen nur wenige Menschen und sonstige Völker unterwegs sind. Und von denen, die unterwegs sind, ist gefühlt jeder zweite entweder ein Blaumantel der Patrouillen, die noch immer in regelmäßigen Abständen durch die Straßen marschieren, um beispielsweise größere Menschenansammlungen aufzulösen und allgemein die Bevölkerung daran zu erinnern, Abstand zu halten und Mund wie Nasen mit Schals oder Seuchenmasken zu bedecken. Oder es sind viel zu oft erschöpft wirkende Heiler, Anirani und Priester jeden Ranges, die durch die Straßen ziehen, um Erkrankte zu versorgen oder Seelsorge denen zu schenken, die geliebte Menschen an die Rote Seuche verloren haben – neben all den anderen Krankheiten und Gründen, die der Roten Seuche ja nicht gewichen sind.


    Vor einer ehemaligen Töpferei im Handwerkerviertel verweilt er einen Augenblick und besieht sich die mit Brettern vernagelten Fenster und die versperrte Tür. Nur eines von vielen Geschäften, das aufgegeben werden musste, sei es aus finanziellen Gründen oder weil der oder die Eigentümer verstorben sind. Nicht selten hat die Seuche es geschafft ganze Familien auszulöschen. Aneirin kontrolliert schon fast routiniert den Sitz des Schals, der ihm Mund und Nase bedeckt, während er versucht das mulmige Gefühl zu verdrängen, das ihn überkommt, wenn er daran denkt, dass ohne Falk die Bäckerei vermutlich dasselbe Schicksal ereilt hätte. Und den Göttern sei Dank hat sein Lehrling die Seuche heil überstanden. Was wohl aus all den anderen geworden ist, von denen er in den letzten Monden und Jahren nichts gehört hat?


    Als Aneirin das Mühlenviertel erreicht sind seine Schritte schon recht träge und die Erschöpfung kriecht samt Kälte durch seine Knochen. Wäre er mit Arúen und ihren Kindern durch das Gewirr gegangen, hätte er sich die Hälfte des Weges sicher gespart. Doch die Erfahrung seiner ersten und bisher einzigen Reise durch das Gewirr möchte er freiwillig so schnell nicht noch einmal machen, auch wenn die Übelkeit und Orientierungslosigkeit womöglich mit seiner damaligen Schädelverletzung zu tun hatten. Unwillkürlich reibt er sich den Hinterkopf und zieht im nächsten Moment das Haarband etwas enger, das seine Haare zu einem Zopf zusammenhält. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, die vertrauten Wege zu gehen und sich doch nicht sicher zu sein, wie viel noch von dem ist, das mal gewesen ist.


    Kaum dass er um die letzte Häuserecke gebogen ist, atmet Aneirin erleichtert aus, als er die Bäckerei erblickt und sie auch tatsächlich noch so aussieht, wie er sie verlassen hat. Drinnen ist es zwar dunkel, doch schließlich hat Falk auch schon längst Feierabend gemacht. Ein müdes Lächeln umspielt seine Lippen wie er so vor dem Eingang der Bäckerei verharrt und seine Gedanken in vergangene Zeiten abschweifen. Er steht tief in Falks Schuld. Dass er ihm die Bäckerei erhalten hat, wird er ihm nie vergessen.


    Aneirin löst den Blick von dem Gebäude und geht noch ein paar Schritte rechterhand weiter zu seinem Wohnhaus gleich daneben. Er hatte seinem Lehrling angeboten, ihm das Haus zu überlassen, solange er fort ist, doch Falk hatte abgelehnt, ja, sich fast mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Ob er befürchtete, ich würde nicht zurückehren, wenn er es annehmen würde? Der Gedanke war Aneirin bisher gar nicht gekommen. Doch rückblickend macht es durchaus Sinn. Auch, dass er seine Meisterprüfung noch nicht ablegen wollte. So viel Vertrauen hast du in mich? Dabei war Aneirin sich eine ganze Zeit lang überhaupt nicht sicher, ob er überhaupt zurückkehren will. Es scheint, als würden einige hier ihn besser kennen als er sich selbst. Aneirin schmunzelt.


