Die Straßen der Stadt
Ein altes Sprichwort besagt, dass es noch niemanden gegeben habe, der in Talyra nicht irgendwann doch sein Ziel gefunden hätte – auch wenn es manchmal vielleicht etwas dauert. Denn die Stadt ist nun einmal groß und ihre zahlreichen Viertel sind von einem teils verwinkelten System von Straßen und Gassen durchzogen. Die Hauptstraßen sind breit genug für große Ochsengespanne oder schwere Pferdekarossen, mit Kopfsteinen gepflastert und des Nachts von Nachtfeuern, die in hohen Eisenkörben brennen, oder von Laternen an den Häusern gut erleuchtet. Ab und an finden sich kleine Plätze mit Brunnen, an denen die Bürger Wasser holen, oder öffentliche Abtritte, damit Unrat und Ausscheidungen nicht auf der Straße landen.
Von den vier Stadttoren, dem Nordtor, dem Verder Tor, dem Händlertor und dem Seetor am Hafen aus gelangt man auf breit angelegten Straßen zum Marktplatz, welcher im Herzen der Stadt liegt. Manch andere Straße ist schmäler, gesäumt von hohen Häusern und bevölkert von Bürgern, ehrbaren wie zwielichtigen, die dort ihr Tagewerk verrichten. Stadtgardisten sind in unregelmäßigen Abständen anzutreffen, manchmal nur zu zweit, manchmal als Patrouille. Im Sommer ist das Geschnatter der alten Frauen, die mit Schemeln an die Hauswand gelehnt sitzen, nicht selten die beste Informationsquelle der Stadt. Alte Männer verbringen den Mittag an schattigen Plätzen und spielen Würfel, Kinder stellen Szenen aus Turnieren oder bekannten Märchen nach. Im Winter sind nur wenige Menschen auf den Straßen, doch von den Häusern geht behagliche Wärme aus. Ein Blick in die Fenster verrät am Abend geschäftiges Treiben, es wird gekocht und gegessen, getrunken und gesellig beisammengesessen.
Die kleineren Gassen und Seitenstraßen ziehen sich wie ein Netz verschlungener Wege durch Viertel und Häuserzeilen, die meisten ebenfalls gepflastert, doch manchmal kaum breit genug, einen Mann zu Pferd passieren zu lassen und einige wenige auch nur eine festgetrampelte Fläche aus Erde, die bei Regen eher Schlammtümpeln gleichen und auch nachts kaum erleuchtet sind. Die kleinen Gassen entfernen sich vorsichtig und unbemerkt von den Hauptwegen und mitunter münden sie in sich selbst, so dass einige Gegenden durchaus labyrinthischen Charakter haben, und lediglich der in Talyra Wohnhafte die kürzesten Wege der Stadt kennt. Dieses, für auswärtige Händler, Reisende und Abenteurer leicht verwirrende Straßennetz, ist mit der Entstehung der Stadt zu erklären: Sie wurde nicht planvoll angelegt, sondern ist gewachsen, zuweilen konfus und ausufernd. Bislang hat sich in Talyra aber nie jemand vollends verirrt und die Talyrer sind stets bereit, dem Wegsuchenden Auskunft zu geben und ihnen die Richtung zu weisen.
Talyra besitzt mehrere Stadtviertel. Das Westviertel mit seinen soliden Bürgerhäusern und kleineren und größeren Anwesen liegt oberhalb des Verder Tors, durchsetzt von gepflegten Gärten und dem ein oder anderen besseren Laden und Handwerksbetrieb. Im Nordwesten schließt sich das parkähnliche Tempelviertel mit seinen heiligen Hainen, alten Bäumen, weitläufigen Grünflächen, Tempeln und Pilgerstätten an, umgeben von den Stadthäusern hochrangiger Priester und Heiler, Stadträte und talyrischer Adliger oder wohlhabender alteingesessener Händler und Kaufleute.
Im Nordosten der Stadt befindet sich der Nordspitz, dessen Bild hauptsächlich von Bürgerhäusern, kleinen Plätzen, zahlreichen Brunnen und natürlich der Athrofa Terrwyn Llythyr, der Runenhalle, geprägt wird. Im Osten Talyras entlang des Ildorelufers erstreckt sich außerhalb der Stadtmauer das Seeviertel mit seinen herrschaftlichen Anwesen und weitläufigen Grundstücken am Ildorelufer.
Zentral gelegen gruppieren sich das Mühlenviertel, die Tausendwinkelgassen, das laute, lebhafte Marktviertel und der Flussgrund rund um den Marktplatz im Herzen der Stadt, wo sowohl Gasthäuser, hunderte von Läden und Geschäften, exklusive Handwerksbetriebe, herrschaftliche Stadthäuser, Mühlen, Bürgerhäuser, Gildenhallen, Kornkammern, Wiege- und Speicherhäuser und einige alte imperiale Bauten wie die Stadthalle und die Badehäuser am Marktplatz das Bild dominieren. Außerdem liegen hier so bekannte Straßen und "Einkaufsmeilen" wie die Wollwirkergasse, die Gasse der Webstühle, der Silbersteig, die Lederergasse, die Breite Gasse, die Königsstraße andere mehr. Im Flussgrund führen zudem mehrere Brücken und Stege über den Llarelon, und einfachere Bürgerhäuser wechseln sich hier mit Werkstätten und kleineren Handwerksbetrieben ab. Traditionell findet man entlang des Llarelon auch die Schmieden, die Töpfereien mit ihren Brennöfen, Alchemistenküchen und andere Gewerke, von denen Feuergefahr ausgehen könnte. Im westlichen Flussgrund wohnen zudem auch zahlreiche Blaumäntel und der Gasthof Zeughaus ist ebenfalls hier zu finden.
Ganz im Westen Talyras, zwischen Verder Tor und Händlertor befindet sich das Festungsviertel, überragt vom Schatten der Steinfaust, der großen Wehrburg der Stadt. Hier stehen neben uralten imperialen Gebäuden wie dem Shenrahtempel und der Templerbastion, der Halle der Goldenen Speere, sowie dem Haus der Bücher vor allem die einfachen, doch soliden Wohnhäuser der Stadtgardisten und mittelständischer Bürger.
Das Herzstück der Südstadt Talyras bildet das Handwerkerviertel, in dem sich eine Werkstatt an die andere reiht, und nicht nur die Betriebe der unterschiedlichsten Gewerke angesiedelt sind, sondern auch die Gildenhalle und verschiedene Zunfthäuser. Im Südwesten der Stadt, zwischen dem Händlertor und dem Sithechhain kauern die kleinen Häuser der Mogbar im Mogbarviertel, die hier ihr buntgemischtes "Reich" haben, und im äußersten Süden liegt der Sithechhain mit dem Tempel des Totengottes und den Begräbnisstätten, manchmal auch genannt der "Knochenacker. Richtung Südosten grenzt an das Handwerker- das Hafenviertel mit dem Fischmarkt und dem Grünen Aal, und mit seinem so unterschiedlichen Erscheinungsbild: nirgendwo sonst in der Stadt findet man Reich und Arm so dicht nebeneinander wie hier und nirgendwo so viele grundverschiedene Kulturen. Gewaltige Speicherhäuser ragen neben winzigen Fischerhütten auf, schäbige Spelunken reihen sich entlang den Kais und mischen sich zwischen die prunkvollen Häuser reicher Reeder und Kaufleute. Direkt unterhalb des lebhaften Hafengebietes, eingepfercht zwischen Hafen, Stadtmauern und Knochenacker findet sich schließlich das ärmliche Gängeviertel Talyras, der Fliegengrund mit dem Lumpenmarkt.