    Vor der Tür des benachbarten Fachwerkhauses kramen seine Finger einen Moment in einer seiner Gürteltaschen und ziehen schließlich einen schmiedeeisernen Schlüssel heraus. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Schlüssel bei Eolora zu lassen, aber sie bestand darauf, dass er ihn mitnehme. Nachdenklich besieht Aneirin sich den Schlüssel und steckt ihn schließlich in das Türschloss.

    Aneirin ist sichtlich erleichtert zu hören, dass es Falk und auch Eolora gut geht und die Bäckerei nach wie vor existiert. Bis eben hatte er eigentlich auch nicht daran gezweifelt, doch es sind nun einmal unberechenbare Jahre gewesen. „Dieser verdammte Sturkopf von einem Lehrling“, muss Aneirin schmunzeln. Und Rialinn hat Recht. Es gab tatsächlich zu wenig gute Neuigkeiten. „Mach’s gut, Rialinn.“ Einen Augenblick sieht er der jungen Elbin noch nach, aber als Arúen fortsetzt, gilt seine Aufmerksamkeit wieder ihr.


    >Wenn Du magst, komm zu uns zum Essen und wir können hinterher in Ruhe am Kamin sitzen und uns unterhalten.< Aneirin nickt lächelnd. „Das werde ich, vielen Dank. Wenn ich es schaffe, komme ich gerne gleich morgen Abend.“ Nicht, dass er etwas vor hätte. Doch wer weiß schon, was der heutige Abend sowie der morgige Tag für ihn bereithält. Er greift seinen Rucksack und schultert ihn. Mit einem Blick auf die geschlossenen Augen der kleinen Ileanna lächelt er mitfühlend. „Ich begleite euch noch gerne heim, wenn ihr möchtet.“

    Seine Augen folgen Tuloans Blick hoch zu Arúen. Die kurze Überraschung auf Aneirins Gesicht als die Shida‘ya hinzufügt, dass die beiden Kinder die ihren seien, kann er vor ihr sicher nicht verbergen. Der allerdings folgt sogleich ein verstehendes Neigen des Kopfes und ein willkommendes Lächeln als er die beiden Geschwister wieder ansieht.

    „Schön, euch kennenzulernen, Ileanna, Tuloan“, nickt er den beiden zu und erhebt sich wieder, legt den Arm um Rialinn, die ihn immer noch freudig anfunkelt, und drückt sie etwas an sich. „Entschuldige, ich wollte euch nicht in Ungewissheit lassen, schon gar nicht in Sorge, aber…“, beginnt er an Arúen gewandt, als er ein leises >Îhio sa'cur…< vernimmt.

    Aneirin muss kein Shidar sprechen, um zu verstehen. Denn als Arúen das kleine Mädchen wieder auf den Arm hebt ist mehr als ersichtlich, dass Ileanna todmüde ist. Verständnisvoll lächelt Aneirin und entlässt Rialinn aus seinem Arm. Sie wiederum blickt ihn an und erklärt mit einem Fingerzeig auf ihre Schwester: „Ileanna und Tuloan haben ein neues Totenlicht für Brianna mitgebracht.“
    Überrascht und gerührt sieht Aneirin von Schwester zu Bruder und nimmt dankbar das Licht von Rialinn entgegen, das diese dem müden Kind abgenommen hat. Dass die beiden so fürsorglich sind, obwohl sie Brianna nie kennengelernt haben, rührt ihn sehr. „Ich danke euch von Herzen“, dabei sieht er auch Arúen an, „danke, dass ihr für Brianna da seid“.

    Da wendet er sich an Tuloan: „Darf ich es anzünden?“ Der Junge wirkt kurz überrascht ob der Frage, nickt dann aber, woraufhin sich Aneirin wieder Briannas Grab zuwendet, um das Licht zu entzünden und gegen das abgebrannte in der Grablaterne zu tauschen.

    „Sieh nur, Sonnenschein, deine Freunde haben dir ein neues Licht gebracht.“ Noch einmal lässt Aneirin den Blick über Briannas Ruhestätte wandern, ehe er sich erhebt und wieder an Arúen und die Kinder herantritt. Er hat so viele Fragen, würde gerne wissen, was in den letzten drei Jahren hier in Talyra und mit seinen Freunden geschehen ist, wie es Arúen und ihrer Familie ergangen ist. Aber er sieht auch ein, dass dies hier und jetzt weder der richtige Ort noch die richtige Zeit ist, sich darüber auszutauschen.


    „Wenn es deine Zeit zulässt, würde ich gerne in den nächsten Tagen bei dir vorbeischauen. Ich richte mich da aber ganz nach dir“, versichert er, denn er will sich trotz aller Fragen nicht aufdrängen. „Ich sollte wohl erst einmal nach der Bäckerei sehen. Falk ist hoffentlich gut zurechtgekommen“, lächelt Aneirin zunächst zuversichtlich. Dann aber stutzt er und ein wenig verunsichert sieht er Arúen an. „Es gibt sie doch noch?“

    Als die Melodie zwischen den Zweigen der Nurmweide verklingt, öffnet Aneirin die Augen und lässt den Blick wieder hinunter zu Briannas Grab gleiten. Er fühlt Erleichterung und sich auch auf eine Weise gestärkt, die ihn fast schon ein wenig überrascht. Er ist nicht sicher, was er erwartet hat zu fühlen bei dem Anblick ihrer Ruhestätte, aber er ist sich sicher, dass es nicht dies gewesen wäre. Aneirin atmet tief durch. Diese erste Station seiner Rückkehr hat ihn zuversichtlich werden lassen. Was ihn wohl erwartet, wenn er erst einmal wieder zurück in der Bäckerei ist? Ob es seinem ehemaligen Lehrling gut geht? Inzwischen müsste er unter Meister Brachingers wachsamen Augen längst die Meisterprüfung abgelegt haben. Aber wer weiß denn dieser Tage schon, was möglich ist und was nicht…


    In Gedanken greift er nach seinem Rucksack und schultert diesen. Am kommenden Tag würde er gewiss wiederkommen, das ist er Brianna nicht nur schuldig, es ist ihm auch ein Bedürfnis. Außerdem könnte er gleich das ausgebrannte Totenlicht in der Grablaterne ersetzen, bemerkt er noch. Aneirin lächelt und wendet sich ab. Zuerst aber wird er sich bei Arúen melden, sie sollte schließlich als Erste erfahren, dass-


    „Aneirin!“


    Einen Herzschlag lang erstarrt der blonde Mann überrascht, ehe er in einem weiteren seinen Rucksack wieder sinken lässt, um im nächsten einen schwarzhaarigen Wirbelwind freudig in seinen Armen zu halten. Ganz fest drückt er das Elbenmädchen für einen Moment an sich, ehe er sie von sich fortschiebt, sanft bei den Händen nimmt und sie von oben bis unten mustert. Nein, kein Mädchen mehr, vielmehr eine junge Frau. Bei dem Blick in ihre waldgrünen Augen lächelt er sanft. „Rialinn, was bist du groß geworden.“ Erneut zieht er sie an sich, drückt sie noch einmal, während seine Augen über ihre Schulter zu Arúen wandern und ihren Blick suchen.


    Als er Rialinn fast schon widerwillig aus seiner Umarmung entlässt, um Arúen entgegen zu gehen, setzt die Hohepriesterin ein kleines, ebenfalls schwarzhaariges Elbenmädchen von ihrem ab, das sich allerdings sogleich wieder an ihren Mantel klammert als wolle es sich darin verstecken. Auch der Junge an ihrer Seite bleibt zurückhaltend, vielleicht schutzsuchend etwas hinter der Elbin.


    Vor Arúen bleibt Aneirin stehen und sieht sie wenige Herzschläge lang einfach nur freudig an. Er hat ihr so vieles zu verdanken, er bräuchte viele, sehr viele weitere Leben, um sich für all das zu revanchieren, das sie für ihn auf sich genommen hat und das sie für ihn getan hat. Worte können all die Dankbarkeit, die er empfindet, gar nicht ausdrücken. Schließlich macht er einen Schritt und nimmt sie in den Arm. „Den Göttern sei Dank, ihr seid wohlauf“, flüstert er, drückt sie noch ein wenig inniger und hofft, dass sie spüren kann, wie viel es ihm bedeutet, sie und ihre Tochter gesund zu wissen.


    Mit einem breiten Lächeln entlässt er Arúen aus seinen Armen, hält noch einen Atemzug lang ihren Blick, ehe er seinen zu den beiden ihm fremden Kindern an ihrer Seite wandern lässt. Bedächtig geht er in der Hocke, um etwa auf Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen zu sein, das sich daraufhin noch etwas fester an Arúen presst, wie ein verängstigtes Kind an seine Mutter. „Grüße, ihr zwei“, spricht er sanft und blickt dabei auch zu dem Jungen hinüber. „Euch kenne ich noch nicht. Ich bin Aneirin“, stellt er sich vor und legt dabei die Hand auf Höhe des Herzens an seine Brust.

    ← Auf der Ringstraße und entlang der Stadtmauern



    Im Blätterfall 521



    Tatsächlich endet Aneirins Heimreise noch vor Einbruch der Nacht. Allmählich zieht sich ein erstes zartes Rosa durch die dünnen Schleierwolken. Zuhause… Trotz aller Geschehnisse fühlt es sich tatsächlich wie eine Heimkehr an. Aneirin war bis zu diesen Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, wie sehr diese Stadt zu seinem Zuhause geworden ist.


    Auf seinem Weg durch die Straßen Talyras sieht er sich nicht bewusst um. Noch hat er nicht das Bedürfnis nach Vertrautem wie Unbekanntem Ausschau zu halten. Zuerst wird er sein Versprechen einlösen. Alles andere kann warten, wie es dies schon seit drei Zwölfmonden tut. Seine Schritte führen ihn auf schnellstem Wege zum Sithechhain. Und mit jedem Schritt, den er sich dem Knochenacker nähert, nimmt die Nervosität stetig zu und kribbelt in jeder Faser seines Körpers.


    Er ist sich sicher, dass sie sich gut um die Ruhestätte seiner Tochter gekümmert haben. Er bat Arúen und Rialinn sowie Lyall und Eolora ausdrücklich und zweifellos werden auch andere nach ihr gesehen haben, daran glaubt er ganz fest. Doch… wer weiß schon, was die letzten Zwölfmonde ihnen allen bereitet haben. Ob nicht eigene Sorgen in den Vordergrund rückten. Könnte er es auch nur einem von ihnen übel nehmen, wenn dadurch vielleicht Briannas kleines Grab in Vergessenheit geraten war? Schließlich kann man seine eigenen Besuche am Grab seiner Tochter noch an einer Hand abzählen, ganz abgesehen davon, dass er sie drei Jahre lang allein gelassen hat. Ob sie es ihm übel nimmt?


    „Ich bin da, mein Schatz. Papa ist da. Ich habe dich gefunden. Ich bin da.“


    Wie ein stilles Willkommen klingt das Rauschen in den blaugrünen Blättern der Nurmweide, die sich nur wenige Handbreit über seinem Haupte zur Melodie des Windes wiegen. Eine beruhigende Melodie, die auch Aneirin nun in seinem tiefsten Inneren langsam versöhnlich werden lässt. Behutsam lässt er seinen großen, schwer wirkenden Rucksack neben sich sinken und seinen Blick über das kleine Grab wandern. Jeder noch so kleine Funke Sorge war unbegründet. Man hat sie nicht vergessen. Das Grab ist liebevoll gepflegt. Ein Bund frischer Blumen, sicher noch keine drei Tage alt, leuchtet in einer feinen Vase zwischen den zarten, weißen Blüten des Zauberschnees und rosafarbener Besenheide. Brianna wäre sicher ganz entzückt… Mein Sonnenschein, mein Herz…


    Eine ganze Weile steht er da, äußerlich scheinbar ruhig und beherrscht. Wäre da nicht die sich Immer wieder schließende und öffnende Faust seiner linken Hand. Er ringt mit den aufkommenden Erinnerungen, will sie eigentlich nicht zu lassen. Er hat sie oft genug durchlebt und wollte sie nun endlich hinter sich lassen. Und doch merkt er, dass er nicht anders kann. Vielleicht muss es sein, vielleicht noch einmal, hier, genau hier. Dieses eine Mal noch und dann soll es gut sein. Nur noch dieses eine Mal.


    „Brianna, lauf weiter! Lauf und versteck dich!“


    Still, der Gesang des Abschieds

    Leise, die Tränen der Nacht *


    „Brianna! NEIN! Briannaaaa!“


    Kalt ist der Wind, die Trauer beginnt

    Der Winter erwacht *


    „Hilf ihr, Arúen, Du musst ihr helfen."


    Schweige nun, banges Sehnen

    Schweige und klag nicht dein Leid *


    „Nein! Arúen, hilf ihr! Rette sie, verdammt noch mal! RETTE SIE! ARÚEN!“


    Trauer vergeht, vom Winde verweht

    Erinnerung bleibt *


    Eine Berührung zart wie ein Windhauch streift seine zur Faust geballte Hand und lässt ihn augenblicklich an seine Seite blicken. Briannas strahlend grüne Augen sehen ihn liebevoll an und wie er ihr Lächeln erblickt wird ihm ganz warm ums Herz. Aneirins Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern als er von ihr wissen will: „Bist du mir bös‘?“ Briannas goldenes Haar wiegt sich sanft, als sie den Kopf schüttelt. Erleichtert schließt Aneirin für einen Atemzug die Augen, um den Tränenschleier zu vertreiben. Als er sie wieder öffnet, ist sie bereits wieder fort. Doch überraschender Weise spürt Aneirin keine Enttäuschung. Sie ist da und für immer bei ihm. Er fühlt es genau.


    Einige Herzschläge lang starrt er noch dorthin, wo seine Tochter eben noch gestanden hat, ehe er den Blick hinauf in die blaugrüne Krone der Nurmweide hebt und sich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen vom Tanz der schmalen Blätter in ihren Bann ziehen lässt.


    Wir seh'n uns wieder, gewiss irgendwann

    In meinen Träumen sind wir zusamm'

    Und eines Tages folge ich dir

    Wir seh'n uns wieder, weit weg von hier *




    * aus dem Song: „Oonagh - Wir seh’n uns wieder“

    Blätterfall 521



    Ein rot-gelb-gold’nes Blättermeer

    Entschwindet in die Weite

    Im Laub, kein Wuchs, kein Leben mehr

    Der Wind streift nackte Zweige


    Die Wälder schweigen wunderbar

    Des Einsamen Gefährten

    Der Himmel leuchtet herbstlich klar

    Ich folg der Wolken Fährten


    Ein Vogelzug grüßt auf dem Weg

    Wir sehen uns bald wieder

    Obwohl im Blätterfall verweht

    Hör ich noch ihre Lieder…



    Karumms. Der Ruck, der so heftig durch den Karren geht, dass sogar das Holz erzittert, lässt Aneirin die Augen aufschlagen und horchen. Da sind das vertraute Quietschen der Räder, das dunkle Schnauben der Ochsen und das ewige Räuspern des alten Bauern, der den Ochsenkarren lenkt. Ruhig wandern Aneirins smaragdgrüne Augen hinauf in das strahlende Blau des Himmels über ihm, das ab und an von zarten, federartigen Wolken unterbrochen wird. Zwei goldgelbe Blätter tanzen ihren ganz eigenen Reigen, jagen einander sanft vom Wind getragen und sind im nächsten Augenblick auch schon wieder verschwunden, während eine neckische Brise Aneirins Nase kitzelt.


    Lange atmet er ein und man könnte für einen Augenblick meinen, Aneirin überlege, ob er überhaupt wieder ausatmen soll. Acht Zwölfmonde ist es bereits her seit er die Straße, auf der sie fahren, das erste Mal beschritt. Der blonde Mann erinnert sich gut an die aufgeregte Vorfreude, die ihn damals erfasst hatte, als er das Juwel der Herzlande zum ersten Mal erblickte und ein ganz neuer Abschnitt in seinem Leben begann. Damals im Blätterfall. So viel ist seitdem geschehen, das er zuvor niemals auch nur erahnt hätte, als er seine Reise ganz unbedarft angetreten war.


    Zögerlich atmet Aneirin schließlich wieder aus. Dann aber fasst er sich ein Herz richtet sich auf und zieht sich hoch, um über die Schulter des betagten Wagenlenkers zu blicken. Wie er dort in der Ferne die Stadt Talyra erblickt, bemerkt er überrascht die Wiedersehensfreude, die ihn nun doch tatsächlich ergreift und beginnt den Schatten, der sich bisher über sein Herz gelegt hatte, zumindest ein wenig zu erhellen. Es hat etwas von einem Neubeginn. Irgendwie ist es das ja. Vieles hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Er selbst hat sich verändert. Und dennoch… Trotz der Freude über diesen neuen Anfang mit all seinen Möglichkeiten nagt zugleich zäh Furcht vor eben diesen Veränderungen an ihm. Schließlich ist er drei volle Zwölfmonde fort gewesen. Drei ereignisreiche Zwölfmonde. In erster Linie für ihn, aber vor allem der letzte auch für die gesamten Herzlande. Vielleicht hätte er sich doch wenigstens ankündigen sollen statt die letzten Monde gar nichts von sich hören zu lassen. Doch die Sorge, dass die Antwort hätte ihn womöglich davon abgehalten hätte, wieder zurück zu kehren, war größer gewesen. Was sich wohl alles verändert hat?


    „Keine Sorge“, räuspert sich der Alte vor ihm als er seinen blonden Mitfahrer bemerkt. „Wir werden die Schöne schon noch vor dem Abend erreichen. Hab’s ja gesagt“ Für den Moment aus seiner Grübelei gerissen schmunzelt Aneirin, klopft dem Wagenlenker dankbar auf die Schulter und wendet schließlich seinen Blick ab , um sich wieder zwischen die Säcke auf dem Wagen sinken zu lassen. Was und wer auch immer ihn hinter den Stadtmauern erwarten mag… Aneirin weiß ganz genau, wohin ihn sein Weg als Erstes führen wird.


    Mein Sonnenschein… Ich bin wieder zu Hause.



    → Der Sithechhain

    Jetzt gerade hab ich Conan Exiles an (eigentlich nur meinem Mann zu Liebe und ich baue da eigentlich auch nur diverse Gebäude unserer Niederlassung). :tipsy:


    Davon ab, komme ich momentan einfach kaum zum Spielen. Cyberpunk hab ich schon ne Weile installiert, aber noch nie gestartet (weiß auch nicht, ob ich die Grafikkarte das hinkriegt). Das aufgehübschte Mass Effect hab ich auch gesehen und mich total gefreut, werd ich mir wahrscheinlich irgendwann holen, aber vermutlich nie spielen (ja, habs schon mehrere Male durchgesuchtet, besonders Teil 1). Witcher 3 hab ich schon schon seit ner Ewigkeit durch und wollte eigentlich noch mal von vorne anfangen. Naja, Teil 1 vor, keine Ahnung, zwei Jahren installiert, lief 2 Minuten. :)) WoW hatte ich mit der letzten Erweiterung angefangen, aber sobald es ans Grinden und Ruffarmen ging war ich wieder aus, denn dafür fehlt mir einfach die Zeit (von Raids ganz zu schweigen). Zwischendurch mal ne Einheit Stardew Valley, aber jetzt auch schon ne ganze Weile nicht mehr. Hab noch einige Spiele hier rumliegen, aber keine Zeit oder Kraft/Lust, wenn am Abend einfach der Akku leer ist.


    Mein persönlicher Tipp noch: "Detroit - Become Human". Das hatte ich durchgesuchtet und mehrmals durchgespielt wegen der unterschiedlichen Geschichtsstränge (und Erfolge gejagt) und hab bei jedem Durchlauf immer wieder was Neues entdeckt.